Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter - Manfred Döpfner - E-Book

Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter E-Book

Manfred Döpfner

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Beschreibung

Die Neubearbeitung des Bandes liefert anhand von Leitlinien, Materialien und der Beschreibung wichtiger Erhebungsverfahren eine praxisorientierte Einführung in die Grundlagen der Diagnostik psychischer Störungen und Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter. Ausführlich wird insbesondere auf die Exploration von Kindern und Jugendlichen sowie von deren Bezugspersonen eingegangen. Die Leitlinien beziehen sich sowohl auf die Diagnostik psychischer Auffälligkeiten und Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen als auch auf die systematische Erfassung der kognitiven, motorischen und sprachlichen Fähigkeiten und Defizite. Zudem werden auch die begleitenden familiären und psychosozialen Bedingungen berücksichtigt. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit der Integration der diagnostischen Ergebnisse, der Bedingungsanalyse und der Vereinbarung von Therapiezielen. Die Neubearbeitung des Bandes stellt aktuelle Verfahren zur Verhaltens-, Entwicklungs-, Intelligenz- und Leistungsdiagnostik vor. Zahlreiche Materialien erleichtern die Umsetzung der Leitlinien in die klinische Praxis

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Manfred Döpfner

Anja Görtz-Dorten

Franz Petermann

Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter

4., überarbeitete Auflage

Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie

Band 2

Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Anja Görtz-Dorten, Prof. Dr. Franz Petermann

Die Reihe wird herausgegeben von:

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Charlotte Hanisch, Prof. Dr. Nina Heinrichs, Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Prof. Dr. Paul Plener

Die Reihe wurde begründet von:

Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Franz Petermann

Prof. Dr., Dipl.-Psych. Manfred Döpfner, geb. 1955. 1989 – 2021 Leitender Psychologe an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Köln und dort Professor für Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Leiter des Ausbildungsinstituts für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (AKiP).

Prof. Dr., Dipl.-Psych., Dipl.-Heilpäd. Anja Görtz-Dorten, geb. 1968. Seit 2010 Leiterin des Ambulanzbereiches und des Bereiches Evaluation sowie der Forschungsambulanz des Ausbildungsinstituts für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP). Seit 2019 Professorin an der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln.

Prof. Dr. Franz Petermann (1953 – 2019). 1991 – 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie an der Universität Bremen und ab 1996 Direktor des Zentrums für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen. Darüber hinaus war er Leiter des Ausbildungsinstituts für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (NOKI).

Die 1. Auflage des Buches ist 2000 unter der Autorenschaft von Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Dietmar Heubrock und Franz Petermann erschienen. Die 2. und 3. Auflage des Buches sind 2008 und 2012 unter der Autorenschaft von Manfred Döpfner und Franz Petermann erschienen.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor:innen bzw. den Herausgeber:innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor:innen bzw. Herausgeber:innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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37085 Göttingen

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Tel. +49 551 999 50 0

Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

4. überarbeitete Auflage 2024

© 2000, 2008, 2012 und 2024 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3094-2; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3094-3)

ISBN 978-3-8017-3094-9

https://doi.org/10.1026/03094-000

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Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Download-Materialien.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

|V|Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

Die Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter war in den letzten Jahrzehnten mit der Publikation neuer Klassifikationssysteme für psychische Störungen und der Entwicklung einer Vielzahl von diagnostischen Verfahren einem erheblichen Wandel unterworfen. Eine hauptsächlich an theoretischen Konzepten und ätiologischen Annahmen gebundene und kaum an strukturierten oder standardisierten Verfahren orientierte Diagnostik wurde durch ein Vorgehen abgelöst, das einer operationalisierten und damit möglichst reliablen Erfassung psychischer Störungen verpflichtet ist. Neben der Tradition der kategorialen Diagnostik, die in den international verbreiteten Klassifikationssystemen – der ICD-10/ICD-11 und dem DSM-5 – weitergetragen wird, gewinnt die dimensional orientierte Diagnostik zunehmend an Bedeutung, da immer mehr die Vorstellung die Oberhand gewinnt, dass psychische Störungen als Endpunkte kontinuierlich verteilter Merkmale und nicht als diskrete klar von Normalität abgrenzbare Einheiten aufzufassen sind. Die empirische Forschung zeigt überzeugend, dass zur umfassenden Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter verschiedene Informationsquellen sowie unterschiedliche Erfassungsmethoden genutzt werden müssen (multimodale Diagnostik). Standardisierte und aufeinander bezogene Verfahren sind hilfreich, die dabei anfallende Informationsmenge zu integrieren. Dennoch bleibt die klinische, halbstrukturierte, an den konkreten Problemen und Sorgen des Kindes und Jugendlichen sowie seiner Bezugspersonen orientierte Exploration das Herzstück der Diagnostik psychischer Störungen.

Trotz der Vielzahl der oft notwendigen diagnostischen Schritte muss die Praktikabilität im Auge behalten werden. In jedem einzelnen Fall müssen die entsprechenden diagnostischen Schritte – je nach individuellen und institutionellen Bedingungen – bestimmt werden. Allerdings sollte ein minimaler Standard, der in diesem Leitfaden definiert wird, nicht unterschritten werden. Je differenzierter unsere therapeutischen Strategien werden, umso notwendiger ist auch eine differenzierte Diagnostik. Der Leitfaden steht damit im Spannungsfeld zwischen als notwendig Erachtetem und in der Praxis Realisierbarem. Er soll aber auch dazu dienen, die für eine umfassende und zuverlässige Diagnostik in der klinischen Praxis notwendigen Rahmenbedingungen zu definieren. Der für eine solche Diagnostik nötige zeitliche Umfang wird wesentlich vom Ziel der Diagnostik, von der Komplexität und dem Schweregrad der Problematik des Kindes oder des Jugendlichen1 sowie von den familiären und weiteren psychosozialen Bedingungen bestimmt. In der Regel sind die hier vorgeschlagenen diagnostischen Strategien im Rahmen der in der ambulanten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie laut Psychotherapievereinbarung zulässigen probatorischen Sitzungen einschließlich der zusätzlichen Möglichkeiten zur Durchführung spezifischer diagnostischer Untersuchungen zu leisten.

Dieser Leitfaden stellt das generelle diagnostische Vorgehen zur Erfassung psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen dar. Auf spezifische Strategien im Rahmen von Begutachtungen (z. B. zum Sorgerecht, zur Glaubwürdigkeit oder zur Strafmündigkeit) kann in diesem Leitfaden nicht eingegangen werden. Der Leitfaden geht auch nicht auf spezifische diagnostische Strategien und Verfahren bei einzelnen Störungsbildern ein. Dies erfolgt in den störungsspezifischen Bänden dieser Reihe Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie. Diese Bände zur Dia|VI|gnostik und Behandlung spezifischer Störungen beziehen sich in ihren Diagnostikleitlinien auf den hier vorliegenden Grundlagenband und weisen auf die jeweils zu beachtenden Besonderheiten (z. B. spezifische Risiken zur Entwicklung der Störung, erhöhte Raten spezifischer komorbider Störungen) und auf spezifische diagnostische Verfahren hin.

Der vorliegende Leitfaden basiert auf den Leitlinien zur Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter internationaler Fachgesellschaften und Arbeitsgruppen, vor allem auf den Practice Parameters for Assessment of Children and Adolescents (American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 1995, 1997, 2007), den Standards für pädagogisches und psychologisches Testen der American Psychological Association und anderer Fachgesellschaften (2014; deutsch: Brückner et al., 2020) und den Kriterien für evidenzbasierte Erfassungsmethoden (Youngstrom et al., 2017; De Los Reyes & Langner, 2018).

Der Leitfaden unterteilt sich in insgesamt vier Kapitel:

1 Im ersten Teil des Buches werden die Grundlagen der Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter zusammenfassend dargestellt. Dabei wird vor allem die konzeptionelle Basis für die Leitlinien aufgezeigt.

2 Im zweiten Teil werden die Leitlinien zur Diagnostik

von psychischen Auffälligkeiten und Kompetenzen von Kindern oder Jugendlichen,

von familiären Interaktionen und psychosozialen Bedingungen sowie

des Entwicklungsstandes, der intellektuellen und schulischen Fähigkeiten

formuliert und ihre Umsetzung in die klinische Praxis dargestellt. In den abschließenden Kapiteln werden die Integration der Ergebnisse, die Bedingungsanalyse und die Vereinbarung von Therapiezielen ausgeführt.

3 Im dritten Kapitel sind einige wichtige publizierte Verfahren kurz und prägnant beschrieben, die in der Diagnostik psychischer Störungen und den damit zusammenhängenden Bedingungen eingesetzt werden können.

4 Das vierte Kapitel enthält Materialien zur Diagnostik, welche die Umsetzung der Leitlinien in die konkrete klinische Praxis erleichtern.

Dieser Band wird durch einen kompakten Ratgeber Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen (Döpfner, Görtz-Dorten & Petermann, in Vorb.) ergänzt, der Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrkräfte und Erzieher:innen enthält. Der Ratgeber informiert über die häufigsten Formen psychischer Störungen und gibt einen Überblick über Behandlungsmöglichkeiten.

1

Hinweis: Beim Abfassen des Textes wurde Wert auf eine möglichst gendersensible, inklusive und barrierearme Sprache gelegt, die alle Geschlechter (m/w/d) umfasst. Im Singular werden abwechselnd weibliche und männliche Formen, im Plural wird der Gender-Doppelpunkt verwendet.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

1  Grundlagen

1.1  Ziele und Aufgaben der Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter

1.2  Kategoriale versus dimensionale Diagnostik

1.3  Das Konzept der evidenzbasierten multimodalen Verhaltens- und Psychodiagnostik

1.4  Grundlagen und Konzepte der Entwicklungs-, Intelligenz- und Leistungsdiagnostik

2  Leitlinien

2.1  Exploration der Eltern

2.1.1  Elternexploration: Basisdaten, Vorstellungsanlass, spontan berichtete Problematik und Erwartungen der Eltern

2.1.2  Elternexploration: Aktuelle psychische Auffälligkeiten des Kindes bzw. Jugendlichen

2.1.3  Elternexploration: Interessen, Aktivitäten, Kompetenzen und positive Eigenschaften des Kindes bzw. Jugendlichen

2.1.4  Elternexploration: Entwicklungsstand und schulische Leistungen des Kindes bzw. Jugendlichen

2.1.5  Elternexploration: Familiärer und sozialer Hintergrund

2.1.6  Elternexploration: Entwicklungsgeschichte des Kindes bzw. Jugendlichen

2.1.7  Elternexploration: Einstellungen zur Therapie

2.2  Exploration und psychopathologische Beurteilung des Kindes bzw. Jugendlichen

2.3  Exploration der Erzieher:innen oder Lehrkräfte und Erhebung anderer Informationen von der Kindertagesstätte oder Schule

2.4  Fragebogen- und Beobachtungsverfahren zur Verhaltens- und Psychodiagnostik

2.4.1  Fragebogenverfahren

2.4.2  Beobachtungsverfahren

2.5  Projektive Verfahren zur Verhaltens- und Psychodiagnostik

2.6  Verfahren der Familien- und Interaktionsdiagnostik

2.7  Entwicklungs-, Intelligenz- und Leistungsdiagnostik

2.7.1  Entwicklungsdiagnostik

2.7.2  Intelligenzdiagnostik

2.7.3  Diagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen und Teilleistungsstörungen

2.8  Integration der Ergebnisse

2.9  Bedingungsanalyse und Vereinbarung der Therapieziele

2.10  Verlaufskontrolle

3  Verfahren zur Diagnostik

3.1  Verfahren zur Verhaltens- und Psychodiagnostik

3.1.1  CASCAP-2: Psychopathologisches Befund-System für Kinder und Jugendliche

3.1.2  DISYPS-III: Diagnostik-System für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-5 für Kinder und Jugendliche – III

3.1.3  DISYPS-ILF: Interview-Leitfäden zum Diagnostik-System für psychische Störungen nach DSM-5 für Kinder und Jugendliche

3.1.4  VBV 3 – 6: Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder

3.1.5  ASEBA: Fragebogenverfahren aus dem Achenbach-System of Empirically Based Assessment (CBCL/1½-5, CBCL/​6 – 18R, C-TRF/1½-5, TRF/6 – 18R, YSR/11 – 18R, BPM, ASR, ABCL)

3.1.6  SDQ: Fragebogen zu Stärken und Schwächen

3.1.7  EMA: Ecological Momentary Assessment mit den Smartphone-Applikationen AUTHARK, JAY und ADHS-KIDS

3.2  Verfahren zur Familiendiagnostik

3.3  Verfahren zur Entwicklungs-, Intelligenz- und Leistungsdiagnostik

3.3.1  ET 6 – 6-R: Entwicklungstest für Kinder von 6 Monaten bis 6 Jahren – Revision

3.3.2  IDS-P: Intelligence and Development Scales – Preschool

3.3.3  IDS-2: Intelligence and Development Scales – 2

3.3.4  WPPSI-IV: Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence – Fourth Edition, deutsche Version

3.3.5  WISC-V: Wechsler Intelligence Scale for Children – Fifth Edition, deutsche Version

3.3.6  AID 3: Adaptives Intelligenz Diagnostikum 3

3.3.7  KABC-II: Kaufman Assessment Battery for Children – Second Edition

3.3.8  WNV: Wechsler Non-verbal Scale of Ability

3.3.9  SON-R 2 – 8 und SON-R 6 – 40: Snijders-Oomen Non-verbale Intelligenztests

4  Materialien

M01 Explorationsschema für Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen (EPSKI)

M02 Verhaltensbeobachtung während der Untersuchung (VEWU)

M03 Problembeurteilungsbogen (PROBO)

M04 Problemtagebuch (PROTA)

M05 Zielbeurteilungsbogen (ZIEBO)

M06 Detektivbogen

M07 Satzergänzungstest

M08 Genogramm

M09 Normtabelle zur Beurteilung umschriebener Entwicklungsstörungen

M10 Multiaxiale Diagnosedokumentation nach ICD-10/Multiaxiales Klassifikationsschema (MAS)

5  Literatur

|1|1  Grundlagen

1.1  Ziele und Aufgaben der Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter

Die Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter umfasst im Kern eine differenzierte Erhebung von psychischen Auffälligkeiten sowie der Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen auf der Ebene des Denkens, der Affekte und des Verhaltens sowie der körperlichen, individuellen und psychosozialen Bedingungen, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der psychischen Auffälligkeiten beitragen. Hauptziel der Diagnostik ist die Indikationsstellung und differenzierte Planung von psychologischen, psychosozialen oder medizinischen Interventionen zur Verminderung der psychischen Auffälligkeiten. In diesem Zusammenhang ist die prognostische Beurteilung des weiteren Verlaufes der psychischen Auffälligkeiten von besonderer Bedeutung. Diagnostisches Handeln kann man somit als Problemdefinitions-, Problemlöse- und Entscheidungsprozess beschreiben, der im Therapieverlauf stets wiederholt werden kann.

Im Verlauf des diagnostischen Prozesses sind somit folgende Fragen zu beantworten:

Hat das Kind bzw. die Jugendliche eine psychische Auffälligkeit?

Wenn eine psychische Auffälligkeit vorliegt, durch welche klinische Diagnose wird die Auffälligkeit am besten beschrieben und wie äußert sich die Auffälligkeit im Detail?

Welche Ursachen hat diese Auffälligkeit unter Berücksichtigung psychischer, familiärer, soziokultureller und biologischer Faktoren? Wie stark sind die Einflüsse dieser einzelnen Faktoren?

Welche Faktoren tragen zur Aufrechterhaltung der Problematik bei?

Welche Stärken und Kompetenzen haben das Kind und die Familie sowie das weitere psychosoziale Umfeld?

Wie ist vermutlich der weitere Verlauf der Auffälligkeit, wenn sie nicht behandelt wird?

Ist eine Intervention notwendig?

Welche Interventionen sind vermutlich am erfolgreichsten?

Für den diagnostischen Prozess lassen sich somit folgende Ziele identifizieren:

Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Diagnostik steht am Anfang einer mitunter längerfristigen therapeutischen Arbeit mit dem Kind oder Jugendlichen und seinen Bezugspersonen. In den ersten Kontakten werden häufig wesentliche Weichen für die weitere Entwicklung der Arbeitsbeziehung zwischen dem Therapeuten und dem Kind oder Jugendlichen sowie seinen Bezugspersonen gestellt. Daher muss von Anfang an dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung sowohl zum Kind oder Jugendlichen als auch zu den Bezugspersonen eine besondere Beachtung geschenkt werden.

Transformation vager Beschwerden in konkrete Fragestellungen. Häufig stehen am Anfang des diagnostischen Prozesses vage Beschwerden oder globale Beschreibungen von Problemen des Kindes bzw. der Jugendlichen durch das Kind bzw. die Jugendliche selbst, durch seine Eltern oder andere Bezugspersonen (z. B. |2|Lehrkräfte oder Erzieher:innen). Aufgabe des diagnostischen Prozesses ist es, diese vagen Beschwerden und globalen Problembeschreibungen durch eine gezielte Exploration und durch andere diagnostische Methoden in konkrete Beschreibungen der Probleme umzusetzen. Bezogen auf Probleme und Beschwerden, die vom Kind oder Jugendlichen geäußert werden, ist die Berücksichtigung des Entwicklungsstandes von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus geben Kinder bzw. Jugendliche selbst und ihre Bezugspersonen häufig divergierende Problembeschreibungen ab. Im Verlauf der Informationssammlung müssen daher auch die verschiedenen Sichtweisen, Beschwerden und Problemdefinitionen aller an dem diagnostischen Prozess Beteiligten konkretisiert und einander gegenübergestellt werden.

Kategoriale diagnostische Einordnung. Das Ergebnis der detaillierten Informationssammlung führt zu einer kategorialen Diagnose auf verschiedenen Ebenen oder Achsen (vgl. Kapitel 1.2). Diese kategoriale Einordnung liefert ein erstes Raster, das für die Interventionsplanung hilfreich, wenn auch nicht ausreichend ist. So ist es für die Interventionsplanung von Bedeutung, ob beispielsweise ein aggressives Verhalten im Rahmen einer Störung des Sozialverhaltens, einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), einer autistischen, einer schizophrenen, einer depressiven Störung oder einer Anpassungsstörung auftritt und ob bei der Patientin eine durchschnittliche Begabung, eine Lernbehinderung oder geistige Beeinträchtigung vorliegt.

Differenzierte Erfassung der psychischen Auffälligkeiten sowie der psychosozialen Belastungen der Patient:innen. Die kategoriale Einordnung der psychischen Auffälligkeit ist hilfreich, vor allem, weil sie die Kommunikation zwischen Expert:innen erleichtert und zur weiteren Spezifikation der diagnostischen sowie therapeutischen Schritte beitragen kann. Darüber hinaus bedarf jedoch die weitere Interventionsplanung einer detaillierten Beschreibung der psychischen Auffälligkeiten und Kompetenzen des Kindes bzw. der Jugendlichen, ihrer kognitiven (einschließlich der motorischen, verbalen und visuellen) Defizite und Fähigkeiten sowie der psychosozialen Bedingungen, unter denen das Kind bzw. die Jugendliche lebt. Die einzelnen Auffälligkeiten lassen sich auf der Verhaltensebene, der emotionalen und der kognitiven Ebene erfassen. Sie werden hinsichtlich ihrer Ausprägung (Intensität), Häufigkeit und ihrer Dauer beschrieben. Mit diesem Vorgehen werden kategoriale und dimensionale Konzepte der Diagnostik miteinander verbunden (vgl. Kapitel 1.2).

Erfassung spezieller Ressourcen und Kompetenzen der Patient:innen und ihres psychosozialen Umfeldes. Die Erfassung von Kompetenzen der Patient:innen, ihrer speziellen Fähigkeiten und Interessen sowie der Ressourcen im psychosozialen Umfeld stellen eine weitere Grundlage für die Interventionsplanung dar, weil Ressourcen und Kompetenzen in der Therapie zur Verminderung der psychischen Auffälligkeiten des Kindes oder Jugendlichen genutzt werden können.

Differenzierte Erfassung der Bedingungen, unter denen das Verhalten auftritt und unter denen es erworben wurde. Die diagnostischen Informationen werden im Rahmen einer Bedingungsanalyse in ein hypothetisches Bedingungsmodell über die Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung integriert. Hierzu müssen die situativen Bedingungen erfasst werden, unter denen die Auffälligkeiten auftreten und unter denen sie nicht auftreten, unter denen sie ursprünglich erworben wurden sowie die zur Aufrechterhaltung der Auffälligkeiten beitragen.

|3|Indikationsentscheidungen. Auf der Basis der kategorialen diagnostischen Einordnung und der differenzierten, meist dimensionalen Beschreibung der psychischen Auffälligkeiten und Kompetenzen, der kognitiven Fähigkeiten und Defizite, der körperlichen Funktionen und der psychosozialen Belastungen und Ressourcen können Entscheidungen über die therapeutische Strategie und die einzelnen Interventionsschritte getroffen werden.

Erfassung von Störungskonzepten, Therapieerwartungen und Therapiezielen. Die Erfassung von subjektiven Störungskonzepten, das heißt von Vorstellungen des Kindes bzw. der Jugendlichen und ihrer Bezugspersonen hinsichtlich der Ursachen der Problematik sowie der notwendigen Maßnahmen, kann für die Interventionsplanung von entscheidender Bedeutung sein. Zusammen mit den Therapieerwartungen sowie den Therapiezielen der Patient:innen und der Bezugspersonen stellen diese Informationen eine wesentliche Grundlage für eine Motivationsanalyse dar. Häufig differieren die Störungskonzepte, Therapieerwartungen und Therapieziele des Kindes bzw. der Jugendlichen und der verschiedenen Bezugspersonen.

Klärung des therapeutischen Auftrags. Mit verschiedenen Problemsichtweisen sind häufig auch unterschiedliche therapeutische Aufträge verknüpft. Im Unterschied zur Erwachsenenpsychotherapie sind Therapeut:innen bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen häufig mit verschiedenen Auftraggeber:innen konfrontiert. Meist wird die Vorstellung des Kindes oder des Jugendlichen unmittelbar von den Eltern veranlasst, welche die Vorstellung entweder aus eigenem Antrieb vornehmen oder von anderen Personen und Institutionen (Erzieher:innen, Lehrkräfte, Verwandte, Ärzt:innen, Jugendamt) dazu angeregt oder gar gedrängt werden. Zwar stellen die Eltern – neben den Jugendlichen – in aller Regel die primären Auftraggeber dar, doch ist die Spezifizierung und Klärung des therapeutischen Auftrages, der vom älteren Kind oder der Jugendlichen selbst, vom Vater, von der Mutter und von anderen wichtigen Bezugspersonen oder Institutionen ausgeht, eine wesentliche Aufgabe des diagnostischen Prozesses.

Aufbau von Änderungsmotivation. Vor allem Kinder, häufig aber auch Jugendliche, suchen im Gegensatz zu Erwachsenen eine Therapie nicht aus einem Leidensdruck oder einem Problembewusstsein heraus auf, sondern sie werden meist von erwachsenen Bezugspersonen vorgestellt. Häufig muss daher beim Kind bzw. beim Jugendlichen, nicht selten aber auch bei Bezugspersonen, eine tragfähige Änderungsmotivation aufgebaut werden.

Therapiebegleitende Diagnostik. Die Ergebnisse der Therapie werden schließlich in einer kontinuierlichen Verlaufskontrolle überprüft. Im Rahmen dieser Verlaufskontrollen können auch weitergehende diagnostische Maßnahmen erneut indiziert sein; therapeutische Aufträge und Therapieziele können sich verändern sowie die Bedingungen, die zur Aufrechterhaltung der Auffälligkeit beitragen.

Vor dem Hintergrund rapider Entwicklungsveränderungen im Kindes- und Jugendalter ist eine entwicklungsorientierte Herangehensweise in der Diagnostik psychischer Störungen unabdinglich. Die für den diagnostischen Prozess ausgewählten diagnostischen Vorgehensweisen müssen erstens dem Entwicklungsstand des Kindes bzw. Jugendlichen gerecht werden (entwicklungsorientierte Diagnostik) und sie müssen zweitens berücksichtigen, dass sich psychische Auffälligkeiten in den einzelnen Entwicklungsstufen verschieden manifestieren.

|4|Der diagnostische Prozess verläuft in der Regel in mehreren Stufen, die in Abbildung 1 dargestellt sind. Grundlage und unverzichtbare Komponente der Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter stellt die ausführliche klinische Exploration der Eltern, des Kindes bzw. des Jugendlichen selbst und anderer wichtiger Bezugspersonen (z. B. Erzieher:innen oder Lehrkräfte) dar. Diese klinische Exploration bezieht sich im Kern sowohl auf die psychischen Auffälligkeiten und Kompetenzen des Kindes bzw. der Jugendlichen, einschließlich deren Entstehung und Verlauf, als auch auf die kognitiven (einschließlich der motorischen, verbalen und visuellen) Defizite und Fähigkeiten, die körperlichen Funktionen und die familiären und weiteren psychosozialen Bedingungen, unter denen das Kind bzw. die Jugendliche lebt. Sie gibt damit auch wesentliche Hinweise auf prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen der psychischen Auffälligkeiten.

Auf der Grundlage dieser klinischen Exploration können weitere diagnostische Verfahren eingesetzt werden, die eine differenzierte Erfassung ermöglichen von

psychischen Auffälligkeiten und Kompetenzen des Kindes oder des Jugendlichen (Verhaltens- und Psychodiagnostik),

kognitiven (einschließlich der motorischen, verbalen und visuellen) Defiziten und Fähigkeiten (Entwicklungs-, Intelligenz-, Leistungs- und neuropsychologische Diagnostik),

körperlichen Funktionen (medizinische Diagnostik) und

psychosozialen Bedingungen (Familien- und Interaktionsdiagnostik und Diagnostik weiterer psychosozialer Bedingungen).

Dafür können verschiedene diagnostische Methoden eingesetzt werden, vor allem:

standardisierte Fragebogenverfahren,

Methoden der Verhaltensbeobachtung,

psychologische Testverfahren,

körperliche Untersuchungen,

apparative Verfahren zur psychologischen oder medizinischen Diagnostik.

In der Regel ist eine ausführliche Verhaltens- und Psychodiagnostik unabdingbar und andere Verfahren zur Entwicklungs-, Intelligenz-, Leistungs- und neuropsychologischen Diagnostik, zur medizinischen Diagnostik oder zur Familien- und Interaktionsdiagnostik sowie zur Diagnostik weiterer psychosozialer Bedingungen werden je nach Indikation eingesetzt. Die Ergebnisse dieser weiterführenden Diagnostik können eine weitere Exploration hinsichtlich bestimmter Aspekte anstoßen.

Die Integration der diagnostischen Ergebnisse führt

zu einer dimensionalen Beschreibung der psychischen Störungen und Kompetenzen, der kognitiven Defizite und Fähigkeiten und der psychosozialen Bedingungen;

zu einer kategorialen Diagnose auf der Grundlage entweder der International Classification of Diseases (ICD-10/ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation (2008, 2015, 2022) oder des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) der American Psychiatric Association (deutsch: APA/Falkai et al., 2018). Die kategoriale Diagnose bezieht sich in den multiaxialen Fassungen dieser Klassifikationsschemata auf die psychischen Störungen, die spezifischen Entwicklungsstörungen, das Intelligenzniveau, die körperlichen Erkrankungen und die psychosozialen Bedingungen (vgl. Kapitel 1.2).

|5|

Abbildung 1:  Der diagnostische Prozess

|6|Auf der Grundlage dieser Befunde lässt sich im nächsten Schritt eine Bedingungsanalyse durchführen, in der ein hypothetisches Modell über die intrapsychischen, psychosozialen und biologischen Faktoren entwickelt wird, die zur Entstehung der psychischen Störung und ihrer Aufrechterhaltung beitragen. Danach kann eine motivationale Analyse durchgeführt werden, in der die Änderungsmotivation aller Beteiligten exploriert wird und die schließlich in die Vereinbarung von Therapiezielen und die konkrete Therapieplanung mündet. Die Effekte der Intervention werden durch eine Verlaufskontrolle überprüft, in deren Rahmen sich auch noch einmal die Aufnahme ergänzender diagnostischer Schritte als notwendig erweisen kann.

1.2  Kategoriale versus dimensionale Diagnostik

In der Diagnostik psychischer Störungen lassen sich zwei Ansätze unterscheiden, die mit verschiedenen Traditionen verknüpft sind, aber in letzter Zeit zunehmend konvergieren (vgl. Döpfner & Lehmkuhl, 1997; Döpfner & Görtz-Dorten, 2010; Döpfner, 2022):

In der kategorialen Diagnostik werden psychische Störungen als diskrete, klar voneinander und von psychischer Normalität abgrenzbare und unterscheidbare Störungseinheiten beschrieben. Diesem kategorialen Ansatz sind die beiden wichtigsten klinischen Klassifikationssysteme verpflichtet: die Internationale Klassifikation Psychischer Störungen (ICD) der Weltgesundheitsorganisation, die in ihrer 10. Version (ICD-10) zur Zeit noch angewandt wird, aber in der 11. Version (ICD-11; World Health Organization, 2022; deutsch: Weltgesundheitsorganisation, 2022) bereits vorliegt, und das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM) der American Psychiatric Association in seiner fünften Version (DSM-5; deutsch: APA/Falkai et al. 2018).

Durch eine dimensionale Diagnostik werden psychische Merkmale einer Person kontinuierlich erfasst und beschrieben. Sie basiert auf der methodischen Grundlage der Psychometrie und multivariater statistischer Verfahren und beschreibt psychische Auffälligkeiten anhand von empirisch gewonnenen Dimensionen.

Beide Konzepte unterscheiden sich bereits im Ansatz voneinander – der kategorialen Diagnostik liegt eine Diskontinuitätsannahme zugrunde, die eine klare Grenze, mitunter auch einen qualitativen Sprung, zwischen normalen und abnormen psychischen Phänomenen postuliert. Sie beinhaltet sich gegenseitig weitgehend ausschließende Kategorien und steht in der Tradition der medizinischen Diagnostik. Ein dimensionales System klassifiziert psychische Auffälligkeiten dagegen nicht durch die Zuweisung zu Kategorien, sondern anhand kontinuierlich verteilter Merkmale. Ihm liegt somit eine Kontinuitätsannahme zugrunde, nach der es nahtlose Übergänge zwischen normalen und abnormen psychischen Phänomenen gibt. Abbildung 2 stellt die Unterschiede zwischen kategorialer und dimensionaler Diagnostik beispielhaft grafisch dar. In einem Raum, der beispielsweise durch die Dimensionen Hyperaktivität, Aggressivität und Depressivität definiert wird, lassen sich einzelne Individuen entsprechend ihrer Ausprägung auf diesen Dimensionen lokalisieren und beschreiben. Die kategoriale Klassifikation verlangt dagegen, wie Abbildung 2 zeigt, die Bestimmung von Grenzwerten, die eine Zuordnung der Individuen zu den diskreten Diagnoseklassen ermöglichen (vgl. Döpfner & Lehmkuhl, 1997).

|7|

Abbildung 2:  Vergleich von kategorialer und dimensionaler Diagnostik (aus Döpfner & Lehmkuhl, 1997)

Kategoriale Diagnostik

Die beiden international verbreiteten Systeme zur Klassifikation psychischer Störungen, die ICD (ICD-10/ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation und das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-5) der American Psychiatric Association sind der kategorialen Diagnostik verpflichtet. Im deutschen Sprachraum liegt zudem das aus der ICD-10 abgeleitete Multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters vor (Remschmidt et al., 2017). Diese Systeme gelten als Substrat klinischer Erfahrungen und empirischer Untersuchungen und bilden den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Klinischen Kinderpsychologie und der Kinder- und Jugendpsychiatrie ab. In den aktuellen Versionen ist eine deutliche Konvergenz beider Klassifikationssysteme festzustellen.

Beide Systeme basieren auf dem Prinzip operational definierter Diagnosekategorien, d. h. der expliziten Angabe von Kriterien und diagnostischen Entscheidungsregeln. Die Kriterien beziehen sich bei allen Diagnosen auf das Erscheinungsbild der Störungen (Symptome), gelegentlich auch auf ihren Verlauf. Ätiologische Konzepte, die in früheren Klassifikationen häufig angewandt wurden, entfallen bei |8|den meisten Diagnosen, weil sie für die meisten Störungen nicht als gesichert gelten können. Ätiologische Gesichtspunkte fließen nur in die Definition von wenigen Störungen, wie die organisch bedingten Störungen, die posttraumatischen Belastungsstörungen, die Anpassungsstörungen oder die Bindungsstörungen ein, wenn weitgehende Einigkeit hinsichtlich der Störungsgenese besteht. Bei mehreren Störungsbildern sind die Diagnosekriterien beider Systeme weitgehend identisch; bei anderen Störungsbildern unterscheiden sich die Systeme dagegen in Einzelkriterien. Die Diagnosen beider Systeme sind daher weitgehend, jedoch nicht vollständig miteinander vergleichbar.

Außerdem existieren auch weiterhin zwischen den Systemen grundlegende Unterschiede in der Konzeption. Für die ICD-10 wurden sowohl klinisch-diagnostische Leitlinien (Weltgesundheitsorganisation, 2015) als auch Forschungskriterien (Weltgesundheitsorganisation, 2008) erarbeitet. Die ICD-11 und das DSM-5 liegen dagegen in einer einheitlichen Fassung vor, die sowohl für die Praxis als auch für die Forschung genutzt wird. Die klinisch-diagnostischen Leitlinien der ICD-10 beinhalten eine umfassende Beschreibung der Störung und lassen Untersucher:innen einen relativ großen diagnostischen Spielraum, da sie entweder auf strikt formulierte und operationalisierte diagnostische Kriterien verzichten oder eine relativ weiche Definition der Diagnosekriterien vornehmen, die im allgemeinen unter dem Grenzwert der Diagnosekriterien des DSM-5 liegen. Die Forschungskriterien der ICD-10 und des DSM-5 beinhalten dagegen strenge und eindeutig operationalisierte Kriterien, die vor allem wissenschaftlichen Untersuchungen dienen und zu einer Stichprobenhomogenisierung beitragen sollen. Bei vielen Diagnosen stimmen DSM-5-Kriterien und ICD-10-Forschungskriterien in der Formulierung weitgehend überein, allerdings liegen die Grenzwerte der ICD-10-Forschungskriterien für eine Diagnose (die Anzahl der zu erfüllenden Kriterien) gelegentlich über jenen des DSM-5. Die ICD-11 geht hinsichtlich der Operationalisierung der Diagnosekriterien einen Mittelweg, indem sie in den diagnostischen Anforderungen (diagnostic requirements) operationalisierte Kriterien präsentiert, aber die genauen Grenzwerte in Form der genauen Anzahl der zu erfüllenden Kriterien meist nicht eindeutig benennt. Diese Strategie wird damit begründet, dass eine weitgehende Operationalisierung wie im DSM-5 eine Genauigkeit vortäuscht, die in der klinischen Praxis nicht gefunden werden kann.

Obwohl beide Diagnosesysteme voneinander möglichst klar abgegrenzte diagnostische Einheiten beschreiben, werden multiple Diagnosen ausdrücklich zugelassen, wobei in der ICD-10 durch die Definition von Kombinationsdiagnosen bei jenen Störungsbildern, die häufig gemeinsam auftreten, Mehrfachdiagnosen stärker vermieden werden als im DSM-5. Die ICD-11 verlässt die Strategie der Kombinationsdiagnosen der ICD-10 und sieht dann ebenfalls Mehrfachdiagnosen vor.

Die ICD-10 beschreibt psychische Störungen in 10 Hauptgruppen (F0 bis F9), die in Tabelle 1 dargestellt sind. Das DSM-5 weist im Wesentlichen eine vergleichbare Einteilung auf. Unter F8 und F9 sind in der ICD-10 jene Störungen zusammengefasst, die typischerweise im Kindes- oder Jugendalter beginnen. Allerdings sind prinzipiell auch alle anderen Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen anwendbar, etwa die Diagnose von Essstörungen (unter F5) oder von Depression (unter F3). Im Allgemeinen werden bei diesen Diagnosen die gleichen Kriterien für Kin|9|der, Jugendliche und Erwachsene angelegt. Bei einzelnen Diagnosen (z. B. bei Angst- und bei depressiven Störungen) werden im DSM-5 allerdings für Kinder und Jugendliche ergänzend spezifische Kriterien aufgeführt (z. B. unterschiedliche Mindestzeiträume des Auftretens der Symptomatik oder zusätzliche Symptome). Die ICD-11 differenziert die Struktur der ICD-10 weiter auf, wie Tabelle 1 zeigt. Stärkere Veränderungen sind in der ICD-11 auch bei den ICD-10-Kategorien von F8 und F9 festzustellen, die jene Störungen zusammenfassen, die typischerweise im Kindes- oder Jugendalter beginnen. Zudem werden Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörungen in der ICD-11 außerhalb der psychischen Störungen als eigene Störungsgruppen klassifiziert. Zusammen mit den sexuellen Funktionsstörungen wird auch die Geschlechtsinkongruenz in der ICD-11 aus der Gruppe der psychischen Störungen herausgenommen und in eine eigenständige Diagnosekategorie der „Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“ zusammengefasst.

Tabelle 1:  Übersicht über die Hauptkategorien psychischer Störungen nach ICD-10 und ICD-11

ICD-10

ICD-11

F0

Organische einschließlich symptomatischer psychischer Störungen

6D7

6E

Neurokognitive Störungen

F1

Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

6C4

6C5

Störungen durch Substanzgebrauch oder Verhaltenssüchte

F2

Schizophrenie, schizoptype und wahnhafte Störungen

6A2

Schizophrenie oder andere primäre psychotische Störungen

6A4

Katatonie

F3

Affektive Störungen

6A6

6A7

6A8

Affektive Störungen

F4

Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen

6B0

Angst- oder furchtbezogene Störungen

6B2

Zwangsstörung oder verwandte Störungen

6B4

Störungen, die spezifisch stressassoziiert sind

6B6

Dissoziative Störungen

6C2

Störungen des körperlichen Erlebens oder der körperlichen Belastung

|10|F5

Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren

6B8

Fütter- oder Essstörungen

6E2

Psychische Störungen oder Verhaltensstörungen in Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt oder Wochenbett

(7A0, 7A2, 7A6)

(Diverse Schlafstörungen)

(HA6)

(Geschlechtsinkongruenz)

F6

Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

6D1

Persönlichkeitsstörungen und zugehörige Persönlichkeitsmerkmale

6C7

Störungen der Impulskontrolle

6D3

Paraphile Störungen

6D5

Artifizielle Störungen

F7

Intelligenzminderung

6A0

Störungen der Intelligenzentwicklung

F8

Entwicklungsstörungen

6A1

Neuronale Entwicklungsstörungen

F9

Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

6A1

Neuronale Entwicklungsstörungen

6C9

Disruptives Verhalten oder dissoziale Störungen

6C0

Ausscheidungsstörungen

6B0

Angst- oder furchtbezogene Störungen

Tabelle 2 gibt eine Übersicht über die in der ICD-10 unter F8 zusammengefassten Entwicklungsstörungen und die entsprechenden Störungen im DSM-5. Im DSM-5 werden die korrespondierenden ICD-10-Kodierungen angegeben. Bei den unter F8 zusammengefassten Entwicklungsstörungen geht man gemäß der ICD-10 davon aus, dass

der Beginn der Störungen ausnahmslos im Kleinkindalter oder in der Kindheit liegt,

eine Einschränkung oder Verzögerung der Entwicklung von Funktionen vorliegt, die eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems verknüpft sind, und

ein stetiger Verlauf ohne die für psychische Störungen sonst typischen Remissionen (Rückgang der Symptomatik) und Rezidive (Rückfall) beobachtet werden kann.

|11|Das DSM-5 nimmt diese Gruppierung nicht vor. Die ICD-11 orientiert sich in der Einteilung der psychischen Störungen stärker am DSM-5 und beide Systeme gruppieren diese Entwicklungsstörungen zusammen mit ADHS und Tic-Störungen sowie den Intelligenzbeeinträchtigungen unter die neuronalen Entwicklungsstörungen bzw. die Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung, um den engen Bezug dieser Störungen zur neuronalen Reifung deutlich zu machen. Entsprechend der Strategie der ICD-10, für jene Störungen, die häufig gemeinsam auftreten, eine Kombinationsdiagnose vorzusehen, wird mit dem Abschnitt F83 eine Diagnosekategorie für „kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen“ gebildet, die dann vergeben werden soll, wenn mehr als eine der Diagnosen aus den Abschnitten F80 bis F82 vorliegt. Sowohl das DSM-5 als auch die ICD-11 sehen keine Kombinationsdiagnosen vor, sondern ermöglichen Mehrfachdiagnosen.

Tabelle 2:  Entwicklungsstörungen (F8) nach ICD-10 und entsprechende DSM-5- und ICD-11-Kategorien