Die 95 wichtigsten Fragen: Reformation - Johann Hinrich Claussen - E-Book

Die 95 wichtigsten Fragen: Reformation E-Book

Johann Hinrich Claussen

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Beschreibung

Was war Luthers Problem? Wie fand er sein Glück? Warum hat er das Poesiealbum erfunden, und wieso sind die deutschen Protestanten eigentlich schottisch? Über Luther und die Reformation sind auch 500 Jahre nach dem Thesenanschlag von Wittenberg viele Fragen offen: Fragen, die ganz einfach klingen, aber schwer zu beantworten sind, und scheinbar nebensächliche Fragen, die uns die Reformation mit ganz anderen Augen sehen lassen. Johann Hinrich Claussen erklärt in seinem elegant geschriebenen Buch, was die Reformatoren wollten, warum sie die Kultur in Europa nachhaltig verändert und doch so wenige Schriftsteller inspiriert haben und was heute von der Reformation zu halten ist.

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Johann Hinrich Claussen

Die 95 wichtigsten Fragen

Reformation

C.H.Beck

Über das Buch

Über Luther und die Reformation sind auch fünfhundert Jahre nach dem Thesenanschlag von Wittenberg viele Fragen offen: Fragen, die ganz einfach klingen, aber schwer zu beantworten sind, und scheinbar nebensächliche Fragen, die uns die Reformation mit ganz anderen Augen sehen lassen. Johann Hinrich Claussen erklärt in seinem elegant und voraussetzungslos geschriebenen Buch, was die Reformatoren wollten, warum sie die Kultur in Europa nachhaltig verändert und doch so wenige Schriftsteller inspiriert haben und was heute von der Reformation zu halten ist.

Über den Autor

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bei C.H.Beck erschienen von ihm «Die 101 wichtigsten Fragen. Christentum» (3. Aufl. 2008) sowie «Gottes Häuser» (2. Aufl. 2012) und «Gottes Klänge» (2. Aufl. 2015).

Inhalt

Was möchte dieses Buch?

I. Vorgeschichten

1. Hat die Reformation mit Martin Luther begonnen?

2. Warum sagte sich Böhmen schon vor Luther vom Papst los?  

3. Warum war Petrus Valdes ein Vorläufer Luthers, sein Zeitgenosse Franziskus von Assisi aber nicht?  

4. Was hat Luther von seinen Vorläufern gehalten?  

5. War der Humanismus eine Reformation?  

6. War die Kirche vor der Reformation wirklich so verdorben?  

7. Hat die Mystik des Mittelalters der Reformation den Weg gebahnt?  

8. Gab es schon vor Luther eine «moderne Frömmigkeit»?  

9. War das Papsttum vor Luther wirklich so rückständig?  

II. Luther und Wittenberg

10. Womit hat die Reformation angefangen?  

11. Was erlebte Luther im Turm?  

12. Warum hat Luther den Papst so gehasst?  

13. Ging Luther wegen eines Gewitters ins Kloster?  

14. Hat es Luthers Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 tatsächlich gegeben?  

15. Was hat Luther in Worms wirklich gesagt?  

16. Hat Luther mit dem Teufel gekämpft?  

17. Wer hat das beliebteste Luther-Zitat erfunden?  

18. Wie hat Luther ausgesehen?  

19. War Luther der erste Übersetzer der Bibel?  

20. Was ist der Sinn der Rechtfertigungslehre?  

21. Was war Luthers Problem, was sein Unglück?  

22. Wie fand Luther sein Glück?  

23. War Luther ein kritischer Theologe?  

24. Welches Bild hatte Luther von Gott?  

III. Luther und die Folgen

25. Warum haben sich Luther und Erasmus zerstritten?  

26. Wie hat der neue Glaube die Kirche verändert?   

27. Warum dürfen evangelische Pastoren heiraten und katholische Priester nicht?  

28. Wie hat Luther für seine Lehre geworben?  

29. Warum hat Luther das Poesiealbum erfunden?  

30. Welche war Luthers wichtigste Predigt?  

31. War Luther tolerant?  

32. Wie deutsch war Luther?  

33. War Luther ein Antisemit?  

IV. Zwingli und Zürich, Calvin und Genf

34. Warum hat die Reformation in der Schweiz mit einer Wurst begonnen?  

35. Was unterscheidet Zwingli von Luther?  

36. Wie wurden die Bürger an der Reformation beteiligt?  

37. Was hat der Protestantismus mit Protest zu tun?  

38. Wie viele Menschen wurden durch die Religionskämpfe zu Flüchtlingen?  

39. Warum musste Calvin fliehen?  

40. War Calvin ein Tugend-Tyrann?  

41. War Calvin tolerant?  

42. Warum wurde Genf und nicht Wittenberg zur Welthauptstadt der Reformation?  

43. Warum hat Calvin kein ordentliches Grab erhalten?  

44. Bilden Lutheraner und Calvinisten eine gemeinsame Konfession oder zwei getrennte?  

45. Warum wurde ausgerechnet das Abendmahl zum Symbol der Kirchenspaltungen?  

V. Revolutionäre Reformatoren

46. Wer waren die Schwärmer?  

47. Wer war der wichtigste Vertreter der radikalen Reformation?  

48. Warum wollte Luther eine Kirche gründen, Müntzer aber eine Sekte bilden?  

49. Wie friedlich waren die radikalen Reformatoren?  

50. Wie wurde aus der Reformation eine Revolution?  

51. Warum scheiterte Thomas Müntzer mit seiner Bauernrevolution?  

52. Warum konnten die Radikalen in Münster die Herrschaft erringen?  

53. Welcher Reformator hätte den Friedensnobelpreis verdient gehabt?  

54. Was wurde aus den radikalen Reformatoren?  

VI. Die Reformationen Europas

55. Wo entstand die erste evangelische Landeskirche?  

56. Für wen war die neue Lehre politisch besonders attraktiv?  

57. Was war die Pariser Bluthochzeit?  

58. Wieso wurde ausgerechnet in den Niederlanden so erbittert gekämpft?  

59. Warum gibt es in den Niederlanden verschiedene reformierte Kirchen?  

60. Warum wurde in England nur eine halbe Reformation eingeführt?  

61. Warum haben die beiden größten Schriftsteller der Reformationszeit über die Reformation geschwiegen?  

62. Warum sind die deutschen Protestanten eigentlich schottisch?  

63. Warum verlief die Reformation in Skandinavien so geräuschlos?  

64. Warum wäre Polen beinahe evangelisch geworden?  

65. Wo liegt die Wiege der Toleranz?  

66. Wieso hat die Reformation die orthodoxen Kirchen gar nicht berührt?  

67. Haben die Türken Luther geholfen?  

VII. Die katholische Reform

68. Warum sollte man für Kaiser Karl V. Respekt und Mitleid empfinden?  

69. Warum hatte die Reformation in Italien keine Chance?  

70. Wer war der liebenswürdigste Katholik der Reformationszeit?  

71. Warum konnten reformatorische Gedanken auch in Spanien nicht Fuß fassen?  

72. Was verbindet Ignatius von Loyola mit Luther?  

73. Was war das Erfolgsgeheimnis der Jesuiten?  

74. Ist die katholische Kirche der Neuzeit ein Kind der Reformation?  

VIII. Die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung der Reformationen

75. Hat die Reformation den christlichen Glauben arm und hässlich gemacht?  

76. Woran erkennt man die Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken?  

77. Warum war die Reformation auch eine musikalische Bewegung?  

78. Weshalb wurde in den reformierten Kirchen nicht gesungen?  

79. Warum hat die Reformation so wenige Schriftsteller inspiriert?  

80. Welche Folgen hatte die Reformation für die Architektur?  

81. Wieso arbeiten Protestanten so gern?  

82. Warum haben die Reformatoren das Betteln verboten?  

83. Haben die Reformatoren den Kapitalismus erfunden?  

84. Wie haben die Reformatoren Kirche und Staat voneinander unterschieden?  

85. Was haben die Frauen von der Reformation gehabt?  

86. Was hatten die Kinder von der Reformation?  

IX. Die Reformationen in der Moderne

87. Was haben die französischen Aufklärer von der Reformation gehalten?  

88. Weshalb sollte man die Kirchenspaltung nicht bedauern?  

89. Hat die Reformation die Moderne eingeleitet?  

90. Wie ist es mit der Reformation in Deutschland und in der Schweiz weitergegangen?  

91. Was ist das Prinzip des Protestantismus?  

92. Warum hat es

die

Reformation nicht gegeben?  

93. Was soll man heute von Luther und der Reformation halten?  

94. Wie sollte man heute den Reformationstag feiern?  

95. Würde ich mich heute noch als «protestantisch» bezeichnen?  

Leseempfehlungen

Bildnachweis

Dank

Personenregister

Mit einem Gruß an

Trutz Rendtorff und

Dietrich Rössler

«Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht ein Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es fügt sich aber alles.»

Martin Luther: Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind, 1521

Was möchte dieses Buch?

Die Reformation ist wichtig, immer noch. Ein halbes Jahrtausend ist es her, dass sie die christliche Welt des ausgehenden Mittelalters umstürzte und fast ganz Europa verwandelte. Dies ist von heute aus betrachtet ein fernes Geschehen, von Historikern zwar umfassend erforscht, für viele Zeitgenossen aber ein dunkler, unbekannter Geschichtskontinent. Dennoch ist die Reformation immer noch gegenwärtig, denn sie hat Europa und Nordamerika tief geprägt, tiefer und nachhaltiger, als vielen Menschen heutzutage bewusst ist. Sich über diese immer noch bedeutsamen Fernwirkungen der Reformation selbst Aufklärung zu verschaffen ist ein Gebot der Stunde. Gerade jetzt, da Europa und Nordamerika nicht nur zahlreiche politische, wirtschaftliche und soziale Krisen zu bewältigen haben, sondern ihr jeweiliges Selbstverständnis grundsätzlich in Frage steht, könnte das erneute Nachdenken über die Reformation sinnvoll sein. Denn es gilt, die eigene Kultur neu zu verstehen und zu gestalten. Welche Kräfte der Geschichte haben diese Kultur entstehen lassen, und welche von ihnen sollten immer Geltung besitzen? Was an ihnen ist immer noch ein eigener Besitz, und was ist einem längst fremd geworden? Dies sind Fragen, die heute eine Antwort suchen, da in Europa und Nordamerika das Eigene und das Fremde überhaupt neu aufeinander bezogen werden müssen. Diese Fragen betreffen nicht zuletzt die Religion. Was Religion ist und sein soll, wie sie verändert, verbessert und reformiert werden kann, das sind keine bloß historischen, sondern höchst gegenwärtige Fragen. Nicht der schlechteste Weg, sich ihnen zu nähern, ist es, sich über die Reformation, ihre Geschichte und ihre Wirkung zu informieren und sich dabei der Frage zu stellen, was davon einen selbst noch unbedingt angeht – gleichgültig, ob man sich nun als protestantisch oder katholisch, kulturchristlich oder nichtreligiös versteht. In diesem Sinne ist die Reformation des 16. Jahrhunderts kein Thema nur für Theologen und Historiker, sondern eine Angelegenheit der Allgemeinheit.

Was war die Reformation? Sie war vieles zugleich, ein komplexes, auch widersprüchliches Gebilde, darin eine überaus reiche historische Gestalt. Oder soll man sagen: ein Komplex aus unterschiedlichen Gestalten? Kann man von «Reformation» überhaupt im Singular sprechen? Wollte man versuchen, zu Beginn eine erste, einfache Definition zu geben, könnte man es so versuchen: Die Reformation war eines der seltenen Ereignisse der Weltgeschichte, in denen neue religiöse Erfahrungen ihre gesamte Umwelt von Grund auf verändert haben. In komplizierten Wechselwirkungen zwischen Religion, Politik, Kultur und Gesellschaft entstand eine neue Zeit. Viele der damaligen Ideen, Empfindungen und Machtfaktoren sind uns heute sehr fern. Man kann sie nicht direkt auf die Gegenwart übertragen. Aber sie laden immer noch zum Nachdenken ein. Denn die Reformation hat viele offene Fragen hinterlassen. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen ist aber zum Glück keine bloß anstrengende Gehirnarbeit, sondern auch ein Vergnügen. Denn über die Reformation gibt es viel zu erzählen: Geschichten von unerhörten Begebenheiten, manche inspirierend, andere irritierend, anrührend oder auch erschreckend. Nur langweilig wird es selten, wenn man sich mit der Geschichte der Reformation beschäftigt.

Das Jahr 2017 bietet eine echte, aber auch prekäre Chance. Zum fünfhundertsten Mal jährt sich der sogenannte Thesenanschlag. Das ist ein Anlass, an die Reformation und ihre weitreichenden Folgen zu erinnern, aber auch danach zu fragen, was dieses Erbe heute noch wert ist. Dazu möchte dieses Buch einen Beitrag leisten. Die erstaunlich langlebigen Luther-Klischees, die in Deutschland vor allem im 19. Jahrhundert geschmiedet wurden, möchte es nicht bedienen, sondern in Frage stellen, dafür andere Aspekte ins Licht stellen und eine Reihe von Gegengeschichten erzählen. Es möchte zunächst ein Gefühl dafür vermitteln, wie fremd die Reformation inzwischen geworden ist. Denn nur wenn man durch die Befremdung hindurchgegangen ist, kann man für sich klären, was von diesem fernen Erbe für einen selbst heute noch von Bedeutung sein kann. Nur wer sich hat irritieren lassen, wird eine eigene Vorstellung davon gewinnen können, dass die Reformation auch eine großartige Befreiungsgeschichte gewesen ist und wie sie einen heute noch zu inspirieren vermag. Die Reformationen von damals sind heute nicht deshalb von Interesse, weil ihre Theologien immer noch «aktuell» wären, sondern weil sie fremd und anders waren, weil sie Entdeckungen, Irritationen und Überraschungen bereithalten und man über die verschiedenen Geschichtsdeutungen und Reformationsbilder immer noch und immer wieder lebhaft streiten kann.

Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, die Geschichte der Reformation, so wie sie wirklich war, zu erzählen. Es möchte weniger leisten – und darin mehr. Es möchte ein Bewusstsein für die Fülle der Ereignisse und die Vielzahl der Deutungen wecken. Die Reformation war nicht das Werk eines einzelnen Menschen, sondern unendlich viele Menschen haben viele, zum Teil sehr verschiedene Reformationen ausgelöst. Dabei war die Reformation nie die Folge einer bestimmten religiösen Erfahrung oder theologischen Einsicht, sondern von Beginn an die revolutionäre Verknüpfung von Religiösem, Sozialem, Kulturellem und Politischem. Und schließlich war die Reformation, auch wenn viele Deutsche dies immer noch glauben möchten, keine germanische Erfindung, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen. Deshalb möchte dieses Buch einen Eindruck von der Vielfalt der Reformationen im Europa des 16. Jahrhunderts und der Vielfalt ihrer Deutungen vermitteln.

I. Vorgeschichten

1. Hat die Reformation mit Martin Luther begonnen?  Am Anfang war Martin Luther (1483 bis 1546). Das muss man so deutlich sagen, selbst wenn man die übertriebene deutschprotestantische Luther-Verehrung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ablehnt und keine Geschichte der «großen Männer» schreiben möchte. Luther war eine epochale Gestalt, einer der wenigen Menschen, die den Beginn einer neuen Zeit markiert haben. Das gibt es eben manchmal: In ausgewählten Momenten der Weltgeschichte spitzen sich die Dinge so zu, dass eine einzige Person die Verhältnisse umstürzen und ein neues Zeitalter eröffnen kann – wenn diese Person denn kommt. Aber natürlich kam Luther nicht aus dem Nichts. Luther lebte in einer Welt, die in einer Weise von Religion geprägt war, wie man es sich heute nicht mehr vorstellen kann. Sie war auch schon vor ihm von den verschiedensten religiösen Reformversuchen bestimmt. Luther hatte viele Vorläufer.

Luthers erster Vorläufer war ein Engländer. John Wyclif (ca. 1328 bis 1384) übte als Professor für Theologie und Philosophie in Oxford denselben Beruf aus wie Luther. Scharf kritisierte er den verweltlichten Klerus seiner Zeit und stritt gegen die politischen Herrschaftsansprüche des Papsttums. Auch wandte er sich gegen wichtige Formen mittelalterlicher Frömmigkeit, wie Heiligenkult, Bilder- oder Reliquienverehrung. Maßstab seiner kirchenkritischen Urteile war die Bibel. Damit auch Laien sie verstehen und dadurch mündige Christen werden konnten, sorgte er für ihre Übersetzung in die Landessprache. Damit nahm er gleich mehrere Anliegen Luthers vorweg. Doch auch wenn er für gehörige Unruhe sorgte und viele Anhänger um sich sammelte, sogar einen Bauernaufstand inspirierte, konnte er keinen Umsturz der herrschenden Verhältnisse bewerkstelligen. Er starb eines natürlichen Todes.

Nach Wyclifs Tod wurden seine Anhänger, die Lollarden, brutal verfolgt. Ihre Volksbibeln wurden verbrannt, weitere Übersetzungen wurden verboten. Da es noch keinen Buchdruck gab, scheint dies nicht allzu schwer gewesen zu sein. Wyclif und später die Lollarden scheiterten, weil sie sowohl bei den Mächtigen als auch beim Volk zu wenig Rückhalt genossen. Anders als bei Luther gut einhundertfünfzig Jahre später gab es keine Fürsten und Städte, die ihre Reform zu ihrer Sache gemacht hätten. Dennoch konnte ihre einfache evangelische Frömmigkeit im Geheimen, in vertraulichen frommen Zirkeln, bis zur Reformationszeit weiterleben.

2. Warum sagte sich Böhmen schon vor Luther vom Papst los?  In seiner Heimat konnten Wyclifs Gedanken keine Wirkung entfalten. Dafür sollten sie in einem weit entfernten Land epochale Bedeutung gewinnen. Durch eine königliche Hochzeit im 14. Jahrhundert entstanden enge Verbindungen zwischen England und Böhmen. Böhmische Adlige brachten Wyclifs Schriften aus England nach Prag, wo sie ein aufmerksames Publikum fanden. Besonders der Dekan der dortigen philosophischen Fakultät, Jan Hus (ca. 1369 bis 1415), ließ sich von ihnen zu großen Predigten über eine umfassende Kirchenreform inspirieren. Anders als Wyclif in England erhielt er eine begeisterte und verlässliche Unterstützung durch den böhmischen Adel und das Prager Bürgertum. Seine Reformation blieb deshalb keine binnentheologische Angelegenheit, sondern wurde zu einer politischen Macht, einem revolutionären Vorhaben und Ausdruck eines erwachenden böhmischen Nationalbewusstseins.

1415 wurde Hus zum Konzil von Konstanz geladen, dort aber verbrannt, obwohl ihm freies Geleit zugesichert worden war. Sein Märtyrertod löste in Böhmen Aufstände aus, die in die bürgerkriegsähnlichen Hussitenkriege (1419 bis 1436) mündeten. Die wichtigsten Forderungen der Hussiten lauteten: 1. freie, biblische Predigten, 2. Austeilung des Abendmahls in Brot und Wein, 3. Trennung von Kirche und weltlicher Herrschaft, 4. Überwindung von gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten. Die einen Anhänger von Hus, die Kalixtiner, gründeten eine eigene Kirche, in der der Gottesdienst in der Landessprache gehalten und das Abendmahl «in beiderlei Gestalt» ausgeteilt wurde, die Laien also nicht nur Brot, sondern auch Wein empfingen. Böhmen war das erste westeuropäische Land, in dem der geistliche und weltliche Herrschaftsanspruch des Papstes nicht mehr galt. Hier waren schon einhundert Jahre zuvor zentrale Forderungen Luthers umgesetzt worden.

Radikaler noch als die Kalixtiner waren die Taboriten. Sie rekrutierten sich nicht aus Adel und Bürgertum, sondern aus der Masse der Armen. Sie wollten so etwas wie eine kommunistische Urkirche errichten, und dies mit Gewalt. Darin weisen sie voraus auf die Umsturzversuche der radikalen Reformatoren des 16. Jahrhunderts. In blutigen Kämpfen wurden die Taboriten niedergeworfen. Aber einige von ihnen überlebten. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verschmolzen sie mit einer Gruppe von Waldensern, einer aus Italien vertriebenen evangelischen Gruppe. Gemeinsam bildeten sie die «Böhmischen Brüder». Diese verstanden sich als eine Gemeinschaft von Gleichen, als eine Kirche ohne Priester und Hierarchie, als eine Lebensgemeinschaft ohne Privateigentum und politische Macht. Eindrücklich ist neben der einfachen Frömmigkeit und dem unbedingten Gewaltverzicht vor allem das Bildungsstreben dieser Gemeinschaft. Als wahrscheinlich erste Organisation der Weltgeschichte erreichte sie, dass alle ihre Mitglieder lesen und schreiben konnten. So klein sie war, so weit ging ihr Einfluss. Als «Brüdergemeine» fand sie im 18. Jahrhundert im sächsischen Herrnhut eine neue Heimat und beflügelte von hier aus den deutschen Pietismus, die wichtigste Erweckungsbewegung nach der Reformation. Noch heute gibt es eine Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder in Tschechien.

3. Warum war Petrus Valdes ein Vorläufer Luthers, sein Zeitgenosse Franziskus von Assisi aber nicht?  Auch in Italien gab es eine Reformation lange vor der Reformation. Die Waldenser waren eine Protestbewegung von frommen Laien, die abgestoßen von einer verweltlichten Kleriker-Kirche ein urchristliches Leben führen wollten: in Armut und unbedingt guter Lebensführung, in freien Gemeinden, in denen das Bibelstudium wichtiger war als Riten und Sakramente. Gegründet hatte diese Bewegung der Franzose Petrus Valdes (gestorben 1218) Ende des 12. Jahrhunderts. Anfangs konnte er viele Menschen in Südfrankreich und Süddeutschland für seine Botschaft gewinnen. Doch der Inquisition gelang es, die Waldenser fast vollständig auszurotten. Nur in Norditalien, vor allem in unwegsamen Berggebieten, konnten sie sich lange halten. 1532 schlossen sie sich der Reformation an. In den 1540er Jahren mussten viele Waldenser über die Alpen fliehen. Sie trugen einen Protestantismus mit einer ganz eigenen Färbung nach Böhmen und Polen. Heute noch gibt es eine kleine Waldenserkirche in Italien.

Zeitgleich zu den Waldensern entstanden die Bettelorden. Den berühmtesten gründete Franz von Assisi (1181 oder 1182 bis 1226). Auch er unternahm den «reformatorischen» Versuch, das Christentum zu seinen Ursprüngen zurückzuführen: zu einem Leben in Armut und schlichter Frömmigkeit. Mit seiner Einfachheit, seiner Glaubensfreude und seinem poetischen Sinn wurde er zu einem der faszinierendsten und populärsten Heiligen der Kirche. In die Vorgeschichte der Reformation aber gehört er nicht, weil er anders als Valdes der Hierarchie und dem Mönchtum treu ergeben blieb.

4. Was hat Luther von seinen Vorläufern gehalten?  Wyclif, Hus und Valdes wurden im Rückblick zu Luther-Vorläufern gemacht, und das nicht ganz zu Unrecht. Der Legende nach soll Hus vor seinem Gang auf den Scheiterhaufen gesagt haben: «Heute bratet ihr eine Gans, aber aus der Asche wird ein Schwan entstehen.» «Gans» bedeutet auf Tschechisch «Husa». Sehr wahrscheinlich ist dies nicht, aber dass der Schwan zum Luther-Symbol wurde, zeigt, wie sehr Luther und seine Anhänger sich nachträglich auf Hus bezogen haben. Wahrscheinlich hat Luther sich mit Hus und Wyclif erst näher beschäftigt, als er seine neue Theologie schon gebildet hatte und mit ihr in die Öffentlichkeit getreten war. Da muss er das Bedürfnis gespürt haben, angesehene Vorgänger ausfindig zu machen, die ihm als Verbündete dienen konnten. Tatsächlich gibt es viele Parallelen: der Bezug auf die Bibel, die Kirchenkritik, die Ermächtigung der Laien, das Abendmahl in beiderlei Gestalt, das Interesse an Bildung. Wichtiger aber noch als diese einzelnen Aspekte war, dass Wyclif, Hus und später Luther zwischen einer sichtbaren und einer unsichtbaren Kirche unterschieden. Von dem Ideal einer wahren, aber unsichtbaren Kirche als «Gemeinschaft der Heiligen» aus konnten sie die realexistierende, sichtbare Institution einer radikalen Kritik unterziehen, um eine andere und bessere Kirche zu gründen.