Die Albatross Connection - Michele K. Troy - E-Book

Die Albatross Connection E-Book

Michele K. Troy

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Beschreibung

Welche Art von Literatur im sogenannten "Dritten Reich" gelesen, verlegt, verkauft werden durfte und welche nicht – das, so wir denken wir, sei inzwischen hinreichend bekannt. Schließlich hatten sich Autoren, Buchhandlungen und Verlage nicht nur der "Reichsschrifttumskammer", sondern auch den Verordnungen des Propaganda-Ministeriums zu unterwerfen. Nicht zuletzt der Börsenverein des deutschen Buchhandels wachte mit Argusaugen über das, was in den Schaufenstern oder am Ladentisch angeboten werden durfte. Basierend auf jahrelangen gründlichen Recherchen, erzählt die amerikanische Professorin Michele Troy mit detektivischer Detailfreude und literarischer Brillanz von einer heute kaum noch bekannten, anderen Seite der Medaille: wie es drei herausragenden Männern unterschiedlicher Herkunft gelingen konnte, vor aller Augen angelsächsische Weltliteratur vom Krimi bis zu James Joyce' Ulysses an jeder Zensur vorbei in Nazi-Deutschland zu verbreiten. Auf den Schwingen des Albatross – so der Name ihres international operierenden, aber den Markt von Deutschland aus beliefernden "seltsamen" Firmengeflechts – versorgten sie Leserinnen und Leser, auch Soldaten, über den Buchhandel mit Taschenbüchern, die für diese sonst unerreichbar geblieben wären. Eine Abenteuer- und Kulturgeschichte von Rang, die von dramatischen Schicksalen und verschlungenen Bücher-Pfaden vor dem Hintergrund existenzieller Katastrophen erzählt.

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Michele K. Troy

DieAlbatross Connection

Drei Glücksritterund das »Dritte Reich«

Aus dem amerikanischen Englischvon Herwig Engelmann

Die amerikanische Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel Strange Bird – The Albatross PressAnd The Third Reich bei Yale University Press, New Haven & London, erschienen.

1. eBook-Ausgabe 2022© 2017 Michele K. Troy© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe Europa in Europa Verlage GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, ZürichLektorat: Rainer WielandLayout & Satz: Robert Gigler, MünchenGesetzt aus der Swift

Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95890-381-4

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzesist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich,die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.www.europa-verlag.com

Für Virginia und Bart TroyTess, Isabella und Theodore Robinson

Ich habe mir das Paradies immer alseine Art Bibliothek vorgestellt.

Jorge Luis Borges

Schließen Sie Ihre Bibliotheken ab, wenn Sie möchten,aber es gibt kein Tor, kein Schloss, keinen Riegel,den Sie auf die Freiheit meines Geistes setzen können.

Virginia WoolfEin Zimmer für sich allein

Inhalt

EINFÜHRUNGHinter verschlossenen Türen

KAPITEL 1Gegenspieler

KAPITEL 2Der geheimnisvolle Engländer

KAPITEL 3Europa im Sturm erobern

KAPITEL 4Ein Haus von Irrsinnigen

KAPITEL 5Made in Britain?

KAPITEL 6Scheren im Kopf

KAPITEL 7Gleichschaltung

KAPITEL 8Rette sich wer kann

KAPITEL 9Hütchenspiele

KAPITEL 10Argwohn

KAPITEL 11Lieber Leser

KAPITEL 12Tanz auf dem Vulkan

KAPITEL 13Haltet eure Särge bereit

KAPITEL 14Feindesbeute

KAPITEL 15Einmarsch und Flucht

KAPITEL 16Unter Besatzung

KAPITEL 17Die Zügel der Kultur

KAPITEL 18Fenster zur Welt

KAPITEL 19Rivalen

KAPITEL 20Kriegsgericht

KAPITEL 21Verbrannte Erde

KAPITEL 22Auferstanden aus Ruinen

KAPITEL 23Heimkehr

SCHLUSSSehnsüchte

Anmerkungen

Literatur

Bildverzeichnis

Dank

Postskriptum zur deutschen Ausgabe

Register

EINFÜHRUNG

Hinter verschlossenen Türen

Im Juni 1941 marschierte Willy Hoffman in deutschem Sonderauftrag durch Paris. Sein Weg führte ihn an eine wuchtige Doppeltür in der Rue Chanoinesse Nummer 12, einer der feinsten Adressen von Paris auf der Île de la Cité in der Seine. Als Hoffman die beiden Türflügel mit ihren üppigen Schnitzereien in Form von rechteckigen Schilden und Bogen antiker römischer Brustharnische aufstieß, betrat er eine andere Epoche, eine Zeit lange vor den Hakenkreuzfahnen über Paris. Hinter der Einfahrt, durch die ihrer Breite und Höhe nach ein Pferdegespann gepasst hätte, erwartete ihn ein mittelalterlicher Innenhof mit einem verzierten Steinbrunnen aus den frühesten Tagen der Stadt. An der gegenüberliegenden Seite des Hofs fand Hoffman, was er suchte: das verwaiste Büro der Albatross Press, eines weithin bekannten und angesehenen Verlags, der seit 1932 britische und amerikanische Taschenbücher in englischer Sprache auf dem europäischen Kontinent verkaufte.

Hoffman war kein Soldat, sondern Beamter. Als studierter Jurist arbeitete er in Paris auf Weisung des Reichskommissars für die Behandlung feindlichen Vermögens. Seit die Wehrmacht ein Jahr zuvor den Norden und Westen Frankreichs besetzt hatte, sandte der Reichskommissar in Berlin deutsche Prokuristen aus, um dafür zu sorgen, dass französische, jüdische und feindliche Unternehmen im Sinne des Deutschen Reichs arbeiteten. Hoffman gehörte zu einer ganzen Legion von »Verwaltern feindlichen Vermögens«. Doch als er vor Albatross’ Toren stand, wusste er bereits, dass es sich bei diesem Unternehmen um einen Sonderfall handelte. Obwohl der Verlag Bücher in englischer Sprache herausgab, war er formell ein deutsches Unternehmen und als Albatross Verlag im deutschen Handelsregister eingetragen. Derselbe Albatross Verlag unterhielt seit den frühen Dreißigerjahren ein Büro in Paris, das als Vorposten näher an London und New York lag und sich somit besser eignete, um britische und amerikanische Autoren für die beliebte Albatross Modern Continental Library zu umwerben. Albatross’ länderübergreifende Verbindungen erregten Argwohn unter den Bürokraten des NS-Staates, und das nicht ohne Grund. Vom Oberfinanzpräsidenten in Leipzig wusste Hoffman, dass der Albatross Verlag bis zum Ausbruch des Krieges Monat für Monat erkleckliche Summen aus Deutschland nach Paris überwiesen hatte. Ausgestattet mit dieser Information ging Hoffman an die Erfüllung seines eng umrissenen Auftrags: festzustellen, ob Albatross diese Gelder widerrechtlich aus Deutschland abgezogen hatte und ob sich das Deutsche Reich gegebenenfalls schadlos halten konnte.1

Wie Hoffman bald merkte, erforderte die Lösung dieser Aufgabe jede Menge Spürsinn und Schnüffelei. Er wusste, dass der Chef des französischen Albatross-Büros ein gewisser John Holroyd-Reece war. Davon abgesehen, halfen ihm die deutschen Nachrichtendienste kaum weiter. Der Leiter der Propaganda-Staffel in Paris beschränkte sich auf vage Andeutungen: »Eine in ihrem Anfang nicht genau übersehbare Rolle spielt im Hause Albatros ein gewisser Holroyd-Reece«, und diesem unterstünden etliche »Korrespondenzunternehmen«. Doch »der genaue Einfluß und die Verzahnung konnte noch nicht festgestellt werden«.2 Auskünfte von anderer Stelle über Holroyd-Reece – deutsche Propagandastellen in Paris betitelten ihn mit »übel beleumdeter deutscher Emigrant« und Leiter »einer ausländischen Judenclique« – waren nicht eben sachdienlich. Holroyd-Reece selbst konnte Hoffman nicht fragen.3 Er war vor dem Einmarsch der Wehrmacht aus Paris geflohen.4

Nicht nur Holroyd-Reece, sondern auch Albatross hüllte sich in Rätsel. Obwohl der Verlag seinen Sitz in Deutschland hatte, wurde er über eine Luxemburger Dachgesellschaft hauptsächlich mit britisch-jüdischem Geld finanziert. Einige Monate nach Ausbruch des Krieges im September 1939 hatte der Reichskommissar dieses Firmengeflecht überprüft und Albatross zum feindlichen Vermögen in Deutschland erklärt. Doch die unübersichtlichen Verbindungen mit dem Ausland und die vielen verschiedenen Ableger machten die Geschäfte des Verlags in Paris schwer nachvollziehbar.

Und so ging Hoffman nur einen Steinwurf von Notre-Dame entfernt an seiner neuen Wirkstätte auf der Seine-Insel daran, dieses Rätsel aufzuklären. Er wühlte sich in dem stillen Büro durch die Akten. Er befragte zwei ehemalige Angestellte von Albatross, die er ausfindig machen konnte: den deutschen Mitbegründer Max Christian Wegner und Sonia Hambourg, eine englische Albatross-Lektorin, die der Besatzung in Paris trotzte und, ohne dass Hoffman es ahnte, zur Hälfte jüdischer Abstammung war. Er vertiefte sich in die Feinheiten des französischen und deutschen Rechts. Er entflocht die zwischen dem Albatross Verlag und seinem französischen Pendant sowie zwischen Albatross und dem Deutschen Reich gespannten Finanzfäden. Wie ernst er seinen Auftrag nahm, geht aus seinem siebzehnseitigen Bericht an den Oberfinanzpräsidenten von Leipzig mit fast vierzig Seiten Anlagen eindrucksvoll hervor.5

Weitaus spannender als dieser Bericht ist jedoch die Geschichte, wie und warum Hoffman zu dieser Tür des Hauses Rue Chanoinesse 12 gelangte – wie es kam, dass einer wie er mitten in Paris einer deutschen Firma mit britischen und jüdischen Verbindungen nachging, die englische Bücher verkaufte und beschuldigt wurde, das Deutsche Reich über den Großteil der Dreißigerjahre um Devisen betrogen zu haben. Das Bedeutsame an Hoffman sind am Ende weniger die Ergebnisse seiner Nachforschungen als die Stellung, die er einnahm. Er war der vorerst letzte in einer langen Reihe von Verwaltungsbeamten des NS-Staates, die während der Dreißigerjahre und bis in den Krieg hinein Albatross’ finanzielle und rechtliche Struktur durchleuchteten, um das Unternehmen deutschen Zwecken dienlich zu machen. Doch wie es scheint, stiftete jede amtliche Beschäftigung mit dem Albatross Verlag nur immer neue Verwirrung. Jahrelang verbarg sich Albatross, sichtbar für alle Welt. Nebelwerfen bewährte sich nicht nur als die beste Verteidigung gegen die Bürokratie des Nazistaates, sondern gewährte deutschen Lesern auch Zugang zu englischer und amerikanischer Literatur, als in Hitlerdeutschland die Reinigung des Volkstums von fremden Einflüssen längst im Gange war.

Sieht man vom Zweck der Zensur ab, so erschließt sich nicht unmittelbar, warum die nationalsozialistische Bürokratie überhaupt am Albatross Verlag interessiert war. Dieser Gedanke kam mir als erster beim Blättern in The Albatross Book of Short Stories, einem silbergrauen Band, den ich mir aus den Magazintürmen der französischen Nationalbibliothek in Paris hatte kommen lassen. Der Einband war angenehm schlicht gehalten: mehrere rechteckige Umrandungen, oben der Titel in Blockbuchstaben und nahe am unteren Rand die Konturen eines im Himmel schwebenden Vogels. Ich saß in dem monumentalen Lesesaal zwischen Betonwänden, deren Schroffheit nur durch die Eichentöne der Holztische und die persimonenfarbenen Teppiche abgemildert werden. Seit geraumer Zeit erforschte ich Ruf und Ansehen einiger mehr oder weniger bekannter englischer Autoren wie James Joyce, D. H. Lawrence, Virginia Woolf oder May Sinclair auf dem europäischen Kontinent. Ich wusste, dass zahlreiche Verlage in Kontinentaleuropa während der Zwanziger- und Dreißigerjahre eifrig Werke britischer und amerikanischer Autoren übersetzen ließen und diese bei den Lesern ausgesprochen gut ankamen. Und so erwartete ich von diesem Band, was ich oft zuvor gesehen hatte: Übersetzungen englischer Literatur ins Französische. Stattdessen empfing mich beim Öffnen ein Meer englischer Wörter. Aus den Verlagsangaben ging klar hervor, dass das Buch in Deutschland gedruckt war, noch dazu im Jahr 1935. Zwei Merkmale verrieten, dass es sich um eine Ausgabe für kontinentaleuropäische Leser handeln musste: die umlaufenden Worte »The Albatross Modern Continental Library« sowie am unteren Rand die Warnung: »Darf nicht in das British Empire oder die USA eingeführt werden«.

Umschlag von The Albatross Book of Short Stories (mit freundlicher Genehmigung der Collection von Alastair Jollans)

Wer auch nur ein wenig über die Geschichte dieser Zeit weiß, muss über die augenfälligen Widersprüche stolpern. Der Verlag Albatross begann im Mail 1932, seine Bücher in Deutschland zu drucken. Am 30. Januar 1933 kam Hitler an die Macht. Aus meiner Forschung wusste ich, dass nationalsozialistische Zensoren im Jahr 1935 bereits mehrere Bücher von Autoren verboten hatten, deren Namen auf diesem Einband prangten. Aldous Huxleys Brave New World war ganz sicher keine von Nazis bevorzugte Bettlektüre, ebenso wenig Ulysses von James Joyce. Der jüdische Schriftsteller Louis Golding durfte in den Dreißigern nicht ins Deutsche übersetzt werden, und sein gesamtes Werk fand sich schlussendlich auf Goebbels’ »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«. Wie ich später erfuhr, empfand man D. H. Lawrence’ Roman Lady Chatterley’s Lover im Dritten Reich als einen derart groben Verstoß gegen die guten Sitten, dass die Behörden ihn nicht nur auf Deutsch, sondern zur Sicherheit auch auf Englisch verboten.

Je mehr ich recherchierte, umso deutlicher wurde, dass der damalige Ruhm von Albatross nicht auf dem Handel mit gediegenen Klassikern beruhte, sondern auf dem Verlegen der heißesten und modernsten Literatur aus England und Amerika. Fast unmittelbar nachdem der Albatross Verlag in diesen Markt eingedrungen war, fielen seine Bücher auf. So schrieb der englische Romancier Wyndham Lewis 1934 nach einem Berlinaufenthalt: »Überall sah ich diese Albatross-Ausgaben«.6 Stellen wir uns für einen Augenblick vor, wir wären wie Lewis in den Dreißigerjahren mit dem Zug durch Europa unterwegs: Mit einiger Wahrscheinlichkeit würden wir Touristen in Zugabteilen kauern oder an Bahnhofssäulen gelehnt durch die farbenfrohen, elegant gestalteten Bücher der Albatross Modern Continental Library blättern sehen. Mit ihren grell-gelbgrünen, zitronengelben, leuchtend orangen, eierschalenblauen, roten und magentaroten Umschlägen zur Kennzeichnung des jeweiligen Genres waren diese Bücher sehr gefällig verpackt. Selbst nach heutigen Maßstäben vermitteln die schnittigen Einbände eine avantgardistische Anmut.

In seinen besten Jahren, etwa von 1932 bis 1939, belieferte Albatross rund 6000 Buchhandlungen in großen Teilen Kontinentaleuropas mit Nachdrucken von fast 500 Titeln. Bücher von Albatross waren nicht nur weithin verfügbar, man konnte sie sich auch leisten. Für bescheidene 12 Francs, 9 Lire oder 1,80 Reichsmark erwarben Leser die allerneueste englische und amerikanische Literatur. Der Albatross Crime Club und die Reihe Albatross Giants versorgte sie mit Krimis und Biografien aus den USA und Großbritannien. Albatross gründete mit der Odyssey Press eine Tochtergesellschaft allein zu dem Zweck, die Romane Ulysses und Lady Chatterley’s Lover zu verlegen – beide heiß begehrt, nicht zuletzt, weil sie unter anderem in England und Amerika verboten waren. Die Albatross Modern Continental Library bot ein Sortiment gutbürgerlicher Erzählliteratur ebenso wie das Allerneueste der literarischen Moderne, das man im Ausland gespannt erwartete, beispielsweise The Rainbow von D. H. Lawrence, To the Lighthouse von Virginia Woolf, A Passage to India von E. M. Forster oder The Sun Also Rises von Ernest Hemingway.

Dass Albatross solche Bücher in Hitlerdeutschland druckte, sie von hier aus im übrigen Europa vertrieb und auch im Land selbst verkaufte, widerspricht allem, was wir über die nationalsozialistische Unterdrückung ausländischer Kultur wissen oder zu wissen glauben.7 In der allgemeinen Vorstellung sind Bücher in Deutschland unter Hitler eng mit Verboten und Vernichtungsaktionen verbunden: brennende Bücher im Mai 1933, als Studentenverbände Bücher »wider den deutschen Geist« in die Flammen warfen; Soldaten, die mit Zensurlisten in den Händen Buchhandlungen plünderten; Berge »unerwünschten Schrifttums«, die in Lagern vor sich hin rotteten; und am bedrückendsten von allem die Entfernung jüdischer oder politisch missliebiger Verleger und Autoren aus dem Literaturgeschehen, die nur eine Vorstufe zum Angriff auf Leib und Leben war. Solche Bilder haben sich eingebrannt, weil sie eine unleugbare Wahrheit der Geschichte veranschaulichen: dass das NS-Regime Gedankenfreiheit unterdrückte und Bücher zensierte oder vernichtete, die diese in Anspruch nahmen.

Unter diesen Umständen hätte Albatross auf vielen Ebenen den Zorn reichsdeutscher Behörden zu spüren bekommen müssen. Mit seinem Programm und seiner Gestaltung vermittelte der Verlag ein kosmopolitisches Denken und Fühlen in völligem Gegensatz zum völkischen Deutschtum. Quer über die Einbände stolzierte die Triade seiner Niederlassungen in Frankreich, Deutschland und Italien. Kurze Inhaltsangaben auf Englisch, Französisch, Deutsch und anfangs auch Italienisch fanden sich innen auf dem Vorsatzblatt – auch sie eine einladende Geste an eine neue weltoffene Leserschaft jenseits der englischsprachigen Reisenden, die sich unterwegs nach Lesestoff sehnten. Albatross nutzte ein brennendes Interesse am angloamerikanischen Geistesleben und an der englischen Sprache, das es auf dem europäischen Kontinent seit Ende des Ersten Weltkriegs gab, und sprach gezielt neue Leserkreise an: europäische Bildungsbürger mit einer anderen Muttersprache als dem Englischen, die dennoch Englisch lesen konnten. Diese Leser lud der Albatross Verlag mit seinen preiswerten Büchern ein, sich von den Übersetzungen zu lösen und direkt in die moderne Zauberwelt englischer und amerikanischer Bücher einzutauchen.

Eine solche offene Aufnahme in die Gefilde der englischen und amerikanischen Literatur hätte das Dritte Reich vielleicht weniger bedrohlich gefunden, wenn Bücher einfach nur Bücher gewesen wären. Wie der englische Verleger Geoffrey Faber dem Schatzkanzler seines Landes zu Recht einschärfte, waren aber »Bücher keine Ware wie jede andere. In seinen Büchern denkt ein Volk laut«.8 In propagandistischer Hinsicht verbreiteten Bücher von Albatross inmitten der Kriegsvorbereitungen englische und amerikanische Wertvorstellungen über ganz Europa. Angesichts dessen mochte Albatross ein deutscher Verlag sein – für das nationalsozialistische Regime war er dennoch ein potenzieller Feind. Und so stuften etliche NS-Beamte Albatross unverhohlen als »berüchtigte ausländische Firma« ein. Seine britische Finanzierung und das Verlagsbüro in Paris entzogen Teile seines Geschäftsgebarens – so auch die Zusammenarbeit mit den bedeutenden Verlagen William Collins und Arnoldo Mondadori in Schottland und Italien – deutscher Aufsicht. Immer wieder verstrickten sich NS-Behörden in diesem Labyrinth von Beziehungen. Und eines störte sie besonders daran: Albatross stand, wie sie sich ausdrückten, »unter dem Einfluß jüdischer Kreise«. Nicht nur der wichtigste Geldgeber des Unternehmens war Jude, sondern auch zwei seiner drei Gründer.9

Eben darin tritt das merkwürdig widersprüchliche Verhältnis zwischen Albatross und dem Reich am deutlichsten zutage: Wie und warum konnte mitten im aggressiven völkischen Klima Deutschlands der Dreißigerjahre ein jüdisch dominierter, britisch finanzierter Verlag englischsprachige Literatur drucken und verkaufen? Dieses Rätsel steht im Zentrum meines Buchs. Es ließ nicht nur den deutschen Buchhandel staunen, sondern sogar den Präsidenten der Reichsschrifttumskammer selbst. Tatsache ist, dass Albatross noch Ende der Dreißigerjahre, als Deutschland fest im Würgegriff der Nazipropaganda steckte, ein Drittel seiner Bücher in ebendiesem Deutschland verkaufte. Sogar nach Kriegsbeginn konnten deutsche Leser beim Buchhändler ihres Vertrauens noch zu Albatross-Titeln greifen. 1941 teilte ein vom Berliner Reichskommissar im Leipziger Unternehmensteil eingesetzter Verwalter feindlichen Vermögens mit, der Absatz in Deutschland wie auch außerhalb sei im Steigen begriffen und die Nachfrage so groß, dass er »für die nächste Zukunft unbedingt gesichert ist«. Bei den Lesern auf dem Kontinent waren Bücher auf Englisch nach wie vor begehrt – so begehrt, dass auch das Auswärtige Amt neidvoll auf das Beispiel Albatross’ blickte und sich wünschte, deutsche Bücher könnten eine ebensolche Anziehungskraft auf Europas Leser ausüben. Als die Militärregierung im besetzten Teil Frankreichs den logischen Schritt unternahm, das Verlagsbüro von Albatross als britisches Feindvermögen zu vereinnahmen, kam daher von übergeordneter Stelle in Berlin der Befehl zur Zurückhaltung: »Das Reich ist an dem Unternehmen interessiert«.10

Aus der Verflechtung solcher Anekdoten ergeben sich Ansätze zur Beantwortung der Frage, wie es kam, dass Vertreter des NS-Staates im entstehenden Markt für englischsprachige Bücher eher eine Chance als eine Gefahr sahen. Zwar spannte der Nationalsozialismus erklärtermaßen Kultur und Geistesleben für die Propaganda der Vormachtstellung des deutschen Volkes ein. Doch zugleich nährten seine Bürokraten trotz eifriger Verherrlichung alles Deutschen insgeheim den kontinentaleuropäischen Markt für englischsprachige Bücher. Das ging so weit, dass sie Albatross sogar anhielten, noch mehr englischsprachige Bücher zu verkaufen. Wir haben es hier nicht mit dem weitaus häufigeren Fall eines Regimes zu tun, das Literatur aus anderen Ländern verbietet, und auch nicht mit dem eines von Zensoren gegängelten deutschen Verlags. Denn der Albatross Verlag war deutsch und auch wieder nicht, einerseits integriert in den deutschen Buchhandel und mit seiner Druckerei und seinem Vertrieb darüber hinaus fester Bestandteil der deutschen Wirtschaft, andererseits ein vollkommener Fremdling im Dritten Reich. Am Ende machte diese Sonderstellung Albatross verdächtig, aber auch nützlich für bestimmte Kreise im NS-Staat. Umgekehrt nutzte Albatross seine prekäre Stellung zum eigenen Vorteil, profitierte immer wieder von deutschen Gesetzeslücken und spielte divergierende Machtinteressen zwischen den nationalsozialistischen Kultur- und Finanzbürokratien gegeneinander aus, um der angloamerikanischen Kultur unter dem gewalttätigsten Herrschaftsapparat des 20. Jahrhunderts eine Nische zu sichern.

So erzählt dieses Buch, was geschah, als ein entschieden weltbürgerlich ausgerichtetes, international aufgestelltes Verlagshaus der verheerendsten völkischen Kultur der Moderne ins Gehege kam. Auf einer Ebene geht es hier um Bücher – und darum, wie Bücher in Zeiten großer politischer Spannungen eine Wichtigkeit annahmen, die weit über sie selbst hinausging. Aber viel mehr noch ist dies ein Buch über die menschlichen Schicksale, die der Verlag in sein Kraftfeld zog, über sein Ringen darum, angloamerikanische Literatur in den kontinentalen Blick zu rücken, und somit auch über eine verschwundene Welt. Je länger ich forschte, umso mehr rätselte ich, wie Albatross innerhalb so kurzer Zeit zum größten Verlag und Vertrieb englischsprachiger Taschenbücher im Europa der Dreißigerjahre aufsteigen und dann beinahe spurlos verschwinden konnte.

Dass Albatross aus dem Rahmen nationalstaatlicher Bezüge fiel, anstatt sich in sie zu fügen, begründet womöglich auch, warum der Verlag keinen Eingang in das kulturelle Gedächtnis der einzelnen Länder gefunden hat. Historiker haben die Manöver von Hitlers Armeen über Staatsgrenzen hinweg sehr genau erforscht, doch in der Geschichte des Verlagswesens und der Zensur enden selbst differenzierteste Darstellungen zumeist an Landesgrenzen. Was soll man in der Geschichtsschreibung auch anfangen mit einem Unternehmen, das im völkisch triumphierenden Deutschland englisch und deutsch zugleich – oder weder das eine noch das andere – war, während sich die beiden Mächte gegeneinander in Stellung brachten.11 Indem wir nun die Geschichte von Albatross zutage fördern, gewinnen wir zugleich noch andere Bruchstücke angloamerikanischer, aber grenzüberschreitender Literatur- und Buchgeschichte zurück: wie die angloamerikanische Moderne in Europa Fuß fasste; wie aus hochwertigen Taschenbüchern für einen Massenmarkt Propagandawerkzeuge für die Alliierten und die Achsenmächte wurden; und wie Hitlers Regime mit der zunehmenden Popularität angloamerikanischer Kultur und Sprache auf dem europäischen Kontinent und im Deutschen Reich eine ebenso schwer zu fassende wie konkret internationale Bedrohung erwuchs, der es entgegentreten musste. Nur wenn wir den Ausstoß des Verlags im Lauf der Dreißigerjahre im Auge behalten, ergibt sich ein umfassendes und zusammenhängendes Bild englischsprachiger Bücher unterm Aufstieg des Faschismus. Und nur indem wir den Zug der Albatross-Bücher über Landesgrenzen hinweg verfolgen, gewinnen wir Einsicht in die Wanderbewegungen angloamerikanischer Kultur – ebenso wie der gegen sie gerichteten Nazipropaganda und -zensur – im Europa vor und während des Zweiten Weltkriegs.

Obwohl die Geschichte von Albatross einen weiten Bogen von der Literatur über die Kultur bis hin zu den bestimmenden politischen Ereignissen spannt, erinnern sich heute nur noch wenige, weit verstreute Menschen an den Verlag. Einige ältere Leser berichteten mir persönlich, dass sie selbst einst Bände von Albatross gekauft oder auf den Beistelltischen ihrer Eltern liegen gesehen haben. Ein französischer Buchhändler mittleren Alters erhob den Zeigefinger gegen mich und fragte mit herausforderndem Blick: »Das waren doch Kollaborateure, oder?« Waren sie Kollaborateure? Ich wusste es nicht mit Sicherheit. Jüngere Freunde in Europa erzählten mir, sie hätten ein paar zerfledderte Taschenbücher in leuchtenden Farben auf den Regalen ihrer Großeltern gefunden – Thornton Wilders The Bridge of San Luis Rey etwa (grün), oder auch Katherine Mansfields The Garden Party (magentarot) – und sich gefragt, wie diese bunten Gaben englischer Sprache zwischen die Bücher in ihrer Muttersprache gelangt waren.

Obwohl Albatross-Bücher einst durch die Hände vieler kontinentaleuropäischer Leser gingen, ist der Verlag den Annalen des nahezu Unsichtbaren anheimgefallen. Was zumindest Buch- und Verlagshistoriker noch im Blick haben, ist nicht Albatross’ eigener Stellenwert im damaligen Geschehen, sondern seine Vorläuferrolle. 1934 nahm sich Allen Lane den Albatross zum Vorbild für seine Penguin Books und beschritt damit einen erfolgreichen Weg. Der Legende nach soll ein Mitarbeiter in Lanes Unternehmen eine Unterhaltung über die Frage, welches Tiersymbol als Reihensignet mit dem Albatross konkurrieren könne, mitgehört und über eine Zwischenwand hinweg: »Wie wär’s mit einem Pinguin?« geträllert haben. Tags darauf schickte Lane seinen Illustrator zum Zeichnen in den Zoo, und der Rest ist, wie es heißt, Geschichte – die Geschichte von Penguin.12 Selbst in der Literaturgeschichte ist Albatross wenig bekannt, obwohl der Verlag unzählige Lichtgestalten der Dreißigerjahre in sein Programm nahm und zeitweise das Haus erster Wahl für angloamerikanische Autoren war, die ihre Bekanntheit auf den europäischen Kontinent ausweiten wollten.

Wenig förderlich war dem Vermächtnis von Albatross, dass ihm etwas fehlt, das viele andere Verlage haben: ein laufend gepflegtes Archiv der eigenen Geschichte. Nur zwei Kisten mit Dokumenten haben die deutsche Besatzung Frankreichs überstanden. Der deutsche Sitz in Leipzig wurde bei den alliierten Bombenangriffen im Dezember 1943 vernichtet. Die Akten des NS-Reichswirtschaftsministeriums nahmen die Sowjets mit. Sie lagern bis heute in Moskau unter Verschluss. Da es auch nur wenig Sekundärliteratur über Albatross gibt, habe ich die Geschichte des Verlags aus der umfangreichen, verstreuten Korrespondenz mit englischen und amerikanischen Verlegern, Autoren und Agenten einerseits, nationalsozialistischen Behörden und Beamten andererseits zusammengesetzt.13 Dieses Buch ist in weiten Teilen aus dem Archiv geboren – genauer gesagt, aus mehr als zwei Dutzend Archiven in den Vereinigten Staaten und Europa.

Diese Dokumente erzählen auch eine Geschichte der Menschen und ihrer Entscheidungen im Interesse des eigenen Überlebens oder Vorankommens. »Wie lebten, überlebten oder verschwanden Menschen unterm Dritten Reich?«, fragte Pierre Ayçoberry, ein ausgewiesener französischer Historiker des Nationalsozialismus, und er nannte diese Frage »ebenso grundlegend wie die … warum alles so kam, wie es kam«. Dasselbe könnten wir uns über Albatross fragen. Wie der Verlag »überlebte«, erschließt sich uns nur, indem wir das Handeln oder auch Nichthandeln eines umfangreichen Ensembles von Beteiligten mit komplizierten Verbindungen untereinander erkunden: Autoren, Agenten, Geschäftspartner, Behördenvertreter. Deshalb ist mein Buch die Biografie eines Verlages und zugleich derjenigen Menschen, die mit ihren Entscheidungen seine Geschicke bestimmten.14

In dieser Geschichte eines höchst unwahrscheinlichen Überlebens sind das Überleben eines Verlags, seiner Protagonisten und des Marktes für englischsprachige Bücher im Ringen mit der nationalsozialistischen Aggression eng verwoben. Entscheidungen, die das Überleben von Albatross betrafen, hatten mitunter unmittelbare Auswirkungen auf die Rettung von Leib und Leben. (Die Tätigkeit eines von englischen Juden finanzierten Unternehmens mitten im Dritten Reich verlieh dem Ausdruck »Entscheidung über Leben und Tod« eine sehr unmittelbare Bedeutung.) Als Kulturinstitution schlug sich der schmächtige Albatross Verlag in einer weit höheren Gewichtsklasse, und sein Vorgehen war oft eher vom Kampfgeist seiner Gründer als von der leidenschaftslosen Mechanik der Volkswirtschaft bestimmt.

So musste allein schon die wagemutige Entscheidung, den angloamerikanischen Buchmarkt im Jahr 1931 – mitten in einer schweren Wirtschaftskrise und im Aufkommen des europäischen Faschismus – auf Kontinentaleuropa auszudehnen, wider aller Vernunft erscheinen. Die drei Hauptpersonen bei Albatross sahen das ganz anders. Alle drei hatten den Ersten Weltkrieg, die Geldentwertung und politischen Aufruhr überstanden. Alle drei hatten sich bereits einen Namen damit gemacht, Gelegenheiten dort aufzuspüren, wo andere sie am wenigsten vermuteten. Gerade als alle anderen Verlage sich wegduckten, hob der Albatross ab.

In W. G. Sebalds Roman Austerlitz verfolgt der Erzähler die Wege seiner verlorenen Kindheit in den Jahren nach dem Nationalsozialismus zurück und erschließt uns damit auf noch andere Weise, warum solche Erforschung Schicht um Schicht bedeutsam ist. Auf einer alten Festung sieht er rundherum nichts als den Schutt vergangener Kriegstage und verliert sich in Grübeleien: »Selbst jetzt, wo ich mich mühe, mich zu erinnern … löst sich das Dunkel nicht auf, sondern verdichtet sich bei dem Gedanken, wie wenig wir festhalten können, was alles und wie viel ständig in Vergessenheit gerät, mit jedem ausgelöschten Leben, wie die Welt sich sozusagen von selber ausleert, indem die Geschichten, die an ungezählten Orten und Gegenständen haften, welche selbst keine Fähigkeit zur Erinnerung haben, von niemandem je gehört, aufgezeichnet oder weitererzählt werden ..«.15 Die Bücher von Albatross gehören der Geschichte einer bestimmten Zeit und Weltgegend an. Diese Geschichte beginnt 1931 mit dem zupackenden Optimismus der Verlagsgründer. Sie verläuft mitten durch die harte Realität der Zensur und bürokratischen Hemmnisse und nationalsozialistischen Aggression gegen Juden. Sie endet in einer trostlosen Nachkriegswelt, als ein Markt für Albatross in den ungefähren Konturen der Vorkriegsjahre ebenso ausgelöscht war wie das Leben unendlich vieler, längst nicht an ihrem Lebensende angekommener Menschen. In diesem Sinn verweisen die Bücher von Albatross ungeachtet ihrer anmutigen Regenbogenfarben auf eine sehr viel düsterere und trümmerhaftere Geschichte, als ihr Erscheinen uns glauben machen könnte. Sie sind allesamt Gegenstände, wie Sebald sagt, »welche selbst keine Fähigkeit zur Erinnerung haben«. Hier, in diesem Buch, sind die Geschichten, die sie erzählen.

KAPITEL 1

Gegenspieler

Als Beamte des Dritten Reichs Albatross und seine Bücher auszuforschen begannen, gehörte Literatur in englischer Sprache seit fast einem Jahrhundert zum deutschen Buchdruck und -handel. Erstaunlicherweise war mit Christian Bernhard Freiherr von Tauchnitz nicht etwa ein unternehmungslustiger britischer oder amerikanischer, sondern ein deutscher Verleger zuerst auf den Gedanken gekommen, englischsprachige Literatur in preiswerten Taschenbuchausgaben auf dem europäischen Festland anzubieten. Anfang der 1930er-Jahre kannten und verehrten Leser überall in Europa den Namen Bernhard Tauchnitz. Seit dieser Verlag 1841 eine Marktnische für englische Bücher aufgetan hatte, besetzte er sie unangefochten. Die markant elfenbeinfarbenen Bände der Tauchnitz Edition mit ihren Titeln in schwarzen, kantigen Blockbuchstaben waren der Inbegriff englischsprachiger Literatur auf dem europäischen Kontinent.

Umso hellhöriger wurde Dr. Hans Otto, Vorsitzender des Aufsichtsrats von Tauchnitz, als er Ende Oktober 1931 Gerüchte über eine Albatross Press vernahm. Die Nachricht erreichte ihn auf Umwegen in seinem Büro an der Dresdner Straße 5, einer repräsentativen Ecke am Eingang zum Graphischen Viertel in der deutschen Verlagshauptstadt Leipzig. Otto war im höchsten Maße beunruhigt. Mit Tauchnitz stand ein ganzes Kulturerbe auf dem Spiel. Dass sich nun anscheinend ein Neuling bereit machte, in diesen Markt einzudringen, verhieß nichts Gutes. Denn die Nische für solche Bücher auf dem Kontinent war nicht groß genug für zwei.1

Wie sich ein deutscher Verlag den Markt für englischsprachige Bücher auf dem europäischen Festland sichern konnte, ist eine Geschichte für sich. Sie führt zurück zu einem findigen Leipziger Kaufmann. Anfang der 1840er-Jahre erfuhr Freiherr von Tauchnitz vom Ärger englischer Schriftsteller und Verleger über Raubdrucker, die ungenehmigte Ausgaben ihrer Titel auf dem Kontinent verhökerten. Da ein völkerrechtlich bindendes Urheberrecht auf Jahrzehnte hinaus nicht in Sicht war – es sollte erst 1895 in Kraft treten –, konnten sie kaum dagegen vorgehen. Tauchnitz fasste einen klugen Plan. Er bot englischen Verlagen eine bescheidene Lizenzgebühr für den Nachdruck ihrer Werke in Leipzig an. Indem er seine Bücher in ganz Europa vertrieb, sorgte er in gewissem Maß dafür, dass die Rechte der Urheber gewahrt blieben. Englands Verleger packte und beunruhigte die Idee zugleich. Ohne Zweifel wünschten sie einen Schutz ihrer Rechte. Aber zugleich fürchteten sie, Einnahmen zu verlieren, falls Tauchnitz seine billigen Taschenbücher im britischen Empire zum Verkauf anbot, denn darunter musste zwangsläufig der Absatz teurer gebundener Ausgaben leiden. Sie ließen sich auf das Angebot des Freiherrn ein, stellten aber eine Bedingung: dass er seine Taschenbücher nur außerhalb Englands und seiner Kolonien verkaufte. Auf dieser Grundlage entstand 1841 die Tauchnitz Collection of British Authors und mit ihr ein Markt für die sogenannten »continental English editions«. Einige Zeit später nahm Tauchnitz auch amerikanische Bücher ins Programm und änderte den Namen der Reihe 1914 in Collection of British and American Authors.2 Jedes einzelne Exemplar erinnerte an die vereinbarte Gebietsaufteilung mit den Worten »Not to be introduced into the British Empire and the U.S.A«. auf seinem Einband.

Mehr als neunzig Jahre lang verbreiteten sich die elfenbeinfarbenen Bändchen überall in Europa und trugen von Tauchnitz den hehren Ruf eines Schutzpatrons angloamerikanischer Autoren und Reisender ein. »Wenn du mich liebst, schick mir Lesestoff«, flehte D. H. Lawrence eine Freundin an, während er 1912 in Österreich unterwegs war. »Tauchnitz finde ich hier nicht mehr«. Der amerikanische Literaturnobelpreisträger Sinclair Lewis bezeugte einen Fall von Erlösung aus höchster seelischer Not. Er erinnerte sich an »hundert Hotels … in denen mir die Möglichkeit, einen Tauchnitz zu kaufen und mich so nach Hause zurückzuversetzen, das Leben gerettet hat«.3 Förmlichere Würdigungen zierten Bücher, die anlässlich des silbernen, goldenen und diamantenen Jubiläums von Tauchnitz Editions erschienen. Darin revanchierten sich Schriftsteller von Charles Dickens bis George Bernard Shaw mit Dankesbotschaften an den Verlag, der englischen Büchern jenseits des Ärmelkanals den Weg bereitet hatte.

So war Tauchnitz Editions 1931, als Hans Otto die Gerüchte über Albatross zu Ohren kamen, längst zu einem florierenden Segment des internationalen Buchhandels angewachsen. In diesem Jahr erschien bei Tauchnitz der fünftausendste Band, und die Zahl der seit den Anfängen insgesamt verkauften Bücher überstieg 40 Millionen. Sie ergaben, wie man es später veranschaulichte, einen Stapel, der von London nach New York reichte oder »achtzig Mal so hoch wie der Gipfel des Mount Everest« war. Und wie eine deutsche Zeitung schrieb, deutete nichts darauf hin, dass Tauchnitz’ beherrschende Stellung gefährdet war: »Im kleinsten deutschen Kurort, im verlorensten italienischen Städtchen, im fernsten Dalmatien, auf den Kanarischen Inseln wie auf den Balearen: Wenn sonst alles fehlt, der neueste Tauchnitz ist vorhanden«. Da er »allgegenwärtig« war, wurde dem Tauchnitz Verlag sogar zugestanden, er habe die Verbreitung der englischen Sprache gefördert. Freiherr Bernhard von Tauchnitz konnte kaum geahnt haben, was aus seinem Leipziger Verlag einmal werden würde.4

Damalige Leser, denen Tauchnitz ein Begriff war, hätten Hans Ottos Sorgen vermutlich kaum nachvollziehen können. Der Sitz des Verlags in Leipzig nahm einen ganzen Häuserblock ein und war nicht weniger imposant als Tauchnitz’ Ruhm im In- und Ausland. Das klassizistische Herrenhaus, in dem seine Direktion untergebracht war, verbreitete eine Aura gediegener Pracht, wie um deutlich zu machen, dass Herausforderer von vornherein auf verlorenem Posten standen. Tauchnitz hatte die Macht der Geschichte auf seiner Seite. Dieser deutsche Verlag hatte nicht nur den Markt für Kontinentalausgaben englischsprachiger Literatur wie aus dem Nichts geschaffen, sondern im Lauf der Jahrzehnte auch nicht weniger als 42 Konkurrenten aus dem Feld geschlagen.5

Und doch wirkte Hans Otto in diesem Oktober 1931 so gar nicht wie jemand, den die Tradition von Tauchnitz in sich ruhen ließ. In höchster Anspannung angesichts dieses ersten ernst zu nehmenden Angriffs auf das faktische Monopol Tauchnitz’ seit vielen Jahren entsandte er einen Vertrauten nach London und einen weiteren nach Paris, um Erkundungen über Albatross einzuholen. Wie aus seiner recht unverbindlichen Wortwahl im anschließenden Bericht an den Aufsichtsrat von Tauchnitz hervorgeht, kehrten beide mit mehr Fragen als Antworten nach Leipzig zurück. »Wahrscheinlich unter der Firma ›The Albatross‹ wird am 1. Januar 1932 das neue Unternehmen starten, und zwar mit dem Sitz in Paris, wahrscheinlich auch mit einem besonderen Sitz in Deutschland, was aber noch nicht feststeht … In London konnte mit Sicherheit nicht festgestellt werden, wer das Unternehmen finanziert, doch schweben hierüber die Erörterungen … Im allgemeinen war insbesondere in Paris sehr wenig und fast gar nichts festzustellen, insbesondere auch nicht durch die Deutsche Botschaft, was damit zusammenhängen kann, dass das neue Unternehmen absichtlich seine Verhältnisse geheimhält«.6

Diese Umschreibungen bringen vor allem eins auf den Punkt: Bei Tauchnitz wusste man so gut wie nichts über den Gegenspieler. »Unsere Disposition ist allseitig die, daß wir die Windstille, die uns bis 1. Januar 1932 verbleibt, mit aller Intensität ausnutzen müssen, um voranzukommen«, erläuterte Otto seinen Vorstandskollegen. Einen von ihnen schickte er zu mächtigen Grossisten in die Schweiz, nach Italien, Wien und Prag, einen weiteren nach England, um dort Tauchnitz’ Bande mit Autoren und Verlagen zu festigen. Er selbst sammelte von Leipzig aus geheime Informationen. Am 4. November beauftragte er Hamburger Anwälte, den wenigen Spuren nachzugehen und festzustellen, ob Albatross sich in das dortige Handelsregister eintragen hatte lassen. Danach war er um 40 Reichsmark ärmer, aber um nichts klüger, und konnte es auch nicht sein, da Albatross erst am 12. November 1931 in Hamburg registriert wurde.7 Von den vielen Gerüchten aufgeschreckt, hatte Otto sich um eine Woche zu früh erkundigt. Albatross war vorerst eine umso größere Bedrohung für ihn, als der Verlag offiziell noch gar nicht existierte.

Dass Albatross Otto so sehr aus der Reserve lockte, lag nicht zuletzt daran, dass er sich seine Aufgabe zu Herzen nahm. Für Otto stand neben dem traditionsreichen Verlagshaus auch die Familienehre auf dem Spiel. Sein Bruder Curt Otto hatte Tauchnitz vom Beginn des Jahrhunderts bis zu seinem Tod 1929 souverän geführt. Unter seiner Obhut hatten die Leipziger ihren guten Ruf eines völkerverbindenden Hortes der Kultur gefestigt, und allein seinen klugen Schachzügen war es zu verdanken, dass der Verlag den Ersten Weltkrieg, in dem die Tauchnitz-Bände manchen im Land als eine fünfte Kolonne der Entente gegolten hatten, heil überstand.8

Doch nun, im Jahr 1931, standen Tauchnitz und Hans Otto vor ganz anderen Herausforderungen. Ausgehend von den Vereinigten Staaten zog die Große Depression den Rest der Welt in den Strudel des wirtschaftlichen Abgrunds. Otto hatte größte Mühe, die Zahlungsfähigkeit des Verlags zu erhalten. Britische und amerikanische Europareisende, Tauchnitz’ Stammleserschaft, blieben weitgehend aus. Zudem steckte Deutschland als größter Absatzmarkt tief in seiner eigenen verheerenden Krise. Und nun begehrten auch noch englische Verlage gegen die Vormachtstellung der Leipziger auf dem Festland auf. Im Zuge einer Geschäftsreise nach London hatte Otto in den Vorstandszimmern und Clubs englischer Verleger die Ausläufer einer Welle der Empörung zu spüren bekommen – auch weil Ende der Zwanzigerjahre die Umsätze von Tauchnitz Editions noch einmal sprunghaft angestiegen waren. Otto musste sich fragen, wie lange die Engländer noch hinnehmen würden, dass ein deutscher Verlag auf dem Kontinent den Lohn ihrer Mühen einstrich.9

Rasches und energisches Handeln war also gefordert, zumal es da ein Detail gab, das Otto noch viel größere Sorgen bereitete als alles andere: Wenn die Gerüchte über Albatross stimmten, verfügte dieser neue Widersacher über eine Geheimwaffe, deren Schlagkraft Otto nur allzu gut kannte: Max Christian Wegner, von allen nur »Christian« genannt – eben jenen siebenunddreißigjährigen Verleger, den Otto selbst ein Jahr zuvor als Tauchnitz-Geschäftsführer geschasst hatte. Dieser Mann kannte Tauchnitz in- und auswendig, und kampflustig war er allemal.

Wegner war für Otto Angstgegner und Erzfeind in einem. Schon als Bruder im Bunde hatte er eine einschüchternde Figur abgegeben – eine ausgesprochen imposante Persönlichkeit, die jeden Raum forschen Schrittes betrat.10 Wegner beeindruckte allseits durch blitzschnelles Denken und Willensstärke. Er hatte darauf gedrängt, den Tauchnitz Verlag zu entstauben. Als ehemalige Führungskraft kannte er dessen Stärken und Schwächen genau, von der Vertriebsstrategie über Absatzzahlen bis hin zu den Verbindlichkeiten des Unternehmens und den persönlichen Schrullen einzelner Angehöriger der von Tauchnitz. Nicht zuletzt war Wegner im Zorn aus dem Verlag geschieden.

Denn kaum ein Jahr nach seiner Ernennung zum Geschäftsführer hatte er einen Grundsatz verletzt, der für die Führungsriege bei Tauchnitz unumstößlich war: Er hatte den Roman Cimarron der amerikanischen Schriftstellerin Edna Ferber herausgebracht, noch bevor die britische und die amerikanische Erstausgabe mit dem üblichen sechsmonatigen Vorsprung auf den dortigen Märkten ihren Einstand gegeben hatten – und sogar, wie sich schließlich herausstellte, noch bevor Ferber überhaupt einen Vertrag unterschrieben hatte. Mehr noch: Um sein Vorgehen zu rechtfertigen, hatte er gegenüber dem Agenten und dem Verlag der Autorin später behauptet, dass »man im Tauchnitz-Verlag wiederholt oder regelmäßig publiziere, ehe der Vertrag vorliege«. Was hier zutage trat, ging weit über Uneinigkeit bei der Auslegung von Anstandsregeln hinaus. Und es war mehr als ein Kulturkampf zwischen der alten und der neuen Verlagswelt. Einhellig befand der Aufsichtsrat des Tauchnitz Verlags, dass Wegner nicht nur einen Vertrag verletzt, sondern den wichtigsten stillen Teilhaber am Unternehmen gekränkt hatte: dessen Tradition. Die Anklage des Freiherrn von Tauchnitz war deutlich genug: »Wenn man meinen Großvater und Vater und auch Deinen Bruder gekannt hat«, schrieb er Otto in höchster Erregung, »so weiß man, daß der ganze Verkehr mit den englischen Autoren auf Korrektheit und Vertrauen aufgebaut war«. Die bittere Ironie an diesem Lauf der Ereignisse erkannte Otto erst im Nachhinein: dass Christian Wegner den Verlagsleuten, die jetzt mit ihm am Aufbau eines direkten Tauchnitz-Konkurrenten arbeiteten, vielleicht nie begegnet wäre, hätte nicht er selbst Wegner zuvor nach England entsandt.11

Was Otto zu diesem Zeitpunkt nicht geahnt haben konnte: Albatross entstand ziemlich genau in dem Moment, als Tauchnitz Wegner auf die Straße setzte. Denn dieser ging sofort auf in seiner neuen alten Rolle eines »raschen, sicheren, zielbewußten« Kämpfers – wie ihn ein ehemaliger Kriegskamerad beschrieb. Als ältester von fünf Söhnen des Kieler Arztes Ernst Paul Wegner und seiner Frau Anna Adelheid Kippenberg brach Christian Wegner 1914, kurz vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag, sein Studium ab und meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst. Er lag zunächst als Infanterist in den Schützengräben, wurde verwundet und zum Leutnant der Reserve befördert. 1917 hatte er genug von der Artillerie und absolvierte eine Ausbildung zum Jagdflieger in Deutschlands erster, kaiserlicher Luftwaffe. Im August 1918 wurde er nach 105 Flügen in einer Halberstadt CL.IV – einem dieser heute noch bei Flugschauen beliebten Doppeldecker, in denen Pilot und Beobachter umtost vom peitschenden Wind und Dröhnen des Motors dicht hintereinander in einer winzigen Kanzel hocken – für sein »rücksichtsloses Herunterstoßen« über feindlichen Truppen mehrfach dekoriert: Eisernes Kreuz I. und II. Klasse, Hamburger Hanseatenkreuz, Ritterkreuz des Königlichen Hausordens von Hohenzollern mit Schwertern. Für diese letzte und höchste Auszeichnung hatte man ihn ausdrücklich wegen seiner Fähigkeit vorgeschlagen, im Gewühl der Schlacht genau kalkulierte Wagnisse einzugehen: Durch das »Beispiel seines rücksichtslosen Schneides« habe er sich als »vorbildlich und mitreißend« erwiesen.12

Max Christian Wegner, aufgenommen 1933 in Paris (mit freundlicher Genehmigung von Dr. Matthias Wegner)

Kaum war der Krieg vorbei, stürzte sich Wegner mit all seiner Kühnheit in eine Verlegerkarriere. Unter den Geschwistern seiner Mutter war ein Bruder, Anton Kippenberg, der gemeinsam mit seiner Frau Katharina aus dem Insel Verlag das führende deutsche Verlagshaus für Belletristik gemacht hatte – in der Zeit, als der damals sechzehnjährige Neffe Christian begann, sich nach einem Beruf umzusehen. Wegner hatte das Johanneum, eines der besten Gymnasien Hamburgs, besucht und, obwohl seine Zensuren eher mäßig ausfielen, von frühester Jugend an eine Liebe für Literatur und Dichtung erkennen lassen. Zu Weihnachten 1909 schrieb sein Vater ein Gedicht für Anton Kippenberg mit dem Titel »Dem Bücheronkel – Mit einem Bild der jüngeren Söhne«, in dem jeder seiner fünf Söhne durch einen charakteristischen Wesenszug beschrieben war, so auch »Max Christian, der künftige Verleger«. In seinem Jahr an der Universität belegte dieser Literaturseminare bei den prominenten Professoren Albert Köster und Georg Witkowski, und während seiner Ausbildung für den Weltkrieg soll er in Feldsturmübungen seiner Truppe zwischen den Befehlen »Deckung!« und »Auf, auf, zum Angriff!« Debatten über Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke geführt haben.13

Somit stellte sich Hans Otto im September 1930, als er Wegner mitteilte, dass er ihn aus seinem Posten als Tauchnitz-Geschäftsführer entlassen wolle, einem sehr zielstrebigen Mann und dessen Lebenstraum in den Weg. Wegner hatte immerhin »ohne weiteres« zugegeben, dass der Fall Cimarron »auf seiner Seite juristisch, geschäftlich, verwaltungsmäßig und gesellschaftlich ganz falsch und unmöglich erledigt worden sei«. Zugleich beteuerte er, dass er »nach seiner festen Überzeugung in England den Fall nach allen Seiten mit ›größter Eleganz‹ erledigt habe und der Fall … in England heute vergessen sei« – nämlich von Ferber und ihrem Agenten Curtis Brown, einem Schwergewicht in London. Doch Wegners Rechtfertigung überzeugte nicht, und eine Aussprache mit dem Aufsichtsrat von Tauchnitz endete desaströs. Wegner wollte und konnte danach nicht glauben, dass man »seine sonstigen Verdienste und Interessen, die er bisher dem Verlage zugeführt habe, einfach übergehen und ihn nunmehr auf die Straße setzen könne«. Eine Woche später teilte ihm Otto mit, dass er zum 30. Dezember entlassen sei, falls sich die Ungereimtheiten nicht »beseitigen« ließen. Unter argwöhnischer Beobachtung und mit eingeschränkten Befugnissen arbeitete Wegner weiter, während Otto nach London fuhr, um sich selbst einen Eindruck von dem Schaden zu machen, den Wegner dem Namen Tauchnitz zugefügt hatte.14

Otto bedauerte die verfahrene Situation zutiefst. Auch wenn seine Einschätzung der Lage vielleicht durch die übergroße Sorge getrübt war, dass Wegner den guten Ruf des Tauchnitz Verlags unwiederbringlich ruiniert haben könnte, so wusste er doch, »daß wir mit Herrn Wegner grundsätzlich eine ganz hervorragende Kraft gewonnen haben«. Er hob insbesondere Wegners feines Gespür für Autoren hervor, die im Kommen waren. Aus dessen aufbrausender Reaktion auf die Vorwürfe gewann er eine wesentliche Einsicht: Wegner hatte nicht vorsätzlich gegen die Interessen von Tauchnitz gehandelt, sondern »Herr W. [ist] ein Mensch, der in egozentrischer Einstellung dauernd befangen ist, der – im besten Sinne vielleicht – in allererster Linie an seine Person denkt«, sich aber auch »mit dem Verlage identifiziert«. Mit dieser Einschätzung lag Otto durchaus richtig. Wegner ging fraglos davon aus, dass etwas gut und richtig war, wenn es für ihn gut und richtig war – eine Selbstverliebtheit, die ihn sein ganzes Leben begleitete. Eine scheinbar beiläufige Familienanekdote verdeutlicht das: Als Wegners Schwiegermutter aus seiner dritten Ehe 1948 in Hamburg auf Besuch war, brachte sie einen großen Bimsstein mit. »Was für ein Stein«, staunte Wegner sinngemäß, denn im Nachkriegsdeutschland, wo es abgesehen von einer im besten Fall kargen Grundversorgung an so gut wie allem mangelte, war er den Anblick eines solchen Pflegeartikels nicht mehr gewohnt. Er nahm den Stein in die Hand, brach ihn entzwei und gab seiner Schwiegermutter die kleinere Hälfte zurück.15 Spielarten dieses Verhaltens im Fall Cimarron waren Otto nicht entgangen. Solange Wegner bekam, was er wollte, setzte er voraus, dass andere sich mit den Konsequenzen abfinden würden. Doch diesmal stand Wegner am Ende mit der kleineren Hälfte da. Otto erkannte erst nach und nach, welch erbitterten Feind er sich dadurch geschaffen hatte.

In der Schule wie im Beruf befolgte Wegner Regeln nur dann, wenn sie ihm zupasskamen. Diese Gewohnheit trug ihm schon im Insel Verlag Ärger ein, den er nach einem »Krach« mit seiner Tante verließ, ebenso wie kurze Zeit später erneut bei Tauchnitz.16 (Im Zweiten Weltkrieg endete er aufgrund dieser charakterlichen Scheuklappen beinahe vor einem Hinrichtungskommando der Wehrmacht.) Dessen ungeachtet hatte Wegner beim Insel Verlag sechzehn Jahre Berufserfahrung gesammelt und war zum Prokuristen aufgestiegen, bevor Tauchnitz ihn 1929 als Geschäftsführer anwarb. Und kaum war dort das Zerwürfnis endgültig besiegelt, suchte er sich den unwahrscheinlichsten aller möglichen Verbündeten, um seine Talente auszuspielen: Curtis Brown, den Agenten ebenjener Autorin, deren Buch Wegner ohne Erlaubnis gedruckt hatte. Wegner hatte Brown tatsächlich nicht verprellt, es war ihm sogar gelungen, seine Wertschätzung zu gewinnen. Brown half ihm obendrein bei der Suche nach Geschäftspartnern, mit denen er einen Konkurrenten zu Tauchnitz aus dem Boden stampfen konnte.17 Zu Ottos großer Enttäuschung und Gram schlug sich Wegner fortan mit all seinen deutschen Verlagskenntnissen für einen anscheinend britischen Neuling in die Bresche. Ein Mann mit Ideen, Ehrgeiz und einem ausgeprägten Sinn fürs Praktische, ein Mann voll Tatendrang und Kühnheit trat ihm hier entgegen und rüstete sich für das Duell mit Waffen von ganz anderem Kaliber.

Einen ersten Vorgeschmack auf das, was ihn erwartete, erhielt Otto im Dezember 1931. Wochenlang tüftelte er da schon an einer Strategie gegen einen unsichtbaren Rivalen, nun las er es schwarz auf weiß im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel: Auf einer ganzen Seite wurde darin die Gründung einer »Albatross Modern Continental Library« angekündigt. Otto prüfte die Anzeige akribisch. In der oberen Hälfte schwebte ein ansprechendes Arrangement aus Text und Bild. Der Name »THE ALBATROSS« erstreckte sich, einem Mantra ähnlich, in Blockbuchstaben über den Worten »Hamburg – Paris – Mailand«. Direkt darunter segelte ein echter Blickfang von einem Vogel. Besonders interessierte sich Otto für den Ankündigungstext unter dem Albatross-Signet: »Der ALBATROSS ist eine deutsche Verlagsgesellschaft, entstanden aus der Zusammenarbeit zweier befreundeter Verleger, eines Deutschen: Max Christian Wegner, und eines Engländers: John Holroyd-Reece. Sitz der Gesellschaft ist Hamburg, wo sich die Alleinauslieferung in den Händen der Firma Oscar Enoch Verlag befindet (mit Ausnahme von Italien, für das die Firma A. Mondadori, Mailand, die Auslieferung innehat)«.18

Die Anzeige entspann eine Erzählung vieler Nationen, die einmütig an der Gründung eines großartigen neuen Unternehmens arbeiteten. Seine beiden Standbeine hatte der Verlag in Deutschland und England. Wegner und Holroyd-Reece verbündeten sich über die Nordsee hinweg. Dazu kam noch Italien. Und auch Frankreich, denn den förmlichen Angaben konnte man entnehmen, dass sich das Verlagsbüro in der umtriebigen Intellektuellenhochburg des 14. Pariser Arrondissement befand. Am meisten verunsicherte Otto der forsche Aufruf an die deutsche Buchbranche. All die Grossohäuser und Buchhändler, unter denen Tauchnitz seit neunzig Jahren Hof hielt, lud Albatross ein, ihre Regale mit den »hervorragendsten Werke[n] der modernen englischen und amerikanischen Literatur in technisch vollendeter Form zu billigen Preisen« zu füllen. Otto kehrte noch einmal zurück zum ersten Satz: »Der ALBATROSS ist eine deutsche Verlagsgesellschaft ..«.19 In welcher Hinsicht Albatross ein deutscher Verlag sein wollte, ging daraus nicht hervor. Und dann war da noch dieser rätselhafte Unbekannte, Wegners Kompagnon.

Knapp einen Monat zuvor hatte John Holroyd-Reece wie aus dem Nichts seinen Einstand in der Welt von Tauchnitz gegeben – wenn auch nur in Form eines Briefes, der den direkten Kontakt zwischen Tauchnitz und Albatross begründete. Darin gab sich der Engländer als ritterlicher Rivale, dem der Sinn nach einem sportlichen Turnier stand. »Meine Herren«, begann er,

nach ehrwürdiger englischer Sitte macht ein Neuankömmling in der Verlagswelt seinen erfahreneren Kollegen die Aufwartung, und ich bedauere außerordentlich, dass in dem Augenblick, den ich dafür ansonsten gewählt hätte, nämlich am Tag vor der ersten öffentlichen Bekanntmachung von The Albatross, mich dringliche Privatangelegenheiten daran hindern, Ihnen die gebotene Höflichkeit zu erweisen.

Ich beabsichtige dennoch, zum nächstmöglichen Zeitpunkt nach Leipzig zu reisen – etwa in zwei Wochen … Angesichts der außergewöhnlichen Umstände, unter denen ich mich auf das Unternehmen Albatross eingelassen habe, wäre es mir eine besondere Freude, allfällige Fragen zu beantworten, die Sie mir vielleicht zu stellen geneigt sind, Sie außerdem rundweg von den Grundsätzen freundschaftlicher Rivalität zu unterrichten, die ich hochzuhalten gedenke, und, falls Sie dies wünschen, auch Maßnahmen zu erörtern, die unser beider Interessen förderlich wären.

In der Hoffnung, dass Sie die von mir beabsichtigte Zuvorkommenheit in dem Geist aufnehmen, wie sie gemeint ist, und in der freudigen Erwartung des Vergnügens, persönliche Bekanntschaft mit Ihrer Geschäftsleitung zu machen,

verbleibe ich, meine Herren,

hochachtungsvoll,

Ihr

John Holroyd-Reece

Die schnörkelhafte Höflichkeit stieß bei der Führungsriege von Tauchnitz auf einige Skepsis – und schürte nur den Argwohn. Otto wusste, dass Albatross ein Büro in Frankreich unterhielt, konnte also davon ausgehen, dass Holroyd-Reece fließend Französisch sprach. Ein zweiter Brief enthielt die Bitte, Otto möge Holroyd-Reece an seine Adresse in Italien schreiben, woraus sich ergab, dass der Engländer auch dort Verbindungen besitzen musste. Ein dritter Brief, der die angekündigte Reise nach Leipzig erneut verschob, war in fehlerfreiem Deutsch verfasst. Holroyd-Reece übersandte ein deutschsprachiges Albatross-Verzeichnis und bemerkte mit einem Anstrich von Galanterie, er wolle »mindestens dafür Sorge tragen, dass Sie dasselbe von mir bekommen, vordem es in den Buchhandel gelangt«.20

Der Mann erschien am Ende doch leibhaftig, nachdem er Tauchnitz einen Monat lang im Ungewissen über den neuen Wettbewerber gelassen hatte. Otto und seine Kollegen Dr. Hauff und Keller konferierten drei Stunden lang mit ihm, und Holroyd-Reece machte mächtig Eindruck. »Wir haben Herrn H. R. als einen ganz ernst zu nehmenden Mann kennengelernt, der literarisch und buchhändlerisch ganz auf der Höhe ist, dazu Kosmopolit im wahrsten Sinne des Wortes«, berichtete Otto in einem pathetisch aufgeladenen, eindringlichen Ton. »Ich glaube ihm, daß er starke und maßgebende Beziehungen zu den für uns maßgebenden Londoner Kreisen hat. Um es kurz und anders auszudrücken: er wäre eigentlich der Mann, den wir hätten gebrauchen können«.21

John Holroyd-Reece in den 1920er-Jahren (mit freundlicher Genehmigung von Lady Elisabeth)

Ottos Würdigung verwies auf eine Schwierigkeit, die ihn insbesondere seit Wegners geräuschvollem Abgang umtrieb: die fruchtlose Suche nach einem »leitenden Mann«, der den Verlag voranbringen konnte. Angesichts eines Buchmarktes, der sich zunehmend entlang nationalistischer Demarkationen abschottete, und britischer Verleger, die Tauchnitz Wildern auf ihrem eigenen Terrain vorwarfen, brauchte Otto einen Geschäftsführer vom Format seines Bruders, der Tauchnitz nach dem Ersten Weltkrieg wieder auf die Beine gebracht hatte. »Man muss die Engländer und ihre Einstellung gegen Deutschland kennen«, hatte er seinem Aufsichtsrat im Jahr zuvor eingeschärft. Der »leitende Mann« musste wissen, wie man die Briten für sich gewann, und das war eine Kunst, »die niemals gelernt sein kann«, erforderte sie doch »eine unerhörte Einstellung auf die englische Mentalität …, feinstes diplomatisches und internationales Fingerspitzengefühl, internationalen Takt«.22

Nun war Holroyd-Reece tatsächlich und sogar noch weitaus mehr, als Otto fürchtete, ein Mann, der behände Staatsgrenzen und kulturelle Gräben überwand. »Wenn du in die Moschee gehst, zieh deine Schuhe aus«, schärfte er seiner Tochter in den Vierzigerjahren ein, und ebendiese Haltung hatte schon zwanzig Jahre zuvor in seiner erfolgreichen Arbeit als Übersetzer ihren Ausdruck gefunden. Holroyd-Reece wurde mit Lob überhäuft für die herausragende Übertragung einer eklektischen Vielfalt von Titeln ins Englische – darunter zukunftsweisende Werke des jüdischen deutschen Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe, dessen Biografien von van Gogh, Degas und Cézanne diese Künstler als Protagonisten der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts etablierten. Anfang der Zwanzigerjahre schrieb er als Pariser Korrespondent des Christian Science Monitor Artikel über alles Mögliche von tschechoslowakischer Keramik bis Kristallglas von Lalique. 1923 knüpfte er über Landesgrenzen hinweg Branchenverbindungen und verkaufte Bücher des britischen Verlegers Ernst Benn als Agent auf dem europäischen Festland. 1927 wurde er in Paris selbst zum Verleger, indem er das Haus Les Éditions Pégase (Pegasus Press) gründete, das sich auf prachtvolle Kunstbände spezialisierte.23

Im Zusammenhang mit Pégase wagte er sich an ein kühnes Verlagsprojekt, das ihm später als Modell für die international ausgerichtete Struktur von Albatross diente: Gemeinsam mit dem deutschen Verleger Kurt Wolff brachte er eine auf 200 Bände angelegte Pantheon-Reihe zur »Entwicklungsgeschichte der europäischen Kultur« heraus. Jeder Band sollte von einem Kenner seines Fachs geschrieben und in drei bis fünf Sprachen übersetzt werden. »Der Verlag will international im gehaltvollen Sinn sein«, so der Pantheon-Prospekt, und »ein trotz seiner verschiedenen Rassen und Völker gemeinsames europäisches Geschick mit all seinen Anziehungen und Gegensätzen« ausloten, »das seine tiefe und fruchtbare Spur im schöpferischen, künstlerischen Leben der jeweiligen Nationen hinterlassen hat«. Unternehmerisch war die Pantheon-Reihe nicht weniger international aufgestellt als programmatisch. Gestaltet wurden die meisten Bücher vom deutschen Schriftsetzer Hans Mardersteig und seiner Officina Bodini in Florenz. Den Vertrieb besorgten Wolff in Deutschland, Holroyd-Reece’ Éditions Pégase in Frankreich und England, Harcourt Brace in den Vereinigten Staaten und Gili in Spanien.24 In diesem Netz von Verbindungen, hoffte Holroyd-Reece, würde sich nun auch Tauchnitz verfangen.

So gesehen war das Kosmopolitische für Holroyd-Reece Lebensphilosophie und Geschäftsmodell in einem. Damit bei Hans Otto die Saat der Furcht aufging oder Agenten sich entschlossen, ihre Autoren bei Albatross unterzubringen, musste Holroyd-Reece wissen, was sein Publikum schätzte, und sich zumindest für den Augenblick mit dessen Wertvorstellungen identifizieren. Nicht zufällig hatte er sich den Ruf eines Meisters der geistreichen Konversation erarbeitet. Die Schriftstellerin Radclyffe Hall hielt ihn für »einen ziemlichen Glücksritter, aber auch jemanden, der mehr über die allermeisten Dinge weiß als irgendjemand sonst unter meinem Bekannten«. Der Agent Graham Watson nannte Holroyd-Reece »einen der charmantesten Plauderer, dem ich je zugehört habe«, und bewunderte, wie dieser auch andere in seinen Bann schlug. »Man erwähnte etwa beiläufig, dass man demnächst nach Rom fahre. Sofort redete er von einer Schneiderei in einer versteckten Gasse hinter der Spanischen Treppe, die sich auf die Herstellung von Seidenpyjamas spezialisiert habe. Um dort in den Genuss einer Vorzugsbehandlung zu kommen, müsse man nur seinen Namen nennen. In Venedig gab es gleich hinter der Accademia ein kleines Restaurant, in dem die Pilze wunderbar schmeckten (nur nicht mittwochs, wenn der Koch seinen freien Tag hatte). In New York musste man unbedingt zu Joe an der Eighth Avenue und 33. Straße gehen, denn der kannte ein Mädchen … Und das Widerwärtige an seinen Empfehlungen war, dass sie immer stimmten«.25

Schon bald erkannte Hans Otto, dass nicht die alteingesessenen britischen Verlage die größte Bedrohung für Tauchnitz darstellten – oder zumindest noch nicht. Es war der Albatross, diese Kopfgeburt zweier Männer, die ganz bewusst mit den Verlagstraditionen von Leipzig und London brachen, von dem die eigentliche Gefahr ausging. Dass sich die beiden kämpferischen Außenseiter nun ausgerechnet auf eine im Ausland glänzend dastehende, tragende Säule des deutschen Verlagswesens wie Tauchnitz einschossen, erschien Otto als grimmige Wendung des Schicksals.

Wegner und Holroyd-Reece waren als Gespann einschüchternd genug. Und doch brauchten sie noch etwas, das Paris ihnen nicht bieten konnte: ein deutsches Standbein. Deutschland war der größte Markt für kontinentaleuropäische Ausgaben englischsprachiger Literatur. Ein Drittel des Absatzes entfiel allein auf diesen unverzichtbaren Markt. Um zu überleben, musste Albatross die Tauchnitz Editions auf deren eigenem Territorium schlagen. Da Wegner selbst viele langjährige Kontakte in Deutschland hatte, war er der richtige Mann für diese Aufgabe, doch ihm fehlte das Kapital. Außerdem untersagte ihm eine Klausel in seinem Arbeitsvertrag mit Tauchnitz, innerhalb von zwei Jahren nach seinem Abgang vom Verlag in München, Berlin oder Leipzig, also in den damaligen Zentren des deutschen Verlagswesens, ein Konkurrenzunternehmen aufzubauen.26 Ohnehin war der Groll im Umfeld von Tauchnitz gegen ihn kein guter Ausgangspunkt, um in Deutschland eine führende Rolle zu spielen. Albatross musste hier möglichst unbelastet an den Start gehen.

Eine Lösung bot sich in der umtriebigen Hafenmetropole Hamburg und der Person des aufstrebenden Verlegers Kurt Enoch. Der sechsunddreißigjährige Enoch führte seit 1921 das Familienunternehmen Gebrüder Enoch Verlag und das dazugehörige Grossohaus Enoch, einen Pressevertrieb, in der Hamburger Innenstadt.27 Ebendiese Kombination war für Wegner und Holroyd-Reece entscheidend. Denn sie suchten jemanden, der sie als Gründer und Geschäftsführer um eingehende Branchenkenntnisse ergänzte und nicht nur schlagkräftig Bücher in Deutschland verkaufen, sondern auch einen europaweiten Vertrieb aufbauen konnte.

Kurt Enoch in den 1920er-Jahren (mit freundlicher Genehmigung von Charles Enoch)

Zudem eignete sich Hamburg als Standort, weil es nicht auf der Liste von Wegners verbotenen Städten stand und mit seiner mehr als 800 Jahre zurückreichenden Schifffahrts- und Handelstradition den Ruf eines Tors zur Welt genoss. In der Zeit, als Holroyd-Reece und Wegner Kurt Enoch eine Beteiligung an Albatross anboten, war Hamburg auch als »anglophile Stadt« bekannt – kein schlechter Anfang für ein Unternehmen, das englischsprachige Taschenbücher in jeden Winkel Europas schicken wollte. London und Hamburg waren nur eine kurze Schiffsreise voneinander entfernt. Englische und deutsche Kaufleute aus beiden Städten tauschten seit Langem zunächst Güter, später auch Familienangehörige aus. Reiche Familien sandten ihre Kinder ins jeweilige andere Land, damit sie dort ihre Bildung vervollständigten.28 Die beiden Albatross-Gründer waren auf Hamburg aus denselben Gründen angewiesen wie viele Kaufleute in den Jahrhunderten davor: weil hier Verbindungen zwischen vielen Ländern zusammenliefen, die den europaweiten Handel sehr viel einfacher machten.

Am Firmensitz seines Verlags und Vertriebs in der Schauenburgerstraße 14 befand sich Enoch im Zentrum des Geschehens und in unmittelbarer Nähe sehr verschiedener Welten. An einem Ende seiner Straße begann das Kontorhausviertel, am anderen gelangte er zur Börse und zum Rathaus. Ganz im Gegensatz zu letzterem – einem historistischen Prachtbau nach Art der Neorenaissance mit Mittelturm, reichem Figurenschmuck und ernst dreinblickenden hofseitigen Steinstatuen – war Enochs fünfstöckiges Warenhaus ein karger und moderner Bau mit glatter Fassade und großen Fenstern, die jede Menge Tageslicht einließen. Die belebten Cafés der Innenstadt erreichte er zu Fuß in fünf Minuten, den Hauptbahnhof und die Speicherstadt, die Hamburgs Weltruhm ausmachte, in zehn Minuten. Vom Herzen der norddeutschen Hauptstadt aus machte er sich bereit, beim Vertrieb der Albatross-Bücher auf dem europäischen Festland die Fäden zu ziehen.

Während Otto vermutete, Enochs Unternehmen diene nur als »Strohfirma« oder Briefkasten für Albatross in Deutschland, hatte dieser Wegner und Holroyd-Reece in Wirklichkeit eine Partnerschaft auf Augenhöhe anzubieten, die für beide Seiten funktionierte. Wie seine beiden Partner war auch Enoch ein Außenseiter in der Verlagsbranche und betrieb sein Geschäft in einer Stadt ohne große verlegerische Tradition. Wie Holroyd-Reece und Wegner wollte auch er neue Vertriebswege über Landesgrenzen erschließen. Nachdem er den Gebrüder Enoch Verlag 1921 von seinem Vater übernommen hatte, lieh er sich Geld vom Onkel seiner Frau, einem Londoner Bankier. »Da ich selber jung war«, erzählte er später, »wollte ich die jungen Schriftsteller verlegen, deren Werke den Geist der Nachkriegsgeneration, ihre neue Lebensweise, ihr Denken und Verständnis der Gesellschaft zum Ausdruck brachten oder widerspiegelten«. Enoch gewann Klaus Mann für seinen Verlag. Er übersetzte Werke von Maurice Bedel und Panait Istrati aus dem Französischen und von Edna Ferber und Margaret Kennedy aus dem Englischen. Er war bekannt für seine Detailversessenheit. In einem Ski-Lehrbuch von Hannes Schneider druckte er als einer der ersten Einzelbilder aus Filmsequenzen zur Veranschaulichung der Technik. Er beauftragte anerkannte Künstler mit der Gestaltung seiner Bücher und Einbände. Beispielsweise illustrierte Hans Reyersbach, der später unter dem Namen H. A. Rey als Autor der Kinderbücher Curious George (Coco – Der neugierige Affe) berühmt wurde, für Enoch den satirischen Gedichtband Grotesken von Christian Morgenstern.29

Auch charakterlich bildete Enoch eine vielversprechende Ergänzung zu den Albatross-Partnern. »Enoch mangelte es nicht an Selbstvertrauen«, attestierte ihm ein Branchenkollege später. Er besaß zudem jede Menge Abenteuerlust und Eigensinn. Was er selbst von seinen Kindheits- und Jugendjahren erzählt, rückt diese Wesenszüge in den Vordergrund und lässt vermuten, dass sie entscheidend für das waren, was er aus seinem Leben machte. Enoch kam 1895 als Kind liberaler Juden zur Welt. Seine Eltern erwarteten von ihrem Sohn Ehrgeiz und Strebsamkeit. So fragte der Vater den Jungen regelmäßig aus, welcher Stoff in der Schule gerade durchgenommen wurde, doch er bestärkte ihn auch darin, die Welt auf eigene Faust zu erkunden. Mit seinem Fahrrad machte sich Enoch in ganz Hamburg »eifrig auf die Suche nach allem, was die moderne Welt so zu bieten hatte«, darunter »die ersten flackernden Filme« und »die ersten Kristallradio-Empfänger«. Er spielte Tennis und Fußball auf Wettkampfniveau. Er wanderte tagelang mit Gleichaltrigen durch die Wälder und übernachtete in Scheunen und Feldern. Mit zwölf segelte er seine Jolle über die Alster. Von der Schule meist gelangweilt, begeisterte er sich für Bücher und vor allem für die Helden der Klassiker von James Fenimore Cooper, Robert Louis Stevenson, Jules Verne, Jack London und Mark Twain, die ihm als Vorbild für eigene Streiche dienen konnten – »ganz besonders«, wie er selbst sagte, »für Tom Sawyer und Huckleberry Finn«. Twains dreisten und gerissenen Protagonisten nacheifernd, jagte er ein Abenteuer ums andere. Mit seinem Bruder beobachtete er am Flugplatz stundenlang fasziniert Zeppeline, bis den beiden der verwegene Gedanke kam, ihr selbst gebasteltes Gleitflugzeug durch einen Sprung vom Dach ihres Hauses zu testen. Die Mutter entdeckte den Plan und verhinderte so ein Unglück.30

Genau wie seine beiden nassforschen Geschäftsfreunde arbeitete Enoch hart und gab nicht ohne Weiteres auf. Sein Studium an der Technischen Universität Berlin wurde unterbrochen, als man ihn mit neunzehn Jahren zum Kriegsdienst einzog. Sein erstes Jahr im Krieg verbrachte er großteils auf einem Beobachtungsposten in einem Schützengraben etwa hundert Meter vor der eigentlichen Front. Durch ein Periskop verfolgte er die Feindbewegungen und berichtete sie der Artillerie. Einen ganzen Winter lang dirigierte er das Kanonenfeuer aus einem eiskalten Bunker, den nur ein winziger Kanonenofen wärmte. Er war dem Tod so nahe, dass er noch Jahrzehnte später schrieb: »Nie vergesse ich das scharfe zischende Geräusch der an meinem Kopf vorbeiziehenden Gewehrkugeln«. Auch die Erinnerung an »zunehmendes Entsetzen und Ekel beim Anblick des Sterbens in allernächster Nähe« ließ ihn nie wieder los. Doch in all diesen Erinnerungen schwingt auch eine Waghalsigkeit mit, die ihn mit seinen Partnern verband: »Ob infolge unbewusster Verdrängung oder einer Art blinden Selbstvertrauens: Ich erinnere mich nicht, dass ich Angst um mein Leben gehabt hätte«.31

Im Dezember 1918 kehrte Enoch in ein vom Krieg ausgezehrtes Hamburg zurück. Rund 40.000 junge Soldaten aus der Stadt waren gefallen. Infolge britischer Seeblockaden herrschte in der Stadt Nahrungsmangel. Wahllose Gewalt und Gesetzlosigkeit griffen um sich, Verbrecherbanden machten die Straßen unsicher. Kommunistische Splittergruppen randalierten und plünderten Speicher auf der Suche nach Essbarem, die Rechten schrien nach Zucht und Ordnung. Inmitten dieses Chaos wollte Enoch im Leben vorankommen. Aus dem Krieg hatte er ein Eisernes Kreuz für Tapferkeit, ein unabgeschlossenes Studium und unstillbaren Erfolgshunger mitgebracht. Er studierte Wirtschaft an der Universität Hamburg. Die Verlobung mit Hertha Rehse Frischmann 1921 spornte ihn an, sein Doktorat der Wirtschaftswissenschaften abzuschließen und ins Verlagsgeschäft einzusteigen, das ihm eine »ideale Kombination von schöpferischen Möglichkeiten, gesellschaftlichem Nutzen und geistig anspruchsvoller Tätigkeit mit der Aussicht auf einen anständigen Lebensstandard« schien. Sein älterer Bruder hatte unterdessen ein Maschinenbaustudium mit Doktorat abgeschlossen und sich mit Herthas älterer Schwester verlobt.32 So wurde Enoch 1921 nach der Doppelhochzeit und mit frischem Doktortitel zum eigentlichen Versorger seiner Familie.