Die Affäre Kießling - Heiner Möllers - E-Book

Die Affäre Kießling E-Book

Heiner Möllers

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Beschreibung

Der Skandal, der sich aus der Kießling-Wörner-Affäre 1984 entwickelte, war weit mehr als nur die Leidensgeschichte eines alleinstehenden NATO-Generals, den man zu Unrecht der Homosexualität verdächtigte, deswegen entließ und dann wieder einstellen musste. Es entwickelte sich der größte Skandal der deutschen Militärgeschichte in der Nachkriegszeit daraus, denn es ging um den Kern des Selbstverständnisses der Bundeswehr: den Staatsbürger in Uniform und die viel gepriesene Innere Führung. Anders als bei manchem Beschaffungsskandal standen hier der Umgang mit Soldaten und das Menschenbild der Militärs im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. Zugleich wurde die Rolle des Militärischen Abschirmdienstes kritisch hinterfragt, der Gerüchten aufsaß und sich mit Falschinformationen blamierte.
Mit bislang unbekannten Quellen und ungehörten Zeitzeugen werden erstmals die Hintergründe des damaligen Geschehens umfassend rekonstruiert. Das Buch gibt tiefe Einblicke in die innere Verfasstheit der Bundeswehrführung der 1980er Jahre und fragt nach dem heutigen Umgang mit Homosexuellen in der Armee.

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Seitenzahl: 544

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Heiner Möllers

Die Affäre Kießling

Der größte Skandalder Bundeswehr

Die Geschichte der Kießling-Affäre ist keine fiktive Geschichte. Alles, was in diesem Buch beschrieben ist, hat sich so ereignet, wurde so gesprochen oder berichtet. Alle Personen werden mit Klarnamen genannt und waren – mehr oder weniger – Teil des Skandals. Ihre Namen finden sich sowohl in der damaligen Presseberichterstattung, die jeweils mit Tagesbezug zitiert wird, wie auch in den uneingeschränkt zugänglichen Protokollen des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages zur Affäre sowie in den Akten des Bundesministeriums der Verteidigung im Bundesarchiv – Abteilung Militärarchiv in Freiburg/Breisgau.

Wenn im Buch Zeitungsberichte o. Ä. mit Datumsnennung oder unter dem entsprechenden Tag genannt sind, ist auf eine zusätzliche Fußnote verzichtet worden.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, März 2019

entspricht der 1. Druckauflage von März 2019

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: Ch. Links Verlag, unter Verwendung eines Fotos von dpa (General Kießling und Verteidigungsminister Wörner am Tag der Verabschiedung Kießlings)

Lektorat: Marcel Kellner, Berlin

Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

eISBN 978-3-86284-445-6

Inhalt

Geleitwort von General a. D. Dr. h. c. Klaus Naumann

Vorwort des Verfassers

IDer Zapfenstreich in Neustadt – »Kießlings Triumph«

IIVom Werden einer Affäre

General Rogers, der »Vizekönig von Europa«, und sein (deutscher) Stellvertreter

Kießling und sein Weg zum Deputy SACEUR

Kießling und die NATO im Umbruch

Exkurs: § 50 Soldatengesetz – der »einstweilige Ruhestand«

Dunkle Vorzeichen

Ein Gerücht in den Mühlen der Bürokratie

Eine »elegante Lösung«

Letzte Tage in Mons

Erste Unruhe

Staatssekretär Hiehle

Der Krisenverschärfer

Der MAD-Bericht vom 6. Dezember 1983 und seine Folgen

Der Rausschmiss

»Ruhe vor dem Sturm!« – Kießling und sein Interregnum

IIIVon der Kießling-Wörner-Affäre zum handfesten Skandal 1984

5. Januar, Donnerstag: Die Affäre beginnt

6. Januar, Freitag: Ein schwuler General?

7. Januar, Samstag: Kießling – Ich bin nicht homosexuell

8. Januar, Sonntag: Kießlings erster Angriff

9. Januar, Montag: Wörner mauert

10. Januar, Dienstag: Zeugenvernehmungen

11. Januar, Mittwoch: Ein Fall Kießling in SHAPE

12. Januar, Donnerstag: Ein Doppelgänger?

13. Januar, Freitag: Die Wende?

14. Januar, Samstag: Panik im Ministerbüro

15. Januar, Sonntag: Minister in Erklärnot

16. Januar, Montag: Eine Vorhinrichtung

17. Januar, Dienstag: Belastungszeugen

18. Januar, Mittwoch: Wörner im Verteidigungsausschuss

19. Januar, Donnerstag: Die Bundeswehr und Homosexuelle

20. Januar, Freitag: Keine Unterstützung für Wörner

Exkurs: Soldaten für Kießling? Die »Aktion Boehm«

21. Januar, Samstag: Die Ehre des Generals

22. Januar, Sonntag: Das Ringen um Haltung und Erklärungen

23. Januar, Montag: »Die vier vum Jeneral«

24. Januar, Dienstag: Eskalation auf der Hardthöhe

Exkurs: Der schweizerische Rohrkrepierer

25. Januar, Mittwoch: Der Befreiungsschlag Wörners?

26. Januar, Donnerstag: Rückzugsgefechte

27. Januar, Freitag: Gefahr aus München

28. Januar, Samstag: Vorboten der Rehabilitierung

29. Januar, Sonntag: Kießling legt nach

30. Januar, Montag: Der Bundeskanzler übernimmt den Fall

31. Januar, Dienstag: Reisetag für Kießling

1. Februar, Mittwoch: Showdown – Die Rehabilitierung

2. Februar, Donnerstag: Nachberichterstattung

3. Februar, Freitag: Trotz allem – Kohl im Aufwind, Wörner nicht

IVNachwehen des Skandals – Aufräumarbeiten und klare Fronten

Frustration über die feinen Kameraden

Mehr als ein Essen – eine Geste

Karrasch und der Versuch einer Entschuldigung

Joachim Krase und die Stasi?

Nur Trompetenkäfer und Trittbrettfahrer

VDer Untersuchungsausschuss – Der Bundestag lässt aufklären

Der MAD im Zeugenstand

VIEpilog

»Und die Schuldigen?«

Schwule Soldaten

VIISchluss: Günter Kießling – Annäherung an einen Grenzgänger

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

Danksagung

Zum Autor

Zum Geleit

Die Affäre Kießling erschütterte in den frühen 1980er-Jahren die Bundeswehr, beschädigte den mit viel Hoffnungen ins Amt gekommenen und vielversprechend gestarteten Verteidigungsminister Manfred Wörner nachhaltig, brachte Bundeskanzler Kohl an den Rand einer Kabinettsumbildung und beschädigte das Ansehen Deutschlands in der NATO. Nun waren damals Affären von Generalen oder Admiralen nicht unbedingt Angelegenheiten, die die Truppe besonders interessierten – sofern es sich nicht um direkte Vorgesetzte handelte. Man muss in dieser Affäre zudem die heute weitgehend vergessenen Umstände sehen: Homosexualität war ein Straftatbestand und ein homosexueller Vorgesetzter in der Bundeswehr war schlicht unvorstellbar.

Ich habe die Affäre Kießling erst in Großbritannien als Lehrgangsteilnehmer am Royal College of Defence Studies und dann 1984 in ihrer Endphase als angehender Brigadekommandeur erlebt. Ich bin General Kießling mehrfach persönlich begegnet, erst in der Personalabteilung, wo er Stellvertretender Abteilungsleiter und ich Hilfsreferent war, und später erneut in der NATO, wo er DSACEUR und ich Dezernent für Militärpolitik im Stab des Deutschen Militärischen Vertreters im Militärausschuss der NATO (DMV MC/NATO) war. Ich habe aber schon vorher als G3-Offizier der Panzerbrigade 15, die er früher führte, aus dem Mund altgedienter Feldwebel von ihm gehört. Er hatte das Ansehen eines gerechten, aber harten Kommandeurs erlangt, zu dem allerdings nicht leicht Zugang zu finden war.

Nahezu allen Akteuren in dieser Affäre vom Oberst bis zum Staatssekretär, den stellvertretenden Vorsitzenden des Hauptpersonalrates Karrasch ausgenommen, begegnete ich persönlich während meiner Laufbahn.

Minister Wörner kannte ich gut. Er hatte schnell viel Zustimmung in der Truppe und in der NATO gefunden. Er wäre ohne die Affäre Kießling, in der er sich selbst beschädigte und zweifelsohne auch Vertrauen in der Bundeswehr verlor, vermutlich ein Verteidigungsminister geworden, von dem die Bundeswehr noch heute viel Gutes sagen würde. Seinen Weg in die Geschichtsbücher fand er erst als Generalsekretär der NATO von 1988 bis 1994. Er wurde dort zu dem Mann, der das Bündnis in eine neue Zeit rettete, nachdem es seinen Gründungsauftrag – die Verhinderung eines Krieges gegen die Sowjetunion – erfolgreich erfüllt hatte. Er brachte, schon vom Tod gezeichnet, das Bündnis dazu, dem Morden in den jugoslawischen Sezessionskriegen nicht länger tatenlos zuzusehen, und öffnete die Türen für die Zusammenarbeit erst mit der Sowjetunion und dann mit Russland.

Dauerhaft verletzt und beschädigt wurde in der Affäre trotz formaler Rehabilitation nur einer: General Dr. Günter Kießling. Nach meinem Eindruck hat er bis zu seinem Tod im Jahr 2009 nie verwunden, was ihm angetan worden war. Er war zweifelsohne ein Offizier, der tief im tradierten Ethos deutscher Offiziere verwurzelt war, weil er bescheiden war und nie mehr von seinen Soldaten verlangte, als er selbst zu leisten bereit war. Er war kein Mann, so mein Eindruck aus den wenigen persönlichen Begegnungen, der auf Anhieb Sympathie gewinnen konnte. Er begegnete einem Unbekannten freundlich, erkennbar zurückhaltend und abwartend, fast schüchtern. Nach meiner Einschätzung war er trotz seines Aufstiegs in Truppenverwendungen im Heer in der Öffentlichkeit ein weitgehend Unbekannter geblieben – möglicherweise mehr, als das bei jedem Aufstieg an die Spitze und der damit nahezu unvermeidbar verbundenen Einsamkeit der Fall ist. Vielleicht war das auch einer der Gründe, dass seine Behandlung durch die politische und militärische Führung anfänglich keineswegs eine Welle der Empörung auslöste. Das geschah erst durch Wörners eklatantesten Fehlgriff, die Einladung eines Schweizer Homosexuellen zur Einvernahme als Belastungszeugen.

Das war der Schritt, den die Bundeswehr nicht mehr verstand, denn er war ein Verstoß gegen einen der elementaren Führungsgrundsätze: Tue nie einem Mitarbeiter etwas an, was Du selbst nicht erleben möchtest. Das Schweigen der politischen wie der obersten militärischen Führung zu diesem Fehlgriff stieß in der Truppe zunehmend auf Unverständnis. Die Nachdenklichen merkten damals, wie dünn das Eis ist, auf dem Generale und Admirale gehen, und wie schnell sie Bauernopfer werden können, wenn ein Politiker Wege sucht, sein Fell zu retten. Schon damals machte es meine Kameraden und mich betroffen, und heute im Zeitalter von Fake News und Social Media gilt das umso mehr, wie schnell Gerüchte sich auch ohne Nachweis verfestigen, in Teilen auch dann bestehen bleiben, wenn sie widerlegt werden, und so Menschen dauerhaft verletzen können. Betroffen machte auch, wie wenig Kießlings engere Kameraden und unmittelbare Weggefährten dem Gerücht erkennbar und öffentlich entgegentraten.

Dieses Buch schildert eindrücklich einen Skandal, der ohne zwingenden Grund einen Menschen zum Opfer machte. Es ist mehr als lesenswert, auch weil es Abläufe im Verteidigungsministerium schildert, die Zweifel an der Funktionsfähigkeit des Hauses aufkommen lassen. Vor allem, wenn man sich vor Augen führt, welche Entscheidungen ein Verteidigungsminister in ganz anderen und wesentlich komplexeren Dimensionen in Frieden, Krise und Krieg zu treffen hat. Der Verfasser, Heiner Möllers, vermeidet richtigerweise jeglichen Versuch einer Verurteilung der Handelnden, lässt aber begründete Kritik deutlich erkennen. In meinen Augen ist das wohlverstandene historische Betrachtung.

Das Buch lässt offen, ob die Affäre mehr war als der Versuch, einen unbequem und zur Last Gewordenen unter Nutzung nicht belegter Gerüchte und ohne Schonung seiner Würde loszuwerden, oder ob doch etwas an den nie verstummten Gerüchten ist, es seien gegnerische Nachrichtendienste beteiligt gewesen. Beweise dafür gibt es nicht, wenngleich der denkbare Nutzen, einen gerade Einfluss gewinnenden deutschen Verteidigungsminister stolpern zu lassen und Deutschlands Stellung in der NATO zu schädigen, ein nahezu perfektes Motiv wäre. Die Feststellung, dass die erste Spur des Gerüchts Homosexualität in das Büro des SACEUR führt, könnte ein Indiz dafür sein, ist aber eben kein Beleg.

Zum Skandal und damit zur Gefahr für den Minister wurde die Affäre, weil das Opfer sich unter Nutzung der Medien zur Wehr setzte. Damals war das eine Reaktion, die vielfach Kritik im Offizierkorps, insbesondere unter Generalen und Admiralen, auslöste, vielleicht auch weil General Dr. Kießling nach meiner Erinnerung trotz des höchsten Dienstgrades nicht zu den bekannten und beliebten Spitzenmilitärs gehörte. In der jetzigen Zeit, in der weit hemmungslosere Gerüchte benutzt werden, um Menschen zu beschädigen, würde diese Reaktion nicht mehr kritisiert. Offen ist allerdings, ob die Medien heute ebenfalls bereit wären, so wie damals für einen General und gegen einen Politiker Partei zu ergreifen.

Oberstleutnant Dr. Heiner Möllers schildert nach meinem Eindruck die Affäre Kießling nüchtern, sachlich und gut recherchiert. Er beschreibt fehlerhaftes Handeln der politischen und auch der militärischen Führung und zeigt auf, wie ein Mann verletzt und letztlich doch dauerhaft beschädigt wurde, der bis dahin der Bundesrepublik Deutschland ohne Fehl und Tadel treu gedient hatte. Dafür gebührt dem Verfasser Dank und Anerkennung.

Das Buch verdient aufmerksame Leser, besonders in Politik und Militär, damit sich Derartiges nie mehr wiederholt.

General a. D. Dr. h. c. Klaus Naumann

Otterfing im Oktober 2018

Vorwort

In der ersten Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl war der Bundesminister der Verteidigung Dr. Manfred Wörner eine imposante Erscheinung. Der Oberstleutnant der Reserve und Jetpilot hatte sich seit seinem Einzug in den Bundestag 1965 einen Namen gemacht. Er war der Verteidigungsexperte der Union und im Bündnis der NATO ein anerkannter Sicherheitspolitiker. Von 1976 bis 1980 war er Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und hatte sein Profil geschärft. Wörner kannte die Bundeswehr, und viele in der Bundeswehr kannten ihn. Er sollte nach einem Ende der sozialliberalen Koalition Verteidigungsminister werden. Und er strebte geradezu nach diesem Amt. Manfred Wörner war kein Parteisoldat, den man dorthinein schieben musste, wie seinen Vorgänger Hans Apel. Als er die Bonner Hardthöhe bezog, ging ein frischer Wind durch das Ministerium und scheinbar durch die gesamte Bundeswehr.

Doch nicht einmal elf Monate nach dem Amtsantritt zogen dunkle Wolken auf, die so gar nicht zum dynamischen Image Wörners passten. Bislang kannte man den großen, schlanken Politiker, der mit markanter Halbglatze und zuversichtlichem Lächeln auf den Wahlplakaten abgebildet war, eher als Siegertypen. Das sollte sich nun dramatisch ändern und am Ende fast sein Amt kosten.

Dass er letztlich Minister blieb, verwundert noch heute und war einzig dem Kanzler zu verdanken. Denn die »Affäre Kießling« war eher ein »Skandal Wörner« und hatte alles, was einen Minister zum Rücktritt zwingen musste. Einige seiner Vorgänger und Nachfolger hatten wegen viel geringfügiger Zwischenfälle das Amt räumen müssen:

Franz Josef Strauß belog 1962 das Parlament und musste als Minister zurücktreten. Starfighter fielen 1964 bis 1966 gleich reihenweise vom Himmel und ließen Kai-Uwe von Hassel im Sog einer größeren Regierungskrise mit stürzen. 1976 besuchte ein Alt-Nazi ein Luftwaffengeschwader der Bundeswehr. Zwei hohe Generale konnten die Aufregung anschließend nicht verstehen und verglichen ihn – er könne sich doch geläutert haben – mit dem Bundestagsabgeordneten Herbert Wehner von der SPD. Der war früher mal Kommunist, hatte sich aber tatsächlich davon losgesagt. Beide Generale mussten gehen. Freiherr von und zu Guttenberg stolperte 2011 über eine plagiierte Doktorarbeit und verlor sein Amt. Immer wieder ergaben und ergeben sich Pannen bei Rüstungsbeschaffungen – aus den unterschiedlichsten Gründen. Eine Aufklärungsdrohne landete vor wenigen Jahren in einem 500-Millionen-Euro-Grab. Alles das waren trotz ihrer Dimension nur kleine Affären mit punktueller Berichterstattung. Sie wirkten meist nur mittelfristig nach, weil die jeweils amtierenden Minister meist selbst die Konsequenzen aus diesen »Pannen« zogen.

Anders als diese Vorgänge war die »Kießling-Affäre« des Jahres 1984 ein richtiger Skandal: Gerüchte, die zum Verdacht angereichert werden, Zeugen, die weniger zur Erhellung als mehr zur Verdunklung beitrugen, und Akteure, die sich in ihren Aussagen verstrickten. Vor allem aber kann man in ihr scheinbar Verantwortliche und Hineingezogene eindeutig bestimmen.

Hier, wie in den anderen Bundeswehr-Affären, hatten die Medien eine gewichtige Rolle. Aber sie bestimmten oder inszenierten diesen Skandal nicht. Vielmehr saßen sie auf der Tribüne und kommentierten das absurde Treiben auf der Bonner Bühne im Zeitalter der vom Bundeskanzler proklamierten »geistig moralischen Wende«.

Die richtigerweise so zu bezeichnenden »Kießling-Wörner-Affäre« war weit mehr als nur die Leidensgeschichte eines alleinstehenden Generals. Es war eine – vielleicht gar die –spannungsgeladene Affäre in der Geschichte der Bundeswehr, die in ihrer gesellschaftlichen Relevanz, der Schärfe der Auseinandersetzung und der Langlebigkeit ihrer fatalen Folgen bis heute ohne Beispiel ist.

Der Vorgang belegt zum einen, wie wirkungsvoll die Medien als »vierte Macht« im Staat den politischen Apparat zeitweise kontrollierten oder zumindest zu Kurskorrekturen zwingen konnten. Die journalistische Recherchearbeit in der Sachen Kießling war einzigartig, weil sie die unrechtmäßige Entlassung des Generals enttarnten, die Fehler des Bundesverteidigungsministeriums zutreffend beschrieben und deren Verantwortliche eindeutig benannten. Presse, Funk und Fernsehen berichteten nahezu in »Echtzeit«. Dabei mussten sie gar nichts inszenieren oder übertreiben.

Zum Zweiten zeigt der Fall Kießling-Wörner auf, wie das Bundesministerium der Verteidigung unter Druck reagierte: Es wurde und wird nur zugegeben, was nicht mehr zu leugnen war. Eine transparente Aufklärung wurde weder betrieben noch kommuniziert.

Zum Dritten bietet der Skandal tiefe Einblicke in das soziale Gefüge der Bundeswehr und hier besonders der militärischen Führung. Generale und Admirale der Bundeswehr waren und sind keine homogene Gruppe. Gerade die damaligen Vertreter der höchsten Dienstgradgruppe zeigten, wie eine ganze Führungselite abtauchen konnte, wenn »Staatsbürger in Uniform« gefragt waren. Sie versteckten sich hinter einer Loyalität und vergessen die soldatische Kameradschaft oder gar das Mitfühlen mit denen, denen Schlimmes widerfährt. Wenn rangniedere Soldaten Fehler machen, und auch die gibt es oft, »schlägt das Imperium zurück«. Damals, 1984, konnte »das Imperium« nicht zurückschlagen – es wurde vorgeführt. Und als Erstes litt darunter die zum Gesetz erhobene Pflicht des Soldaten zur Kameradschaft anderen Soldaten gegenüber. Das Soldatengesetz sagt in § 12 dazu: »Der Zusammenhalt der Bundeswehr beruht wesentlich auf Kameradschaft. Sie verpflichtet alle Soldaten, die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten und ihm in Not und Gefahr beizustehen. Das schließt gegenseitige Anerkennung, Rücksicht und Achtung fremder Anschauungen ein.« Daran konnte oder wollte sich selbst später keiner der in den Verlauf des Skandals involvierten aktiven Generale erinnern. Insofern beschreibt der Skandal nicht allein ein einzigartiges Versagen der Inneren Führung, sondern vielmehr einen letztlich unbestraften Verstoß vieler Soldaten gegen ihre gesetzlich normierten Berufspflichten gegenüber dem Kameraden Günter Kießling.

Zuletzt lebte der Parlamentarismus in einer selten zu beobachtenden Form auf. Eine wirkungsvolle Opposition kämpfte – natürlich nicht ohne parteipolitischen Impetus – gegen einen Minister und eine Regierung, deren Handeln durch Leugnen, Hinhalten und Aussitzen geprägt war, nachdem sie vorher den Anspruch einer Politik der Erneuerung erhoben hatte. Ihr moralischer Anspruch drehte sich letztlich gegen sie selbst.

IDer Zapfenstreich in Neustadt –»Kießlings Triumph«

Der Große Zapfenstreich ist ein militärisches Zeremoniell, das die Bundeswehr zu herausragenden Anlässen aufführt. Eine der ersten vollständigen Fernsehübertragungen dürfte 1985 erfolgt sein, als die Bundeswehr auf der Hardthöhe in Bonn ihren 30. Geburtstag mit diesem Zeremoniell beging. Noch mit mäßigem Bild und Ton. Zehn Jahre später blieben bereits die Politiker der Opposition dem Zeremoniell fern, als der Zapfenstreich im Bonner Hofgarten, nun auch mit Störungen oppositioneller Gruppen, stattfand. Zum 50. und 60. Geburtstag der Bundeswehr fand der Große Zapfenstreich vor dem Reichstag in Berlin statt. Weiträumig abgesperrt und mit hochauflösenden Bildern im Fernsehen und klarem Ton. Auch zu den Verabschiedungen von Bundespräsidenten und Kanzlern, Ministern und weiteren Jubiläen überträgt heutzutage wenigstens der Spartensender Phoenix dieses höchste militärische Zeremoniell, das weit mehr ist als nur Blasmusik mit Beleuchtung.

Kaum ein Zapfenstreich bietet in der Rückschau jedoch so viel Diskussionsstoff wie derjenige zum Abschied für General Dr. Günter Kießling. Hatte man ihm doch das für Generale seines Ranges übliche Zeremoniell bei seiner ersten Verabschiedung verwehrt. Gerade deswegen musste der Großer Zapfenstreich, den er im Zuge seiner Rehabilitierung in Neustadt/Hessen erhielt, nicht weniger Aufsehen erregen wie vieles seit dem 4. Januar 1984, als seine Entlassung bekannt geworden war. »Und der Skandal wurde ja gerade dadurch ausgelöst, dass ich eben nicht in der für Generale meines Ranges üblichen Form verabschiedet worden war.«1

Dabei schrieb er noch wenige Tage zuvor seinem langjährigen Förderer Generalleutnant a. D. Wolf Graf von Baudissin: »Ich habe mir natürlich doch lange überlegt, ob ich mich in dieser Weise verabschieden lassen soll. Nachdem aber ohne mein Zutun ausgerechnet der Große Zapfenstreich so stark als Ausdruck der würdigen Verabschiedung in der Öffentlichkeit diskutiert worden ist, bin ich zu dem Entschluß gekommen, daß ich auf keinen Fall darauf verzichten darf. Dies hätten mir andere möglicherweise als einen Abschied zweiter Klasse ausgelegt, vielleicht sogar als teilweises Schuldbekenntnis.«2

Das Medieninteresse war unerhört hoch.3 Die Journalisten aus Bonn klagten nur, dass das Verteidigungsministerium nicht ihre Anreise regeln wollte. Einer von ihnen hatte gar den Verdacht, man wolle »Herrn Wörner […] vielleicht die Peinlichkeit ersparen, dass das Geschehen am Montagabend in der breiten Öffentlichkeit herumgetragen wird.«4

Die Herren wären gerne zahlreich zum Großen Zapfenstreich nach Neustadt geflogen worden. Der Sprecher des Ministeriums, Oberst Jürgen Reichardt, wies allerdings in der Bundespressekonferenz am 23. März darauf hin, der Zapfenstreich in Neustadt sei eben eine »örtliche Veranstaltung«. Das große journalistische und sicher auch öffentliche Interesse daran kommentierte er wie folgt: »Je größer das Interesse, desto weitere Wege nimmt man in Kauf.« Ergo: Wer sehen will, wie der Minister den General verabschiedet, müsse schon den Weg auf sich nehmen.

Am 25. März 1984, dem Abend vor dem Zapfenstreich, traf General Dr. Günter Kießling in Neustadt/Hessen ein. Er hatte sich mit Weggefährten aus seiner Neustädter Zeit verabredet, um noch einmal im kleinen Kreis zusammen sein zu können. Die noch im Dienst befindlichen Hauptfeldwebel sowie eine Schar der Pensionäre kamen zusammen, um ihrem alten Bataillonskommandeur »die Ehre zu erweisen«. Manch einer dürfte früher über den Kommandeur geschimpft und unter ihm gelitten haben. Mit einigem zeitlichen Abstand hatten sie alle aber erkannt, dass Kießling damals vielleicht ein »harter Hund« gewesen war. Aber er war gerecht, fürsorglich und ein geradliniger Offizier, den sie alle schätzen gelernt hatten: »›Keiner von uns hatte auch nur einen Augenblick für möglich gehalten, daß der andersrum sein könnte‹, sagte ein ergrauter Oberstabsfeldwebel. Sie feierten ihren alten Chef bis lange nach Mitternacht«, schrieb Hans Schueler wenige Tage später in der Zeit über diesen Abend.5 Schueler hatte mit Udo Röbel vom Kölner Express und anderen Journalisten diese Abschiedsfeier ausfindig gemacht und sich eingeschlichen. Kießling hatte nichts zu verbergen und ließ sie an diesem familiären Treffen gerne teilhaben.

Der 26. März 1984 war ein kalter, rauer Märztag. Am Morgen übernahm der neue Kommandeur des Panzergrenadierbataillons 142, Oberstleutnant Jürgen Semrau, das Kommando über seine neue Truppe von Oberstleutnant Hans Hirsch. Beim feierlichen Appell dazu stand General Dr. Günter Kießling rechts neben dem Rednerpult, wie weitere ehemalige Kommandeure. Hier genoss er noch einmal das Soldatsein. In einer kurzen Ansprache dankte General Kießling den Soldaten seines Bataillons für die Mühen am heutigen Tage. Dass sie den Zapfenstreich konnten, hatte er bereits in der vorigen Woche beim Vorüben persönlich inspiziert. Seit dem 21. März hatte sich das Bataillon auf den Tag vorbereitet.

Nun stand er, genau 17 Jahre nachdem er selbst dieses Bataillon übernommen hatte, vor der Truppe. Ein grippaler Infekt quälte ihn. Ab 17.00 Uhr füllte sich die Kaserne. Geladene Gäste und Journalisten trafen aus der ganzen Republik ein. Statt auf der Hardthöhe in Bonn gab der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Manfred Wörner, hier in der oberhessischen Provinz dem General Dr. Günter Kießling seinen protokollarischen Abschied aus der Bundeswehr mit dem für Generale seines Ranges obligatorischen Großen Zapfenstreich. Kießling wollte diese Zeremonie dort genießen, wo sich seine »Bindung an die Bundeswehr manifestiert hatte.«6 In Neustadt war er, wie er selbst sagte, während seiner militärischen Laufbahn der glücklichste Mensch gewesen.7 Die Region revanchierte sich mit reger Anteilnahme. Der Presse war schon vorher eine Welle der Sympathie zu vernehmen.8

Rund 350 Personen waren zu dieser Verabschiedung eingeladen. Insgesamt genossen 3000 Gäste dieses »Schauspiel erzwungener Eintracht«9, das als »zum Lachen, komisch oder geschmacklos«10 beurteilt wurde. Hinzu kam das Funktionspersonal: Feldjäger, Personenschützer der Prominenten, Absperrposten, Einweiser und Ordonanzen – mitsamt der üblichen Vorgesetzten zur Überwachung derselben, rund 1000 Mann. Der Abschied begann um 18.30 Uhr mit einem Empfang, den der Minister für den General gab. Normalerweise lud der Minister 250 Gäste auch aus protokollarischen Gründen ein, während der Betroffene – in diesem Falle Kießling – selbst 50 persönliche Gäste einladen durfte. Die Ortswahl sorgte dafür, dass zahlreiche obligatorische Gäste nicht teilnehmen konnten oder wollten. Die zivilen Abteilungsleiter aus dem Verteidigungsministerium sagten geschlossen ab; der Stellvertreter des Generalinspekteurs, der Inspekteur der Marine und Kießlings Vorgänger als Deputy SACEUR11, Admiral a. D. Günter Luther, wollten ebenfalls nicht kommen. Der ehemalige Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Dr. Joachim Hiehle, stand ebenfalls nicht auf der Einladungsliste. Auch die CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten des Verteidigungsausschusses waren nicht geladen, außer Alfred Biehle und Peter Petersen. Der Leiter des Protokolls im Bundesverteidigungsministerium, Oberst Paul-Werner von der Schulenburg, ließ Kießling deswegen einige Wochen zuvor die Gästeliste zukommen und stimmte sie noch mehrfach mit ihm ab.12 So konnte der General »von mir nicht gewünschte Gäste streichen«, ohne protokollarische Regeln zu verletzten oder gar NATO-Gepflogenheiten außer Acht zu lassen. Damit beeinflusste er gezielt den Charakter dieser Veranstaltung: Unter seinen persönlichen Gästen waren unter anderem sein Anwalt Professor Dr. Konrad Redeker, der Journalist Udo Röbel vom Express, Klaus Jürgen Haller vom Westdeutschen Rundfunk und besonders treue Weggefährten wie Brigadegeneral a. D. Hans-Eberhard Boehm. Einige persönliche Freunde Kießlings, wie Generalleutnant Heinz von zur Gathen und Generalarzt a. D. Dr. med. Horst Hennig, und nicht wenige weitere Journalisten waren selbstverständlich ebenfalls dabei.13 Zudem hatte Kießling, unüblich für die Verabschiedung eines Vier-Sterne-Generals, aus alter Verbundenheit nahezu alle Offiziere und die älteren Unteroffiziere des Neustädter Bataillons eingeladen. Damit war keiner der rund 350 Gäste nur aus protokollarischen oder offiziellen Gründen anwesend.

Sie alle drängten sich in der feldmäßig dekorierten Truppenküche der Panzergrenadiere. Die Essensausgaben waren mit Tarnnetzen verhängt, in denen die Wappen der Bataillone und Kompanien zur Dekoration aufgehängt waren. Junge Soldaten des Bataillons trugen in weißen Jacken Tabletts mit Sekt und Orangensaft auf.

Ein aufgeräumt wirkender General Kießling scheint den Empfang zum Großen Zapfenstreich zu genießen. Neben ihm der Journalist Udo Röbel vom Express Köln, dem der General viel zu verdanken hatte.

Sie alle, die obligatorischen wie persönlichen Gäste dieser Veranstaltung, gingen im Defilee an Kießling und Minister Wörner vorbei. Man wechselte die üblichen Worte, manchmal auch sehr persönliche, das ein oder andere Geschenk wurde übergeben. Der Journalist Gisbert Kuhn beobachtet nicht als Einziger, dass Wörner immer dann, wenn Kießling persönliche Worte mit Gästen wechselte, ziemlich verlassen wirkte, und das war oft der Fall. Ihm war anzusehen, dass er unter dieser Isolierung litt. Selbst wenn keine Gäste bei den beiden standen, schwiegen sie. Diese Szene nutzt die ARD abends als Beweis für das gebrochene Verhältnis des Bundesministers zu seinem General, wie der Protokollchef des Bundesverteidigungsministeriums, Oberst Paul-Werner von der Schulenburg, in seinem Diensttagebuch vermerkte.14

Besonders aufmerksam nahmen die Journalisten wahr, wie der Alliierte Oberbefehlshaber in Europa, US-General Bernard Rogers, seinen Untergebenen General Kießling begrüßte. Seine Frau ging voran und begrüßte den deutschen General mit angedeuteten Wangenküsschen links und rechts. Der danebenstehende Minister Manfred Wörner erhielt nur einen. Für die Presse war das ein gefundenes Fressen. »War dies nur eine aufgesetzte Geste oder die typisch amerikanische Unkompliziertheit, mit der Probleme so gern ins Wohlgefallen aufgelöst werden sollen?«, fragte die Stuttgarter Zeitung zwei Tage später.15 Für Kießling ging es nicht um solche Bagatellen: »Der, auf den allein es ankam, General Rogers, fand sich an diesem Abend zu keiner Geste bereit. Weder ich noch er suchten während des folgenden Empfangs die Begegnung«, schrieb Kießling wenige Monate später in seinen persönlichen Erinnerungen an diese Affäre.16 Ein paar höfliche Worte zur Begrüßung. Mehr musste Rogers aber auch nicht sagen. Sie würden sich wenige Tage später in Mons zur offiziellen Verabschiedung Kießlings aus dem NATO-Hauptquartier noch einmal sehen. Rogers’ Rolle in der Affäre blieb hier und später unklar – wenn er überhaupt eine gespielt hat. Wörners Vorgänger, Hans Apel, riet Kießling bei ihrem Aufeinandertreffen, er solle sich nicht verdrießen lassen.17 100 statt der 30 eingeladenen Journalisten bewegten sich derweil raupenartig und unter Blitzlichtgewittern durch den Saal, und verhinderten jedes Durchkommen von Gästen. Das Fernsehen war auch dabei, obwohl das so nicht gewollt war. Nach 30 Minuten beendete Schulenburg die Begrüßungsreihe bei Minister und General. Es machte in dem Gedränge keinen Sinn mehr.18 Das Protokoll übernahm wieder die Regie.

Die anschließenden Ansprachen beschrieb Kießling später wie folgt:

»Wörner begann seine Rede mit der zutreffenden Bemerkung: Dies ist für uns beide keine einfache Stunde. Sie ist von Mißdeutungen nicht gefeit. Schon dafür ist er im Nachhinein von manchem bissigen Kommentar bedacht worden. Ich konnte ihm nur zustimmen. Allerdings hätte ich hinzugefügt, daß er dafür die Verantwortung trägt. Der Minister hielt dann die bei Veranstaltungen übliche Laudatio. Meist hört ja bei derartigen Veranstaltungen niemand hin, wenn der Scheidende auf diese Weise gepriesen wird. Ich habe in meiner Erwiderung dann auch gesagt, daß ich zu oft Gast bei solchen Abschiedsveranstaltungen war und bei Reden eigentlich mehr daran gedacht habe, was ich wohl sagen könnte und würde. Heute aber hatte man den Eindruck, daß jedes Wort des Verteidigungsministers gewogen wurde. Ich war froh, daß er mir im Angesicht meines NATO-Vorgesetzten Rogers mein Eintreten für das Bündnis bescheinigte. Wörner hatte betont, daß wir beide übereingekommen seien, die Ereignisse der letzten Wochen heute nicht zu erwähnen. Jedoch brachte er sein Bedauern zum Ausdruck und fügte zum Schluß ein persönliches Wort, wie er es nannte, hinzu: ›Ich hoffe, daß wir eines Tages wieder das menschliche Einvernehmen haben werden, das unsere Bekanntschaft so lange geprägt hat‹.«19

Oberst von der Schulenburg beschrieb weiter: »Kießling sprach frei, enthusiastisch; Primat der Politik, NATO und Truppe hätten sein Leben bestimmt. […] zum Schluss [dreht er sich] kurz um und berührte fast liebevoll die Fahne des Panzergrenadierbataillons 142, dessen Kommandeur er einst gewesen war.«20

Im Wissen darum, dass jedes Wort von den anwesenden Journalisten kritisch gewogen würde, hatte Kießling sich für eine knappe, gut vorbereite Rede entschieden. Er erklärte, warum der Zapfenstreich in Neustadt stattfand und wieso er gerade diese Musikstücke für die Serenade gewählt hatte: »Mit dem ›Marsch aus Petersburg‹ wollte ich meines längst verstorbenen Vaters gedenken, der mich zum Soldaten bestimmt hatte. Das ›Lied der Marburger Jäger‹ sollte mein Dank an dieses Bataillon sein. Mit der Weise ›Ich hab’ mich ergeben, mit Herz und mit Hand‹ wollte ich mich zu dem bekennen, dem meine ganze Liebe gehört, zu unserem deutschen Vaterland.«21

Nach Kießlings Rede trat Wörner vor das Rednerpult zu, das wie üblich in der Bundeswehr in Schwarz-Rot-Gold gestrichen und mit einem Bundesadler dekoriert war, und reichte dem General, ganz Staatsmann, die Hand. Die Teilnehmer der Veranstaltung applaudierten, und die Presse dokumentierte dies mit einem Foto, das in den nächsten Tagen die Berichterstattung dominieren sollte. Durch eine von Schulenburg und Wörner abgesprochene Verzögerung der Reden konnten diese nicht mehr in den Abendnachrichten um 20 Uhr gesendet werden.22

Trotz seines grippalen Infekts war Kießling froh, als er sich dann dem obligatorischen Small Talk widmen konnte. Jetzt erst nahm er wahr, wie viele Weggefährten, Unterstützer und Förderer seiner Einladung tatsächlich gefolgt waren. Jeden Einzelnen hatte er mit Bedacht eingeladen, und er hatte keinen vergessen, der in den schwierigen Wochen zuvor mit der Berichterstattung, einem persönlichen Brief, einer besonderen Geste oder dem öffentlichen Eintreten für ihn deutlich Position bezogen hatte: Das betraf seinen ehemaligen Divisionskommandeur Wilhelm Meyer-Detring ebenso wie seinen früheren Stellvertreter als Divisionskommandeur, Brigadegeneral Johann Condné, ebenso Generalmajor a. D. Gert Bastian, nunmehr Bundestagsabgeordneter für die Grünen. Hinzu kam noch Dr. Gerhard Jahn, Bundesjustizminister a. D. und nunmehr Bundestagsabgeordneter der SPD für den Wahlkreis Marburg.

Wörner bedankt sich nach Kießlings Rede demonstrativ bei dem General, den er so tief gedemütigt hatte.

Gemeinsam mit Wörner ging der General nach dem Empfang in das nahe gelegene Offiziersheim, um die Zeit bis zum Großen Zapfenstreich abzuwarten. Ein normales Gespräch kam nicht zustande. Wörner wirkte angeschlagen.

Um 20.30 Uhr ging es für die Gäste hinaus auf den Appellplatz. Unter den üblichen Zelten nahmen sie Platz, protokollarisch wohlsortiert. Rogers und General Wolfgang Altenburg, der Generalinspekteur der Bundeswehr, mittig in der ersten Reihe – wie auch Alfred Biehle, der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages.

Kießling und Wörner kamen als Letzte zehn Minuten später auf den Platz. Für Kießling und Wörner war ein kleiner roter Teppich ausgelegt. Wörner stand links, Kießling rechts, als das Heeresmusikkorps 2 aus Kassel in Begleitung von Soldaten des Panzergrenadierbataillons 142, teils mit Waffen, teils mit Fackeln, auf dem Platz zu den Klängen des Marsches des Yorck’schen Korps erschien. Klare Kommandos und zackiges Marschieren wechselten einander ab, bis die Formation in einer stimmungsvollen Prozession ihre endgültige Position eingenommen hatte. Es folgte die Meldung an General Dr. Günter Kießling, gefolgt von der Serenade. Die drei von ihm selbst gewünschten Musikstücke wurden gespielt. Danach folgte der Große Zapfenstreich; so wie immer. Dieses militärische Zeremoniell war und ist üblich bei der Verabschiedung von Generalen und Admiralen. Der Ablauf variiert nur in der Serenade; ansonsten ist er immer gleich.

Dieser Große Zapfenstreich in Neustadt/Hessen war aber anders: Weniger, weil er in der Provinz stattfand, sondern mehr, weil er entgegen der sonst ruhigen, ja beinahe dezenten Atmosphäre in Bonn ein großes Medienecho erzeugte. Und weil er für Kießling eine sichtbare Form der Rehabilitierung war. Er empfand »Genugtuung über diese Form der Rehabilitierung, aber auch einen Rest von Bitterkeit wegen der mir widerfahrenen Behandlung.«23 Und all das ging ihm trotz hohen Fiebers durch den Kopf, als die Musik spielte. Wörner bemerkte den Zustand von Kießling, beugte sich zu ihm herüber und fragte: »Geht’s noch?« Ja, es ging. So eben. Zur Not hätte Oberst Schulenburg einen Stuhl gebracht.24

Nach dem Zapfenstreich wurde die Meute der Reporter wieder losgelassen. Schulenburg hörte Kießling sprechen:

»›Herr Minister, ich danke Ihnen für diese Ehrung!‹ Der Bundesminister sprach dann mit leiser Stimme, die Hände von Dr. Kießling weiter haltend, auf Dr. Kießling ein. Dieser verharrte in soldatischer Haltung, strahlte, schwieg. Der eskortierte Mercedes entführte ihn dann. Wir flogen zurück, froh, diesen Tag hinter uns zu haben.«25

Es war ein denkwürdiger Zapfenstreich, auch wegen des lauten Applauses, den die Zuschauer den abmarschierenden Soldaten spendeten. Es waren irgendwie doch »Kießlings Stunden des Triumphes«26. Klaus Jürgen Haller sagte am 1. April 1984 im Internationalen Frühschoppen dazu, es sei ein eindrucksvolles Erlebnis für Tausende in der Region gewesen. Der Moderator dieser Radio- und Fernsehinstitution der frühen Bundesrepublik, Werner Höfer, schloss an: »Und für Millionen Fernsehzuschauer!« Es war der erste Große Zapfenstreich der Bundeswehr, über den zur besten Fernsehsendezeit – zwar nicht vollständig, aber in Farbe – berichtet wurde. Eines war Kießling und sicher auch jedem, der sich mit der Bundeswehr einigermaßen beschäftigt und die Affäre verfolgt hatte, klar:

»angesichts des mir widerfahrenden Unrechts kam meiner Verabschiedung in der üblichen Form, und das ist nun einmal die des Großen Zapfenstreiches, viel größere Bedeutung zu, als es im Falle meines normalen Ausscheidens erlangt hätte. Der Abschied in dieser Form war für mich, aber bei weitem nicht nur für mich, jetzt sichtbarer Ausdruck der Rehabilitierung.«27

Zu dieser besonderen Stimmungslage passte, dass der Fackelträger neben dem Minister mehrfach seine vom Wind ausgeblasene Fackel neu anzünden lassen musste. Unter den Zelten sagte Oberst Rolf Peter, Kommandeur der MAD-Gruppe, zu dem neben ihm sitzenden Generalmajor Martin Holzfuß: »Im Mittelalter würde man sagen, hinter dem ist der Teufel her!«28 Es war »Ein Abend mit viel Gespenstischem«, und »Auch beim Zapfenstreich schmolz das Eis nicht mehr«.29

Nach dem Zapfenstreich verließen die meisten geladenen Gäste die Kaserne. Kießling hingegen traf sich danach noch einmal mit Freunden, wie am Vorabend. Dieses Mal mit denen, die ihm in den vergangenen Monaten nicht nur zur Seite gestanden, sondern mit ihren Mitteln und Möglichkeiten an der Kampagne zu seinen Gunsten teilgenommen hatten: Konrad Redeker war dabei, der brillante Bonner Verwaltungsjurist und Kießlings Anwalt in der Affäre; Horst Hennig, wie Kießling ehemaliger Heeresunteroffiziervorschüler und guter Freund; Heinz von zur Gathen, einer der wenigen Generalkameraden, der Kießling duzte. Generalmajor Martin Holzfuß, ebenfalls ehemaliger Heeresunteroffiziervorschüler, blieb als Befehlshaber im Wehrbereich IV in Mainz während der Affäre zwar anfänglich auf Distanz, hatte aber bei seinem Neujahrsempfang eine eindeutige Ehrenerklärung für Kießling abgegeben. Hinzu kam auch Mainhardt Graf von Nayhauß, wie Kießling früher Angehöriger der Spandauer NAPOLA, der noch lange als Kolumnist in der Bild aus dem politischen Bonn berichtete. Christa Krähe, eine von Kießlings Sekretärinnen, erlebte in dieser Runde den harmonischen Abschluss eines doch recht merkwürdigen Abends, wie sie dem General schrieb:

»der offizielle Teil des Abends trug teilweise peinliche Züge. […] Ich weiß nicht, was Sie beim Zapfenstreich empfunden haben, mich bewegt er immer wieder aufs Neue. […] der Umtrunk nach dem Zapfenstreich war eine besonders nette Geste Ihrerseits. Was für eine illustre Gesellschaft! Wir hatten alle eins gemeinsam: Die Verbundenheit mit Ihnen. Es muss doch für Sie ein erhebendes Gefühl sein, so viele gute Freunde zu haben – auf all die anderen können Sie doch gut verzichten! Ihren alten Hauptfeldwebel[n] vom Bataillon habe ich meinen Chef als ›Bilderbuch-Feldwebel‹ beschrieben.«30

Der »Bilderbuchfeldwebel« Günter Kießling war gerührt von der Anteilnahme. Aber diese Charakterisierung, die Christa Krähe ihrem alten Chef aufdrückte, war mehr als nur Verehrung. In ihr kam zum Ausdruck, wie sehr sie Kießling immer noch als Soldaten durch und durch sah, der alles von der Pike auf gelernt hatte. Manchmal war er jedoch mehr pedantischer Feldwebel als generöser General, wie viele wussten und was ihm lange Zeit nachhing und andere ihm nachtrugen.

Die Berichterstattung der folgenden Tage stellte noch einmal summarisch den Ablauf der Affäre dar, und bei allen fanden sich die wesentlichen Aussagen vom Empfang wieder. Normale Berichterstattung also. Manches, was die Journalisten erfuhren, und gerade diejenigen, die diesen Skandal von Beginn an verfolgt hatten, dürfte nicht druckreif gewesen sein. Klaus Jürgen Haller vom Westdeutschen Rundfunk notierte in sein Tagebuch:

»Staatstheater, weil man einen General nicht sang- und klanglos verabschieden kann. Nicht einmal das wußten die Helden auf der Hardthöhe. Kießling schien aufgekratzt im Pulk der Journalisten. Trotzdem sonderte er vornehmlich Sentenzen ab, als handele es sich bei dem Skandal im Januar um ein Lehrstück staatsbürgerlicher Bildung. ›Am Primat der Politik bin ich nie irre geworden.‹ […] ›Natürlich hat die Demokratie Schwächen, aber auch Lösungsmechanismen: eine freie Presse und eine unabhängige Justiz, das Untersuchungsrecht des Parlaments.‹ Aber dann: ›Eine Rehabilitierung kann man nicht erzwingen. Für mich ist das heute eine Genugtuung, aber ich scheide mit Bitterkeit aus dem aktiven Dienst.‹ Es ist zum Verrücktwerden, aber trotz Wörner- und Lambsdorff-Affäre behaupten die Demoskopen, Kohl stünde besser da als je zuvor. Dabei ist dieser Kanzler mit dem Weihrauchgewedel der moralischen Wende angetreten und sorgt dafür, daß der aufrechte Gang abgeschafft wird. ›Wir lieben das Leben und die Lebensfreude.‹«31

Spät abends fuhr Kießling nach Koblenz, wo er – wie immer – eine sparsame dienstliche Unterkunft im Zentrum Innere Führung einem Hotel vorzog. Am nächsten Morgen ging es nach Bonn zum Bundespräsidenten. Der 25-minütige Abschiedsbesuch dort war die formalprotokollarische Pflichtübung eines Vier-Sterne-Generals. Es hätte auch bei einem früheren Botschafter oder Kabinettsmitglied so gewesen sein können. Bundespräsident Karl Carstens war nicht bekannt für besonders intime Gespräche. Und so bewegte sich das Gespräch neben den üblichen Floskeln, nur weil Kießling es so ansprach, in eine sehr persönliche Richtung. Kießling »wertete diesen Abschiedsbesuch als einen wichtigen, vielleicht den wichtigsten Teil seiner Rehabilitierung«.32 Er betonte die Bedeutung des Rechtsstaates und der Medien, die ihm in diesem »Skandal« sehr geholfen hatten. Dennoch war noch nicht alles im Reinen:

»General Dr. Kießling beschrieb, daß der De-jure-Rehabilitierung leider keine De-facto-Rehabilitierung gefolgt sei; im Kreise der Kameraden würde er immer noch belastet dastehen. Daran ändere nichts, daß – wie auf der Kommandeur-Tagung in Travemünde geschehen – einige Generäle für ihn das Wort geredet hätten: bei diesen Generälen hätten parteipolitische Gründe bei ihrer Stellungnahme eine Rolle gespielt.«

Steifes Protokoll. Bundespräsident Karl Carstens empfing General Kießling zum obligatorischen Abschiedsbesuch in der Villa Hammerschmidt am 27. März 1984.

Dies allerdings war keineswegs so. Kießlings Freund, Generalleutnant Heinz von zur Gathen, besaß keine eindeutigen parteipolitischen Präferenzen, und lediglich der sich dabei zu Wort meldende Kommandierende General des I. Korps, Generalleutnant Dr. Gerhard Wachter, ein gelernter Tierarzt, galt als SPD-Mann.

Carstens selbst beschrieb es später ebenfalls sehr differenziert: »Eines der mich am meisten bedrückenden Gespräche führte ich im März 1984 mit General Günter Kießling. Ich hatte ihn auf Vorschlag des Bundesverteidigungsministers in den Einstweiligen Ruhestand versetzt, da Kriminalpolizei und Militärischer Abschirmdienst schwerwiegendes Material gegen ihn vorgelegt hatten, das seine persönliche Lebensführung betraf. Doch stellte sich später heraus, dass dieses Material auf äußerst schlampigen Ermittlungen beruhte und nicht hätte verwendet werden dürfen. Dem General war dadurch bitteres Unrecht zugefügt worden. Nach seiner vorzeitigen Entlassung war er dann freilich wieder ernannt und damit rehabilitiert worden. Am 1. April 1984 trat er, wie lange vorher vereinbart, in den Ruhestand.«33 Bei dieser Beschreibung des Abschiedsbesuches benutzte Carstens genau diejenigen Begriffe, die auch Bundeskanzler Kohl bei der Bundespressekonferenz am 1. Februar 1984 verwandt hatte. Damit bewegte sich der Bundespräsident auf den von der Bundesregierung geebneten protokollarischen Bahnen. Dennoch war die Beteiligung des Bundespräsidenten an der Affäre nicht zu leugnen, weil er eben den Pensionierungsvorschlag des Bundesverteidigungsministers vollstreckt hatte. Carstens leugnete dies in seinen Memoiren nicht:

»Ich hatte an allen Entscheidungen mitgewirkt, ja die letzte Verantwortung getragen, und ich stellte mir damals und noch heute [1992/93, d. Verf.] die Frage, ob ich die Ergebnisse der Recherchen der Polizei hätte nachprüfen lassen sollen. In diesem Falle wäre es nötig gewesen. Aber woran konnte ich erkennen, daß die Polizei [tatsächlich aber eher der MAD und Angehörige des Ministeriums, d. Verf.] pflichtwidrig gehandelt hatte? Jedenfalls dankte ich General Kießling für die Dienste, die er unserem Land als Soldat geleistet hatte. Kießling dankte für den Empfang bei mir, sagte aber mit einer gewissen Bitterkeit, daß er im Kreise der Kameraden nicht als voll rehabilitiert betrachtet werde.«34

Und dieses Verhalten der Generalskameraden sollte Kießling noch viele Jahre begleiten und belasten.

Nach diesem Protokollakt warteten vor der Villa Hammerschmidt wieder Journalisten, denen er lediglich sagte, dass er »den Empfang durch das Staatsoberhaupt als bedeutenden Schritt zu meiner Rehabilitierung betrachte«.35

Mittags lud General Wolfgang Altenburg Kießling zu einem Mittagessen ein. Kießling wählte als seine Begleitung Ursula Gräwitz aus. Sie war als Sekretärin in der Abteilung Personal des Bundesverteidigungsministeriums in den letzten Jahren immer wieder mit Kießling und seiner Personalakte befasst. Dank ihr kam wenigstens ein Tischgespräch zustande, das beiden Männern angesichts der zurückliegenden Zeit doch recht schwerfiel.

Danach sprach Kießling noch einmal kurz mit Wörner in dessen Büro. Er beklagte, dass er sich lediglich formal rehabilitiert sehe. »Eine de facto-Rehabilitierung könne man ja auch nicht erzwingen. Aufmerksam und nicht ohne Sorge würde ich das Verhalten meiner früheren Kameraden beobachten. Dabei ließ ich es aber bewenden.«36 Auch wenn sich diese beiden Männer damals wohl nicht wirklich viel zu sagen hatten, dauerte das Gespräch dennoch 30 Minuten.

Am 30. März verabschiedete General Bernard Rogers, der NATO-Oberbefehlshaber in Europa, seinen Stellvertreter. Protokollarisch genau definiert und minutiös geplant. Kießling traf zur befohlenen Zeit mit dem Wagen vor dem Hauptgebäude ein, schritt eine Ehrenformation ab – inklusive der mit angetretenen Generale –, und anschließend gab es noch einen kleinen Empfang mit dem unvermeidlichen Geschenk. Hier, wie auch schon vorher, war das Verhalten deutscher Generale im Hauptquartier in Mons durchaus merkwürdig. Ein deutscher Brigadegeneral drängte sich zu Kießling durch und sprach ihn mit den Worten an, man käme ja gar nicht an ihn ran. Das ärgerte Kießling, der diesen jungen Kameraden sogleich abbürstete: »Hätten Sie es mal im Januar versucht, da war es leichter und ich habe mich damals über jeden Gruß eines Generals gefreut.« Dieser entgegnete: »Wir mussten eben damals alle sehr vorsichtig sein.« Kießling: »Dann seien Sie weiter vorsichtig!«37

Rogers gewährte Kießling noch ein 20-minütiges Gespräch unter vier Augen. Besonders persönlich war es nicht. Er drückte aus, dass er nicht hoffe, zur Affäre etwas beigetragen zu haben. Kießling antwortete knapp: »So do I.«38

Kießling übernachtete abends beim britischen DSACEUR, General Sir Peter Terry, der von sich aus und aus persönlicher Verbundenheit diese Übernachtungsmöglichkeit meinte anbieten zu müssen. Ein Hotel kam nicht infrage. Aber auch keiner der deutschen Generale bot Kießling sein Heim an. Kießling genoss diesen letzten Abend in Mons mit Sir Peter und dessen Frau. Am nächsten Morgen fuhr er weiter nach Brüssel: »Tief enttäuscht verließ ich dieses Hauptquartier, das ich vor zwei Jahren mit so großen Hoffnungen und gutem Willen betreten hatte.«39

Ganz im Gegensatz zur sehr formalen Verabschiedung aus seiner Verwendung als DSACEUR war das Mittagessen mit dem britischen Vertreter im NATO-Militärausschuss, Generalleutnant Sir Thomas Morony, geradezu herzlich. Lag das nur daran, dass sich beide seit nunmehr 20 Jahren, seit Kießlings britischer Generalstabsausbildung in Camberley und der anschließenden gemeinsamen Zeit im Hauptquartier der Northern Army Group in Rheindahlen von 1964 bis 1966,40 kannten? Sogar der niederländische NATO-Generalsekretär Joseph Luns hatte Kießling zum Abschied zum Gespräch gebeten und sich mit ihm sogar in deutscher Sprache unterhalten. Der Vorsitzende des Militärausschusses, der niederländische General Cornelis de Jager, blieb bei seinem Abschiedsgespräch mit Kießling hingegen eher formell.

Wenig schön. General Rogers und Kießling mit dem überdimensionierten Abschiedsbild für den deutschen General.

Der kommende Tag, der 31. März 1984, war der letzte Tag der militärischen Dienstzeit von General Dr. Günter Kießling. Am 1. April würde er unweigerlich Zivilist sein. Ein harmonischer Abschluss seiner beeindruckenden militärischen Karriere stand nach all dem Protokoll noch aus. Er erhielt ihn in Rendsburg. Brigadegeneral Wolfgang Gerhardt, Chef des Stabes der Alliierten Landstreitkräfte Schleswig-Holstein und Jütland, im NATO-Jargon »LANDJUT«, einer der wenigen Freunde aus dem 4. Generalstabslehrgang, organisierte in Rendsburg ein »Familienfest«. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel war zu Gast, ebenso der SPD-Bundestagsabgeordnete Horst Jungmann und die junge Parlamentarierin Heide Simonis, die ihren Wahlkreis in Rendsburg hatte. Auch der frühere Ministerpräsident und Vorvorgänger Barschels Helmut Lemke war dabei. Sie alle hatten in der Affäre den Kontakt zu Kießling wenn nicht gehalten, so doch nie Zweifel an seiner Gesinnung geäußert. Barschel hielt ein kleines »Grußwort«. Er hatte sich während der Affäre nicht, wie sein Landesvorsitzender Gerhard Stoltenberg und dessen Stellvertreter und Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Peter Kurt Würzbach, weggeduckt. Barschel hatte Kießling geschrieben und sich öffentlich zu ihm bekannt. Nun konnte er abschließen mit dieser Affäre:

»Ich bin, als andere Sie in eine quälende Affäre hineinzogen, nie von meiner Meinung abgerückt, daß General Kießling ein Soldat von untadeliger Gesinnung ist. Mancher mag sich heute fragen, woher Sie die Kraft genommen haben, diese schweren Wochen durchzustehen. Sie haben auf die vielen Gerüchte und bösen Unterstellungen nahezu bis zur Selbstverleugnung hin geschwiegen. Sie haben sich verteidigt, ohne anzugreifen, obwohl Sie manchen Grund zum Angriff auf Andere gehabt hätten.«41

Bei aller Freude, die Barschel empfunden haben könnte, ganz so war es nicht: Kießling hat angegriffen, und zwar nachhaltig und öffentlich wirksam.

Auf Kießlings Bitte spielte das Heeresmusikkorps 6 aus Hamburg in nächtlicher Atmosphäre eine Serenade und den Kleinen Zapfenstreich. Ab 24 Uhr war er Pensionär und konnte sich den schönen Dingen widmen. Sein Haus in Rendsburg, das er einige Jahre zuvor gekauft hatte, war bestellt. Antiquitäten und Bücher stellten die wesentlichen Ausstattungsgegenstände dieses gebildeten Offiziers dar.

Das war das Ende einer fast 40-jährigen militärischen Karriere. Sie führte den aus einfachen Verhältnissen kommenden Günter Kießling vom Unteroffiziervorschüler der Wehrmacht 1940 zum Vier-Sterne-General der Bundeswehr 1982. Er hat »von der Pike auf« gedient und gezeigt, dass er den »Marschallstab im Tornister« hatte. Jeder andere General der Bundeswehr wäre glücklich gewesen, seine Karriere mit dem höchsten Dienstgrad beenden zu dürfen und dabei nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder an einem Krieg teilnehmen zu müssen.

Seine Bilanz fiel zwiespältig aus: »Mein Abschied von der Bundeswehr wurde von einem Konflikt überschattet, der die negative Bilanz zwischen dem Soll und dem Ist soldatischer Haltung hat erkennen lassen.« Wie ein roter Faden sollte sich durch seine Memoiren und seine Niederschrift Meine Entlassung »meine Enttäuschung« ziehen, »die ich wegen vermisster kameradschaftlicher Verbundenheit empfinde«.42

Allein die Umstände jedoch, die zu dieser mehrteiligen Verabschiedung an fünf Orten geführt hatten und wie aus einer etwas vorgezogenen Zurruhesetzung eines verdienten Generals ein handfester Skandal wurde, zeigen auf, dass Günter Kießling kein gewöhnlicher General war. Er war so gar nicht wie die anderen. Er musste eine in der deutschen Militärgeschichte und in einem Rechtsstaat bislang einzigartige Affäre durchleben, die durch wichtigtuerische Schwätzerei ausgelöst und durch Schlampigkeit beinahe aller beteiligten Stellen bis hinauf zum Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner gekennzeichnet war. Diese Affäre ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bislang beispiellos. Vieles aus ihr ist bekannt; wenigstens in Gerüchten. Sie werden oftmals aus Unkenntnis der wahren Hintergründe – teilweise bis in die heutige Zeit – weiter kolportiert. Und dennoch liegt vieles noch im Dunkeln.

IIVom Werden einer Affäre

General Rogers, der »Vizekönig von Europa«, und sein (deutscher) Stellvertreter

In der NATO-Kommandostruktur gab es bis 1990 drei militärische Oberkommandierende. In Norfolk/Virginia amtierte der Supreme Allied Commander Atlantic (SACLANT). Dies war stets ein amerikanischer Admiral, dessen Terrain der Nordatlantik nördlich des 23. Breitengrades war. In Northwood, Südengland, regierte ein britischer Admiral als Commander-in-Chief Channel (CINCCHAN) als militärischer Herrscher über das Inselreich, den Kanal und auch Teile der Nordsee. Und im kleinen belgischen Örtchen Casteau bei Mons, eine Autostunde südlich von Brüssel, herrschte der Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) als Oberbefehlshaber der NATO in Europa.1

Dieser Dienstposten war seit seiner Gründung stets mit einem amerikanischen Vier-Sterne-General besetzt. Der erste SACEUR war General of the Army Dwight David Eisenhower. Er und seine Nachfolger wären im Kriegsfall die höchsten militärischen Vorgesetzte für alle Soldaten der NATO vom Nordkap bis nach Sizilien, vom Kap Trafalgar vor Portugal bis nach Ostanatolien gewesen, verantwortlich für alles Militärische auf dem westeuropäischen Festland bis zum Eisernen Vorhang. In Personalunion war der SACEUR gleichzeitig Oberbefehlshaber aller amerikanischen Truppen in Europa. Damit repräsentierte er nicht nur die größte Militärmacht in Europa, die die USA stellte, sondern auch die militärische Bedeutung der USA für das Bündnis. Diejenigen Personen, die von den USA für den Dienst als SACEUR ausgewählt wurden, besaßen zuvor exponierte und höchste Stellen im US-amerikanischen Militär.

Um die Bedeutung der USA für die NATO zu unterstreichen, nahm in der Kommandostruktur von SHAPE ein zweiter Vier-Sterne-General der US-Streitkräfte die Position des Chefs des Stabes ein. Bei ihm liefen alle Arbeitsbeziehungen zusammen. Er arbeitete allein dem SACEUR unmittelbar zu und führte das Hauptquartier nach seinen Weisungen.

Bis 1978 war es das Privileg der Nuklearmacht Großbritannien, allein einen stellvertretenden SACEUR (DSACEUR) zu stellen. Dieser Dienstposten hatte seine Bewandtnis ganz offenkundig darin gehabt, dass Großbritannien als ehemalige Großmacht in der NATO exponierte und repräsentative Posten für sich reklamierte. Der erste britische DSACEUR war der prominenteste General des ehemals britischen Empire, Feldmarschall Bernard Law Montgomery2, Viscount of Alamein. Für ihn fand sich in den britischen Nachkriegsstreitkräften weder eine angemessene Verwendung, noch wollte man ihn in London länger als Chef des Generalstabs halten. Also »beförderten« die Briten diesen namhaften Kriegshelden 1949 zum ersten DSACEUR. Als König ohne Land und Befugnisse in SHAPE war der ihm vorgesetzte NATO-Oberbefehlshaber in Europa damals kein Geringerer als sein früherer Vorgesetzter in Kriegszeiten, General Eisenhower.

Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Bundeswehr konnten in SHAPE bis 1978 kaum bedeutende Positionen besetzen. Nur wenige Generale der westdeutschen Streitkräfte erreichten als Deputy Chief of Staff Plans and Operations (DCOS Plans and Ops) und faktische Nummer 3 eine wirklich wichtige Stellung im Bündnis. Und diejenigen, die diesen Dienstposten innehatten, machten alle noch Karriere: Hans-Henning von Sandrart, DCOS Plans and Ops von 1983 bis 1984, war nur einer von ihnen.

Bis 1978 war damit unübersehbar, dass Großbritannien gemessen an der Größe seiner Streitkräfte bei der Besetzung von Spitzenstellen überproportional begünstigt war. Deswegen spielten die Briten militärpolitisch eine bedeutendere Rolle als die Bundesrepublik und zeigten dies immer wieder gerne. Generalleutnant Gerd Schmückle3, 1976–78 Direktor des Internationalen Militärstabes im NATO-Hauptquartier in Brüssel, störte sich an der geringwertigen Rolle der Bundeswehr im Bündnis. Er ließ einen seiner Mitarbeiter die Generalssterne in den NATO-Hauptquartieren zählen. »Das Ergebnis, das mir vorgelegt wurde, sprach Bände: Amerikanische Generale trugen 73, britische 66, deutsche nur 24 dieser Sterne.«4 Dies entsprach nach Schmückles Empfinden nicht der Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland für die NATO. Immerhin stellte die Bundeswehr nach den US-Streitkräften in Europa die zahlenmäßig größten Streitkräfte des Bündnisses. Schmückle konnte den damaligen Verteidigungsminister Georg Leber für die Idee gewinnen, einen hochrangigen, aber nicht besonders exponierten Posten in SHAPE zu fordern. Der damalige SACEUR, General Alexander Haig, unterstützte Leber bei dem Wunsch einen zweiten Stellvertreter für den NATO-Oberbefehlshaber in Europa zu schaffen.

Der erste deutsche General, der diesen Dienstposten bekleidete, konnte aus Schmückles Sicht nur einer sein: er selbst. Der selbstbewusste schwäbische General, der seit seiner Zeit als Pressesprecher von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß zwischen 1956 und 1962 auch der interessierten Öffentlichkeit bekannt geworden war, galt als ideale Besetzung dieses nicht besonders bedeutenden Dienstpostens. Streng genommen war er nichts anderes als ein militärischer Botschafter der Bundesrepublik in diesem Hauptquartier. Durch seine Persönlichkeit, sein diplomatisches Gespür und militärpolitisches Verständnis sowie nicht zuletzt durch seine vollkommen unpreußische Art gewann er schnell das Vertrauen und ständigen Zugang zu General Haig – und damit Einflussmöglichkeiten, die er behutsam nutzte. Die gute Zusammenarbeit zwischen dem SACEUR und seinem deutschen Vertreter sollte aber nur für dieses »Traumpaar«5 gelten.

Als Nachfolger von Schmückle kam 1980 Admiral Günter Luther als DSACEUR ins NATO-Hauptquartier. Der ehemalige Inspekteur der Marine und ausgebildete Kampfflugzeugführer musste schnell erkennen, dass er einen reinen Quotenposten ohne Ansehen und ohne Aufgaben besetzte. So konzentrierte sich Luther auf das, was ihm persönlich wichtig war: Noch heute erzählen Zeitzeugen, dass er lieber auf dem Golfplatz sein Handicap verbesserte, als sich militärischer Arbeit zu widmen. Dass er sich auf diese Nebensächlichkeit konzentrieren konnte, lag allein am damaligen SACEUR, dem seit 1979 amtierenden General Bernard Rogers.6

Das Leben und Arbeiten in SHAPE vergleichen Zeitzeugen ein wenig mit dem höfischen Leben Ludwigs XIV. in Versailles: Unzählige Menschen mit Pöstchen und Pfründen gingen ein und aus, aber wirklich zählen tat nur die Nähe zu Rogers. Da alle gut bezahlt wurden, war die Stimmung bestens. Ein Fest jagte das andere. Für Tratsch und Gerüchte war dies der ideale Nährboden. Der »Vizekönig« an der Spitze sah sich als Nachfolger des legendären General Eisenhower, trug dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika direkt vor, hielt Reden im Kongress und war schließlich Chef und oberster Vorgesetzter der mächtigsten Armee des Westens in Europa. Er hatte sein eigenes Flugzeug, bewohnte ein üppiges Schloss, und an der Tür seines Büros hing bei seiner Anwesenheit eine Tafel, deren Aufschrift sein persönliches Selbstverständnis ausdrückte: »The SACEUR is in his Office and the World is in Peace!«7

Rogers war vor 1979 Chief of Staff der US Army gewesen und lenkte danach ab 1979 bis 1987 als SACEUR alle operativen Geschicke, Planungen, Weiterentwicklungen und militärpolitischen Beziehungen der NATO-Staaten in Europa. Durch seine Zweitfunktion als Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Europa (US European Command, USEUCOM) und erster Ansprechpartner des Pentagons war er nicht nur für Kießling der »Vizekönig«8 von Europa oder der »NATO-Platzhirsch aus Amerika«9. Die Deutschen DSACEURs waren lediglich – so sah es Kießling – ein »Titularbischof«.10 Vor allem hatten Kießling und viele andere den Eindruck, dass das Amt des SACEUR nur die Zweitaufgabe von Rogers war und seine Stellung als Oberbefehlshaber des USEUCOM die eigentlich wichtigere gewesen sei. Kießling hatte über seine »Grenzen und Möglichkeiten« als DSACEUR »keine Illusionen«.11

Rogers vermittelte mehr als seine Vorgänger den Eindruck, dass die wirklich wichtigen Arbeiten im Bündnis und seinem europäischen Hauptquartier nur durch Amerikaner und einige wenige Briten erledigt wurden. Er hielt das Hauptquartier mit einer großen Anzahl untätiger Generale und Offiziere für völlig überbesetzt. Die von Griechen, Türken, Italienern, Belgiern und Portugiesen oder den Niederlanden entsandten Spitzenmilitärs hatten in diesem Hauptquartier wenig zu melden, viele konnten nicht mal richtig Englisch. Im Juli 1980 setzte Rogers deswegen eine Arbeitsgruppe für einen »Review of the SHAPE Staff Organizational Structure« ein. Sie unterstand Rogers Vertreter, nicht dem DSACEUR, sondern dem amerikanischen Chief of Staff unmittelbar und erarbeitete ein neues Strukturmodell für SHAPE »without regard on national representation«. Und dies, obwohl nahezu alle Nationen einen Vertreter in die Arbeitsgruppe entsandt hatten. Sollten sie also der Reduzierung ihrer Stellen zustimmen? Der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Jürgen Brandt, ließ Rogers frühzeitig wissen, dass »er hinsichtlich des deutschen Anteils an der Spitzenstellenbesetzung bei SHAPE keine Änderung akzeptieren würde/werde, was bedeutet, dass DSACEUR und DCPO [Deputy Chief of Staff Plans and Operations] bei unveränderter Dotierung (Anzahl der Sterne) deutsche Dienstposten bleiben sollten und die Besetzung der Stelle des COFS [Chief of Staff] von deutscher Seite nicht angestrebt wird.« Rogers fragte nach, wer das so will? Brandt klärte ihn auf, »dass diese Auffassung des Ministers unumstößlich sei«. Als Rogers dennoch wenigstens die stellvertretenden Chefs des Stabes aus Italien und Deutschland zu streichen versuchte, setzte der deutsche Vertreter in der Arbeitsgruppe

»weisungsgemäß die Aufnahme folgender Fußnote hierzu im gleichen Bericht durch: ›The GE and the IT national representative took note of the guidance recieved und reserved the position of their national authorities since the post of the DSACEUR and the Deputy Chiefs of Staff are subejct to political decision only‹ […].«12

Wenn Rogers an seinen Änderungswünschen festhalten und diese im NATO-Rat mit den Verteidigungsministern diskutieren wollte, würde er dort eine Niederlage riskieren.

Die Arbeitsgruppe tagte noch mehrfach, und die Beteiligten unterrichteten ihre Vorgesetzten. Ein Jahr vor Kießlings Versetzung ins SHAPE kam es im Sommer 1981 zu intensiver Kommunikation auch zwischen Brandt und Rogers wie auch Minister Apel. Die deutsche Seite wies mehrfach darauf hin, dass der SACEUR vielleicht die deutsche Haltung falsch verstanden haben könnte. Den deutschen Verteidigungsattaché an der Botschaft in Washington unterrichtete das Bundesverteidigungsministerium, dass es an einer Lösung mit dem Beibehalt der beiden Dienstposten für die Generale gelegen sei. Der Attaché solle im amerikanischen Verteidigungsministerium klären, ob die »schwer verständliche harte Haltung des SACEUR möglicherweise auf höhere Weisung zurückzuführen ist«. Ebenso solle er dort verdeutlichen, dass Verteidigungsminister Apel das Verhalten Rogers sowohl als schädlich für das gute deutsch-amerikanische Verhältnis betrachte als auch für eine Störung der Zusammenarbeit im Bündnis ansehe. Zum Ende des Schreibens folgte die eigentliche Drohung gegen Rogers:

»Da das Problem aber inzwischen in Mons und Brüssel von vielen Leuten offen diskutiert werde, seien Indiskretionen auf längere Sicht nicht mehr auszuschließen. Auch unter diesem Gesichtspunkt sei es wichtig, das Problem rasch und für beide Seiten zufriedenstellend zu lösen.«

Tatsächlich blieb es bei der alten Struktur, wobei unklar ist, ob Rogers von sich aus dem deutschen Drängen nachgab oder diese Drohung beherzigte.13

Kießling und sein Weg zum Deputy SACEUR

Welchen deutschen General sollte man als nominellen Vertreter von General Bernard Rogers als Deputy SACEUR nach SHAPE entsenden? Am besten einen, der sich der Geringfügigkeit seiner Aufgabe und der Bedeutungslosigkeit seiner Person bewusst war und gar nicht versuchte, eine große Rolle zu spielen, der trotzdem um die Rolle der Bundesrepublik im Bündnis weiß und taktvoll und zurückhaltend versuchte, hier und da Einfluss geltend zu machen. Dies konnte freilich nur gelingen, wenn er in SHAPE entweder gar keine oder keine wirklich bedeutsame Aufgabe besaß. So war es bei Schmückle und bei Luther der Fall und auch der dritte deutsche DSACEUR, General Dr. Günter Kießling, hatte keine wirklich wichtige Aufgabe im NATO-Hauptquartier.

Kießling selbst, 1925 in Frankfurt/Oder geboren, trat als Sohn eines früheren Reichswehrfeldwebels vor seinem 14. Geburtstag in die Spandauer Nationalpolitische Lehranstalt (NAPOLA) ein.14 Aus sparsamem Haushalt stammend, erhielt er hier bereits sein militärisches Koordinatensystem: Klare Tagesabläufe, Befehl und Gehorsam sowie das Leben in einer männerdominierten Gesellschaft sollten letztlich bis zu seinem Lebensende die Grundkonstanten in seinem Leben sein. Die NAPOLA in Spandau verstand sich dabei durchaus als Fortsetzung der Kadettenanstalten der preußischen Armee: Neben militärischem Drill stand vor allem militärisch Selbstverständliches im Vordergrund. Mit 14 Jahren wechselte er in die neu begründete Heeresunteroffiziervorschule nach Dresden, um sich vollends dem Soldatenberuf zu verschreiben. Den Krieg erlebte er erst als Soldat der Jägertruppe. Am 20. April 1945 wurde er endlich zum Leutnant befördert. Aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, weil man ihn offensichtlich noch für ein Kind hielt, kehrte er zu seiner Mutter nach Berlin zurück, hielt sich mit verschiedenen Handwerkstätigkeiten über Wasser und absolvierte »berufsbegleitend« unter extremen wirtschaftlichen Bedingungen in Berlin das Abitur. Danach folgte ab 1948 in Berlin, Hamburg und Bonn das Studium der Volkswirtschaft, das er 1954 als Diplomvolkswirt in Bonn abschloss. Er trat danach in den Bundesgrenzschutz ein, der in seinem Selbstverständnis die alte Wehrmacht mit ihrem kommisshaften Selbstverständnis wieder aufleben zu lassen schien.

1956 in die Bundeswehr übernommen15, bewegte er sich im engsten Umfeld von Wolf Graf von Baudissin16, dem geistigen Vater der Inneren Führung. Baudissin war es auch, der Kießling den Zugang zur Generalstabsausbildung ermöglichte. Nach einer Zeit als Personaloffizier (S1) in der Kampfgruppe C1 bzw. in der später so benannten Panzergrenadierbrigade 4 in Göttingen sowie als Chef der Stabskompanie dieser Brigade besuchte er von Herbst 1961 an den 4. Generalstabslehrgang des Heeres an der Führungsakademie der Bundeswehr (FüAk). Diesem Lehrgang gehörten auch die späteren Generale Jürgen Brandt, Heinz von zur Gathen, Gerd-Helmut Komossa, Hans Kubis und Meinhard Glanz an – alle sollten irgendwie in seinem Leben noch eine Rolle spielen.

Den Lehrgang musste Kießling im Januar 1963 abbrechen, weil er ganz offenkundig durch die Liaison zu einer jungen Offizierstochter das Missfallen ihres Vaters, eines Obersten der Luftwaffe, erregt hatte.17 Er sorgte mithilfe anderer vorgesetzter Offiziere für die Entfernung Kießlings aus dem Lehrgang, letztlich wegen Übertretung der Hausordnung. Nicht übersehen sollte man dabei jedoch, dass Kießling bereits 37 Jahre alt war, während die junge Dame mit 20 Jahren noch nicht die Volljährigkeit erreicht hatte. Diese Affäre sollte ihn 1984 noch einmal einholen.

Ungeachtet dieses Zwischenfalls machte Kießling dennoch eine beeindruckende Karriere. Begünstigt durch tatkräftige Unterstützung aus der Heeresgeneralität – vom Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr Generalmajor Ulrich de Maizière bis hin zum zuständigen Unterabteilungsleiter Heer in der Personalabteilung im Ministerium, Brigadegeneral Josef Moll – halfen viele dem jungen Kameraden über diesen persönlichen Tiefschlag hinweg. Er konzentriere sich fortan offenkundig auf seinen Dienst und durchlief in schneller Folge und nach Besuch des britischen Generalstabslehrgangs – quasi ein Trostpflaster der Personalführung – Generalstabs- und Truppenverwendungen und wurde in nicht einmal fünf Jahren ab 1966 über die wegweisenden Verwendungen als Kommandeur des Panzergrenadierbataillons 62 (später 142) in Neustadt/Hessen, als Chef des Stabes der 2. Panzergrenadierdivision in Marburg und Kommandeur der Panzerbrigade 15 in Koblenz bereits 1971 zum Brigadegeneral befördert. Damit standen ihm alle Wege offen. Frühzeitig wurde er für Verwendungen deutlich oberhalb des Dienstgrades Generalmajor gehandelt.18 Er hatte sich bis dahin in den wesentlichen Führungsgrundgebieten profiliert: Er war sowohl ein anerkannter Truppenführer als auch ein Personalfachmann, ausgewiesen durch seine Zeit im Bundesverteidigungsministerium in der Unterabteilung Innere Führung (1956–58) sowie später als Stellvertreter des Abteilungsleiters Personal (1977–79) im Verteidigungsministerium. Seine Verwendungsbreite war überzeugend und durch den Besuch des Royal College for Defense Studies in London und seine Promotion in Volkswirtschaft 1957 vorteilhaft untermauert. Die Ernennung zum Generalleutnant und Commander Landforce Jutland (COMLANDJUT) ab dem 1. April 1979 war eine folgerichtige Verwendungsentscheidung – wenngleich sie sich mangels Unterlagen (noch) nicht nachvollziehen lässt. Als Generalleutnant hatte er damit den Zenit einer Generalslaufbahn erlebt, den nur ganz wenige überschreiten würden. Es gab nur drei Stellen für Vier-Sterne-Generale.

Auch alle DSACEUR-Vorgänger und Nachfolger Kießlings hatten ganz fraglos eine Bilderbuchkarriere durchlaufen. Doch bei Schmückle, Luther und Kießling, sowie bei einigen ihrer Nachfolger, ist auffällig, dass scheinbar keiner von ihnen für die wirkliche Spitzenposition in der