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Hans Göschel hatte in den 90er Jahren eine administrative Leitungsfunktion an der wiedergegründeten Handelshochschule in Leipzig inne und arbeitete parallel an der Aufarbeitung der bewegten Geschichte dieser Hochschule. Seine Recherchen reichen bis zur Geburtsstunde der Handelshochschule Leipzig ins Jahr 1898 zurück. Er sichtete Archivmaterialien, die seit nahezu einem Jahrhundert unberührt waren. Wenngleich Hans Göschel kein Marketingwissenschaftler ist, so ist es doch erstaunlich, welches Gespür er für die Entwicklungspfade der Absatzwirtschaft und jene Persönlichkeiten entwickelt hat, die in den ersten Jahrzehnten die akademischen Inhalte der Absatzwirtschaft für die Lehre und Forschung geschaffen hatten. In diesem Zusammenhang treten auch so manche Überraschung und Anekdote zu Tage. Dem Autor gelingt es immer wieder, mit Zitaten und der Zusammenführung archivarischer Versatzstücke einen historischen Spannungsbogen zu zeichnen, in dem der Entwicklung absatzwirtschaftlicher Inhalte wie auch dem Leben der damaligen akademischen Lehrer gleichermaßen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Inhalte dieses Werkes sind für Akteure der Absatzwirtschaft und Marketingdisziplin in Wissenschaft und Praxis gleichermaßen interessant. Sie bieten einen erkenntnisreichen Orientierungsrahmen zur Entstehungsgeschichte der Absatzwirtschaft.
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Seitenzahl: 407
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die Handelshochschulen bildeten im deutschsprachigen Raum eine zentrale Keimzelle für die Genese der Betriebswirtschaftslehre als akademische Disziplin. So schrieb man das Jahr 1898, als erst in Leipzig, dann in Wien und St. Gallen die ersten Handelshochschulen ihre Pforten für Studenten öffneten. Die klassische Ausbildung zum Kaufmann reichte nicht mehr aus, um unternehmerische Entscheidungen in einem zunehmend komplexen Wirtschaftsumfeld zielorientiert treffen zu können. Hier setzt die Gründungsidee der Handelshochschulen an, die als Vorläufer der betriebswirtschaftlichen Disziplin gelten und deren Lehrinhalte in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts schrittweise in den universitären Kontext überführt wurden. Mit dem vorliegenden Werk gelingt es Hans Göschel, die Rolle der Handelshochschulen – und hier insbesondere der Handelshochschule Leipzig – bei der Entwicklung, Vermittlung sowie Erforschung absatzwirtschaftlicher Instrumente und Konzepte in dieser frühen Phase zu beleuchten. In Deutschland wurden absatzwirtschaftliche Konzepte in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts durch den im US-amerikanischen Raum geprägten Marketingansatz weitgehend abgelöst bzw. die Inhalte wurden ineinander überführt. Heute hat der Marketingbegriff die akademische Disziplin erobert und bei der Bezeichnung von Lehrstühlen oder Denominierung von Professuren eine breite Verwendung gefunden. Marketing hat sich als Teildisziplin der Betriebswirtschaftslehre sowohl in Deutschland wie auch international fest etabliert.
Beschäftigt man sich mit den Ursprüngen des Marketingansatzes in den USA, so lassen sich interessante historische Entwicklungspfade identifizieren, die letztlich auch zur Idee der Entstehung dieses Werkes geführt haben. Warum? In den USA werden die Keimzellen des Marketings insbesondere mit der University Wisconsin und Harvard University in Verbindung gebracht. In einem 1990 im Journal of Marketing veröffentlichtem Beitrag zur Historie der Marketingdisziplin berichteten Brain Jones und David D. Monieson, dass bereits zwischen 1820 und 1920 ca. 10.000 amerikanische Studenten in Deutschland akademische Erfahrungen gesammelt haben und dann wieder nach Amerika zurückgekehrt sind. Unter ihnen befanden sich Edward David Jones, Samuel Sparling, M. B. Hammond oder H. C. Taylor, die auch zu den frühen akademischen Protagonisten der Marketingdisziplin in Amerika zählen. Beispielsweise hat Edward David Jones den ersten universitären Marketingkurs gelesen. Somit scheint die Frage berechtigt, ob nicht die frühen absatzwirtschaftlichen Betrachtungen, die an den deutschsprachigen Handelshochschulen gelehrt wurden, von den amerikanischen Studenten aufgegriffen und die Genese des Marketingansatzes in den USA befruchtet haben könnten. Die These, dass letztlich der in Amerika geborene Marketingansatz seine Wurzeln in den absatzwirtschaftlichen Entwicklungssträngen deutschsprachiger Hochschulen gehabt haben könnte, entwickelte einen besonderen Reiz und motivierte uns, in der Entstehungsgeschichte der Handelshochschulen nach solchen Bezügen zu suchen. Gemäß des von Odo Marquard geprägten Grundsatzes „Zukunft braucht Herkunft“ schien uns die Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte der Handelshochschule Leipzig auch angesichts ihrer Wiedergründung im Jahr 1992 interessant zu sein.
Hans Göschel hatte in den 90er Jahren eine administrative Leitungsfunktion an der wiedergegründeten Handelshochschule inne und arbeitete parallel an der Aufarbeitung der bewegten Geschichte dieser Hochschule. Häufig berichtete er über neue Entdeckungen in den Archiven. Daraufhin reifte die Idee, die Lehrkräfte und immatrikulierten Studenten sowie Lehrinhalte, die in den ersten Jahrzehnten an der Handelshochschule Leipzig im Bereich Absatzwirtschaft vermerkt waren, in besonderer Weise in den Blick zu nehmen. Schließlich war es nicht ausgeschlossen, die Pioniere der amerikanischen Marketingdisziplin als Studenten oder Dozenten in den Annalen der Handelshochschule Leipzig wiederzufinden.
Es war beeindruckend, mit welcher Akribie und Ausdauer sich Hans Göschel dieser Aufgabe neben seiner eigentlichen Tätigkeit gewidmet hat. Dabei war es von Vorteil, dass er sowohl als Student der ehemaligen und als administrativer Leiter der wiedergegründeten Handelshochschule über eigene historische Erfahrungen dieser Institution verfügte. Seine Recherchen reichten bis zur Geburtsstunde der Handelshochschule Leipzig ins Jahr 1898 zurück. Er sichtete Archivmaterialien, die seit nahezu einem Jahrhundert unberührt waren, erstmals mit einem Blickwinkel der Neuzeit. Zu diesen Materialien gehörten Immatrikulationslisten, Vorlesungsübersichten, Diplomarbeiten, Senats- und Sitzungsprotokolle bis hin zu Korrespondenzen zwischen Hochschullehrern innerhalb und außerhalb der Handelshochschule. Somit werden in dem vorliegenden Werk Materialien und Erkenntnisse veröffentlicht, die bisher in Archiven geschlummert haben. Wenngleich Hans Göschel kein Marketingwissenschaftler ist, so ist es doch erstaunlich, welches Gespür er für die Entwicklungspfade der Absatzwirtschaft und jene Persönlichkeiten entwickelt hat, die in den ersten Jahrzehnten die akademischen Inhalte der Absatzwirtschaft für die Lehre und Forschung entwickelt hatten. Dabei hat er sich nicht gescheut, ausgewählte Literaturbeiträge und Kommentierungen, die von den ersten Wissenschaftlern an der Handelshochschule Leipzig und darüber hinaus verfasst wurden, historisch zu verorten und kompetent zu reflektieren. In diesem Zusammenhang treten auch so manche Überraschung und Anekdote zu Tage. Dem Autor gelingt es immer wieder, mit Zitaten und der Zusammenführung archivarischer Versatzstücke einen historischen Spannungsbogen zu zeichnen, in dem die Entwicklung absatzwirtschaftlicher Inhalte wie auch dem Leben der damaligen akademischen Lehrer gleichermaßen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Wenngleich sich keine direkten persönlichen Bezüge von der Handelshochschule Leipzig zu den Pionieren der Marketingdisziplin in Amerika nachweisen lassen, so bereichern die Ausführungen von Hans Göschel das Verständnis für die frühen Entwicklungspfade der Absatzwirtschaft als akademische Disziplin.
Die Inhalte dieses Werkes sind für Akteure der Absatzwirtschaft und Marketingdisziplin in Wissenschaft und Praxis gleichermaßen interessant. Auch für Student:innen, die sich mit absatzwirtschaftlichen Fragestellungen beschäftigen, bieten die Ausführungen von Göschel einen erkenntnisreichen Orientierungsrahmen zur Entstehungsgeschichte der Absatzwirtschaft an den Handelshochschulen. Das Werk ist auch für jene Leser interessant, die sich mit der historischen Entwicklung von Institutionen und Hochschulen im nationalen wie auch internationalen Kontext beschäftigen.
Guter Wein muss reifen! Diesen Grundsatz hat sich auch Hans Göschel zu Herzen genommen, denn das vorliegende Werk ist über ein Jahrzehnt gereift. Seine Recherchen gleichen einer Detektivarbeit und verlangten neben Ausdauer ein Verständnis für die Entwicklungspfade der Absatzwirtschaft als Teil der betriebswirtschaftlichen Disziplin, wie auch die Fähigkeit zur historischen und inhaltlichen Kombinatorik. Stellvertretend für die akademischen Kollegen unserer Disziplin danken wir dem Autor hierfür, denn ohne ihn hätten viele historische Inhalte aus den Archiven nicht mehr die interessierten Leser erreichen können. Nun ist es Zeit, den gut gereiften Tropfen zu genießen. Wir wünschen allen Lesern eine interessante Lektüre.
Manfred Kirchgeorg Heribert Meffert
Ausführliche, jedoch für den Leser unverzichtbare Vorbemerkungen!
Der Verfasser warnt eingangs alle Leserinnen und Leser! Erwarten Sie bitte kein wissenschaftliches Traktat untermauert mit fundierten Thesen. Wenn doch, sollten Sie diese Schrift gleich wieder beiseitelegen! Seine Absicht ist es vielmehr zu erzählen, was sich im betrachteten Zeitraum an deutschen Handelshochschulen, vorrangig in Leipzig, in Bezug auf die zu behandelnde Thematik ereignet hat.
Es ist schon mehr als zehn Jahren her, da entstand die Idee, einmal nachzuschauen, ob die Professoren und Dozenten der im Jahre 1898 in Leipzig gegründeten ersten deutschen Handelshochschule und ihrer Schwestereinrichtungen wissenschaftliche Vorleistungen erbracht haben, von denen sich womöglich Fragmente in der heutigen Marketinglehre an deutschen Universitäten und Hochschulen wiederfinden. Den Anstoß dafür gaben Recherchen für das Buch, betitelt: Die Handelshochschule in Leipzig, das anlässlich des 110-jährigen Gründungsjubiläums der ersten deutschen Handelshochschule im Frühjahr 2008 erschienen ist. Während der Arbeit im Archiv stieß der Autor auf zahlreiche Hinweise, die diesen Gedanken beförderten. Eine Vielzahl von Archivalien ermöglichte tiefgehende Einblicke in die Historie und den Hochschulalltag in der Zeit zwischen 1898 und 1945 an der Leipziger und an anderen deutschen Handelshochschulen. Trotz einiger Verluste in Folge von Luftangriffen der Alliierten auf Leipzig, vor allem im Dezember 1943 und im Februar 1944, ist vom Aktenbestand dennoch erstaunlich viel erhalten geblieben. Als im Februar 1946 die Handelshochschule als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät in die Universität Leipzig eingegliedert wurde, übernahm die Alma Mater alle vorhandenen Archivalien; sie befinden sich heute im hiesigen Universitätsarchiv.
Obwohl der Verfasser bei der Suche für die erwähnte Jubiläumsschrift vor allem das Leben und Treiben an der ersten deutschen Handelshochschule im Auge hatte, stieß er natürlich - und irgendwie unvermeidlich - auch auf eine Menge spezieller Informationen zu Forschung und Lehre, wie sie von Betriebswirtschaftlern in Leipzig und anderswo zwischen 1898 und 1945 betrieben wurden. Neben dem ausgedehnten Komplex des Rechnungswesens gehörten dazu Reklame bzw. kaufmännische Werbung, Exportwirtschaft, Messen und Ausstellungen, Markenartikel, Verkaufsförderung, Absatzlehre und Verkehrslehre, die sich schrittweise ihren Platz in der betriebswirtschaftlichen Forschung und in den Curricula eroberten. Eine erste grobe Durchsicht ließ erkennen, diese Themen haben etwas mit Absatzwirtschaft und Marketing zu tun! Wie noch gezeigt wird, stehen sie in enger Verbindung mit dieser viel später an deutschen Universitäten und Hochschulen gelehrten betriebswirtschaftlich orientierten Thematik.
Prof. Dr. Manfred Kirchgeorg, Inhaber des Lehrstuhls für Marketingmanagement und Nachhaltigkeit an der HHL Leipzig Graduate School of Management ermutigte den Autor, weiter zu machen und die Resultate seiner Arbeit mit Hilfe des Lehrstuhls zu veröffentlichen. Als Professor Kirchgeorg und er mit dem international bekannten Marketingprofessor Heribert Meffert, Rektor der HHL von 1995 bis 1997, am Rande einer wissenschaftlichen Konferenz über das Projekt sprachen, zeigte sich Meffert recht interessiert und empfahl, das Ganze einmal aufzuschreiben, weil zu den Wurzeln des deutschen akademischen Marketings bzw. der Absatzwirtschaft bisher wenig publiziert wurde. Der Marketingexperte verwies darauf, dass sich die Marketinglehre, die sich zu Beginn der 1970-iger Jahre in der Bundesrepublik herauszubilden begann, in ihrer Anfangsphase außer auf Wissen aus den USA gleichzeitig auf frühe Erkenntnisse deutscher Betriebswirtschaftler gestützt habe und charakterisierte das mit den Worten: „Alles schon mal da gewesen!“ Eine indirekte Bestätigung dieser Auffassung stammt von Ludwig Berekoven, der 1962 schrieb, es handele sich bei den neuen Marketingtheorien um alten Wein in neuen Schläuchen. 40 Jahre später liest man bei Gaugler und Köhler, sie hoffen, das wachsende Interesse an den geschichtlichen Entwicklungen der deutschen Betriebswirtschaftslehre möge künftig anhalten. Bislang habe nämlich eher die Tendenz bestanden, früher erarbeitete Lösungen zu negieren, obwohl manche als modern und neu präsentierte Gedanken und Lösungsansätze zu betriebswirtschaftlichen Fragestellungen bereits in der Jahrzehnte zurückliegenden deutschsprachigen Fachliteratur zu finden sind.1
Das vor allem in den 1920-iger Jahren von akademischen Betriebswirtschaftlern an deutschen Handelshochschulen gesammelte Wissen zum Gegenstand war von 1933 an bis zum Kriegsende und in den ersten Nachkriegsjahren teilweise verschüttet, aber keineswegs verloren gegangen. Im Kern blieb es im Verborgenen und tauchte erst Anfang der 1960-iger Jahre wieder auf. In den Jahren nach 1933 hatte die Reglementierungswut des Nationalsozialismus auch vor den Wirtschaftswissenschaften nicht Halt gemacht und die betriebswirtschaftliche Forschung und Lehre in völlig andere Bahnen gezwungen. Einzelne Forscher arbeiteten im Stillen an ihren gewohnten Themen weiter und veröffentlichten sogar noch einiges, das war jedoch eher eine Ausnahme. In der Lehre sorgten die Richtlinien des Reichswissenschaftsministeriums für das Studium der Wirtschaftswissenschaften vom Mai 1935 ohnehin für eine allgemeine Gleichschaltung. Manche Hochschullehrer offenbarten sofort in Wort, Schrift und Tat ihre uneingeschränkte Zustimmung zum Nationalsozialismus, andere schwiegen und gingen in die innere Emigration, und wieder andere konnten nur durch die Flucht ins Ausland ihr Leben retten. Ein Blick in die Akten enthüllt unterschiedliche und sehr berührende Schicksale.
Niemand sollte glauben, dass ungefähr zeitgleich mit dem Start der ersten deutschen Handelshochschule im April 1898 eine für die Lehre nutzbare moderne akademische Betriebswirtschaftslehre verfügbar war. Diesem Irrtum ist aber der junge Eugen Schmalenbach aufgesessen. Er hoffte in Leipzig u.a. lernen zu können, wie ein Betriebswirt auf akkurate Art und Weise die Verkaufspreise für die Produkte eines Unternehmens kalkuliert. Wegen des Studiums hatte er gegen den Willen des Familienoberhauptes die väterliche Kleineisenfabrik in Halver/Westfalen verlassen und sich an der neuen Leipziger Hochschule als einer der ersten Studenten mit der Matrikelnummer 43 eingeschrieben. Was Schmalebach erwartete, konnte die Handelshochschule kurz nach ihrer Geburt jedenfalls noch nicht bieten. Ihre ersten Vorlesungspläne ähnelten einem bunten Flickenteppich von Themen aus diversen Disziplinen, die den Gründern als geeignet für eine höhere kaufmännische Ausbildung erschienen waren. Damals handelten die verantwortlichen Herren vermutlich ähnlich wie der Theaterdirektor in Goethes Faust, der meinte, wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Die Väter der neuen Hochschule wollten nämlich unbedingt den Eindruck vermeiden, es handle sich bei der Neugründung nur um eine Art höherwertige kaufmännische Berufsschule. Um dem angestrebten und öffentlich verkündeten akademischen Anspruch zu genügen, übernahmen Professoren der Leipziger Universität Vorlesungen vor allem in der Volkswirtschaftslehre und Rechtswissenschaft, in Geographie sowie Philosophie und in den pädagogischen Wissenschaften, letztere insbesondere für künftige Diplom-Handelslehrer. Die klassischen Fächer der alten Handelswissenschaft: Buchführung, kaufmännische Arithmetik, dazu Warenkunde und kaufmännische Korrespondenz in mehreren Sprachen ergänzten die Ausbildung, abgerundet von Sprachangeboten in Englisch, Französisch, Italienisch u.a. sowie Stenografie und Maschineschreiben. Diese Aufgabe übernahmen vor allem Lehrer der Leipziger Öffentlichen Handelslehranstalt, denn zu jener Zeit besaß die Handelshochschule noch keine eigenen Lehrstühle. Soweit das Auge reichte, war keine moderne Betriebswirtschaftslehre in Sicht! Erst ab etwa 1920 bürgerte sich diese Bezeichnung für die sich rasch entwickelnde junge Wissenschaft ein und verdrängte vorher benutzte Begriffe wie Handlungswissenschaft, Handelswissenschaft, Privatwirtschaftslehre oder Handelsbetriebslehre.
In den ersten zehn Jahren nach Eröffnung der ersten deutschen Handelshochschule beherrschte fast ausschließlich die Ausbildung der Kaufleute und Handelslehrer das Feld, Anfänge einer zaghaften Forschung finden sich frühestens ab 1908/09. Im Oktober 1908 bat Heinrich Nicklisch, damals Oberlehrer an der Öffentlichen Handelslehranstalt und Dozent im Nebenamt an der Handelshochschule, deren Senat um einen längeren Urlaub für eine Forschungsreise, während der er Erkenntnisse für den weiteren Auf- und Ausbau der Handelsbetriebslehre sammeln wollte. Die Ergebnisse seiner Studien flossen später unmittelbar in den Lehrprozess ein.
Vereinzelt findet man in der Literatur die Ansicht, vor allem Handelslehrer hätten die Gründung der deutschen Handelshochschulen vorangetrieben, weil sie sich durch einen akademischen Titel mehr Anerkennung in den Kreisen des Bildungsbürgertums erhofften. In der Tat verfügte diese Berufsgruppe damals über keinen besonders hohen sozialen Status, eine Tätigkeit als Dozent an einer Hochschule hätte sie also deutlich aufgewertet. In den Leipziger Gründungsdokumenten sind allerdings für diese Position keine Belege zu finden, die Anstöße kamen aus einer anderen Richtung. In den Jahren nach 1871 wuchs die deutsche Wirtschaft gewaltig und vor allem schnell an, GmbHs und Aktiengesellschaften schossen wie Pilze aus dem Boden. Eine akademische Ausbildung für Volkswirte und Ingenieure existierte seit längerem in Deutschland. Nun wollten Interessengruppen der Wirtschaft, an ihrer Spitze der 1895 in Braunschweig gegründete Deutsche Verband für das kaufmännische Unterrichtswesen, auch die kaufmännische Ausbildung auf ein akademisches Niveau heben, man sah dafür einen dringenden Bedarf. Tatsächlich aber bewerteten einige Vertreter der Wirtschaft das Vorhaben eher skeptisch, denn sie befürchteten, mit den neuen Diplom-Kaufleuten käme zu viel Theorie in ihre Unternehmen. Ein positives Gutachten der Professoren Richard Ehrenberg und Werner Sombart, das der Verband in Auftrag gegeben hatte und das die Frage beantworten sollte, ob sich die Errichtung von Handelshochschulen als ein allgemeines Bedürfnis erweise, gab schließlich den Ausschlag. Eine knappe Mehrheit der Delegierten votierte während des zweiten Kongresses des Deutschen Verbandes für das kaufmännische Unterrichtswesen am 11. Juni 1897 in Leipzig für die Errichtung solcher Hochschulen und ermunterte noch vor Ort die Vertreter der Gastgeberstadt, als erste den Start zu wagen. Ähnliche Diskussionen begleiteten übrigens in den 1920-iger Jahren die Bemühungen der deutschen Handelshochschulen um das Promotionsrecht. Kritiker erklärten damals, ein Doktor-Kaufmann in der Unternehmung wäre ein Widerspruch in sich.
Die Auswertung des verfügbaren Schriftgutes ermöglicht es, dem Leser zu zeigen, unter welchen Umständen im betrachteten Zeitraum an den deutschen Handelshochschulen ein ansehnlicher Wissenszuwachs auf dem vom Verfasser ausgewählten Teilgebiet der Betriebswirtschaftslehre zustande kam, wer im Einzelnen tätig war, wo und wann etwas passierte und welche Ergebnisse die Handelnden erzielten. Es ist nicht nur der differenzierten Quellenlage geschuldet, dass z.B. der Abschnitt zu Reklame bzw. Werbung recht umfangreich ausfällt, andere Kapitel hingegen deutlich kürzer geraten sind. Das genannte Thema spielte an den Handelshochschulen bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine gewisse Rolle und stieß deshalb sowohl bei den Lehrenden als auch bei den Studierenden auf wachsendes Interesse.
Zu den eingesehenen Materialien gehören Protokolle von Sitzungen des Senats, des Kuratoriums, des Professorenrates und weiterer akademischer Gremien der Handelshochschule, Korrespondenz mit den Schwester-Hochschulen und mit Ministerien und Behörden, Denkschriften, Aufzeichnungen von Professoren, Personal- und Studentenakten, Druckschriften verschiedenster Art und Zeitungsausschnitte, ergänzt von entsprechenden Büchern und Monographien, Beiträgen in betriebswirtschaftlichen Periodika und Tageszeitungen u.a.m. Im Anhang zu dieser Schrift finden Interessenten einen Überblick zu den genannten Quellen. Außerdem hat der Autor eine umfangreiche Übersicht einschlägiger Bücher, Monographien, Zeitschriftenartikel, Dissertationen, Diplom-Arbeiten u. ä. erarbeitet, die im Internet auf der Website der HHL Leipzig Graduate School of Management eingesehen werden kann.
In der vorliegenden Schrift wird die Bezeichnung Handelshochschulen generell verwendet, obwohl einige dieser Institutionen bereits wenige Jahre nach ihrer Gründung universitären Status erlangten. Sie alle begriffen sich jedoch im Sinne ihrer Lehr- und Forschungsaufgaben inhaltlich weiter als „Handelshochschulen“, unbesehen ihres rechtlichen Status (zur Gründung von Handelshochschulen: siehe Anhang).
Der Verfasser hat sich bei seinen Recherchen bewusst auf die Leipziger Handelshochschule und deren Umfeld konzentriert, ohne den Blick für die Schwester-Hochschulen gänzlich zu verlieren. Vollständigkeit darf der Leser allerdings nicht erwarten; dazu sind Schrifttum und Archivmaterial für die betrachtete Zeitspanne zu umfänglich; bei gründlicher Suche würde man immer noch weitere Quellen entdecken.
Deutsche Betriebswirtschaftler kannten bereits um 1920 die amerikanische Fachliteratur zumindest in einem gewissen Umfang und das Vokabular amerikanischer Betriebswirte, darunter Marketing, war ihnen keineswegs fremd, das beweisen u.a. zahlreiche Publikationen aus jener Zeit. Aber sie haben diesen Terminus nie in ihre Fachsprache übernommen und nutzten auch den komplexen Ansatz des Marketings noch nicht! Die lange Zeit von ihnen isoliert betrachteten Bausteine wuchsen erst viel später zu einem relativ geschlossenen Lehrgebäude, der betriebswirtschaftlichen Verkehrslehre, zusammen. Man findet jedoch um 1930 weder „fertige“ Handelshochschulen noch eine zu aller Zufriedenheit ausgebaute Betriebswirtschaftslehre, Anspruch und Wirklichkeit lagen noch immer auseinander. So diskutierten z.B. die Teilnehmer der Hauptversammlung des Deutschen Verbandes für das kaufmännische Bildungswesen, die im Mai 1930 in Bad Harzburg stattfand, über vorhandene Mängel an den deutschen Handelshochschulen. Ihr Lebensfach, die Betriebswirtschaftslehre, sei durch die Aufnahme und die Ansprüche zu vieler anderer Studienfächer zu stark eingeengt und es sei noch nicht ausreichend gelungen, wichtige Bildungsanforderungen der Praxis zu berücksichtigen. Redner nannten dazu u.a. die Gebiete Konjunkturlehre, Marktanalyse und Großhandelslehre2. Aber das konnte auch gar nicht anders sein! Jede wirkliche Wissenschaft bewegt sich ständig voran, entdeckt Neues, entrümpelt ältere Theorien oder sondert sie gänzlich aus und formuliert neue. Und das galt für die noch junge Betriebswirtschaftslehre im besonderen Maße.
Wer zu den Wurzeln der ab Mitte der 1960-iger Jahre beginnenden deutschen Schule des Marketings vorstoßen will, hat einmal die aus dem anglo-amerikanischen Raum kommenden Einflüsse zu beachten und zum anderen die oben genannten Teilelemente aufzuspüren, die sich vor allem im Zeitraum zwischen 1918 bis 1933, z.T. sogar darüber hinaus, bei der deutschen Betriebswirtschaft finden. Letzteres ist das Arbeitsfeld des Autors gewesen! Diese Bausteine existierten, wie bereits erwähnt, anfangs ziemlich unabhängig voneinander und dazu kam, dass die Arbeit an einem bestimmten Gegenstand nicht selten von der Neigung des betreffenden Betriebswirtschaftlers abhing, und deren gab es damals noch gar nicht so viele! Ungefähr ab 1920 begann sich eine Entwicklung abzuzeichnen, die, von der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre ausgehend, die Spezielle Betriebswirtschaftslehre nunmehr in eine Verwaltungslehre (bei anderen wirtschaftliche Betriebslehre genannt) und eine Verkehrslehre (bei anderen als betriebswirtschaftliche Verkehrslehre bezeichnet) unterteilte. In dieser Periode vollzog sich eine deutliche Erweiterung des Forscherstandpunktes. Die erstgenannte Teildisziplin widmete sich vorwiegend den Innenbeziehungen der Unternehmungen. Die zweite, die hier vor allem interessiert, widmete sich den vielfältigen, sich immer mehr verzweigenden und verästelnden Außenkontakten der Betriebe. Das geschah, weil viele Forscher meinten, diese Verbindungen seien mit rein volkswirtschaftlichen Kategorien und Thesen nicht mehr zu erfassen und zu erklären. Bestandteile einer solchen betriebswirtschaftlichen Verkehrslehre sahen die Vertreter dieser Richtung in der Exportwirtschaft, Konjunkturbeobachtung und Marktforschung, in Markteinrichtungen, Messen- und Ausstellungen, im Markenartikel, in der kaufmännischen Werbung, bei der Verkaufsförderung, im Vertragswesen, im Vertrieb, im Waren-, Transport- und Lagerverkehr, beim wirtschaftlichen Nachrichtenwesen, im Zahlungs-, Kredit- und Effektenverkehr, der Absatzwirtschaft u.a.m. Was sich heutzutage jedem Studenten der Betriebswirtschaftslehre als eine Binsenweisheit darstellt, nämlich, dass auf einem hart umkämpften Markt die Kosten des Absatzes für ein Erzeugnis dessen Herstellungskosten deutlich übersteigen können, war zu jener Zeit noch keineswegs Allgemeingut.
In der vorliegenden Schrift würdigt der Verfasser Erich Schäfer als einen der Pioniere der betriebswirtschaftlichen Absatzlehre und damit als einen der frühen Wegbereiter der deutschen akademischen Marketinglehre, nicht zuletzt, weil er während seiner Leipziger Zeit und schon vorher an der Handelshochschule in Nürnberg signifikante Beiträge zur weiteren Genesis dieses Lehr- und Forschungsgebiets geliefert hat. Im Jahre 1959 schrieb Schäfer sinngemäß, dass die Idee des Marketings weder neu noch unbedingt amerikanischen Ursprungs sei. Es handle sich um ein Konzept der Absatzaufgabe, das alle Felder von den Bedarfsverhältnissen bis zurück zur Produktionsplanung umschließt. Betriebswirte und Absatzpraktiker hätten bereits seit dem Ende der 1920-iger Jahre entsprechende Überlegungen angestellt, ohne darüber viel Aufhebens zu machen. Diese Gedanken nahmen dann im Zusammenspiel von wissenschaftlicher Begriffs- und Forschungsarbeit und praktischer Betätigung und Anwendung immer deutlichere Gestalt an. Was man also damals mit dem Begriff: Absatzwirtschaft oder absatzwirtschaftliches Denken bezeichnete, war in Wirklichkeit dem sehr ähnlich, was heute mit dem Begriff: Marketing ausgedrückt wird. Die so entstandene absatzwirtschaftliche Grundkonzeption habe sowohl in der seit 1929 erschienenen Zeitschrift des Instituts für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware (Nürnberg) wie auch in einer Reihe von Jahrgängen der Zeitschrift: Seidels Reklame - Werben und Verkaufen und in anderen Veröffentlichungen vielfältigen Niederschlag gefunden3.
Nach einem vom Nationalsozialismus, den Kriegsjahren und der Nachkriegszeit erzwungenen Interregnum bildete die wiederentdeckte Verkehrslehre mit ihren Bestandteilen schließlich zumindest ein Teilfundament für die sich entwickelnde deutsche akademische Marketinglehre in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Feststellung spiegelt sich u.a. in einschlägigen Publikationen jener Zeit wider. Im Jahre 1960 veröffentlichte Georg Bergler eine Bibliographie zum Schrifttum über Absatz und Werbung, die mehr als 4600 Titel enthielt, darunter auch englischsprachige4. Dazu gehört ebenfalls eine 1971 erschienene Internationale Marketingbibliographie von Georges Sandeau, in der sich der Autor allerdings nur auf deutschsprachige Standardwerke beschränkt5. Die wohl bedeutendste Bibliographie zur Marketingliteratur aus jener Zeit ist Teil einer Schriftenreihe des Seminars für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Absatz- und Werbewirtschaftslehre der Universität zu Köln. Sie wurde im Jahre 1979 von Prof. Fritz Klein-Blenkers herausgegeben6 und enthält fast 5000 Titel, die zwischen 1946 und 1978 zum Gegenstand erschienen sind. Klein-Blenkers und seine Mitarbeiter nutzten für ihr Verzeichnis Monographien, Dissertationen, Nachschlage- und Sammelwerke, kleine Schriften, gedruckte Vorträge, Bibliographien und diverse Periodika. Dabei handelte es sich ausschließlich um deutschsprachige Veröffentlichungen und um Übersetzungen ausländischer Titel ins Deutsche.
In einem gewissen Umfange waren aus Leipziger Sicht neben vielen anderen Betriebswirtschaftlern Paul Deutsch, Arthur Lisowsky, Heinrich Nicklisch, Kurt Pröpper, Curt Sandig, Erich Schäfer und Joachim Tiburtius mit ihren damaligen und früheren Veröffentlichungen am Neuaufbau dieses Teils der Betriebswirtschaftslehre beteiligt.
Mehr Informationen über die Leipziger Handelshochschule findet der interessierte Leser u.a. in dem Buch: Die Handelshochschule in Leipzig, das aus Anlass des 110-jährigen Gründungsjubiläums 2008 in Leipzig erschien.
Der Verfasser dankt den im Folgenden genannten Personen und Institutionen für geleistete Unterstützung bei seiner Arbeit:
Lehrstuhl für Marketingmanagement und Nachhaltigkeitan der HHL, Professor Dr. Manfred Kirchgeorg, Lehrstuhlinhaber, Nadine Horbas und insbesondere Björn Friedrich sowie Katja Lurie-Stoyanov und Michele Mäder;
Abteilung Informationstechnologie der HHL, Stephan Werchau, Leiter, Christian Braungart, Ronald Lohann;
Hochschulbibliothek der HHL, Andrea Lieb, Leiterin, Jana Braun, Katrin Exner, Julia Stöhr;
Leipziger Messe GmbH, Unternehmensarchiv, Helgard Hirschfeld;
Archiv der Universität Köln, Archivassessor Dr. Andreas Freiträger;
Universitätsarchiv Leipzig, Dr. Jens Blecher, Direktor, Petra Hesse, Sandra Muhl;
Universitätsbibliothek Albertina Leipzig;
Sächsisches Wirtschaftsarchiv Leipzig;
Stadtarchiv Leipzig;
Sächsisches Staatsarchiv Leipzig;
Kathleen Leiteritz, Stefanie Schrader, HTWK Leipzig;
Dirk Schindelbeck, Wirtschaftsjournalist.
Leipzig, Oktober 2023
Prof. Hans Göschel
1 Berekoven, Ludwig: Die Bedeutung von Sales Promotion in der modernen Absatzwirtschaft. In: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 32. Jg. 1962, S. 370 f., Gaugler, E./ Köhler, R. (Hrsg.): Entwicklungen der Betriebswirtschaftslehre. 100 Jahre Fachdisziplin – zugleich eine Verlagsgeschichte. 2002 Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart; VII. Vorwort des Herausgebers.
2 Hrsg.: Protokoll der Hauptversammlung des Deutschen Verbandes für das kaufmännische Bildungswesen, Bad Harzburg, 29. bis 31. Mai 1930. In: UAL/Sig. HHS 608/78.
3 Schäfer, Erich: Exportabsatz und Exportmarktforschung. In: Der Marktforscher – Zeitschrift für Marktforschung und Marktformung, B. Behr`s Verlag GmbH, 3. Jg., Wiesbaden Mai 1959, Heft 2.
4 Bergler, Georg: Das Schrifttum über Absatz und Werbung, Nürnberg 1960. In: Marktwirtschaft und Verbrauch. Schriftenreihe der GfK, Band 12. Nürnberg 1960. Buchdruckerei M. Laßleben, Kallmünz über Regensburg.
5 Sandeau, Georges: Internationale Marketingbibliographie. München-Pullach/Berlin 1971.
6 Hrsg. Klein-Blenkers, Fritz: Kölner Absatzwirtschaftliche Dokumentation, Schriftenreihe des Seminars für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Absatz- und Werbewirtschaftslehre der Universität zu Köln. Band 2: Bibliographie der Marketingliteratur – Verzeichnis deutschsprachiger Literatur ab 1945. Hrsg. Prof. Fritz Klein-Blenkers, o. Professor an der Universität Köln. Zusammengestellt von Dr. Rüdiger Schiller unter Mitarbeit von Dr. Friederike Kästing. C. E. Poeschel Verlag, Stuttgart 1979.
1. Die Reklame betritt die akademische Bühne
1.1. Frühe Versuche
1.2. Anfänge in Leipzig
1.3. Die Dinge beginnen sich zu entwickeln
1.4. Werbelehre an anderen deutschen Handelshochschulen
1.5. Das Thema Werbung außerhalb der Handelshochschulen
1.6. Werbung nach 1933
2. Die Beschäftigung mit außenwirtschaftlichen Fragen, besonders mit dem Export
2.1. Erste Bemühungen
2.2. Das Thema Export in Leipzig und an anderen Handelshochschulen nach 1920
2.3. Der Ruf nach Exportschulen
3. Die Leipziger Messe und die Handelshochschule
3.1. Kurzer historischer Abriss zur Messe
3.2. Messe und Handelshochschule
4. Franz Findeisens Zeit an der Handelshochschule
4.1. Die Studiengesellschaft für Absatzforschung
4.2. Lehre, Forschung und Publikationen auf dem Gebiet des Absatzes an deutschen Handelshochschulen zwischen 1920 und 1933
5. Der Markenartikel im Blickfeld der Betriebswirtschaftler
5.1. Ein Begriff entsteht!
5.2. Der Markenartikel während der Zeit des Nationalsozialismus
5.3. Der Markenartikel in der Lehre an den Handelshochschulen
6. Die Verkäuferschulung betritt die akademische Bühne
6.1. Das Thema im Blickpunkt von Praktikern und Betriebswirtschaftlern
6.2. Die Leipziger gehen in der Frage der Verkäuferschulung voran!
7. Erich Schäfer in Leipzig – Die Fortführung der Absatzlehre
7.1. Das Berufungsverfahren
7.2. Schäfers Forschung und Lehre an der Handelshochschule - Zur Behandlung der Absatzwirtschaft an anderen Handelshochschulen
7.3. Resümee
8. Eine betriebswirtschaftliche Verkehrslehre entsteht
8.1. Die betriebswirtschaftliche Forschung geht neue Wege
8.2. Die Verkehrslehre an der Leipziger Handelshochschule – Versuch und Irrtum
8.3. Zur Verkehrslehre an anderen deutschen Handelshochschulen - Themen und Lesende zwischen 1905 und 1933
9. Ausblick – Die Handelshochschule Leipzig im Wandel der Systeme
Anhang
Die Gründung von Handelshochschulen im deutschsprachigem Raum
Personenregister
Glossar bzw. Abkürzungsverzeichnis, Sachwortverzeichnis u.a.
Ergänzende Informationen zur Bibliographie
Die Reklame betritt die akademische Bühne
Die Beschäftigung mit außenwirtschaftlichen Fragen, besonders mit dem Export
Die Leipziger Messe und die Handelshochschule
Franz Findeisens Zeit an der Handelshochschule Leipzig – Die Studiengesellschaft für Absatzforschung
Der Markenartikel im Blickfeld der Betriebswirtschaftler
Die Verkäuferschulung betritt die akademische Bühne
Erich Schäfer in Leipzig – Die Fortführung der Absatzlehre
Verkehrslehre
Weitere Quellen
Bücher, Monografien, weitere Druckschriften, Dissertationen
Fachzeitschriften
Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung (ZfHW)
Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis (später: Die Betriebswirtschaft)
Zeitschrift für Betriebswirtschaft (ZfB)
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Das Thema Reklame/Werbung/kaufmännische Propaganda tauchte an den deutschen Handelshochschulen erstmals ab 1909/1910 auf; das Interesse an der Einführung der Reklame in die Lehre nahm hier nur langsam und mit unterschiedlicher Intensität zu. 1930 stellt Bork fest, die deutschen Hochschulen hätten im Jahre 1911 damit angefangen, die Werbung hochschulmäßig zu behandeln7. Anfänglich beschäftigten sich meist Reklamepraktiker mit diesem Gebiet, deshalb fehlte dem Stoff fast jedes theoretische Fundament. Einzelne Dozenten an den Handelshochschulen stützten sich vor allem auf niedergeschriebene Erfahrungen aus der Praxis, denn sie verfügten kaum über eigene Forschungsergebnisse. Etwa um das Jahr 1890 hatten Unternehmen - vornehmlich der Markenartikelbranchen und des Einzelhandels - begonnen, mit eigenen Werbeabteilungen den schnell wachsenden Massenmarkt aktiv zu bearbeiten. Der Berliner Unternehmer Johann Hoff stellte da eine frühe Ausnahme dar. Um 1870 richtete er ein Inseratenbureau ein, um den Vertrieb eines der ersten deutschen Markenartikel zu organisieren: den beliebten Hoffschen Malzextrakt. Solche Abteilungen trugen nicht selten den prosaisch klingenden Namen Literarisches Bureau. Beispiele dafür sind u.a. Bahlsen (1905), Kaffee Hag (1906), Dr. Oetker (1908), Stollwerk (1899/1900) und Zeiss Jena (1906). Größere Industrieunternehmen, wie z.B. 1894 Siemens & Halske in Berlin, gründeten Verkehrsabteilungen, deren Aufgaben im Verkauf, im Kundendienst und in der Öffentlichkeitsarbeit bestanden. Die dort beschäftigten Werbepraktiker beobachteten permanent die Kunden und deren Reaktionen. Aus den Informationen, die sie sammelten und verdichteten, bildete sich Schritt für Schritt ein Grundstock an Fachwissen, den sie für die tägliche Arbeit und für Publikationen nutzten. Geschriebene und gesprochene Worte stellten neben dem Bild ein wichtiges Instrument der Werbefachleute dar.
Eingängige Slogans wie: An Zucker sparen? Grundverkehrt! Der Körper braucht ihn, Zucker nährt, waren beliebt. Viele Menschen führten diese Ohrwürmer im Mund, verbreiteten sie bei Gesprächen und beteiligten sich somit unbewusst und völlig kostenfrei an der Werbung8.
Nach frühen Versuchen, u.a. in Köln, wo sich im Jahre 1898 zwölf Firmen zu einem Werbeverband zusammenschlossen, entstand im Jahre 1903 der Verein Berliner Reklamefachleute, der sich 1908 zum Verband deutscher Reklamefachleute erweiterte. In der Praxis jedenfalls marschierte die Werbung zügig voran. Aber natürlich stellte das Aneinanderreihen gesammelter Erkenntnissen und Fakten noch keine Wissenschaft dar, selbst wenn sich an der Wahrheit der Informationen zur Werbung seit vielen Jahren kaum etwas geändert hatte. Der Werbefachmann übte immer noch weiter nichts als ein mehr oder weniger gut organisiertes Handwerk aus. Richard Kropeit, ein seinerzeit recht bekannter Mann in der Branche, hielt allerdings die Reklame bereits für eine fast akademische Disziplin. Er meinte, für einen Kaufmann, der vorwärts kommen will, sei sie mindestens so wichtig wie Buchhaltung oder Warenkunde. Bemerkenswert ist seine 1909 erschienene Schrift: Reklame-Schule. Darin versprach er demjenigen, der sich auf dem Gebiet der Reklame weiterbilden wollte, er könne sich mit Hilfe des Kropeitschen Lehrplans im Selbststudium den Inhalt der insgesamt 50 Lektionen in aufeinander folgenden Arbeitsschritten mühelos erarbeiten9.
Johannes Weidenmüller schrieb 1912 zu der Frage, ob Werbung als Lehr- und Forschungsgebiet bereits den Charakter einer Wissenschaft besitzt: „Die Werbelehre befindet sich noch im Stadium der vorwissenschaftlichen regellosen Stoffsammlung. So lange kein Standpunkt existiert, der einen begrifflichen Überblick erlaubt, kann man auch noch nicht vom Beginn einer wissenschaftlichen Werbelehre sprechen.“10
Anlässlich eines Vortrags über Grundlagen der Werbelehre, den er im Dezember 1915 an der Berliner Handelshochschule hielt, äußerte er sich ausführlich zu diesem Thema11. Nach seinen Worten konnte man trotz des angehäuften Faktenwissens noch nicht von einer theoretisch fundierten Werbelehre sprechen, weil das Erkunden aller mit der Werbung zusammenhängenden Phänomene noch in den Kinderschuhen stecke. Folgerichtig gestaltete sich deswegen an den Handelshochschulen die Lehre als Pendant der Forschung ziemlich schwierig. Einige Professoren begannen gerade systematisch zur Werbung zu forschen, das bestehende Durcheinander bei den verwendeten Termini wirkte sich auf ihre Arbeit erschwerend aus. Eugen Schmalenbach benutzte z.B. anfangs meist den Ausdruck kaufmännische Propaganda. Andere wählten den Begriff kaufmännische Reklame oder sprachen von kaufmännischer Werbung. Schultze-Pfaelzer nannte Propaganda, Agitation und Reklame drei sich unterscheidende Elemente12. Für Arthur Lisowsky, Assistent und später Privatdozent an der Handelshochschule Leipzig, war der Ausdruck Werbung, verglichen mit allen ihm verwandten Begriffen, der umfassendste. Er definierte: „Reklame ist Werbung für wirtschaftliche Zwecke.“13 Ein anderer Autor schrieb, Werbung stelle für ihn den allgemeinen bzw. übergeordneten Ausdruck dar. „Reklame“, bemerkte er, „betone dagegen in zugespitzter Form den wirtschaftlichen Charakter der Werbung, deswegen sei der Reklamebegriff in den Geruch des Profitstrebens gekommen. Oft hätten deshalb die Theoretiker den Fachausdruck Reklame durch Werbung ersetzt.“14 Im Verlaufe der Jahre gelang es den Betriebswirtschaftlern zumindest, das Vokabular in einem gewissen Umfang zu vereinheitlichen. Was früher Reklame hieß, nannten sie jetzt in der Regel Wirtschaftswerbung; die Werbung für Ideen, Konfessionen und Politik bezeichneten sie als Propaganda.
Das vierbändige Lehrbuch: Die Handels-Hochschule - es entstand in den Jahren 1927 bis 1930 - stellte damals das verbindliche Gemeinschaftswerk der deutschen Handelshochschulen für ihre Studierenden dar. Professor Rudolf Seyffert schrieb für den Band IV: „Sondergebiete der Wirtschaftswissenschaft“ den Abschnitt zur kaufmännischen Werbelehre15. Darin gab er einen Überblick zum derzeit wichtigsten Schriftgut über die Werbung, den er wie folgt gliederte:
Gesamtdarstellungen der werbepsychologischen Werke
Werke über die Werbung einzelner Geschäftszweige
Werke zu einzelnen Werbemittel
Handbücher
Zeitschriften
Abb. 1: Lehrbuch: Die Handels-Hochschule
Um den Leser nicht zu verwirren, verwendet der Autor in der Regel den einheitlichen Begriff Werbung bzw. kaufmännische Werbelehre. In Zitaten oder sinngemäßen Übernahmen sind sie jedoch mit ihrer ursprünglichen Bezeichnung wiedergegeben. Die Frage uneinheitlicher Termini beschäftigte deutsche Betriebswirtschaftler und bezog sich durchaus nicht nur auf die Werbung. So startete z.B. Heinrich Nicklisch anlässlich der Jahrestagung der Betriebswirte 1930 in Bad Kissingen einen erneuten Versuch, seine Fachkollegen für eine einheitliche Terminologie in der Betriebswirtschaftslehre zu gewinnen. Das gelang leider nur ansatzweise, das Problem war also zu diesem Zeitpunkt keineswegs akzeptabel gelöst16.
Professor Fritz Klein-Blenkers gebührt das Verdienst, mit seiner zwischen 1992 und 1999 herausgegebenen 20-teiligen Schriftenreihe über die Geschichte der Betriebswirtschaftslehre Themen und Personen zur Historie des Faches aus der Zeit vor 1898 (der alten Betriebswirtschaftslehre) und ab 1898 (der neuen Betriebswirtschaftslehre) aus der Vergessenheit geholt zu haben. Im Band 16 dieser Reihe schildert z.B. Heinz Schwalbe anschaulich, wie sich vor 1933 die Werbelehre zu einer Werbewissenschaft entwickelte17. Ein Blick auf die Ansichten verschiedener Autoren macht deutlich, warum sich die Werbelehre in die Vorlesungsprogramme der Handelshochschulen so schwer einführen ließ. So nahmen Nationalökonomen vielfach eine zurückhaltende, wenn nicht sogar feindliche Position gegenüber der Werbung als Wissenschaft ein. In den Kreisen der noch in ihren Kinderschuhen steckenden Betriebswirtschaftslehre stieß das Thema bei manchen Vertretern der Zunft zumindest auf Skepsis, oder es wurde sogar gänzlich abgelehnt. Auch Schmalenbach verhielt sich lange Jahre sehr reserviert demgegenüber. Seine Kritik an der Werbung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg richtete sich besonders gegen die bis dato erarbeiteten theoretischen Grundlagen und gegen das verwendete unvollkommene Instrumentarium. Der scharf kalkulierende Rechner sah in der Werbung etwas Schwammiges, in Zahlen nicht Greifbares. So ließ sich wohl der Aufwand für die Werbung einigermaßen genau beziffern, ihren exakten Anteil am Ertrag eines Unternehmens hatten bis dato Betriebswirtschaftler jedoch vergeblich zu berechnen versucht. Außerdem erschien es da und dort notwendig, eine den Wirtschaftswissenschaftlern damals eher fremde Disziplin, die Psychologie, zu bemühen, was vielen Forschern widerstrebte. Schmalenbach bemängelte weiter, dass die Literatur über die kaufmännische Propaganda, wie er seinerzeit noch die Werbung nannte, fast nicht mehr zu überblicken sei und sich mit dem Lesenswerten zu viel Selbstverständliches vermischt18. Diese Position vertrat er 1925 immer noch, wie seiner Rezension über ein Buch von Edmund Lysinski zur Organisation der Reklame zu entnehmen ist. Dort heißt es, dass bisher bei allen Reklameschriften der Eindruck überwiegt, es handele sich nicht um eine wissenschaftliche Leistung höherer Art, und Schmalenbach fährt fort: „mir will scheinen, dass einstweilen der Theoretiker vom erfahrenen Praktiker noch mehr lernen kann als umgekehrt, und solange wird man es mir nicht verübeln, dass ich der Werbelehre als einer wissenschaftlichen Teildisziplin sehr skeptisch gegenüberstehe.“19 Ein Jahr zuvor hatte er den Autor noch gelobt und in ihm einen Mann gesehen, welcher die wissenschaftlichen Mittel der empirischen Beobachtung und der theoretischen Verallgemeinerung wieder in den Dienst wirklicher Erkenntnis stellt20. In einem frühen Artikel über Kartothekenpropaganda bezweifelte er, dass die kaufmännische Propaganda immer den rationellsten Weg einschlägt und sah einen großen Mangel darin, dass sich Produzenten die Werbung für einen Artikel fast genau so viel wie seine Fabrikation kosten lassen. Ein solcher Zustand widersprach seiner Ansicht von einer zweckmäßigen Gestaltung aller Formen der kaufmännischen Propaganda völlig21. Für Schmalenbach stellte damals Reklame in jedem Falle ein Indiz für eine unvollkommene Volkswirtschaft dar, in Wirklichkeit also das Anzeichen einer Krankheit, und er meinte, die Betriebswirtschaftslehre habe sie deshalb als eine solche anzusehen22. Deshalb riet er z.B. den Genossenschaften, sich bei den Kosten für Reklame rigoros zu beschränken, denn der Vorzug dieser Verbände bestehe nämlich gerade darin, dass sie unproduktive Kosten meiden; Reklamekosten wären dagegen gemeinwirtschaftlich unproduktiv23. Und weiter betonte er: „Wenn jemand durch Reklame zu kaufen veranlasst wird, obwohl ihm unter Berücksichtigung seiner wirtschaftlichen Situation der Kauf eigentlich verwehrt werden sollte, ist das aus betriebswirtschaftlicher Sicht nicht zu loben, sondern aufs äußerste zu tadeln.“24
Ab Mitte der 1920-iger Jahre veränderte sich jedoch das Bild spürbar. Die deutsche Wirtschaft belebte sich nach der Inflation von 1923 und die Praxis fragte plötzlich nach Erkenntnissen zur Werbung, die sich von den Unternehmern verwerten ließen. Betriebswirtschaftler an den Handelshochschulen beschäftigten sich jetzt verstärkt mit der Werbung, allerdings nicht alle und nicht mit der gleichen Intensität. Zur Frage, wer die Werbewissenschaft als akademische Disziplin eigentlich begründet hat, findet man je nach dem Standpunkt des jeweiligen Betrachters noch heute unterschiedliche Antworten. Ein Blick auf das bis etwa 1920 erschienene Schrifttum über Werbung zeigt jedenfalls, dass viele dazu beigetragen haben. Der Leser erkennt im Grunde ein gemeinsames Werk von Werbepraktikern und am Gegenstand interessierter Betriebswirtschaftler und auch Psychologen; einige von ihnen sollen hervorgehoben werden. Zu ihnen zählen mit Sicherheit die Praktiker Domizlaff, Kropeit, Kropff, Mataja (der eine Sonderstellung einnimmt) und Weidenmüller, die Betriebswirtschaftler Findeisen, Lisowsky, Nicklisch und Seyffert sowie die Psychologen Lysinski, Moede und Münsterberg, der nach einem zweijährigen Aufenthalt als Gastprofessor in Berlin endgültig in die USA zurückging. Kontakte zwischen ihm, Lysinski, Marbe, Moede und Seyffert sind wahrscheinlich, auf alle Fälle haben die Genannten Münsterbergs zahlreiche Veröffentlichungen, besonders natürlich Psychologie und das Wirtschaftsleben (1912) und Grundzüge der Psychotechnik (1914) gekannt und seine Anregungen und Erkenntnisse für ihre Arbeit genutzt. Seyffert veröffentlichte während seiner Mannheimer Zeit zwischen 1919 und 1920 gemeinsam mit Lysinski eine Reihe von Beiträgen in Fachzeitschriften, die in diese Richtung weisen, obwohl man da und dort liest, das Verhältnis beider sei oft von Spannungen geprägt gewesen.
Arthur Lisowsky hat sich im Handbuch für Kaufleute über geschäftliche Werbung sinngemäß wie folgt geäußert: Reklame ist Werbung zu wirtschaftlichen Zwecken, als spezielles Arbeitsmittel ist sie zu einem Element der modernen Wirtschaft geworden, auf das man nicht verzichten kann. Ihre volkswirtschaftliche Bedeutung geht weit über die Ländergrenzen hinaus, denn beträchtliche Teile der Gesellschaft leben unterdessen von der Werbung und ihren Gewerbezweigen. Weiterhin setzte sich Lisowsky mit unterschiedlichen Definitionen auseinander und versuchte sie zu systematisieren, indem er z.B. die unbeabsichtigte geschäftliche Werbung mit der beabsichtigten verglich. Er charakterisierte die indirekte oder versteckte Reklame in ihrem Verhältnis zur direkten oder offenen Reklame und kennzeichnete seine Auffassung zu Prinzipien der Werbung mit den Begriffen Originalität, Kontinuität und Stil. Interessant sind auch seine Gedanken zur Abhängigkeit der Reklame von innerbetrieblichen und außerbetrieblichen Faktoren25.
Zur Vorliebe von Rudolf Seyffert für das Gebiet der Werbung erklärte Edmund Sundhoff anlässlich eines Kongresses in Köln, dessen Arbeit in Mannheim und die Kontakte zu Professor Lysinski hätten wahrscheinlich dazu geführt, dass die Kölner Fakultät ausgerechnet dieses Gebiet so intensiv behandelt hat26. Seyffert hat immer dafür gekämpft, dass die Werbelehre als eigenständige akademische Disziplin anerkannt wird, auch noch in den Jahren nach 1950 an der Universität Köln. Viele sehen in seinem 1926 im Poeschel Verlag Stuttgart erschienenen Buch Allgemeine Werbelehre das erste Standardwerk der Werbewissenschaft; es erfuhr zahlreiche Nachauflagen. Des Öfteren hat er aber auch darauf verwiesen, dass nach wie vor eine systematisch betriebene wissenschaftliche Forschung auf breiter Grundlage fehlt.
Bis etwa 1918 galt das Hauptinteresse der Betriebswirtschaftler fast ausschließlich der Geldwirtschaft, wie Lysinski 1930 einmal rückblickend bemerkte27. Doch nun rückte parallel zu diesem Arbeitsfeld die Werbung immer stärker in ihr Blickfeld. Praktiker und Betriebswirtschaftler schauten vor allem auf die USA, informierten sich über die dortige Organisation und Finanzierung der Werbung und zogen daraus ihre Schlüsse. So erschien es ihnen beachtenswert, dass die amerikanische Reklame mit außerordentlicher Sorgfalt und Mühe durchdacht ist und dass der Amerikaner mit klarem Kopf und gesundem Denken an sie herantritt28. In einem Beitrag über den Umgang mit Absatzproblemen in den USA betonte der Autor Moses, dass ein großer Teil der amerikanischen Geschäftsmethoden ohne Zweifel auf heimische Verhältnisse anzuwenden wäre. Er nannte u.a. die Gebiete der Reklame (Advertising) und des Einwirkens auf die Masse (Salesmanship), und erläuterte, wie amerikanische Kaufleute professionelle Werbeagenturen (advertising agency) intensiv nutzen29. Schnutenhaus hielt es für möglich, mittels der amerikanischen Erkenntnisse und unter Einbeziehung der entsprechenden deutschen Literatur die von der akademischen Betriebswirtschaftslehre noch nicht sonderlich gepflegte Lehre vom Verkaufen an den deutschen Hochschulen zu befördern. Reklame bzw. Werbung bildeten seiner Meinung nach dabei die wesentlichsten Bestandteile der Verkaufslehre. Keineswegs ging es ihm darum, die dortigen Verhältnisse gedankenlos auf hiesige zu übertragen. So erläutert er zwar dem Leser anhand eines Beispiels, wie ein dortiges Unternehmen mittels eines Reklamefeldzugs das Tempo bei der Eroberung neuer Absatzmärkte extrem beschleunigte, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass zwischen amerikanischen und deutschen Lebensverhältnissen vielschichtige Unterschiede bestehen, die bei dem Versuch solcher Aktionen natürlich zu berücksichtigen wären30. Ein weiterer Autor bezeichnete die Werbeagenturen in den USA als den Inbegriff des amerikanischen Reklamewesens, kritisierte jedoch heftig deren Profitstreben, weil sie als Bonifikation für ihre Arbeit einen erheblichen Anteil vom Werbeetat der Unternehmen beanspruchen31. 1928 berichtete Herches, dass die Reklamekosten in den USA jährlich 1.000 Millionen $ betragen32. Erich Schäfer konstatierte, dass in den führenden Industrieländern, auch in Deutschland, jährlich etwa 2% des Volkseinkommens der Reklame dienen. Deshalb fand er es erstaunlich, dass sich die deutsche Wirtschaftswissenschaft im Allgemeinen und die Betriebswirtschaftslehre im Besonderen dieses Gegenstands trotzdem so wenig annähmen; für sein Fach sah er auf diesem Gebiet jedenfalls ein reiches Arbeitsfeld33. Lysinski verwies darauf, dass Werbung und Verkauf für das Wirtschaftsleben außerordentlich viel bedeuten und insofern unveräußerliche Bausteine des Aufgabenkreises der Betriebswirtschaftslehre darstellen. Genau aus diesem Grund hätten die Handelshochschulen seit etwa einem Jahrzehnt das Gebiet der Werbung in ihren Lehrbetrieb eingegliedert, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Mannheim, Köln und Leipzig hob er in diesem Zusammenhang lobend hervor34.
Prion schreibt sinngemäß, die Betriebswirtschaftler stellen die betrieblichen Aufgaben oft so dar, dass sie die Werbung meist dem Vertrieb zuordnen. Sie sei jedoch keinesfalls nur ein Hilfsmittel des Absatzes. Wenn sie sich an ausgewählte Gruppen mit bestimmten Instrumentarien wendet, ist die Werbung eine klare Maßnahme des Unternehmens mit dem Ziel, einen ganz bestimmt gearteten Kundenstamm zu gewinnen35.
Von Wilhelm Vershofen stammt schließlich ein Credo für die Werbung, in der er einen unveräußerlichen Bestandteil der Betriebswirtschaftslehre sah. Es findet sich als Rückblick in einem Geleitwort, das er anlässlich der Herausgabe ausgewählter Schriften von Arthur Lisowsky verfasste. „Wendet sich der Forscher nur dem zu, was rechenbar ist, oder vermag er hinter den wirtschaftlichen Problemen auch den Menschen zu sehen, dessen Wesen und Verhalten sich nicht mit mathematischen Mitteln bestimmen lässt“, fragt Vershofen. Lisowsky sei einer derjenigen gewesen, die in einer Zeit, da die Betriebswirtschaftslehre ihr Arbeitsfeld vorrangig auf dem Gebiet der Kalkulation, der Bilanz und der Erfolgsrechnung sah, ihr wissenschaftliches Interesse auch dem Menschen in seinen vielfältigen Beziehungen zur Wirtschaft, und damit der Werbung, zuwandte36.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Brief von Julius Hirsch an Wilhelm Hasenack vom Dezember 1958. Hirsch, der 1941 in die USA emigrierte, kann wohl als ein Kenner der dortigen Szene angesehen werden. Er schrieb sinngemäß, dass er für die Zeit vor dem Dritten Reich durchaus auch Einflüsse der deutschen Betriebswirtschaftslehre auf die amerikanischen Entwicklungen sähe, also Informationsaustausch in beiden Richtungen lief und der deutsche Einfluss ausgerechnet auf einem Gebiet vorhanden war, das eigentlich als ureigene amerikanische Domäne galt, nämlich des Marketings. Beim Aufbau der Business-School in Harvard hätte man zum Beispiel das deutsche betriebswirtschaftliche Kennzahlen-System benutzt, soweit es für Marketing in Frage kam. Allerdings sei später der führende Mann, Melvin T. Copeland, auf die unglücksselige Idee gekommen, das sogenannte Case-System als eine grundlegende Neuschöpfung in die praktische Wirtschaftswissenschaft zu übernehmen, und der deutsche Kennziffernansatz verschwand in der Versenkung37.
Im Februar 1929 organisierten Studierende der Handelshochschule im Haus des Kaufmännischen Vereins einen Reklameball; die Neue Leipziger Zeitung und die Leipziger Neuesten Nachrichten berichteten darüber ausführlich.
Abb. 2: Gebäude des Kaufmännischen Vereins Leipzig, Schulstraße 5
Als Organisator des unter dem Motto: Werbt und lacht stehenden Festes fungierte das Reklameseminar von Franz Findeisen. Dessen Mitglieder bereiteten innerhalb von nur drei Wochen eine eindrucksvolle Veranstaltung vor, der Leipziger Firmen mit originellen Werbe-Ideen Farbe und Glanz verliehen. Das gesamte Gebäude war mit Reklame, die sich in einfallsreichen Ansichten und ausgefallenen Werbesprüchen überbot, überreichlich ausgestattet. Außergewöhnliche Dekorationen, Phantasiekostüme mit Reklameinschriften, Mäntel aus Zeitungsbildern, die Tanzsportkapelle Blau-Gold und ein Kabarettprogramm bündelten sich zu einem beschwingten Abend.
Den Höhepunkt bildete ein von den Studenten Karl-Heinrich Heine und Heinz Näbe geschriebener Sketch: „Der moderne Faust“, in dem sie dem Handelshochschüler in humoristischer Form ein Zerrbild vorsetzten und mit satirischen Seitenhieben über ihr Studium der Betriebswirtschaftslehre nicht sparten. U.a. hieß es bei ihnen: „Habe nun Wirtschaftsgeographie, Juristerei und Wechselziehn und leider auch Bilanztheorie durchaus studiert mit heißem Bemühn. Hier stehe ich, ich armer Tor, und bin nicht klüger als zuvor. Heiße Bücherrevisor, Diplom-Kaufmann gar, doch ziehn mich schon so manches Jahr herauf, herab und quer und krumm, meine Gläubiger an der Nase herum.“38
Mehr als 30 Jahre danach erinnerte Wilhelm Hasenack noch einmal humorvoll an dieses Fest und bemerkte in Bezug auf die erwähnte kleine Komödie, Findeisen sei bekanntlich ein strenger und eingefleischter früher Verfechter der Absatzwirtschaftslehre gewesen. Er habe deswegen oft im Kontrast zu den Rechenmeistern und Bilanztheoretikern des Faches gestanden. Hasenack schließt mit einem Kompliment an die Leipziger Studenten, die er in seiner Leipziger Zeit zwischen 1938 bis 1947 als wache, intelligente, einem scharfen Humor nicht abgeneigte offene Menschen kennen gelernt habe39.
An so eine verrückte Fete wäre um die Jahrhundertwende natürlich noch nicht zu denken gewesen. Erst gegen Ende der 1920-iger Jahre zählte das Fach Reklamewirtschaftslehre an der Leipziger Hochschule dauerhaft zu den Gegenständen der Diplomprüfung, aber bis dahin lag vor der Betriebswirtschaft noch ein weiter und steiniger Weg! Es muss der Spaß an der Sache gewesen sein, der wenige Semester nach Eröffnung der ersten deutschen Handelshochschule in Leipzig deren Kommilitonen dazu brachte, sich der Reklame zuzuwenden. Dabei passte dieses schillernde Objekt augenscheinlich so gar nicht neben die ernsthaft betriebenen Fächer Kaufmännische Arithmetik, Buchführung und Kaufmännische Korrespondenz, andererseits schien sie rein gefühlsmäßig doch irgendwie in das Ausbildungsprogramm von Kaufleuten zu gehören. Wenn man sich schon im Lehrbetrieb nicht damit beschäftigte, wollte die Freie Deutsche Studentenschaft der Hochschule wenigstens im Rahmen der von ihr organisierten Vortragsabende dazu etwas beitragen. In ihrem Semesterbericht für das Wintersemester 1908/09 kann man nachlesen, dass Herr Oberlehrer Detloff Mueller vor zahlreichem studentischen Publikum über das Studium der Reklame sprach. Der Referent lehrte in Doppelfunktion an der Öffentlichen Handelslehranstalt zu Leipzig und an der Handelshochschule englische Sprache und Korrespondenz. 1910 veröffentlichte er in Leipzig eine Schrift über das Studium der Reklame, in der er u.a. seine gesammelten Erkenntnisse aus einer längeren kaufmännischen Tätigkeit in den USA verarbeitete40. Der Abdruck der Schrift in der Beilage zum Jahresbericht der Öffentlichen Handelslehranstalt für das Schuljahr 1909/10 lässt erkennen, dass Werbung bei der Ausbildung der kaufmännischen Lehrlinge zweifellos eine Rolle spielte. In den Lehrlingsfachkursen und der Handelsvorschulabteilung bildeten Verkaufs-, Werbe- und Warenkunde Bestandteile der Pflichtfächer. Mueller gelang es jedoch damals nicht, den Senat vom Sinn solcher Lehrveranstaltungen zur Werbung zu überzeugen.
Abb. 3: Geschäftszeichen der freien Deutschen Studentenschaft der Handelshochschule zu Leipzig (FDST); Entwurf: Johannes Weidenmüller
Am 19. November 1910 erörterte der Vorstand der Freien Deutschen Studentenschaft im Freistudentischen Casino in der Leipziger Zimmerstraße seine Absicht, in Kürze eine Abteilung für Kunstgewerbe einzurichten. Die Anregung stammte vom Werbefachmann Weidenmüller, der kurz zuvor, am 6. November an der Handelshochschule über die Entwicklung der Reklame zur neuzeitlichen Kundenwerbung gesprochen hatte. Gäste der Veranstaltung waren u.a. Professor Adler, der an der Hochschule die klassischen Fächer der Handelstechnik lehrte und Oberlehrer Mueller. Mit einem persönlichen Schreiben begrüßte Professor Robert Stern das wohlgemeinte Vorhaben der Studenten und hob hervor, dass eine zielstrebige und in gebührender Weise durchgeführte kaufmännische Propaganda eine eminente Bedeutung besäße. Weidenmüller stellte in seinem Vortrag fest, dass man im Unterricht auf Reklamekunde für angehende Diplom-Kaufleute nicht verzichten könne. Natürlich müssten die Handelsstudenten keinesfalls alle Bestrebungen des modernen Kunstgewerbes kennenlernen. Es genügt völlig, wenn sie sich im Sinne einer kaufmännischen Reklamekunde nur auf jene Elemente konzentrierten, die für den Kaufmann bedeutsam sind und ihm nützen. Ein Beispiel gäben die großen Berliner Warenhäuser, bei denen Kunstgewerbler und Künstler den Kaufmann bei seiner Werbung erfolgreich unterstützen. Zu diesen Unternehmen gehört z.B. Wertheim in Berlin, wo die Geschäftsleitung ihre seit 1890 bestehende eigene Dekorationsabteilung 1906 personell aufstockte und in eine Werbeabteilung umwandelte. Der Student der Handelswissenschaften betreibe ein kaufmännisches Studium und sollte deswegen die Reklameinstrumente zumindest im Überblick kennen, ihre technischen Feinheiten müsse er jedoch nicht unbedingt beherrschen. Die moderne Handelsarchitektur, das weite Feld geschäftlicher Reklamedrucke, die Gestaltung von Werbeplakaten im Zusammenwirken mit Künstlern und die Arten und Formen von Zeitungsannoncen - das sind z.B. Gebiete, mit denen sich der Handelsstudent auseinanderzusetzen hat. Gerade bei Drucksachen, deren Wortlaut genau so viel Sorgfalt erfordert, wie der eigentliche Druck, sah Weidenmüller erhebliche Mängel und hob hervor: Wer auf diesem Gebiet selbständig sein will, muss beobachten und abschätzen gelernt haben. Der Kaufmann investiert viel Geld in Reklame, und trotzdem erhält er oft nur minderwertige Massenware, denn er erkennt nicht immer die Schwäche solcher Produkte, weil seine Ausbildung bisher eine große Lücke aufweist. Aber wo lernt der Kaufmann, die Qualität von Werbearbeit zu bewerten, fragte der Referent und antwortete: notwendig sei eben für Kaufleute die Reklamekunde als Unterrichtsfach, z.B. an den Handelshochschulen. Weil ihm vielfach entsprechende Kenntnisse fehlen, vermag der Kaufmann nicht, das passende Papier, die richtige Farbe, das geeignete Druckverfahren und die angemessene Schriftart für eine Werbesache zu beurteilen. Allein bei Schriftarten verfügt der Experte über 40 bis 50 Typen, mit denen er, je nach Wahl, einer Drucksache Vornehmheit oder auch Volkstümlichkeit verleihen kann. Alle diese Elemente einschließlich eines sauber formulierten Textes müssen außerdem in der Fläche harmonisch angeordnet sein. Um die Vorstellungen zu seiner Werbung im Detail zu verwirklichen, kann sich der Kaufmann wohl einer Fachkraft bedienen, das Urteil über die Güte des vorgelegten Ergebnisses muss er jedoch ganz allein fällen.