Diagnostik und Therapie bei Bandscheibenschäden - Doris Brötz - E-Book

Diagnostik und Therapie bei Bandscheibenschäden E-Book

Doris Brötz

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Beschreibung

Bandscheibenschäden stellen den Betroffenen vor ein großes Problem: Die Lebensqualität leidet enorm, wenn jede Bewegung schmerzt. Umso wichtiger ist es als Physiotherapeut die richtigen Gegenmaßnahmen zu kennen. Doris Brötz, Physiotherapeutin aus Tübingen, und Michael Weller, Professor für Neurologie und Direktor der neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitäts- Spitals Zürich, stellen in diesem Buch ihre klinische und wissenschaftliche Arbeit zur spezifischen Therapie bei Bandscheibenschädigungen unter anderem nach dem McKenzie-Konzept vor. In der völlig überarbeiteten und aktualisierten Auflage lernen Sie die Physiotherapie bei Patienten mit Bandscheibenschäden kennen und erfahren alles - zu nötigen Grundlagenwissen aus der Anatomie, Physiologie und Epidemiologie - zum Untersuchen - von der Anamnese über die Bewegungstests der Wirbelsäule bis zur Nervenleitfähigkeit - zu kombinierten Erkrankungen, die noch ausführlicher berücksichtigt sind - zu Rehabilitation und Prävention - und zu Ergebnissen ausgewählter Studien

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Seitenzahl: 533

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Diagnostik und Therapie bei Bandscheibenschäden

Neurologie und Physiotherapie

Doris Brötz, Michael Weller

4. Auflage

245 Abbildungen

Geleitwort

Statt eines Vorworts Früher, ja da war ich ein sportlicher Typ mit mehreren Auszeichnungen. Mit dem Beruf haben allerdings die sportlichen Aktivitäten nachgelassen. Es ging ja auch so ganz gut – jahrzehntelang – und ich habe nebenbei immer noch geglaubt, dass ich durchtrainiert wäre. Ich muss sagen, ich habe mich nicht sonderlich um meinen Körper gekümmert; er gab mir auch keine Veranlassung dazu.

Doch dann, nach einer vergleichsweise gut verlaufenen Bandscheibenoperation und anschließend 4 Wochen Rehabilitation merkte ich, dass manche Bewegungen eingerostet waren. Dann fiel ich der Physiotherapeutin Doris Brötz in die Hände, die den nunmehr für mich entscheidenden Satz sprach: „Was man nicht fortgesetzt benützt: Gelenk, Muskel und auch Hirn, schwindet, verkümmert.“

Daraufhin erinnerte ich mich an längst vergessene Bewegungen, die ich offensichtlich schon geraume Zeit nicht mehr ausübte. Dabei denke ich nicht mal an Übungen wie Kniebeugen oder Liegestütz – nein, ganz normal: bücken, aufstehen aus einem Sessel, Treppen steigen und hinuntergehen. Ich war offensichtlich dazu übergegangen, Bewegungen zwar rationeller, aber eingeschränkter auszuführen.

Nun die Frage: Hätte es eine Turn- und Gymnastikanleitung allein nicht auch getan? Heute weiß ich – nein. Selbst wenn ich mich bemühe, die angewiesenen Übungen regelgerecht auszuführen, man lässt nach, schlampt, vereinfacht die Übungen oder lässt sie ganz weg. Für mich ist es wichtig, nach ein paar Monaten der Selbstkontrolle wieder den Rat bzw. die kritischen Augen der Therapeutin zu bemühen und neue Übungen zu akzeptieren. Sie rügt Nachlässigkeiten und belohnt auch mit der knappen Bemerkung: Das war perfekt. Es kommt zu einem Erfolgserlebnis, wenn man Fortschritte bemerkt und erkennt, wie wichtig das für das eigene Image sein kann. Das heißt aber nicht, dass man auf die schriftliche Anleitung verzichten kann. Zunächst erfährt man aus kundiger Feder, wie die Wirbelsäule gebaut ist, wie sie bei verschiedenen Bewegungen funktioniert. Außerdem wird in ansprechenden Bildern gezeigt, wie man sich richtig hält, Fehlhaltungen vermeidet und wie man Muskeln, Nerven und Gelenke schont bzw. wie man sie trainiert. Zweckmäßig sind das schrittweise Vorgehen und die Hinweise zur Selbstkontrolle.

Nun ist es 12 Jahre her, dass ich über meine Erfahrung schrieb. Seither befolge ich weiterhin die damaligen Empfehlungen zu verschiedenen Körperbewegungen.

Es beginnt morgens mit 10 Minuten Bodenturnen. Wenn ich heute mit 90 Jahren noch Spaziergänge machen, schwimmen und Ball spielen kann, so bin ich überzeugt, dass dies zum großen Teil der Physiotherapie zu verdanken ist.

Prof. Dr. Dr. h.c. Erich Körber, ein Patient

Autorenvorstellung

Doris Brötz wurde 1958 in Ulm geboren, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Nach der Hochschulreife (1978) absolvierte sie die Berufsausbildung als Physiotherapeutin in Berlin und Tübingen (1978–1982). Von 1982–1986 war sie als Physiotherapeutin an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen tätig. Nach dem Erziehungsurlaub arbeitete sie zunächst an der Chirurgischen Universitätsklinik Tübingen und wechselte 1993 an die Neurologische Universitätsklinik Tübingen. Von April 2001 bis September 2007 war sie dort Leitende Physiotherapeutin (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Johannes Dichgans und später Prof. Dr. Michael Weller). Seit Oktober 2007 ist sie im Rahmen von Lernstudien im Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie (Leiter: Prof. Dr. Niels Birbaumer) und in eigener Praxis tätig.

Seit 1996 hat Doris Brötz mehrere Studien zur physiotherapeutischen Diagnostik und Therapie bei Patienten mit lumbalen Bandscheibenvorfällen in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Michael Weller geplant und durchgeführt. Ziel der Studien sind Untersuchungen zur Wirksamkeit und Qualitätsoptimierung der Therapie. Darauf basierend wurde ein eigenes Behandlungskonzept für Patienten mit Bandscheibenleiden entwickelt. Außerdem wurden die Bedeutung der medikamentösen Therapie mit Muskelrelaxanzien bei der physiotherapeutischen Behandlung von Patienten mit lumbalen Bandscheibenvorfällen und Veränderungen des kernspintomografischen Erscheinungsbilds lumbaler Bandscheibenvorfälle während der Physiotherapie untersucht.

Weitere Interessensgebiete von Doris Brötz liegen in der Analyse und Physiotherapie von Patienten mit neurologischen Erkrankungen, Hintergründen zu motorischem Lernen und zu Motivation. Sie entwickelte diagnostische Tests und physiotherapeutische Behandlungskonzepte für Patienten mit Ataxie, für Patienten mit Pusher-Symptomatik und für die Verbesserung der sensomotorischen Selbstkontrolle von Patienten mit Hemiparese.

Prof. Dr. Michael Weller wurde 1962 in Rheinbach geboren, ist verheiratet und hat vier Kinder. Er studierte Medizin in Köln (1982–1989), arbeitete zunächst als Arzt im Praktikum an der Neurologischen Klinik in Tübingen (1989–1990) und war dann in der Psychiatrischen Klinik in Würzburg tätig (1991). Er wechselte zu Forschungsaufenthalten an das National Institute of Mental Health in Bethesda, Maryland, USA (1992) und an das Universitätsspital Zürich, Abteilung für Klinische Immunologie (1993–1994). Dort beschäftigte er sich mit Untersuchungen zu Zelltodprozessen im Gehirn und speziell mit der experimentellen Therapie maligner Hirntumoren. Er kehrte 1995 an die Neurologische Klinik nach Tübingen zurück, 1997 erfolgte die Habilitation auf dem Gebiet der Neuro-Onkologie, seit 2001 war er Leitender Oberarzt und Stellvertretender Ärztlicher Direktor, ab Oktober 2005 Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik. Neben dem wissenschaftlichen und klinischen Schwerpunkt der Neuro-Onkologie betreute er oberärztlich die Schmerzambulanz der Neurologischen Klinik. In Zusammenarbeit mit der Abteilung für Physiotherapie der Neurologischen Klinik hat er den Schwerpunkt der konservativen physiotherapeutischen Behandlung von Bandscheibenleiden in Tübingen etabliert und dort die klinischen Studien zu dieser Thematik geleitet. Seit Januar 2008 ist er Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsspital Zürich.

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Autorenvorstellung

1 Einleitung

2 Allgemeine Grundlagen

2.1 Anatomie von Wirbelsäule und Nervensystem

2.1.1 Muskulatur

2.1.2 Knöcherne Wirbelsäule und Ligamente

2.1.3 Bandscheiben

2.1.4 Nervensystem

2.1.5 Biomechanik von Nervensystem und Wirbelsäule

2.2 Pathophysiologie des Bandscheibenschadens

2.2.1 Mechanik eines Bandscheibenvorfalls

2.2.2 Klassifikation von Bandscheibenschäden

2.2.3 Bandscheibenschaden und Muskelspannung

2.2.4 Nervenschädigung im Zusammenhang mit einem Bandscheibenvorfall

2.2.5 Regenerationsprozesse und Erholung von Bandscheibe und Nerv

2.3 Schmerz

2.3.1 Schmerzlokalisation

2.3.2 Schmerzmessung

2.3.3 Zeitlicher Verlauf der Schmerzen

2.3.4 Physiologie des Schmerzes

2.3.5 Pathophysiologie des Schmerzes – Chronifizierung

2.4 Funktionseinschränkung: objektive und subjektive Gesichtspunkte, Fragebögen

2.4.1 Objektivierbare Gesichtspunkte

2.4.2 Subjektive Gesichtspunkte; Fragebögen

2.5 Epidemiologie, Risikofaktoren

2.6 Verhalten, Aktivität und Selbstbestimmtheit

2.6.1 Selbstbestimmungstheorie

2.6.2 Locus of control

3 Ärztliche Diagnostik und Therapie bei Bandscheibenvorfällen

3.1 Anamnese und klinische Untersuchung

3.1.1 Anamnese

3.1.2 Klinisch-neurologische Untersuchung

3.2 Apparative Diagnostik

3.2.1 Elektromyografie

3.2.2 Elektroneurografie

3.2.3 Evozierte Potenziale

3.2.4 Liquoruntersuchung

3.2.5 Radiologische Diagnostik

3.3 Medikamentöse Therapie

4 Physiotherapeutische Diagnostik

4.1 Anamnese

4.2 Sichtbefund

4.3 Körperliche Untersuchung

4.3.1 Sensibilitätstests

4.3.2 Muskelfunktionstests

4.3.3 Untersuchung der Nervengleitfähigkeit

4.4 Erste physiotherapeutische Verdachtsdiagnose

4.5 Bewegungstests der Wirbelsäule

4.5.1 Reihenfolge der Testbewegungen

4.5.2 Intensität der Bewegungstests

4.5.3 Änderungen der Symptome durch die Testbewegungen

4.6 Allgemeine Anleitung zum Ausfüllen der Befundbögen

4.7 Diagnose

4.7.1 Typische Veränderungen der Symptome bei Bandscheibenschäden

4.7.2 Herleiten der Diagnose

5 Therapieablauf bei der Diagnose Bandscheibenschaden

5.1 Bestandsaufnahme

5.2 Verlauf der Behandlung

5.2.1 Psychosoziale Aspekte

5.2.2 Funktionelle Aspekte

5.2.3 Zeitliche Aspekte

5.2.4 Dosierungsaspekte

5.3 Grundsätzliches Vorgehen bei der Physiotherapie von Patienten mit Bandscheibenschäden

5.3.1 Befunderhebung und Dokumentation

5.3.2 Prüfen und Üben der Therapiebewegungen

5.3.3 Instruktion und Information der Patienten

5.4 Mechanischer Einfluss der Therapie auf die Bandscheibenverletzung

5.5 Mechanischer Einfluss der Therapie auf das Nervensystem

5.6 Tipps für alltägliches Verhalten

5.7 Beurteilung des Therapieerfolgs und Abwägen einer Änderung der Behandlungsstrategie

5.8 Operationsindikationen

5.9 Postoperative Therapie

6 LWS

6.1 Befunderhebung LWS

6.1.1 Sichtbefund

6.1.2 Diagnostische Tests

6.2 Herleiten der Diagnose

6.3 Therapieablauf bei der Diagnose Bandscheibenschaden

6.3.1 Bewegungen der Wirbelsäule

6.3.2 Vom Therapeuten passiv durchgeführte Bewegungen der Wirbelsäule des Patienten

6.3.3 Bewegungen zur Mobilisation des Nervensystems

6.3.4 Bewegungsverhalten in der akuten Phase

6.3.5 Stabilisierungsphase

6.3.6 Wiederherstellung der ursprünglichen Belastbarkeit

6.3.7 Rehabilitation, Alltag und Prophylaxe

6.4 Wenn eine Operation notwendig war

6.5 Fallbeispiel

7 Brustwirbelsäule

7.1 Befunderhebung BWS

7.1.1 Sichtbefund

7.1.2 Diagnostische Tests

7.2 Herleiten der Diagnose

7.3 Therapieablauf bei der Diagnose Bandscheibenschaden

7.3.1 Bewegungen der Wirbelsäule

7.3.2 Bewegungen zur Mobilisation des Nervensystems

7.3.3 Bewegungsverhalten in der akuten Phase

7.3.4 Stabilisierungsphase

7.3.5 Wiederherstellung der ursprünglichen Belastbarkeit

7.3.6 Rehabilitation, Alltag und Prophylaxe

7.4 Wenn eine Operation notwendig war

7.5 Fallbeispiel

8 HWS

8.1 Befunderhebung HWS

8.1.1 Sichtbefund

8.1.2 Diagnostische Tests

8.2 Herleiten der Diagnose

8.3 Therapieablauf bei der Diagnose Bandscheibenschaden

8.3.1 Bewegungen der Wirbelsäule

8.3.2 Vom Therapeuten passiv durchgeführte Bewegungen der Wirbelsäule des Patienten

8.3.3 Bewegungen zur Mobilisation des Nervensystems

8.3.4 Bewegungsverhalten in der akuten Phase

8.3.5 Stabilisierungsphase

8.3.6 Wiederherstellung der ursprünglichen Belastbarkeit

8.3.7 Rehabilitation, Alltag und Prophylaxe

8.4 Wenn eine Operation notwendig war

8.5 Fallbeispiel

9 Rehabilitation und Prävention

9.1 Haltungsschulung

9.1.1 Haltung im Stehen und Gehen

9.1.2 Haltung im Sitzen

9.1.3 Liegen

9.2 Stabilität

9.2.1 Willentliche Aktivierung der stabilisierenden Muskulatur

9.2.2 Reaktive Aktivierung der stabilisierenden Muskulatur

9.2.3 Jonglieren

9.3 Kraft

9.4 Beweglichkeit

9.5 Koordination, Gleichgewicht und Vernachlässigung

9.6 Kondition

9.7 Individuelle Ausgleichsbewegungen

10 Mit Bandscheibenschäden häufig kombiniert auftretende Erkrankungen

10.1 Mechanisch wirkende Zusatzerkrankungen

10.1.1 Instabilität und Facettenschmerz

10.1.2 Spinale oder foraminale Enge

10.1.3 Entzündete oder fibrosierte Nervenwurzel

10.2 Nicht mechanische Zusatzerkrankungen

11 Psychosoziale Risikofaktoren

12 Ausgewählte Studien zum Thema

12.1 Biomechanik beim Nervendehnungstest

12.2 CT-Verlaufskontrolle bei Bandscheibenvorfällen der HWS

12.3 Zentralisierung ausstrahlender Schmerzen

12.4 Mechanische Physiotherapie bei lumbalen Bandscheibenvorfällen

12.5 Operative versus konservative Therapie beim lumbalen Bandscheibenvorfall

12.6 MRT-Untersuchung in verschiedenen Wirbelsäulenpositionen

13 Glossar

14 Literaturverzeichnis

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

1 Einleitung

„Kopf hoch“ ist ein nützliches Motto für Menschen mit Bandscheibenleiden. Wie in diesen zwei Worten zieht sich Optimismus, gepaart mit konkreten Handlungsanweisungen zur Selbsthilfe als roter Faden durch dieses Buch. Grundlage beider Aspekte sind wissenschaftliche Erkenntnisse und jahrelange Erfahrung in der Untersuchung und Behandlung von Patienten mit Wirbelsäulenleiden.

Was ist neu im Vergleich zu der 2003 erstmals erschienenen und 2008 überarbeiteten Version unseres Buches?

Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Diagnostik und Therapie bei unspezifischem Rückenschmerz, chronischem Rückenschmerz, Bandscheibenvorfall, postoperativer Behandlung nach Bandscheibenvorfall, spinaler Enge, Instabilität und eingeschränkter Nervengleitfähigkeit einschließlich eigener, bisher unveröffentlichter Studien,

psychologische Modelle zur internen und externen Kontrollüberzeugung, Salutogenese („Was macht uns gesund?“) und Konditionierung,

Hinweise auf die Internationale Klassifizierung von Funktion, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health: ICF),

ausführlichere Darstellung der Pflege der Facettengelenke in der Folge einer Bandscheibenverletzung und nach einer Bandscheibenoperation,

breiterer Raum für die physiotherapeutische Diagnostik und Therapie von kombinierten Wirbelsäulenerkrankungen,

zahlreiche Beispiele radiologischer Befunde für ein vertieftes pathophysiologisches Verständnis,

funktionelles Training und Beispiele für gesundheitsförderliches Verhalten im Berufsalltag mit Fallbeispielen im Kapitel „Rehabilitation und Prävention“,

kritische Diskussion aktueller populärer (populistischer) Rückentrainingsprogramme,

eine ansprechende Gestaltung mit mehr Farbe und vielen Fotos.

Rückenschmerzen erleiden 80–90% der Bevölkerung mindestens einmal in ihrem Leben ( ▶ [170]; ▶ [317]), Nackenschmerzen etwa 66% ( ▶ [239]). Mit diesem Satz begann die Einleitung unseres Buches 2003, und an dieser Tatsache hat sich bis heute nichts geändert. Nun kann man sagen, dass wahrscheinlich jeder Mensch einmal im Leben Schmerzen in verschiedenen Gelenken seines Körpers hat. Das ist nicht weiter bemerkenswert oder belastend. In der „Global Burden of Disease Study 2010“ wurde allerdings festgestellt, dass weltweit im Jahr 2010 ebenso wie im Jahr 1990 Rückenschmerz zu den Hauptgründen für Behinderung zählt ( ▶ [309]). In Deutschland ist Rückenschmerz für Frauen der häufigste und für Männer nach Herzerkrankungen der zweithäufigste Grund für Behinderung ( ▶ [230]). Dies ist bedeutend für die Lebensqualität der Betroffenen und für die Kosten durch Inanspruchnahme des Gesundheitswesens und durch Arbeitsausfälle. Aber warum hat sich die Belastung durch Rückenschmerzen trotz gewachsener Erkenntnisse in den letzten Jahrzehnten nicht verbessert? Drei Gesichtspunkte erscheinen hier wesentlich: Erstens sind viele Studien schlecht gemacht und erbringen dadurch keine eindeutigen Handlungshinweise (siehe Kap. ▶ 12); zweitens werden von Ärzten und Physiotherapeuten zu oft passive Maßnahmen ohne Lerneffekt für das tägliche Leben eingesetzt; drittens sieht das Gesundheitswesen zu geringe Zeiteinheiten für die sorgfältige Diagnostik und Therapie von Wirbelsäulenleiden vor. Der Wirtschaftszweig „Gesundheitswesen“ ist primär darauf ausgelegt, große Gewinne zu erzielen. Das Wohlbefinden der Patienten ist nachrangig. So fühlen sich konservativ behandelnde Abteilungen in Großkliniken unter Druck, mehr Patienten in die operierenden Abteilungen zu überweisen, weil diese mehr Geld einbringen. Täglich kann man lesen, dass viel mehr Patienten an der Wirbelsäule operiert werden, als medizinisch sinnvoll ist ( ▶ [151]). Das änderte an der Handlungsweise der verantwortlichen Ärzte und der Patienten wenig. Die Patienten übernehmen nur sehr langsam mehr Verantwortung für ihre Gesundheit, indem sie sich aus fundierten Quellen informieren und selbstbestimmte Übungen und Ratschläge für alltägliche Verhaltensweisen einfordern. Massage, Fango, Spritzen, Medikamente, Rüttelbett, Streckbank, manuelle Therapie und Osteopathie sind bequem und bei Patienten wie Therapeuten beliebt.

Nun widerspricht es aber der Logik, dass ein mechanisches Wirbelsäulenproblem, das durch alltägliches Verhalten ausgelöst wurde, mit passiven Maßnahmen langfristig heilbar sein könne. Vielmehr müssen die Betroffenen lernen, ihr Bewegungsverhalten zu ändern und ihre Bandscheiben und Wirbelgelenke zu pflegen. Dazu sind eine sorgfältige ärztliche und physiotherapeutische Diagnostik, anatomisch und pathophysiologisch korrekte Erklärungen für den Patienten und selbstbestimmte Übungen notwendig. Das bringt für Therapeuten und Patienten Anstrengung, Erfolg und Zufriedenheit. Auch die Bereitschaft vieler Patienten, sich im Krafttraining an Geräten zu engagieren, trifft die Punkte Alltagsrelevanz von Bewegungsabläufen und selbstbestimmtes Üben nicht.

Der physiotherapeutischen Diagnostik sind mechanisch bedingte Störungen der Wirbelsäulenfunktion sehr gut zugänglich. Hier sind Bandscheibenschädigung und Bandscheibenvorfall die häufigsten Ursachen, gefolgt von Facettenschmerz, Instabilität und spinaler/foraminaler Enge. Eingeschränkte Nervengleitfähigkeit kann die Folge dieser Erkrankungen sein. Als Differenzialdiagnosen müssen insbesondere Störungen der Hüftgelenke, der Iliosakralgelenke und, im Nackenbereich, der Schultergelenke abgegrenzt werden. Nicht mechanisch bedingte Störungen wie Somatisierung eines psychosozialen Problems und chronische Schmerzen sind auf Grundlage spezifischer Merkmale erkennbar. Während der Anamneseerhebung müssen Risikofaktoren wie Fraktur, bakterielle Entzündung oder Tumor, die eine mechanische Untersuchung verbieten würden, erkannt werden.

Auf die ausführliche Befragung des Patienten über Art, Dauer und Auslöser seiner Beschwerden folgt der Sichtbefund und ggf. die Untersuchung von Sensibilität und Kraft bestimmter Kennmuskeln. Diese Informationen führen zu einer ersten Hypothese über die Beschwerdeursachen. Nach Ausschluss von Risikofaktoren wird dann der Patient zu bestimmten Bewegungen oder muskulären Aktivitäten aufgefordert, und die Beeinflussbarkeit der Beschwerden wird erfasst. Daraus folgt die physiotherapeutische Diagnose, auf Grundlage derer die erste therapeutische Bewegung oder Haltung zum Einsatz kommt. Die Behandlung ist strukturiert und aktiv. Der Patient erhält als Hausaufgabe zunächst eine Bewegung oder Haltung und den Auftrag, seine Beschwerden genau zu beobachten. Alle Therapiebewegungen sind sehr einfach und von den meisten Patienten gut durchführbar. Im Verlauf wird ein Übungsprogramm aufgebaut, das die Beschwerden lindern und eliminieren soll. Der Patient wird zu normaler Belastbarkeit geführt und kann, wenn er das wünscht, über einen längeren Zeitraum im Sinne eines Coachings begleitet werden.

Die Autoren haben an der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen seit 1996 die Möglichkeiten und Ergebnisse der Physiotherapie bei Patienten mit lumbalen Bandscheibenvorfällen wissenschaftlich untersucht. Dabei wurden auch Patienten mit neurologischen Defiziten aufgrund von Bandscheibenvorfällen in Studien zur Physiotherapie eingeschlossen. Im Verlauf der letzten Jahre wurde das ursprüngliche Konzept weiterentwickelt. Die mechanischen Hintergründe der Entstehung und Behandlung von Bandscheibenvorfällen wurden weiter untersucht, außerdem wurden die Aspekte der Verhaltensänderung und Selbstbestimmtheit auf der Grundlage von psychologischen Studien und Erfahrungen genauer beschrieben. Die Eckpunkte des Konzeptes: verhaltensorientiert (behavioral), aktiv (active), selbstbestimmt (self-determined), evidenzbasiert (evidence based) finden sich im neuen Konzeptnamen BASE PT wieder.

2 Allgemeine Grundlagen

Verhaltensorientierte, aktive, selbstbestimmte und evidenzbasierte Therapie (BASE PT) setzt Grundkenntnisse und Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen der Anatomie, Pathophysiologie und Psychologie voraus. Die meisten Wirbelsäulenleiden sind mechanisch bedingt. Kenntnisse der mechanischen Vorgänge in der Wirbelsäule helfen, die Symptome von Patienten mit Nacken- und Rückenschmerzen zu interpretieren und eine zielführende Therapie durchzuführen. Zu diesem Zweck werden hier die Grundlagen der funktionellen Anatomie der Wirbelsäule und des Nervensystems, die Pathophysiologie von Bandscheibenschäden sowie die damit verbundenen Einflüsse auf die Nervenwurzeln und die Vorgänge bei der Heilung zusammengefasst. Schmerz und Funktionseinschränkungen in Aktivitäten des täglichen Lebens sind die Hauptprobleme bei einer Bandscheibenschädigung. Zur Beurteilung des Behandlungseffekts und des Verlaufs der Erkrankung ist deshalb die Dokumentation der Schmerzintensität, Schmerzlokalisation und der Behinderung notwendig. Verschiedene Messskalen werden vorgestellt. Im Rahmen der Prophylaxe sind die prädisponierenden Faktoren interessant. Im Abschnitt Epidemiologie und Risikofaktoren werden die kontroversen Fragen beleuchtet, ob bestimmte Tätigkeiten besonders häufig zu Bandscheibenschäden führen und welche körperlichen Bedingungen, individuellen Verhaltensweisen oder gesellschaftlichen Umstände diese Probleme begünstigen. Im Kap. ▶ 10 (Kombinierte Erkrankungen) wird die Pathophysiologie anderer Wirbelsäulenleiden, wie Facettenschmerz und spinale Enge, erläutert.

Internationale Klassifizierung von Funktion, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health: ICF)

Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) hat 2001 das System der ICF eingeführt. Danach soll Gesundheit und deren Einschränkung grob nach zwei Kategorien betrachtet werden:

Funktion und Behinderung mit den Komponenten

Körperfunktion und Strukturen sowie

Aktivitäten und Teilhabe.

Faktoren der Lebensumstände mit den Komponenten

Umgebung und

persönliche Faktoren.

Gesundheit ist also abhängig von der Heilung einer Struktur, hier der Bandscheibe, zusammen mit der Funktion, hier Bewegung und Belastbarkeit der Wirbelsäule, der Aktivität, z.B. Sport, Arbeit, Haushalt, und der Teilhabe am sozialen Leben, z.B. andere Menschen treffen. Zusätzlich beeinflussen Umweltfaktoren, z.B. die Möglichkeit, am Arbeitsplatz zu stehen, statt zu sitzen, und persönliche Faktoren wie die Anpassung des Bewegungsverhaltens dauerhafte Gesundheit. Das hier beschriebene Konzept der Physiotherapie bei Bandscheibenleiden geht auf alle ICF-Komponenten ein und begleitet den Patienten von der Phase akuter Beschwerden bis zu normaler Belastbarkeit und Teilhabe.

Im letzten Abschnitt dieses Kapitels werden wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Bereichen Aktivität, Selbstregulierung und Verhalten dargestellt. Sie sind in das hier beschriebene Behandlungskonzept integriert.

2.1 Anatomie von Wirbelsäule und Nervensystem

Die Wirbelsäule erfüllt sehr unterschiedliche Aufgaben. Sie trägt Kopf und Brustkorb und schützt das Rückenmark. Gleichzeitig ist ein hoher Grad an Beweglichkeit notwendig. Die Anforderungen an Stabilität und Beweglichkeit stehen in ständigem Konflikt. Um beiden Aufgaben gerecht zu werden, ist ein gutes Zusammenspiel zwischen den tragenden und bewegenden Strukturen der Wirbelsäule nötig.

Der passive Halteapparat ist aus den Wirbelkörpern, Bandscheiben, Wirbelgelenken, Gelenkkapseln und Bändern zusammengesetzt. Der aktive Halteapparat besteht aus Muskeln und Sehnen. Das Nervensystem registriert die Position, Belastung und Anforderungen an die Wirbelsäule und steuert das aktive System, um die Anforderungen an Stabilität und Bewegung zu erfüllen ( ▶ [317]). Fehlfunktionen in einem dieser drei Systeme führen zu einer Reaktion in den anderen beiden Systemen. Anpassung, Fehlbelastung, Schmerzen oder Einbußen in der Funktion können die Folgen sein.

2.1.1 Muskulatur

Der aktive Halteapparat besteht aus zahlreichen Muskeln und Sehnen. Die Muskulatur, die die Wirbelsäule bewegt und aktiv stabilisiert, kann grob in Rücken-, Bauch-, Nacken- und vordere Halsmuskulatur eingeteilt werden. Hier werden nur die größten und wichtigsten Muskeln aufgeführt ( ▶ Tab. 2.1). Nähere Einzelheiten zu einzelnen Muskeln sind in Lehrbüchern zum Bewegungsapparat zu finden ( ▶ [263]).

Tab. 2.1

 Die wichtigsten Muskelgruppen zur Stabilisierung und Bewegung der Wirbelsäule.

Muskel

Ursprung

Ansatz

Funktion

Innervation

Halsmuskulatur

kurze kraniale Nackenmuskulatur

Mm. recti capites posterior und lateralis, M. obliquus capitis

Atlas, Axis

Linea nuchae, Querfortsatz des Atlas, Processus jugularis ossis occipitalis

Extension, Rotation und Lateralflexion des Kopfes

N. suboccipitalis (C1)

kurze kaudale und mittlere Nackenmuskulatur

Mm. multifidi

Querfortsätze der kaudalen Halswirbel (aller Brust- und Lendenwirbel, Hinterkante des Sakrums)

Dornfortsätze aller Lenden-, Brust- und Halswirbel bis zum Axis

Stabilisierung der Wirbelsäule, unterstützen Streckung, Seitneigung und Drehung

Rr. dorsales der Spinalnerven

(C2–L4)

Mm. rotatores

Querfortsätze aller Lenden-, Brust- und Halswirbel

Wurzeln der Dornfortsätze der nächst- oder übernächsthöheren Wirbel

Stabilisierung der Wirbelsäule, unterstützen Streckung, Seitneigung und Drehung

Rr. dorsales der Spinalnerven

(C2–L4)

laterale tiefe Halsmuskulatur

Mm. scaleni

Querfortsätze der Halswirbel

1.–2. Rippe

Lateralflexion der HWS; bei fixiertem Kopf: Elevation der Rippen 1–2

Plexus cervicalis und Plexus brachialis (C3–C8)

prävertebrale Muskelgruppe

M. longus colli

M. longus capitis

M. rectus capitis anterior

ventral an allen Halswirbelkörpern und den obersten Brustwirbelkörpern, Querfortsätze der Halswirbel

Atlas, ventral an allen Halswirbelkörpern, Querfortsatz der kaudalen Halswirbel, Os occipitale

Flexion, Rotation und Lateralflexion zur ipsilateralen Seite der HWS

Plexus cervicalis (C1–C6)

M. sternocleidomastoideus

Sternum, Klavikula

Processus mastoideus ossis temporalis, Linea nuchae

Flexion der kaudalen und Extension der kranialen Halswirbel und der Kopfgelenke (Protraktion), Rotation des Kopfes zur kontralateralen Seite, bei fixiertem Kopf: Hilfe bei der Inspiration

N. accessorius, Plexus cervicalis

(C1–C3)

Rückenmuskulatur

kurze Rückenmuskulatur

Mm. multifidi

Hinterkante des Sakrums, Querfortsätze aller Lenden-, Brust- und kaudalen Halswirbel

Dornfortsätze aller Lenden-, Brust- und Halswirbel bis zum Axis

Stabilisierung der Wirbelsäule, unterstützen Streckung, Seitneigung und Drehung

Rr. dorsales der Spinalnerven

(C2–L4)

Mm. rotatores

Querfortsätze aller Lenden-, Brust und Halswirbel

Wurzeln der Dornfortsätze der nächst- oder übernächsthöheren Wirbel

Stabilisierung der Wirbelsäule, unterstützen Streckung, Seitneigung und Drehung

Rr. dorsales der Spinalnerven

(C2–L4)

autochtone Rückenmuskulatur

M. erector spinae; dieser Muskel besteht aus vielen kleinen Muskelgruppen, die Querfortsätze, Dornfortsätze und Rippen verbinden

Os sacrum, Crista iliaca

Os occipitale

Extension, Rotation, Lateralflexion in einzelnen Abschnitten und in der gesamten Wirbelsäule; Sicherung der aufrechten Haltung

Rr. dorsales der Spinalnerven

(C2–L4)

M. trapezius

Linea nuchae, Dornfortsätze der Hals- und Brustwirbel

Klavikula, Acromion, Spina scapulae

kraniale Fasern: Elevation des Schulterblatts, Rotation des Kopfs zur kontralateralen Seite

mediale Fasern: Retraktion des Schulterblattes

kaudale Fasern: Depression des Schulterblattes

N. accessorius, Plexus cervicalis (C2–C4)

M. latissimus dorsi

Dornfortsätze von Th7 bis zum Os sacrum; Rippen 8–12, Crista iliaca

Crista tuberculi minoris (Humerus)

Innenrotation, Adduktion, Extension im Schultergelenk; bei fixiertem Arm (Stützen): Elevation des Beckens

N. thoracodorsalis

(C6–C8)

M. quadratus lumborum

Crista iliaca, Lig. iliolumbale

12. Rippe, Lendenwirbel 1–4

zieht 12. Rippe kaudalwärts (Exspiration), Lateralflexion der LWS; bei fixiertem Brustkorb: Elevation des Beckens

Rr. musculares, Plexus lumbalis; N. intercostalis XII

(Th12–L3)

Bauchmuskulatur

M. rectus abdominis

Rippen 5–7, Processus xiphoideus

kranialer Rand des Schambeins

zieht den Thorax in Richtung Becken, Beugung im Rumpf bzw. Hebung des Beckens. Antagonist des langen Rückenstreckers

mittlere und kaudale Interkostalnerven

(Th 5–12)

M. obliquus externus

Außenflächen der 5.–12. Rippe

Crista iliaca, Lig. inguinale, Rektusscheide

Bauchpresse, Beugung im Rumpf, Elevation des Beckens, Drehung des Rumpfes zur kontralateralen Seite

kaudale Interkostalnerven, Äste des Plexus lumbalis (Th5–Th12)

M. obliquus internus

Crista iliaca, Fascia thoracolumbalis, Lig. inguinale

9.–12. Rippe, Linea alba

Bauchpresse, Beugung im Rumpf, Hebung des Beckens, Drehung des Rumpfes zur ipsilateralen Seite, Lateralflexion des Rumpfes

kaudale Interkostalnerven, Äste des Plexus lumbalis

(Th10–L2)

M. transversus abdominis

7.–12. Rippe, Fascia thoracolumbalis der Querfortsätze der Lendenwirbel, Crista iliaca, Lig. inguinale

Vagina, Mm. recti abdomines

Einziehung und Spannung der Bauchwand, Bauchpresse

kaudale Interkostalnerven, Äste des Plexus lumbalis (Th5–L2)

2.1.2 Knöcherne Wirbelsäule und Ligamente

Die Wirbelsäule ist aus 7 Halswirbeln, 12 Brustwirbeln, 5 Lendenwirbeln und dem Kreuzbein aufgebaut. Der oberste Halswirbel heißt Atlas, er hat im Gegensatz zu den anderen Wirbeln keinen Wirbelkörper. Der zweite Wirbel heißt Axis und besitzt einen Vorsprung (Dens axis), der eine gelenkige Verbindung mit dem Atlas bildet. ▶ Abb. 2.1 zeigt als Modell die knöcherne Wirbelsäule eines Wildschweins, die ähnlich aufgebaut ist wie die menschliche. Dieser Aufbau hat sich seit dem Erdmittelalter kaum verändert. Der Wirbel eines Plateosaurus engelhardti, der vor 206 Millionen Jahren in Baden-Württemberg lebte, ist vergleichbar konstruiert wie ein Wildschweinwirbel ( ▶ Abb. 2.2: Wirbel eines Dinosauriers und Wirbel eines Wildschweins).

Abb. 2.1 Knöcherne Wirbelsäule, Wildschweinmodell.

Abb. 2.2 Wirbel eines Dinosauriers (braun) und Wirbel eines Wildschweins (weiß).

Tipp für den Therapeuten

Von einem Jäger oder Metzger kann man ein Stück Wirbelsäule erhalten und sich die Knochen selbst präparieren. Dabei erhält man vertiefte Einsicht in die Anatomie und in die Festigkeit der Strukturen der Wirbelsäule. Am Ende hat man mit zwei sauber präparierten Wirbeln ein optimales Modell, um Patienten mechanische Vorgänge zu erklären.

Die Wirbelkörper mit den Bandscheiben bilden den vorderen Anteil der Wirbelsäule. Die Wirbelbögen mit den Querfortsätzen und Dornfortsätzen umschließen und schützen das Rückenmark seitlich und von hinten und bilden den hinteren Anteil der Wirbelsäule. Die gelenkigen Verbindungen zwischen den Wirbeln sind vorne die Bandscheiben und hinten die kleinen Wirbelgelenke (Facettengelenke). Die Endplatten der Wirbelkörper bilden die Kontaktfläche zu den Bandscheiben. Zwischen den Wirbelkörpern und den kleinen Wirbelgelenken finden sich Zwischenräume, die Neuroforamina (Foramina intervertebralia), durch die die Nervenwurzeln aus dem Rückenmark austreten, um von der Halswirbelsäule (HWS) zu den Armen, von der Brustwirbelsäule (BWS) zum Rumpf und von der Lendenwirbelsäule (LWS) zu den Beinen zu ziehen. Das Kreuzbein stellt die Verbindung zwischen der Wirbelsäule und dem Becken her. Die Wirbelsäule wird durch drei längs verlaufende Bänder stabilisiert. Das Lig. longitudinale anterius verläuft vorne und das Lig. longitudinale posterius hinten über die Wirbelkörper und Bandscheiben. Das Lig. flava verbindet jeweils die Wirbelbögen zweier aufeinanderfolgender Wirbel.

2.1.3 Bandscheiben

Bandscheiben befinden sich zwischen allen Wirbelkörpern von den Halswirbelkörpern (HWK) 2 bis zum Übergang zwischen dem untersten Lendenwirbelkörper (LWK) 5 und dem ersten Sakralwirbel (SWK) 1.

Jeder Wirbelkörper wird von einer Endplatte abgedeckt, die aus hyalinem Knorpel und Faserknorpel besteht. Insertionen kollagener Fasern aus der Bandscheibe bilden die Verbindung zwischen Endplatte und Bandscheibe. Diese Verbindung ist stabiler als die Verbindung zwischen Endplatte und Wirbelkörper. Die Bandscheiben stellen die Verbindung zwischen den Endplatten zweier benachbarter Wirbelkörper dar. Sie bestehen aus zwei Anteilen, dem äußeren Faserring (Anulus fibrosus) und dem inneren Gallertkern (Nucleus pulposus) ( ▶ Abb. 2.3). Die beiden Anteile sind strukturell nicht scharf abgrenzbar. Die äußeren Bereiche des Nucleus pulposus gehen fließend in die inneren Bereiche des Anulus fibrosus über ( ▶ [30]). Mit zunehmendem Alter nimmt die Differenzierung der verschiedenen Bereiche der Bandscheibe bezüglich Aufbau und Funktion ab. Beide Anteile bestehen aus Wasser, Kollagen und Proteoglykanen, unterschiedlich ist nur die Konzentration dieser Bestandteile. Der Anulus fibrosus besteht zu 60% aus Bindegewebe (Kollagen Typ 1), das schräg ringförmig angeordnet ist. Er stellt die feste Verbindung zwischen den Wirbelkörpern her, hält die Gallertmasse zwischen den Wirbelkörpern und kann Zugbelastungen wie axiale Rotation der Wirbelsäule abfedern ( ▶ [105]). Der Gallertkern besteht größtenteils aus Proteoglykanen und Glykosaminoglykanen, die Wasser aufnehmen und wie ein Polster Gewicht tragen und Stöße abpuffern können.

Abb. 2.3 Lendenwirbel mit Bandscheibe, Wildschweinmodell.

Physiologische Druckbelastung der Bandscheibe Bei Bewegungen der Wirbelsäule verändert der Nucleus pulposus seine Form und verteilt den Druck auf die Endplatten und den Anulus fibrosus. Durch Belastung wird der Nucleus pulposus wie ein Schwamm ausgedrückt und saugt sich beim Nachlassen des Drucks wieder mit Wasser voll ( ▶ [200]; ▶ [331]; ▶ [235]). Wilke et al. ( ▶ [331]) führten an einem gesunden 45-jährigen Probanden in der Mitte der Bandscheibe zwischen LWK4 und LWK5 eine Druckmessung über nahezu 24 Stunden durch. Der Proband übte dabei verschiedene Tätigkeiten aus und nahm verschiedene Positionen ein. Während einer 7-stündigen Schlafperiode wurde eine Druckzunahme von 1 auf 24bar gemessen. Diese Beobachtung wurde mit einer regenerierenden Wasseraufnahme der Bandscheiben erklärt. Die Zunahme von Schmerzen und Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule über Nacht, wie sie häufig von Patienten mit Bandscheibenschäden berichtet wird, könnte mit dieser Druckzunahme und dem größeren Volumen, das die wassergefüllte Bandscheibe einnimmt, zusammenhängen. In der Schwerelosigkeit waren Astronauten wegen der Druckentlastung bis zu 5cm größer als unter normalen Druckverhältnissen ( ▶ [301]).

Nachemson et al. ( ▶ [209]) untersuchten die Druckbelastung der Bandscheiben in verschiedenen Körperpositionen an 9 Probanden. In der Vergangenheit hatten 6 dieser Personen keine Rückenschmerzen gehabt, 2 Personen hatten Rückenschmerzen gehabt, eine Person litt unter einer Skoliose. In der Mitte der Bandscheibe zwischen LWK3 und LWK4 wurde jeweils eine Messsonde positioniert. Die Ergebnisse von Wilke et al. ( ▶ [331]) deckten sich bezüglich vieler Gesichtspunkte mit denen von Nachemson ( ▶ [209]). Übereinstimmend wurden im Liegen der niedrigste und beim Heben von Lasten mit gestreckten Knien und gebeugter Wirbelsäule der höchste Druck in der Bandscheibe gemessen. Aktivität der Rückenmuskulatur ist in allen Positionen mit einer Drucksteigerung verbunden ( ▶ [209]; ▶ [331]). Auch bei der Applikation von Traktion steigt der intradiskale Druck an, wenn gleichzeitig die Rückenmuskulatur kompensatorisch aktiviert wird ( ▶ [14]). Wilke et al. ( ▶ [331]) fanden, im Gegensatz zu Nachemson ( ▶ [209]), im aufrechten Sitz keine Druckerhöhung im Vergleich zum aufrechten Stand. Im entspannten, nach dorsal flektiert angelehnten Sitz beobachteten Wilke et al. ( ▶ [331]) sogar einen erheblich niedrigeren Druck als im aufrechten Stand und im nicht angelehnten aufrechten Sitz. Diese Erkenntnis führte zu einer breiten Diskussion über die von Physiotherapeuten und in „Rückenschulen“ propagierte aufrechte Sitzhaltung ( ▶ [242]; ▶ [47]; ▶ [212]). Da der operierte Proband derartige Rückenschmerzen hatte, dass er die Wirbelsäule nicht beugte und die Messung die Richtung des Drucks nicht berücksichtigte, sind die Messungen von fraglichem Wert. Klinisch hat es sich bei Patienten mit Bandscheibenleiden bewährt, auf das Sitzen so weit wie möglich zu verzichten und die Wirbelsäule gerade zu halten (s.a. Kap. ▶ 9.4).

Stoffwechsel der Bandscheibe Der Austausch von Nährstoffen und Stoffwechselprodukten in der Bandscheibe geschieht passiv durch Diffusion und Osmose über die Blutgefäße der Endplatten und der Ligg. longitudinalia anterius und posterius ( ▶ [122]; ▶ [303]). Bandscheiben sind die größten avaskulären Strukturen im Körper und zeichnen sich durch einen niedrigen Stoffwechsel aus. Wiederholte Bewegungen der Wirbelsäule sollen den Austausch von Nährstoffen und Stoffwechselprodukten in der Bandscheibe verbessern ( ▶ [124]). Diese Hypothese gründet sich auf ein Tierexperiment, bei dem die Ergebnisse einer Gruppe von Hunden, die während eines kontrollierten Trainingsprogramms wiederholte aktive Bewegungen der Wirbelsäule ausführten, mit den Ergebnissen einer Kontrollgruppe verglichen wurden. In der Gruppe, die wiederholte Bewegungen der Wirbelsäule ausführte, zeigten sich im äußeren Teil des Anulus fibrosus und im Nucleus pulposus eine gesteigerte Sauerstoffversorgung und ein niedrigerer Laktatgehalt als in der Kontrollgruppe.

Innervation der Bandscheibe Die Frage, ob die Bandscheibe sensibel innerviert wird, war lange Zeit umstritten. Freie Nervenendigungen, die die Wahrnehmung von Schmerz ermöglichen, wurden zunächst nur in der Haut, den Facettengelenken, dem Iliosakralgelenk, den Ligg. longitudinalia anterius und posterius, dem Lig. flavum, dem Periost der Wirbelkörper und -bögen, den Faszien und Sehnen, der Dura mater und den duralen Hüllen der Nervenwurzeln gefunden. Bogduk et al. ( ▶ [28]; ▶ [31]; ▶ [29]) beschrieben auch im Anulus fibrosus eine sensible Versorgung. Der hintere Anteil wird durch die Sinuvertebralnerven, die seitlichen Bereiche durch die Rr. communicantes grisei der Rr. ventrales der Spinalnerven versorgt. Palmgren et al. ( ▶ [222]) beschrieben sowohl sensible als auch autonome Nervenendigungen in operativ entferntem Bandscheibengewebe. Die Erkenntnis, dass der Anulus fibrosus Schmerzrezeptoren enthält, lässt die Interpretation zu, dass Rückenschmerzen durch Verletzungen des Anulus fibrosus ausgelöst werden könnten.

Indahl et al. ( ▶ [133]) lösten durch lokale elektrische Reize am posterolateralen Anulus fibrosus bei 23 narkotisierten Schweinen Aktionspotenziale im M. longissimus und im M. multifidus aus. Nach lokaler Reizung der kleinen Wirbelgelenke durch Injektion von physiologischer Kochsalzlösung waren bei elektrischer Reizung des Anulus fibrosus die Aktionspotenziale abgeschwächt. Es besteht demnach ein Reflexmechanismus zwischen dem Anulus fibrosus, der Rückenmuskulatur und den Facettengelenken in dem Sinne, dass die Reizung der kleinen Wirbelgelenke den Muskeltonus eher erniedrigt als erhöht. Auf die mögliche Bedeutung dieses Mechanismus für die Interpretation und Behandlung von Rückenschmerzen wird weiter unten eingegangen (s. Abschnitt Kap. ▶ 2.2.3).

Den Bandscheiben kann somit folgende Bedeutung zugeschrieben werden:

Verbindung zweier Wirbelkörper,

Ermöglichung von Bewegung,

Tragen des Gewichtes, das von dem darüberliegenden Wirbel weitergegeben wird,

Abfedern von Stößen.

2.1.4 Nervensystem

Das Nervensystem wird nach seiner Lokalisation und Funktion in das zentrale und das periphere Nervensystem unterteilt. Zum zentralen Nervensystem gehören Gehirn und Rückenmark. Das Zentralnervensystem dient der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen und der Initiierung von adäquaten Reaktionen auf diese Informationen. Ab dem Austritt aus dem Rückenmark werden die Strukturen des Nervensystems zum peripheren Nervensystem gezählt. Das periphere Nervensystem dient der Leitung von sensiblen Impulsen von der Peripherie zum Zentralnervensystem und von motorischen Impulsen aus dem Zentralnervensystem in die Peripherie.

Nach der Funktion unterscheidet man zudem das somatische Nervensystem und das vegetative Nervensystem. Diese Unterteilung gilt sowohl für das zentrale als vor allem auch für das periphere Nervensystem. Das somatische Nervensystem dient der Steuerung von Willkürmotorik und bewusster Wahrnehmung sensibler Reize. Das vegetative (= autonome, viszerale) Nervensystem setzt sich aus dem Sympathikus und dem Parasympathikus zusammen und dient der (unbewussten) Steuerung von Vorgängen in den inneren Organen (Atmung, Verdauung, Blutdruck). Es spielt im Zusammenhang mit Bandscheibenvorfällen nur eine untergeordnete Rolle und wird hier nicht näher erläutert.

Rückenmark, Cauda equina, Nervenwurzeln Das Rückenmark gehört zum Zentralnervensystem und liegt im Wirbelkanal. Es schließt sich in Höhe des Foramen magnum des Okzipitalknochens an das Gehirn, speziell die Medulla oblongata, an und reicht bis etwa in Höhe des ersten Lendenwirbels. Unterhalb des ersten Lendenwirbels verlaufen innerhalb des Wirbelkanals die Nervenwurzeln, die erst in tiefer gelegenen Segmenten durch die Foramina intervertebralia austreten. Sie erinnern in ihrer äußeren Erscheinung an einen Pferdeschwanz und werden daher als Cauda equina bezeichnet.

Zwischen Vorder- und Seitenstrang treten die Vorderwurzeln (motorisch) und zwischen Seiten- und Hinterstrang die Hinterwurzeln (sensibel) aus dem Rückenmark aus. Sie vereinigen sich in der Höhe der Zwischenwirbellöcher zu den Spinalnerven. Das zu jedem Spinalnerv gehörende sensible Spinalganglion liegt im jeweils zugehörigen Foramen intervertebrale.

Die Nervenwurzeln werden im Zervikalbereich nach dem Wirbel benannt, der das Zwischenwirbelloch von unten begrenzt. Die Wurzel zwischen dem 5. und 6. Halswirbel heißt somit C6 (C für cervikal). Die Wurzel, die zwischen dem 7. Halswirbel und dem 1. Brustwirbel austritt, wird mit C8 bezeichnet. Ab dem ersten Brustwirbel werden die Nervenwurzeln folglich nach dem das Zwischenwirbelloch von oben begrenzenden Wirbel benannt. Die Wurzel zwischen LWK5 und SWK1 heißt L5.

Spinalnerven und peripheres Nervensystem Aus den verschiedenen Rückenmarksabschnitten treten jeweils zu beiden Seiten 8 zervikale, 12 thorakale, 5 lumbale und 5 sakrale Spinalnerven aus. Die thorakalen Nerven ziehen im Segment um den Thorax herum und versorgen Rücken, Brust und Bauch sensibel und motorisch. Die Spinalnerven aus der HWS und LWS sowie aus den Sakralsegmenten vereinigen sich zu den paravertebral gelegenen Nervengeflechten (Plexus), die sich im weiteren Verlauf in einzelne periphere Nerven aufteilen. Das von den Fasern einer bestimmten Nervenwurzel versorgte Hautareal wird als Dermatom bezeichnet. Aufgrund der Verschaltung der Fasern der Nervenwurzeln in den Plexus mit der Formierung peripherer Nerven lassen sich bei Störungen der Sensibilität Areale unterscheiden, die eher einer Wurzelläsion (segmentale Innervation) oder eher dem Versorgungsgebiet eines peripheren Nervs entsprechen (periphere Innervation) (s.a. ▶ Abb. 2.4). Die meisten Muskeln werden aus Fasern mehrerer Nervenwurzeln versorgt. Gelegentlich überwiegt eine einzelne Nervenwurzel so stark, dass ihr ein Kennmuskel zugeordnet werden kann (s.a. ▶ Tab. 2.2).

Sensible Versorgung der Haut.

Abb. 2.4 Die Versorgung der Haut erfolgt durch Nervenwurzeln und durch periphere Nerven, die aus verschiedenen Nervenwurzeln entspringen. Vorderseite.

(Bilder aus Thieme 2002 „Neurologie und Psychiatrie für Pflegeberufe“ S.48 und 49)

Sensible Versorgung der Haut.

Die Versorgung der Haut erfolgt durch Nervenwurzeln und durch periphere Nerven, die aus verschiedenen Nervenwurzeln entspringen. Rückseite.

(Bilder aus Thieme 2002 „Neurologie und Psychiatrie für Pflegeberufe“ S.48 und 49)

Jeweils in Gelb ist die sensible Versorgung durch Nervenwurzeln (segmentale Innervation) dargestellt. Jeweils in Rosa ist die sensible Versorgung durch periphere Nerven dargestellt (periphere Innervation).

Tab. 2.2

 Kennmuskeln.

Kennmuskeln

Segmente

M. deltoideus

C5

M. biceps brachii

M. brachioradialis

(C5) C6

M. triceps brachii

C7

Kleinfingerballenmuskeln

Mm. interossei

C8

M. iliopsoas

L2

M. quadriceps femoris

M. tibialis anterior

(L3) L4

M. extensor hallucis longus; (Abduktoren: M. gluteus medius, M. gluteus minimus, M. piriformis)

L5

M. triceps surae, (Abduktoren: M. gluteus medius, M. gluteus minimus, M. piriformis)

S1

Bei einem Nervenwurzelsyndrom finden sich entsprechend Schmerzen und Sensibilitätsstörungen im Bereich des Dermatoms, das von der betroffenen Nervenwurzel versorgt wird, sowie Paresen und Reflexminderung der entsprechenden Kennmuskeln (siehe ▶ Tab. 2.2). Schmerzen und Sensibilitätsstörungen können sich vom entsprechenden Wirbelsäulensegment nach lateral über den Nacken bzw. den Rücken erstrecken.

Alle Wurzelsyndrome der Wurzeln C5 bis Th5 können Schmerzen im Bereich zwischen den Schulterblättern verursachen. Alle Wurzelsyndrome der Wurzeln L1 bis S1 können Schmerzen im Bereich der LWS, seitlich am Rücken und im Bereich des Gesäßes verursachen. In ▶ Tab. 2.3 werden als Übersicht nur die distalen Schmerz- und Hypästhesiebereiche aufgeführt, die typisch für einzelne Nervenwurzelsyndrome sind.

Tab. 2.3

 Symptome und Zeichen bei Wurzelsyndromen. Die jeweils überwiegenden Paresen und gestörten Funktionen sind kursiv geschrieben.

Wurzel

Schmerz- und Hypästhesiebereich

Parese

Funktionsminderung

Reflex

C2–C4

zwischen den Schulterblättern, Nacken

M. trapezius

Elevation und Retraktion des Schulterblattes

C5

Außenseite des Oberarmes (oberes Drittel)

M. deltoideus

M. biceps brachii

Abduktion im Schultergelenk über 30°

Flexion im Ellenbogengelenk

Deltoideus-Reflex

Bizepssehnenreflex

C6

Schulter, Arm bis radiale Unterarmseite, Finger I und II

M. biceps brachii

M. brachioradialis

Flexion im Ellenbogengelenk

Bizepssehnenreflex

Brachioradialisreflex

C7

Schulter, Arm bis Finger II–IV volar und dorsal, insbesondere Finger III

M. pectoralis major

M. triceps brachii

M. opponens pollicis

Adduktion im Schultergelenk

Extension im Ellenbogengelenk

Opposition des Daumens

Trizepssehnenreflex

C8

Schulter, Arm, Unterarm ulnar, Finger IV–V

M. flexor carpi ulnaris

M. abductor digiti minimi

Mm. interossei dorsales

Volarflexion mit ulnarer Abduktion im Handgelenk

Abduktion des Kleinfingers

Fingerspreizung

Fingerflexorenreflex

Th1

Innenseite des Oberarms und des Unterarms

_

_

_

Th2–Th12

in entsprechender Höhe im Bereich des Rumpfes

_

_

_

L1

Leistenbereich

M. iliopsoas

Flexion im Hüftgelenk

L2

Leistenbereich

M. iliopsoas

Mm. adductores magnus, longus et brevis

Flexion im Hüftgelenk

Adduktion im Hüftgelenk

Adduktorenreflex

L3

Oberschenkelvorderseite bis Knie

M. iliopsoas

Mm. adductores magnus, longus et brevis

M. quadriceps femoris

Flexion im Hüftgelenk

Adduktion im Hüftgelenk

Kniestreckung

Adduktorenreflex

Patellarsehnenreflex

L4

Oberschenkelvorderseite, Knie, Innenseite des Unterschenkels, Innenknöchel, medialer Fußrand

M. quadriceps femoris

M. tibialis anterior

Kniestreckung

Dorsalextension im Sprunggelenk

Patellarsehnenreflex

L5

Oberschenkel-Hinteraußenseite, Unterschenkelaußenseite, medialer Fußrücken, Zehen I–II

M. extensor hallucis longus

M. tibialis posterior,

M. tibialis anterior

M. gluteus maximus, M. gluteus medius, M. gluteus minimus, M. piriformis

Dorsalextension der Großzehe

Plantarflexion, Supination im Sprunggelenk

Dorsalextension im Sprunggelenk

Abduktion und Extension im Hüftgelenk

Tibialis-posterior-Reflex

S1

Oberschenkelrückseite, Unterschenkelrückseite, Ferse, Fußsohle, Fußaußenrand bis III–V

M. gluteus maximus, M. gluteus medius, M. gluteus minimus, M. piriformis

M. peronaei

M. triceps surae

Abduktion und Extension im Hüftgelenk

Pronation und Plantarflexion im Sprunggelenk

Supination Plantarflexion im Sprunggelenk

Achillessehnenreflex

Gewebe des Nervensystems Nervengewebe ist aus Nervenzellen (Neuronen) und Gliazellen aufgebaut. Neuronen dienen der Erregungsleitung und -verarbeitung. Zu diesem Zweck besitzen sie spezielle Fortsätze, die sich nicht an anderen Zelltypen finden. Jedes Neuron hat einen Neurit (Axon) und mehrere Dendriten. Die Neuriten leiten Signale der jeweiligen Zelle weiter (Efferenz), die Dendriten empfangen Signale anderer Zellen (Afferenz). Gliazellen haben eine strukturgebende Stützfunktion und sind am Austausch von Nährstoffen zwischen Neuronen und Blut sowie an der Reizleitung beteiligt. Eine spezialisierte Form von Gliazellen, die Oligodendrozyten des Zentralnervensystems und die Schwann-Zellen des peripheren Nervensystems, umhüllen die Axone und bilden Markscheiden. Die inneren Liquorräume werden durch eine spezialisierte Zellgruppe, die Ependymzellen, ausgekleidet. Die Muskulatur wird durch die Motoneuronen des Rückenmarks versorgt. Die Neuriten dieser Motoneuronen bilden die motorischen Vorderwurzeln (s.a. ▶ Abb. 2.5).

Abb. 2.5 Motorisches Neuron aus dem Vorderhorn des Rückenmarks. Die gestrichelte Linie markiert die Grenze zwischen zentralem und peripherem Nervensystem.

Periphere Nerven werden aus Nervenfasern und dem sie umgebenden Bindegewebe gebildet. Mehrere Axone und Dendriten, die von Markscheiden umhüllt sind, werden als Nervenfaser (Faszikel) bezeichnet und sind in das Endoneurium eingebettet. Nervenfaserbündel werden durch das Perineurium zusammengefasst. Mehrere Nervenfaserbündel sind im Epineurium eingebettet und bilden den peripheren Nerv (s.a. ▶ Abb. 2.6).

Abb. 2.6 Bindegewebe eines Nervs.

Die Elastizität und Dehnbarkeit der Nerven beruhen auf den Hüllgeweben der Faszikel, während das Epineurium wie ein Polster gegen Kompression schützt. Jeder Nerv enthält mehrere Bündel von Faszikeln, die jeweils einen bestimmten Bereich in der Peripherie sensibel oder motorisch versorgen. Die einzelnen Axone verlaufen wellenförmig in den Faszikeln, die Faszikel verlaufen wellenförmig im Epineurium und die Nerven verlaufen wellenförmig in ihren Hüllen ( ▶ [286]). Dies ermöglicht die Anpassung bei Dehnung im Rahmen physiologischer Bewegungsabläufe.

Das Epineurium ist im Verlauf der verschiedenen Nerven unterschiedlich dicht ausgeprägt. Nerven mit wenigen Faszikeln und umfangreichem Epineurium, wie z.B. der N. tibialis, sind besser gegenüber Druck und mechanischer Beanspruchung geschützt als Nerven mit vielen Faszikeln und geringem Epineurium wie z.B. der N. peroneus. Nervenwurzeln besitzen gering ausgeprägte epineurale und perineurale Gewebsstrukturen, die Nervenfasern sind parallel angeordnet, und das Endoneurium ist feiner als im Verlauf der Nerven. Diese strukturellen Bedingungen bedingen, dass Nervenwurzeln sowohl auf Kompression als auch auf Dehnung besonders empfindlich reagieren.

Im Spinalkanal ist das Nervensystem von der harten Hirnhaut, der Dura mater, umgeben. Sie ist kranial am Foramen magnum und kaudal durch das Filum terminale am Steißbein befestigt. Mithilfe von Bändern ist die Dura nach innen über Arachnoidea und weiche Hirnhaut (Pia mater) mit dem Rückenmark, nach außen mit der knöchernen Umgebung verbunden (s.a. ▶ Abb. 2.7). Auf diese Weise ist das Rückenmark geschützt im Spinalkanal aufgehängt und wird durch Ligamente und die Dura mater vor Dehnungsstress bewahrt. Der Liquor im Subarachnoidalraum dient als flexibles Schutzpolster für das Nervensystem. Nach vorne ist die Dura mater mit dem Lig. longitudinale posterius, nach hinten mit dem Lig. flavum verbunden.

Abb. 2.7 Querschnitt durch den Spinalkanal zur Darstellung der Dura mater (harte Hirnhaut), Arachnoidea und Pia mater (weiche Hirnhaut) sowie der Ligamente zur Aufhängung von Rückenmark und Nervenwurzeln.

Reizleitung Wesentliche Funktion von Nervenzellen sind der Empfang, die Verarbeitung und die Weiterleitung von Signalen aus der Peripherie (Afferenz) sowie die Aussendung von Signalen, die in Gehirn und Rückenmark generiert werden, in die Peripherie (Efferenz). Periphere Nervenendigungen registrieren u.a. Berührung, Temperatur, Druck, Schmerz und die Position von Körperteilen. Die Signale werden elektrisch in Form von Potenzialveränderungen an der Membran der Nervenzellfortsätze (Dendriten, Axone) fortgeleitet. Die Kommunikation zwischen Nervenzellen wird dadurch gewährleistet, dass die Veränderungen dieser elektrischen Potenziale zur Freisetzung von Überträgerstoffen (Botenstoffen, Neurotransmitter) führen, die wiederum eine Potenzialveränderung an einer nachgeschalteten Nervenzelle verursachen. Nervenzellen zeichnen sich gegenüber anderen Körperzellen durch ihre z.T. sehr langen Zellfortsätze aus, die z.B. für die Motoneurone des N. ischiadicus der Länge des Beines bis zu den distalsten von diesem Nerv innervierten Muskeln entsprechen. Der Stoffwechsel dieser Zellfortsätze wird u.a. durch anterograde und retrograde Transportsysteme gewährleistet, die für den Transport verschiedener Moleküle durch die Zellfortsätze verantwortlich sind. Wachstumsfaktoren, wie etwa der Nervenwachstumsfaktor NGF, werden in der Peripherie von den Zielstrukturen der Nerven ausgeschüttet und retrograd über lange Strecken bis in die Zellkerne der Nervenzellen transportiert. Die Vermutung liegt nahe, dass mechanische Beeinträchtigungen von Nerven und Nervenwurzeln, z.B. durch einen Bandscheibenvorfall, über Druckwirkung mit solchen Transportprozessen interferieren.

Blutversorgung des Nervensystems Das Nervensystem verbraucht 20% des Sauerstoffs, der im Körper durch Blutzirkulation zur Verfügung gestellt wird. Der Anteil des Nervensystems an der Gesamtkörpermasse beträgt demgegenüber nur 2% ( ▶ [72]). Die Blutversorgung der Nervenwurzeln und der peripheren Nerven wird durch ein spezielles Gefäßsystem, die Vasa nervorum, gewährleistet. Von den parallel zu den Nerven verlaufenden Hauptgefäßen führen spiralige Versorgungsgefäße in den Nerv hinein. Zusätzliche kollaterale Sicherheitssysteme gewährleisten die Sauerstoffversorgung bei Störungen in einzelnen Gefäßen ( ▶ [180]; ▶ [24]). Eine gitterartige Kollagenstruktur schützt die Blutgefäße vor Schädigung durch Dehnung und Kompression ( ▶ [37]). Die Blutzufuhr zu den in den Nerven verlaufenden Axonen und Dendriten sowie den zellulären Bestandteilen wie den Schwann-Zellen ist auf diese Weise bei jeder Bewegung und gehaltenen Position gewährleistet. Bei Untersuchungen am Ischiasnerv des Kaninchens wurde bei 8% Dehnung eine Verlangsamung und bei 15% Dehnung eine Unterbrechung des Blutflusses beobachtet ( ▶ [179]). Eine solche Dehnung kommt unter physiologischen Bedingungen vermutlich nicht vor. Liegt aber ein Bewegungshindernis des Nervs vor, z.B. in Form einer fibrosierten Nervenwurzel nach einem Bandscheibenvorfall, ist eine Dehnung mit Beeinträchtigung des Blutflusses denkbar. Dies könnte z.B. das Auftreten von Sensibilitätsstörungen bei Nervendehnungstests erklären.

Innervation des Nervensystems Die bindegewebigen Hüllen des Nervensystems sind innerviert und können Ursache für Schmerzen sein ( ▶ [108]). Ein feines Nervengeflecht (Sinuvertebralnerven) versorgt die Dura mater, die Wurzeltaschendura, das Lig. longitudinale posterius, das Periost, Blutgefäße und den Anulus fibrosus ( ▶ [30]). Freie Nervenendigungen wurden 1884 von Horsley auch im Bindegewebe peripherer Nerven entdeckt und als Nn. nervorum bezeichnet. Marshall ( ▶ [192]) nahm schon 1883 an, dass solche Nerven existieren, und stellte die Hypothese auf, dass Stoffe, die bei einer Entzündung ausgeschüttet werden, diese Nerven irritieren und damit eine Neuralgie auslösen ( ▶ [284]). Diese Hypothese wird durch Hinweise auf Entzündungsprozesse und Schmerzmediatoren in den Nn. nervorum gestützt ( ▶ [346]; ▶ [259]). Die Bedeutung der Innervation der Nerven und ihrer Hüllen bei der Entstehung von neurologischen Symptomen, insbesondere von ausstrahlenden Schmerzen, ist noch immer unklar.

2.1.5 Biomechanik von Nervensystem und Wirbelsäule

Bewegungen des Nervensystems Bei Bewegung gleiten die einzelnen Gewebsschichten eines Nervs gegeneinander ( ▶ [82]). Gleichzeitig werden Nervenwurzeln, Nervengeflechte und das Rückenmark entfaltet oder gefaltet ( ▶ [37], s.a. ▶ Abb. 2.8 und ▶ Abb. 2.9).

Abb. 2.8 Veränderungen im Nervensystem bei Bewegung an Nervenwurzeln, Dura mater und Rückenmark (Ausschnitt des zervikalen Spinalkanals).

Abb. 2.8a Bei voller Extension der Wirbelsäule sind die Dura mater, die Nervenwurzeln und das Rückenmark entspannt. Die Nervenwurzeln haben keinen Kontakt mit den Wurzeltaschen (unterer Pfeil), und die Wurzeltaschen haben keinen Kontakt mit den Wirbelbögen (oberer Pfeil).

(aus: Breig A. Adverse mechanical tension in the central nervous system. Stockholm: Almqvist and Wiksell; 1978)

Abb. 2.8b Bei voller Flexion der Wirbelsäule sind die Dura mater, die Nervenwurzeln und das Rückenmark gespannt. Die Nervenwurzeln haben Kontakt mit den Wurzeltaschen und die Wurzeltaschen haben Kontakt mit den Wirbelbögen.

(aus: Breig A. Adverse mechanical tension in the central nervous system. Stockholm: Almqvist and Wiksell; 1978)

Abb. 2.9 Veränderungen im Nervensystem bei Bewegung im Rückenmark.

Abb. 2.9a Verlängerung des Rückenmarks bei Flexion der Wirbelsäule.

(aus: Breig A. Adverse mechanical tension in the central nervous system. Stockholm: Almqvist and Wiksell; 1978)

Abb. 2.9b Verkürzung des Rückenmarks bei Extension der Wirbelsäule.

(aus: Breig A. Adverse mechanical tension in the central nervous system. Stockholm: Almqvist and Wiksell; 1978)

Bei Bewegungen der Extremitäten glätten sich zunächst die Wellen in den Nerven, nicht aber in den Faszikeln, sodass diese vor Überdehnung geschützt sind. Nervenwurzeln und periphere Nerven des Menschen kompensieren Dehnung um 6–20%, bevor sie reißen. Das Maß der Elastizität hängt unter anderem von der Stärke, der Dauer und der Geschwindigkeit der Krafteinwirkung ab ( ▶ [286]). In Ultraschalluntersuchungen des N. tibialis im Bereich der Kniekehle sahen wir, dass sich der periphere Nerv bei Dehnung bezüglich des umliegenden Gewebes in Richtung Körperoberfläche bewegt und von einer runden zu einer ovalen Struktur verformt wird ( ▶ Abb. 2.10). Im Längsschnitt sahen wir, dass sich der Nerv gegenüber dem umliegenden Gewebe bewegt und bei Dehnung dünner erscheint ( ▶ Abb. 2.11). Im Vergleich zwischen schmerzfreier Seite und durch eine Wurzelkompression bei Bandscheibenvorfall schmerzhafter Seite beobachteten wir, dass die Beweglichkeit des Nervs im umliegenden Gewebe sichtbar eingeschränkt war.

Abb. 2.10 Ultraschallaufnahmen des N. tibialis im Bereich der Kniekehle. Veränderung des Querschnitts und der Position bei Bewegung des Fußes.

Abb. 2.10a Entspannt.

(Abbildung: Prof. Dr. P. Haber, Kinderklinik, Universitätsklinikum Tübingen)

Abb. 2.10b Bei Dehnung.

(Abbildung: Prof. Dr. P. Haber, Kinderklinik, Universitätsklinikum Tübingen)

Abb. 2.11 Ultraschallaufnahmen, Längsschnitt des N. tibialis im Bereich der Kniekehle.

(Abbildung: Prof. Dr. P. Haber, Kinderklinik, Universitätsklinikum Tübingen)

Bewegungen der Extremitäten verursachen Spannungsänderungen in den peripheren Nerven. Diese werden über die Nervenwurzeln auch an das Zentralnervensystem weitergeleitet. Ebenso verursachen Bewegungen der Wirbelsäule Spannungsänderungen im zentralen und peripheren Nervensystem (s.a. ▶ Abb. 2.12). Bei Dehnung werden die Nervenfasern entfaltet und somit länger und dünner. Der Druck innerhalb der Nervenfasern steigt an, die Blutzirkulation wird reduziert ( ▶ [286]). Die kollagenen Bindegewebe und die Gliazellen begrenzen die Beweglichkeit des Nervensystems bei Annäherung ( ▶ [37]). Aufgrund der dreidimensionalen Faltenbildung der Nervenfasern bei Annäherung ist ihr Durchmesser bei Extension der Wirbelsäule größer als bei Flexion der Wirbelsäule.

Abb. 2.12 Maximale Spannung auf dem Nervensystem.

Bei Flexion der Wirbelsäule und gleichzeitiger Hüftflexion mit Knieextension kommt das gesamte Nervensystem unter Spannung. An den Spannungspunkten C6, Th6, L4 und in der Kniekehle entsteht besonders ausgeprägte Spannung ( ▶ [50]). Die Flexibilität des Nervensystems wird durch verschiedene anatomische Gegebenheiten von außen beeinflusst. Knöcherne Strukturen begrenzen das Nervensystem z.B. in Schädel, Spinalkanal, Foramina intervertebralia, Sulcus ulnaris und im Bereich der Fibulaköpfchen. Die das Nervensystem umgebenden Bindegewebe stellen Berührungsflächen dar, die unter physiologischen Bedingungen die Bewegung nervöser Strukturen zulassen.

Die Ligg. denticulata verbinden die Nervenwurzeln mit der Dura mater und geben dadurch Zug von den Nervenwurzeln an das Rückenmark weiter. Über sie wird bei Bewegung vermehrte Spannung auf ihre Ansatzpunkte übertragen und sie schützen gleichzeitig die Nervenwurzeln vor Überdehnung.

Butler ( ▶ [50]) beobachtete, dass Patienten bei Nervendehnungstests regelmäßig an bestimmten Punkten Symptome reproduzierten, nämlich im Bereich der Rückenmarksegmente C6, Th6 und L4, in der Kniekehle und in der Ellenbeuge. Er stellte die Hypothese auf, dass in diesen Bereichen besonders wenig Bewegung für das Nervensystem möglich sei und dass dies zu einer empfindlichen Reaktion auf Spannung führe. Anatomisch könne dies in den Bereichen C6, Th6 und L4 dadurch erklärt werden, dass die Räume zwischen Rückenmark und Wirbelkanal besonders eng sind. Neuere computertomografische und kernspintomografische Daten zu dieser Fragestellung fehlen jedoch. Im Bereich der Kniekehle und der Ellenbeuge führen besonders feste Verbindungen der neuralen Strukturen zu den umliegenden Strukturen durch Nervenverzweigungen und durch eintretende Blutgefäße zu erhöhter Spannung bei Bewegung.

Bewegungen der Wirbelsäule Bewegungen der Wirbelsäule verlaufen in komplexen Kombinationen einzelner Bewegungskomponenten. Flexion, Extension, Rotation und Lateralflexion sind die wesentlichen Komponenten. Die Bewegungsmuster sind sowohl in verschiedenen Segmenten der Wirbelsäule als auch interindividuell verschieden. Sie können unter Entlastung anders verlaufen als unter Belastung ( ▶ [30]).

Bewegungen der LWS Bei der Flexion wird die Lendenlordose aufgehoben. Dabei verändern die Wirbel ihre Stellung zueinander, sodass die Wirbelkörper parallel zueinander liegen. Eine weitere Annäherung der Vorderkanten der Wirbelkörper über die Parallele hinaus und damit eine weitere Flexion ist nur in der oberen LWS möglich ( ▶ [30]). Als gleichzeitige Komponente findet eine Translation der Wirbel nach vorne statt. Bei der Flexion entstehen eine anteriore Kompression der Bandscheiben und eine Druckentlastung der Facettengelenke.

Die Extension ist der Flexion entgegengesetzt. Es findet eine Annäherung der Hinterkanten der Wirbelkörper, kombiniert mit einer Translation der Wirbel nach hinten statt. Die Bandscheiben werden dorsal komprimiert und die Facettengelenke werden druckbelastet. Das Bewegungsausmaß wird durch die Dornfortsätze und die Bandscheiben begrenzt. Ein Extensionstrauma führt in der Regel zuerst zu einer Verletzung der Dornfortsätze, bevor die Bandscheiben verletzt werden. Eine Bandscheibenverletzung ohne Verletzung der Dornfortsätze ist somit unwahrscheinlich ( ▶ [1]).

Bei der Rotation werden die Bandscheiben einer Torsionsbelastung ausgesetzt und die Facettengelenke ineinandergeschoben. Die maximale Rotationsbelastbarkeit einer Bandscheibe, ohne dass eine Verletzung auftritt, liegt bei 3°. Die Facettengelenke lassen nur einen geringen Bewegungsspielraum (1–2° pro Segment) zu und schützen dadurch die Bandscheiben vor Überlastung durch Rotationsbewegung. Die Rotation der oberen drei Lendenwirbelsegmente ist mit Lateralflexion zur Gegenseite verbunden. Im Segment LWK4/5 wurde keine stereotype Bewegungskombination gefunden. Die Rotation im Gelenk zwischen LWK5 und SWK1 ist mit einer Lateralflexion zur gleichen Seite verbunden.

Bei der Lateralflexion laufen komplexe Kombinationen von Bewegungen ab, die bisher nicht detailliert untersucht wurden. Die Lateralflexion der oberen Lendenwirbelsäulensegmente ist mit einer Rotation zur Gegenseite verbunden. Im Segment LWK4/5 wurde keine stereotype Bewegungskombination gefunden. Die Lateralflexion zwischen LWK5/SWK1 wird von einer Rotation zur gleichen Seite begleitet ( ▶ [30]).

Bewegungen der BWS Die BWS ist aufgrund der Verbindung mit den Rippen wesentlich weniger beweglich als LWS und HWS. Eine leichte Flexion, die Brustkyphose, stellt die natürliche Position der BWS dar. Die Beweglichkeit in Extension wird durch die Dornfortsätze begrenzt, die in diesem Bereich länger sind als in der LWS und HWS und dadurch ein größeres mechanisches Hindernis für die Extension darstellen. Die Lateralflexion wird vor allem durch die Rippen begrenzt. Der größte Bewegungsspielraum besteht in Rotation.

Bewegungen der HWS Wegen unterschiedlicher anatomischer Gegebenheiten und verschiedener Haltungs- und Bewegungsmuster ist eine Unterscheidung in obere (HWK1–2) und untere (HWK3–7) HWS sinnvoll.

Im Atlantookzipitalgelenk finden Flexion und Extension statt. Rotation ist in diesem Gelenk kaum möglich. Auf der Höhe HWK2/3 ist die Beweglichkeit in Rotation größer als in den unteren Segmenten. Lateralflexion findet hauptsächlich in den unteren Segmenten der HWS statt, während dort weniger Rotation möglich ist als in der oberen HWS. Wie in der LWS sind Rotation und Lateralflexion komplexe Bewegungsabläufe, die jeweils miteinander verbunden sind. Klinisch relevante Kombinationsbewegungen der HWS sind Retraktion und Protraktion. Bei der Retraktion wird der Hinterkopf nach dorsal bewegt, während das Kinn nach kaudal bewegt wird. Diese Bewegung ist mit einer Flexion der oberen und einer Extension der unteren HWS verbunden. Bei der Protraktion wird das Gesicht nach ventral bewegt. Diese Bewegung ist mit einer Extension der oberen und einer Flexion der unteren HWS verbunden. Bei Flexion der gesamten HWS findet mehr Flexion in der unteren HWS statt als bei Protraktion. Bei Extension der gesamten HWS findet mehr Extension in der unteren HWS statt als bei Retraktion ( ▶ [218]).

Zusammenhänge zwischen Bewegungen der Wirbelsäule und dem Nervensystem

Flexion der Wirbelsäule

Rückenmark, Hirnhäute und Nervenwurzeln werden entfaltet und kommen unter Spannung (s.a. ▶ Abb. 2.8 und ▶ Abb. 2.9, Veränderungen im Nervensystem bei Bewegung).

Die Nervenwurzeln kommen in Kontakt mit den Wirbelbögen (s.a. ▶ Abb. 2.8, Veränderungen im Nervensystem bei Bewegung).

Das Rückenmark wird im Spinalkanal nach ventral bewegt.

Der Querschnitt des Spinalkanals wird vergrößert.

Die Foramina intervertebralia werden um 30% vergrößert ( ▶ [50]).

Extension der Wirbelsäule

Rückenmark, Hirnhäute und Nervenwurzeln werden angenähert, gefaltet und entspannt (s.a. ▶ Abb. 2.8 und ▶ Abb. 2.9, Veränderungen im Nervensystem bei Bewegung).

Die Nervenwurzeln sind nicht in Kontakt mit den Wirbelbögen (s.a. ▶ Abb. 2.8, Veränderungen im Nervensystem bei Bewegung).

Das Rückenmark wird im Spinalkanal nach posterior bewegt.

Der Querschnitt des Spinalkanals wird verkleinert.

Die Foramina intervertebralia werden um 20% verkleinert.

Von maximaler Wirbelsäulenextension zu -flexion verlängert sich der Wirbelkanal um 5–9cm ( ▶ [37]).

Lateralflexion der Wirbelsäule

Rückenmark, Hirnhäute und Nervenwurzeln werden im Spinalkanal auf der konkaven (flektierten) Seite angenähert und auf der konvexen Seite gedehnt.

Die Foramina intervertebralia werden auf der konkaven Seite enger, auf der konvexen Seite weiter.

Rotation der Wirbelsäule Die Auswirkung rotatorischer Bewegungen auf den Spinalkanal ist noch wenig untersucht. Die mit der Rotation der Wirbelsäule einhergehenden Bewegungen in Flexion, Extension und Lateralflexion beeinflussen entscheidend den Effekt der Rotation auf das Nervensystem.

2.2 Pathophysiologie des Bandscheibenschadens

Die degenerativen Prozesse der Bandscheiben entwickeln sich in der Regel im Verlauf vieler Jahre ( ▶ [321]; ▶ [317]; ▶ [281]). Patienten mit Bandscheibenvorfällen können sich meistens daran erinnern, in den vergangenen Jahren zahlreiche Episoden von Rücken- oder Nackenschmerzen und plötzlichen Bewegungseinschränkungen erlebt zu haben. Traumatische Bandscheibenschäden stellen eine Ausnahme dar.

Bandscheibenvorfälle können von der Jugend an bis ins hohe Alter auftreten, treten aber fast nie, es sei denn traumatisch, im Kindesalter auf. Am häufigsten treten Bandscheibenvorfälle im mittleren Lebensalter, zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr auf ( ▶ [196]; ▶ [198]; ▶ [197]; ▶ [321]; ▶ [281]). Dies wird dadurch begründet, dass der degenerative Prozess in jüngerem Alter (unter 30) in der Regel noch nicht ausgeprägt ist und dass mit zunehmendem Alter (über 50) die Elastizität der Bandscheiben so sehr nachlässt, dass eine Verlagerung des Nucleus pulposus seltener zustande kommt. Zudem lässt möglicherweise, je nach Kulturkreis, auch die Belastung der Wirbelsäule ab dem 50. Lebensjahr nach.

Frakturen der Endplatten können die Ursache für degenerative Prozesse innerhalb der Bandscheiben sein. Die Endplatte hält axialen Druckbelastungen weniger stand als der Anulus fibrosus. Frakturen der Endplatte führen zu einem Höhenverlust der Bandscheibe und zu einer Spannungszunahme im hinteren Bereich des Anulus fibrosus. Dadurch wird die Widerstandskraft dieses ohnehin im Alltag besonders stark belasteten Bereiches des Anulus fibrosus erheblich gemindert ( ▶ [3]; ▶ [30]).

Die Pufferfunktion der Bandscheibe hängt von ihrem Wassergehalt ab. Durch Druckbelastung, z.B. im Stand, nimmt der Wassergehalt im Nucleus pulposus um 13–36% ab. Dadurch wird die Druckbelastung vom Nucleus pulposus auf den Anulus fibrosus verschoben. Das kann akut und chronisch zu Schmerzen und längerfristig zu degenerativen Prozessen im Bereich der Bandscheibe führen ( ▶ [8]). Deshalb begünstigt auch ein niedriger Gehalt der Bandscheibe an Proteoglykanen – und damit verbunden der Wasseraufnahmekapazität – degenerative Prozesse ( ▶ [223]).

Die mechanisch am meisten belasteten Bereiche der Wirbelsäule sind die Übergänge von mobilen zu stabilen Segmenten. Dadurch ist begründet, dass Bandscheibenvorfälle in den Höhen LWK5/SWK1 und HWK6/7 am häufigsten sind ( ▶ [208]; ▶ [334]).

2.2.1 Mechanik eines Bandscheibenvorfalls

Wenn man sich bewegt, bewegen sich die Bandscheiben passiv mit. Bewegt man sich wiederholt einseitig oder hält sich über längere Zeit in einer Position, so weicht der Gallertkern dem einseitigen Druck aus und wandert in die Gegenrichtung ( ▶ [5]; ▶ [92]). Bei gebeugten Tätigkeiten wie Sitzen, Heben oder Gartenarbeit entsteht ventral kontinuierlicher Druck auf die Bandscheiben. Die Gallertmasse weicht nach hinten aus und drückt auf den empfindlichen Faserring (s.a. ▶ Abb. 2.13 und ▶ Abb. 2.14). Gleichzeitig wird der Faserring hinten überdehnt ( ▶ [4]). Diese Wirkung auf den Faserring ist vermutlich wesentlich für die Entstehung von Rückenschmerzen nach längerer Belastung verantwortlich.

Abb. 2.13 Aufrechte Haltung. Bei der aufrechten Haltung ist die LWS leicht nach vorne gewölbt, die Hinterkanten der Wirbelkörper sind angenähert – die Gallertkerne befinden sich in der Mitte zwischen Vorder- und Hinterkante des Wirbelkörpers.

Abb. 2.14 Gebeugte Haltung. Bei der gebeugten Haltung sind die Wirbelkörper parallel zueinander – die Gallertkerne weichen nach hinten aus.

Bei wiederholter Fehlbelastung können die Faserringe Risse bekommen. Beugt man sich weiter, wandert der Gallertkern eventuell so stark nach hinten, dass er bei Aufrichtung zwischen den Hinterkanten der Wirbelkörper eingeklemmt wird. Es entsteht eine Streckhemmung. Man fühlt sich in eine gebeugte Körperhaltung gezwungen, die man wegen Schmerzen beim Aufrichten nicht aufgibt. Durch die anhaltende Beugung kann der Gallertkern auch so weit nach hinten verschoben werden, dass der Faserring schließlich reißt ( ▶ [5]). Die gallertartige Masse der Bandscheibe tritt teilweise durch diesen Riss aus, und es kommt zum Bandscheibenvorfall, je nach Lokalisation und Größe ohne oder mit Kompression einer benachbarten Nervenwurzel ( ▶ Abb. 2.15). Auch ▶ Abb. 2.3 zeigt die Lagebeziehung der Bandscheibe zur Nervenwurzel.

Abb. 2.15 Bandscheibenvorfall. Der Anulus fibrosus ist eingerissen. Der Nucleus pulposus ist nach hinten verlagert und drückt auf die Nervenwurzel.

Tipp für den Therapeuten

Die Anatomie und den Mechanismus einer Bandscheibenverletzung kann man dem Patienten kurz skizzieren ( ▶ Abb. 2.16). So wird sowohl das Verständnis für die vorliegende Verletzung mit dem Bedarf an Schonung als auch die Notwendigkeit von gezielter wiederholter Bewegung vertieft. Insbesondere der Rat, sich während der Zeit der Wundheilung nicht zu beugen, wird nach dieser bildlichen Darstellung besonders gut umgesetzt.

Abb. 2.16 Skizze einer Bandscheibenschädigung zur Erklärung für den Patienten.

Hamburger-Effekt

Eine Bandscheibenverletzung entsteht fast immer durch a) lang anhaltende, b) häufig wiederholte, c) mit großer Gewichtsbelastung ausgeführte Beugung der Wirbelsäule. Der mechanische Vorgang kann mit dem Biss in einen Hamburger verglichen werden. Jeder kennt folgende Situation: Man möchte in einen Hamburger beißen. Um ihn in eine mundgerechte Dicke zu bringen, drückt man ihn auf einer Seite zusammen. Das Fleischstück wird auf der anderen Seite herausgepresst (s.a. ▶ Abb. 2.17).

Abb. 2.17 Der Hamburger-Effekt. Die Bandscheibe weicht wie der Hamburger dem einseitigen Druck aus und wird auf die Gegenseite verlagert.

Im Falle der Nervenwurzelkompression entwickeln sich oft ausstrahlende Schmerzen, die von der LWS ausgehend über das Gesäß in den Oberschenkel ziehen, entsprechend dem Dermatom, das die betroffene Nervenwurzel versorgt, im Falle der L5-Wurzel z.B. typischerweise mit Ausstrahlung in die Großzehe. Von der HWS ausgehend, zieht der Schmerz vom Nacken über das Schulterblatt in den Oberarm und eventuell bis in die Finger. Bei starkem Druck auf die Nervenwurzel treten Gefühlsstörungen im peripheren Versorgungsgebiet der Nervenwurzel auf, zudem kann es zu einer Schwäche der von der Nervenwurzel versorgten Muskulatur kommen. Manchmal hört dann der Rückenschmerz auf. Ein Bandscheibenvorfall in Höhe der BWS verursacht ausstrahlende Schmerzen im Verlauf der Rippen. Bandscheibenvorfälle, die auf das Rückenmark oder die Cauda equina drücken, sind selten (s.a. Kap. ▶ 2.2.4). In diesem Fall entwickelt sich ein Querschnittsyndrom auf der entsprechenden Höhe, das in aller Regel inkomplett bleibt.

Nur bei hoher Druckbelastung und gleichzeitiger Hyperextension der Wirbelsäule entwickelt sich ein Bandscheibenvorfall nach ventral. Hier handelt es sich um ein sehr seltenes Ereignis ( ▶ [1]).

Im Alltag wird die Wirbelsäule überwiegend im Sinne der Beugung belastet. Morgens steht man auf, setzt sich an den Frühstückstisch, putzt die Zähne und setzt sich ins Auto, um bei der Arbeit zu sitzen oder in gebeugter Haltung körperlich zu arbeiten. Am Abend setzt man sich ins Auto, fährt nach Hause, sitzt beim Abendessen und zuletzt zur Entspannung vor dem Fernseher. Bis hierhin hat man sich unter Umständen kein einziges Mal gestreckt. Die Wirbelsäule verliert ihre Beweglichkeit in Streckung. Die Bandscheiben werden ständig nach hinten gedrückt ( ▶ [198]). Diese typische Alltagsbelastung bringt es mit sich, dass die Streckung der Wirbelsäule eine der wichtigsten Übungen und die schmerzfreie Beweglichkeit in Streckung ein zentrales Behandlungsziel ist.

2.2.2 Klassifikation von Bandscheibenschäden

Bandscheibenschäden werden nach zwei Gesichtspunkten klassifiziert.

Nach dem Ausprägungsgrad

Fissur: Einriss im Anulus fibrosus. Er lässt sich nur diskografisch darstellen.

Protrusion (engl. bulge): geringe Vorwölbung von Bandscheibengewebe weniger als 3mm Verlagerung über den Rand des Wirbelkörpers, die sich durch Computertomografie (CT) oder Magnetresonanztomografie (MRT) darstellen lässt. Aufgrund der Größe der Störung nimmt man an, dass die äußerste Schicht des Anulus fibrosus in der Regel intakt ist ( ▶ [202]; ▶ [90]). Der Übergang zum Prolaps ist fließend, sodass diese Klassifizierung Anlass für Unstimmigkeiten unter den Beurteilenden ist ( ▶ [168]).

Prolaps: starke Vorwölbung von Bandscheibengewebe. Aufgrund der Größe der Störung wird in der Regel angenommen, dass der Anulus fibrosus gerissen ist.

Sequester: Das Bandscheibengewebe wird über die Kante des Wirbelkörpers nach oben oder unten hinaus verlagert und hat den Zusammenhalt mit der übrigen Bandscheibe verloren. In diesem Fall muss der Anulus fibrosus gerissen sein.

Diese im deutschsprachigen Raum üblichen Bezeichnungen entsprechen der von der North American Spine Society empfohlenen Klassifizierung. Protrusion fasst dabei die amerikanischen Begriffe bulging disc,annular tear und protrusion zusammen. Ein Prolaps entspricht im Amerikanischen der extrusion bzw. disc herniation. Der Begriff Sequester entspricht der amerikanischen Bezeichnung sequestration. In dieser Klassifikation finden andere, für die Beurteilung des Schweregrades der Erkrankung und die Prognose wichtige Parameter wie die Höhenminderung des Zwischenwirbelraums und die Signalintensität bei der MRT (s.a. Kap. ▶ 3.2.5) keine Berücksichtigung ( ▶ [159]; ▶ [90]).

Nach der Lage des verlagerten Bandscheibengewebes

Median: zur Mitte des Spinalkanals hin; Nervenwurzeln auf beiden Seiten können komprimiert werden, in Abhängigkeit von der Größe auch das Rückenmark oder die Cauda equina.

Mediolateral: zu einer Seite des Spinalkanals hin; häufigste Lage; eine oder mehrere Nervenwurzeln auf einer Seite können komprimiert werden, in seltenen Fällen auch das Rückenmark oder die Cauda equina.

Foraminal: in das Foramen intervertebrale reichend; die Nervenwurzel, die in der betroffenen Höhe austritt, wird getroffen.

Extraforaminal: über das Foramen intervertebrale hinaus zur Seite verlagert; die Nervenwurzel, die in der betroffenen Höhe austritt, wird getroffen.

2.2.3 Bandscheibenschaden und Muskelspannung

Bei Patienten mit Bandscheibenvorfällen ist in aller Regel ein erhöhter Tonus der lumbalen Rückenstreckermuskulatur zu beobachten. Typisch für Patienten mit diskogenen Beschwerden ist eine Fehlhaltung der Wirbelsäule mit einer Reduktion der physiologischen Lordose, oft gekoppelt mit einer lateralen Verschiebung (Shift) der Wirbelsäule ( ▶ [198]; ▶ [188]; ▶ [317]), s.a. Kap. ▶ 4.2). Indahl et al. ( ▶ [133]