Die Alte Stadt - Birgit Hermsdorf - E-Book

Die Alte Stadt E-Book

Birgit Hermsdorf

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Beschreibung

Die Alte Stadt-Traum oder Realität? Emily träumt sehr realistisch. Ihre Träume wiederholen sich. Oft gibt es Fortsetzungen. Bestimmte Gebäude und Orte tauchen immer wieder auf. Sie fragt sich, ob das Erinnerungen sind oder ihr Gehirn, vielleicht sogar die Seele selbst, die Träume kreativ gestalten. Marcus als Gamer ist in seiner Spielwelt in der Virtuellen Realität ein "Seelendoktor". Manchmal überlegt er, ob seine Charaktere im Spiel glauben, ihre Welt wäre real. Eines Tages begegnen sich Emilys Traum-Ich und Marcus' Avatar. Wie ist das möglich? Und vor allem wo? Vier junge Leute treffen sich an einem Weiher, der für alle ein wichtiger Ort ist, und versuchen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Was wäre, wenn Emily und Marcus – und möglicherweise wir alle – selbst Gestalten in einem Spiel sind?

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Seitenzahl: 212

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Birgit Hermsdorf

Eine Fantasy-Geschichte

Impressum

Texte: © 2023 Copyright by Emily B. Hermsdorf

Umschlag:© 2023 Copyright by KH Hermsdorf

Verantwortlich

für den Inhalt:Birgit Hermsdorf

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Die Alte Stadt – Traum oder Realität?

1. Die Alte Stadt

In den Straßen herrscht wie meist in den Nachmittagsstunden ein großes Gedränge. Eine Allee mit weit ausladenden, sehr alten Kastanien führt zum Schloss hoch über dem grünwässrigen Fluss, der sich in einer langgestreckten Biegung am Stadtrand entlang krümmt. Am Fluss erheben sich die Mauern des 300 Jahre alten Bauwerkes über einem steil aufragenden Porphyrfelsen. Emma nähert sich dem straßenseitigen Eingangsportal, dessen zweiflügliges schmiedeeisernes Tor von zwei Bronzeadlern verziert wird. Jedes Mal, wenn sie hier entlang geht, fühlt sie sich von deren wachsamen Augen angestarrt. Oft schon hegte sie den Wunsch, das Portal zu durchschreiten, und den Schlosshof zu betreten. Emma erwartet dort einen mystischen Ort. Dass lässt die ausladende Fassade mit den unzähligen vergitterten Fenstern vermuten. Es scheint ihr, als seien die meisten davon zusätzlich von innen mit hölzernen Fensterläden verschlossen.

Aber immer dann, wenn sie sich bis auf wenige Schritte dem Eingang genähert hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen, konnte keinen Fuß vor den anderen setzen, als wollte irgendeine Macht ihr Eindringen verhindern. So ist es auch heute.

Sie wendet sich ab und schaut die Allee, die sie hergeführt hat, zurück. Da sie keinen besonderen Plan hat, lässt sie sich von den Menschenmassen mit treiben. Im Weidenkorb, den sie in der Hand trägt, liegt bisher nur ein olivgrünes Tuch aus dicker Baumwolle. Manchmal trägt sie es als Schutz vor der Kälte um die Schultern, heute jedoch wird sie ihre Einkäufe darunter vor neugierigen Blicken anderer Passanten verbergen. Die meisten von ihnen schreiten mit gesenktem Kopf und weitausladenden Schritten die Allee Richtung Schloss voran. Wie es scheint, beachtet sie niemand. Was diese Leute wohl alle im Schloss wollen? Emma will das später noch herausfinden.

Inzwischen ist sie, in ihre Gedanken versunken, an einer Häuserzeile angekommen, an der eine Straße mit vielen kleinen Kaufmannsläden abzweigt. Hier irgendwo ist ihr Ziel, das weiß sie jetzt. Beim Abbiegen wundert sich Emma, dass sich in dieser Stadt offenbar alle Straßen wie ein Fluss mäandernd dahin winden. Sie kennt auch andere Städte, in denen alle Häuser an rechtwinklig aufeinandertreffenden Straßen gebaut worden sind. Hier ist das nicht so. Es gibt keinen einzigen geradeaus führenden Weg.

Zwischen den Auslagen der Händler drängen sich etliche Frauen, manche mit ihren Dienerinnen, die Kleider und Pelerinen der neuesten Mode aus feinsten Stoffen tragen oder andere, genau wie sie in zweckmäßigen Alltagskleidern.

Hunde, Katzen und kleine Kinder wirbeln dazwischen umher, nach Essbarem und Abenteuern suchend. Große Fenster sind weit geöffnet, an einigen sind an Gestellen die zu verkaufenden Waren befestigt. Lederschnüre, bunte Bänder und Tücher flattern, von einem sanften Windhauch bewegt, umher.

An der nächsten Ecke duftet es verführerisch, durch die weit geöffnete Tür eines Wirtshauses sieht man ein Spanferkel, das am Drehspieß über einem kleinen, aber offenbar sehr heißen Feuer schon eine verlockende Bräunung angenommen hat.

Dort inne zu halten hat Emma jetzt keine Zeit, sie will zum Apotheker. Verwundert stellt sie fest, dass einige Läden heute andere Waren anbieten als bei ihrem letzten Gang durch diese Straße, und auch die Apotheke ist nicht zu finden.

Inzwischen ein wenig ermüdet vom Laufen auf den holprigen Kopfsteinpflasterwegen setzt sie sich auf eine Bank eingangs des Marktplatzes, lehnt den Kopf an den Stamm einer dahinter stehenden Linde und lauscht einer von fern leise klingenden Melodie.

2. Emily

Irgendwie ist es sehr neblig. Die Augen versuchen, etwas zu erkennen und herauszufinden, was für ein eigenartiges Geräusch von Weitem zu hören ist. Eine Hausfassade taucht auf, ist es ein Barockgebäude? Ein Flussufer, drei Pferde grasen dort, der Nebel wird dichter, das Geräusch lauter. Emily erschrickt und erwacht. Langsam findet sie zurück in ihr Zimmer, schaut auf den Wecker und sieht mal wieder 3:14. Drei Uhr Vierzehn, also Pi. Immer wieder toll, was es so für interessante Zahlen bei der Uhrzeit gibt. Sie erinnert sich, geträumt zu haben. Das Haus – der Fluss – ah, sie war wieder in der alten Stadt unterwegs. Viele Details sind immer dieselben, aber heute waren andere Händler in den Läden. Gern würde sie wissen, ob es diese Stadt wirklich gibt. Wenn sie dort schon einmal gewesen wäre, würde sie sich daran erinnern, sowie an jeden anderen Ort, den sie irgendwann einmal gesehen hatte.

Aber immer wieder ist der Traum so realistisch und die Geschichte setzt sich fort. Manchmal sind Details anders, aber Abläufe wiederholen sich auch.

Emily weiß natürlich, dass ihr Gehirn im Schlaf sozusagen „aufräumt“, also könnte es auch sein, dass ihre Stadt ein Konglomerat aus Filmsequenzen, Buchausschnitten, realen Details und ihrer Fantasie ist.

3:21 Uhr – also 3 – 2 – 1,jetzt läuft die Zeit schon rückwärts – ist ja lustig.

Sie rückt ihre Bettdecke zurecht, schließt die Augen und denkt an die kleinen Läden.

3. Emma und Irmin

Emma ist, den Kopf noch immer an die Linde gelehnt, in einen leichten Schlaf gefallen und träumt, wieder einmal von ihrer Tochter Irmin. Sie sieht, wie diese als ein junges Mädchen, vielleicht schon eine junge Frau, mit ihrem Pferdewagen, auf dessen Kutschbock sie sitzt, gerade in einer Stadt angekommen ist. Irmin will Einiges verkaufen, Kräuter als Sträuße für gute Raumluft, zerstoßen für die Zubereitung wärmender Tees oder zur Verwendung für heilende Salben.

Auch hofft sie, die bunten Bänder, die sie im letzten Monat hergestellt hat, hier auf dem Markt gewinnbringend zu verkaufen. Man hat erzählt, dass es in dieser Stadt ein Schloss geben soll, riesengroß mit hunderten Zimmern, in dem ein geheimnisvoller Doktor in die Seelen der Menschen blicken und durch sie in ferne Zeiten schauen kann. Nur allzu gerne wüsste Irmin, was in ihrer Zukunft geschehen würde, ob sie einmal einen guten Mann und Kinder haben würde. Aber diesen Doktor zu befragen, das wäre ihr wohl kaum möglich. Und so lenkt sie ihren Pferdewagen durch das Stadttor und …

… erwacht wieder. Emma fühlt sich nun ausgeruht, nimmt ihren Korb und betritt die Apotheke im nächsten Haus.

In einem großen Regal aus fast schwarzem Holz stehen reihenweise Gefäße, in denen verschiedenste Ingredienzien aufbewahrt werden. Ausgestopfte Tiere schauen sie aus Knopfaugen an. Getrocknete Kräuter verströmen einen betörenden Duft. Aus einem anderen Raum tritt ein alter, gebeugter Mann im Kittel hervor, dessen schon trübe Augen hinter Augengläsern sie neugierig und aufmerksam mustern. Er überlegt, ob er die Frau schon einmal gesehen hat. Hier in seiner Apotheke war sie noch nie, da ist er sich ganz sicher. Vielleicht ist er ihr im Schloss begegnet, dessen Bewohner er in größeren Abständen mit Medizin, aber auch gewissen berauschenden Substanzen versorgt.

Emma fragt den alten Apotheker arglos, ob er Engelwurz und Koriander zu verkaufen hätte. Sie erkennt nicht alle Kräuter sicher, weiß aber um ihre Wirkungen und dass genau diese bei starken Blähungen und Magenproblemen hilfreich sind. Als sie ihn jedoch um ein Quäntchen Salbei bittet, betrachtet er sie stirnrunzelnd und fragt dann, wozu sie dieses Kraut wohl bräuchte.

Wie eine Schamanin sieht sie, so denkt er, nicht aus. Mit der Antwort, sie habe den Auftrag, alles im Schloss abzugeben, ist er zufrieden, wundert sich allerdings, dass er selbst den Salbei noch nicht liefern sollte und nun erst recht, wer die Frau sei.

Emma verstaut das Gekaufte im Korb, verlässt den Laden und schaut sich um. Wo würden sie ihre Schritte wohl als nächstes hinführen?

Ein Duft von frisch gebackenem Brot steigt in ihre Nase. Gegessen hat sie heute noch nichts und für ein Stück Spanferkel würde ihr Kleingeld nicht reichen. Aber eine Scheibe Brot wäre jetzt gut. Sie betritt die Bäckerei und muss ein wenig warten. Ein gutaussehender junger Mann mit halblangen schwarzen Locken, schwarzen Beinkleidern, einem weißen rüschenbesetzten Hemd und einer ledernen Umhängetasche verstaut gerade seinen Einkauf. Beim Verlassen des Ladens dreht er sich kurz um und lächelt Emma an. Ihr wird heiß und ein Gefühl, als hätte er in ihre Seele geschaut, überkommt sie.

„Wer mag das nur gewesen sein?“ denkt sie sich und bittet die Bäckersfrau um das Brot. Da niemand sonst anwesend ist und ihre Neugier zunehmend größer wird, fragt sie, ob der Mann öfter hier wäre.

„Sag bloß, du kennst den Bibliothekar des Schlosses nicht?“ wird sie verwundert gefragt. Kopfschüttelnd verlässt Emma den Laden und macht sich auf in Richtung des geheimnisvollen Schlosses.

4. Emily

Der Wecker klingelt und reißt Emily schon wieder aus ihrem Traum. Noch ganz gefangen von der Begebenheit beim Bäcker windet sie sich aus dem Bett. Unter der Dusche verblassen die Erinnerungen.

Kurze Zeit später läuft lärmend der erste Kaffee des Tages in ihre Lieblingstasse. Ein ausgiebiges Frühstück gehört wie immer zum Start in den neuen Tag.

Im Radio läuft gerade eines ihrer Lieblingslieder „In The Year 2525“, als sie eine Stunde später in ihren roten Sportwagen steigt und in die Stadt zur Arbeit aufbricht.

Während sie in Richtung City durch eine Kastanienallee fährt, kommt ihr der Traum in den Sinn. Emily denkt wieder einmal, in der alten Stadt könnte es ihr sehr gefallen, wenn diese nur real wäre. Fünf Ampelkreuzungen später biegt sie ab, findet sogar recht schnell einen Parkplatz, tauscht die Turnschuhe gegen ihre Pumps und begibt sich zum gelben Gebäude auf der anderen Straßenseite. Dort wird sie die nächsten sechs Stunden ihrer nicht gerade herausfordernden, aber einträglich bezahlten, Tätigkeit nachgehen.

5. Marcus alias Dr. Keylam

Marcus hat genug vom Tag. Stress im Büro, volle Straßen, der Sprit viel zu teuer, das Fahrrad ist bei dem Sauwetter auch keine Alternative. Zuhause angekommen räumt er Schuhe und Jacke in den Schrank und tauscht im Ankleidezimmer die Büroklamotten gegen die geliebte Jogginghose und das verwaschene Schlabber-T-Shirt.

Yvonne ist für drei Tage mit ihren Freundinnen in eine Wellnessoase abgetaucht. Für sich allein zu kochen stellt keine Option für ihn dar, wertvolle Zeit dafür zu verschwenden kommt ihm nicht in den Sinn. Im Kühlschrank findet sich eine kalte Bulette – alles aus Hack geht immer – und ein Stück Heublumenkäse. Eine angefangene Flasche seines spanischen Lieblingsrotweins sollte auch noch vorrätig sein.

Schnell ist das Essen herunter geschlungen und Marcus startet den Rechner, loggt sich mit seinem Passwort ein, setzt die VR-Brille auf, schlüpft in die zugehörigen Handschuhe …

… und Dr. Keylam nähert sich schnellen Schrittes dem überdimensionierten Schloss in der alten Stadt. Dessen Fassade sieht wie eine Mischung aus der Residenz Würzburg und dem schottischen Balmoral Castle aus. Er passiert das straßenseitige Eingangsportal, dessen zweiflügliges schmiedeeisernes Tor von zwei Bronzeadlern verziert wird, durchquert den riesigen hinter der Fassade liegenden Platz, der ringsum von knorrigen Korbweiden umstanden ist und betritt durch eine niedrige Holztür einen unscheinbaren Seitenflügel.

Ein rechteckiges Metallschild an der Wand neben der Tür verrät, dass hier ein gewisser „Dr. Keylam, Psychoanalytiker“ seine Dienste anbietet.

In seiner Arztpraxis angekommen, legt der Doktor Mantel und Zylinder ab, gießt sich ein Glas des schweren Rotweines ein und lässt sich in den Schaukelstuhl vorm Kamin sinken. Niemand sonst ist anwesend und so genießt er für eine geraume Weile die Ruhe. Seine Berufsbezeichnung weist auf einen noch sehr jungen Zweig in der Medizin hin, über den er in einem anderen Teil seines Lebens viel gelesen hat. Genau aus diesem Grund hat er auch den Namen „Keylam“ gewählt, der aus dem Keltischen stammt und „Hüter der Seele“ heißt. Und die Seele der Menschen, die will er ergründen.

Auf jede erdenkliche Art.

Draußen wird es langsam dunkel und so setzt der Doktor eine Petroleumlampe in Gang. Auf dem ausladenden Schreibtisch hat ihm der alte Bibliothekar aus der Schlossbibliothek ein paar Folianten bereitgelegt. Er wählt das Buch aus, in dem vom letzten Abend das Lesezeichen auf der Seite liegt, wo die berauschende Wirkung der bekanntesten Wildkräuter beschrieben wird. Sehr detaillierte Federzeichnungen illustrieren den Text.

Er muss herausfinden, wie man in dieser Zeit in den Gedanken der Menschen lesen könnte. Denn Dr. Keylam hat eine beunruhigende Idee.

6. Emily

Der Tag war wieder lang gewesen. So viele Diskussionen wegen irgendwelcher Nichtigkeiten. Am Ende wurde doch keine Veränderung beschlossen, und alles blieb beim Alten.

Zwischendurch hatte Emily große Not, über den ewigen Monolog ihres Chefs am Beginn der Beratung nicht einzuschlafen. Seine nörgelnde leise Stimme, mit der er genau die Fakten von seinem Blatt ablas, die sowieso hinter ihm am Bildschirm für jeden sichtbar waren, wirkte auf seine beste Mitarbeiterin wie das Pendel einer Wahrsagerin, und so bemerkte sie nicht nur einmal, wie die Bilder der Präsentation sich mit Szenen aus ihrer Traumstadt überlagerten.

Da sie sich tagsüber immer bewusst war, dass so etwas geschah, gelang es ihr auch, im letzten Moment innerlich einen Schalter umzulegen, der die beiden Ebenen ihres Bewusstseins trennte und sie in die Realität zurückführte.

Als Emily Zuhause angekommen ist, steigt sie in ihre Sportklamotten und läuft noch eine Runde durch den nahen Stadtwald. Nach einer Dusche und einem Käffchen kann sie ihren Feierabend genießen.

Heute will sie sich auf den Internetseiten einiger Feriengebiete umsehen, um sich für den nächsten Urlaub inspirieren zu lassen. Zum einen würde sie gern mit dem Rad durch Heidelandschaften fahren, andererseits wäre eine Woche Strand am Mittelmeer auch eine Überlegung wert.

Zwei Stunden später hat sie viele positiv bewertete Angebote von Hotels und Ferienwohnungen recherchiert, was ihr aber die Entscheidung nicht leichter macht.

Und so nimmt sie die vielen Bilder verlockender Landschaften mit in den Schlaf …

… Auch heute sind viele Leute unterwegs. Emily versucht, sich in den Straßen der alten Stadt zurechtzufinden. Sie denkt, vom Schloss aus müsste sie am schnellsten zu den kleinen Geschäften kommen. Eines hat es ihr besonders angetan, eine Lederwerkstatt, in der es Handtaschen, Rucksäcke, Gürtel und noch einiges mehr zu kaufen gibt. Aber irgendetwas ist heute anders. Die Allee hoch zum Schloss führt sie nicht zum großen Portal, sondern rechts am Gebäude vorbei an die Seite, wo sie unten den Fluss erblickt. Also wird Emily versuchen, ganz um das Schloss herum zu gehen, um sich dann Richtung Zentrum zu wenden. Zunächst läuft sie an einer hohen, von Efeu überwucherten Sandsteinmauer entlang, die das Schloss vor ihren Blicken verbirgt. Nach einer Wegbiegung scheint der Hauptweg sich zum Fluss hinunter zu winden. Aber linkerhand, entlang der jetzt deutlich niedrigeren Mauer führt ein Wiesenpfad und gibt den Blick Richtung Schlossgarten frei. Es scheint, als hätte jemand einen Kräutergarten wie in einem alten Kloster angelegt. Auch erkennt sie gewundene Wege, an denen von Heckenrosen eingefasste steinerne Bänke stehen. Emily mag alte Burgen und Gärten und nimmt sich deshalb vor, ein andermal hier spazieren zu gehen und achtet nicht weiter auf eine junge Frau, die ihr begegnet. Inzwischen ist sie am Ende der Mauer angekommen und biegt wiederum nach links ab. Nun will sie aber wirklich zum Lederwarenhändler.

Etwa einen halben Kilometer entfernt beginnen die kleinen Häuser des Stadtzentrums. An einer Weggabelung, an der die Krämergasse und die Hauptstraße aufeinande treffen, biegt sie nach rechts in die Hauptstraße ein. Sie will sich erst einmal eine Gaststätte für ein Mittagessen suchen. Die Handtasche kann warten. Entgegen ihrer Erinnerung zieht sich diese Straße ein ganzes Stück hin, ohne dass auch nur im Entferntesten irgendein Restaurant oder Café auftaucht. Wie kann sie sich nur so irren; dachte sie doch, im 4. oder 5. Gebäude schon einmal gegessen zu haben? Es war irgendetwas Orientalisches, da ist sie sich sicher. Nichtsdestotrotz marschiert sie weiter. Jetzt ist Emily neugierig, die Geschäfte sind vergessen. Die Straße wird immer breiter, jetzt führen zwei, bald darauf drei Fahrspuren in jede Richtung. Dazwischen verläuft ein Grünstreifen, auf dessen gepflegtem Rasen sich Kastanien mit Blumenrabatten abwechseln.

Hier war sie noch nie, aber dennoch kommt ihr das Gebäude, welches rechts vor ihr auftaucht, irgendwie bekannt vor.

Sie meint, das gehört doch nach Moskau, sie hat es aus einem Fernsehbericht in guter Erinnerung. Aber sie ist doch in der alten Stadt, sollte da das gleiche Haus stehen?

Bevor sie es erreicht, wendet sie sich dann doch wieder abrupt nach links, um irgendwie in die Krämergasse zu gelangen. Dabei wird ihr schwindlig und kurz schwarz vor Augen …

… Als sie kurz darauf richtig beieinander ist, zeigt der Wecker einmal mal wieder 3:14 an. Der Traum eben von der alten Stadt ist ihr noch ganz gegenwärtig und erscheint total realistisch. Eigenartig.

7. Emma

Unterwegs muss sie an den hübschen jungen Mann, den Bibliothekar, wie die Bäckerin ihr gesagt hat, denken. Wenn er doch im Schloss arbeitet, kann er da sicher ein und aus gehen. Vielleicht könnte er ihr verraten, was die vielen Leute im Schloss wollen, die sie vorhin auf dem Weg dahin gesehen hat und warum sie selbst das Portal noch nie durchschreiten konnte.

Dazu müsste sie ihn natürlich noch einmal treffen und ihn darauf ansprechen. Ob zum einen der Zufall mitspielen und sie andererseits den Mut dazu haben würde?

Derart in ihre Gedanken versunken, ist sie fast angekommen und beschließt, heute nach einem Hintereingang zu schauen und wendet sich, einem kleinen Weg folgend, nach links. Kurz darauf biegt sie um die nächste Ecke und ihr Weg wandelt sich zu einem Wiesenpfad entlang einer niedrigen Mauer. Gerade als sie darüber blickt und einen Garten sieht, kommt ihr eine Frau entgegen. Emma erschauert, als sich ihre Blicke kreuzen und ihr Herzschlag beschleunigt sich. Es scheint ihr, als würde sie diese Frau gut kennen – wobei, mit ihrer Bekleidung – die Frau trägt Hosen und das Haar offen – scheint sie nicht von hier zu sein. Im Nu ist die Fremde dort hinter der Biegung verschwunden, von wo sie selbst gerade gekommen ist. Noch lange wird Emma diese Begegnung nicht aus dem Kopf gehen.

Einige Schritte weiter, dort wo die Mauer nun deutlich höher wird und jeden Blick in den Garten versperrt, entdeckt sie eine unscheinbare kleine Tür. Vorsichtig drückt sie die bronzene Klinke herunter – und tatsächlich ist die Tür unverschlossen und nach kurzem Zögern tritt sie ein. Unverhofft befindet sich Emma nun in einem unerwartet großen Garten, einen, wie sie ihn vorher noch nie gesehen hat. In dessen Gestaltung scheint sich das Besondere der alten Stadt fortzusetzen, nämlich dass es keinerlei gerade Wege gibt. Und außerdem ist das Gelände nicht eben, sondern gewellt wie Dünen in den Weiten afrikanischer Wüsten. Die braunen Wege sind allesamt von weißen hühnereigroßen Steinen eingefasst, die einen auffälligen Kontrast zum saftigen Grün des Rasens bilden. Das Gelände neigt sich leicht in Richtung der Mauer, hinter der auch ein Weg hinunter zum Fluss führt. Um zum Schloss selbst zu gelangen, muss man einen Hügel hinauf gehen. Hier an der Mauer ist der Rasen eher eine Wiese, auf der Wildblumen sich mit wilden Getreidesorten mischen und teilweise bis zu ihrer Hüfte reichen. Ein Stück weiter bilden große, offenbar schon recht alte Kastanien, einen runden Platz, auf dem vier Bänke stehen, jede in Form eines Viertelkreises. Dahinter schließt sich ein Rosengarten an, der sich mit einem Laubengang bis zur Ecke der Mauer hinzieht. Noch sieht man an den Gehölzen nur Knospen, aber in wenigen Tagen wird der duftende Tunnel wohltuenden Schatten in der Mittagssonne spenden. Emma fasst den Entschluss, sich auf einer der

in kleinen Nischen stehenden einfachen, weiß angestrichenen Holzbänken niederzulassen. Uns so lässt sie, die Umgebung betrachtend, ihren Gedanken freien Lauf und schließt nach einer Weile die Augen.

8. Quinn

liebt Bücher über alles. Seit er lesen kann, verschlingt er jede Seite, derer er habhaft werden kann. An seine Kindheit kann er sich nur im Zusammenhang mit Büchern erinnern. Natürlich begann seine Leidenschaft mit dem Schmökern von Märchen und Sagen. Aber recht bald faszinierte ihn alles, was auch nur im Entferntesten mit Naturkunde zu tun hat. Erst waren es dünne Leseheftchen, bald jedoch kamen auch Wälzer von Reisenden und Naturforschern hinzu.

In seinem Elternhaus gab es einige wenige Bücher, unter anderem die Bibel. Obwohl die Eltern nicht gläubig waren, gehörte sie einfach ins Haus. Quinn hat sie durchgelesen, Vieles infrage gestellt, angefangen vom extrem langen Leben der Männer im Alten Testament bis hin zur Jesusgeschichte. Interessant erscheint ihm von Anfang an die Sache mit der „Herrlichkeit des Herrn“.

Wenn er sich die Beschreibung im Text genau vorstellt, sieht er ein Gefährt vor sich, welches ihn an Leonardos Flugmaschinen erinnert. Sollte es so etwas einmal geben? Ingenieure versuchen ja, Flugmaschinen zu bauen.

Außerdem gab es Zuhause ein sehr teures Buch von einem Alexander von Humboldt. Dieses ist auch heute noch sein Lieblingsbuch, so viele Beobachtungen und Erkenntnisse sind darin aufgeschrieben, dass kaum ein Menschenleben zu reichen scheint, das alles zusammenzutragen und ein Buch daraus zu machen.

Quinn wollte immer mehr lesen und lernen, aber dazu musste er Bibliotheken aufsuchen, denn um Bücher zu kaufen, fehlte ihm das Geld.

Nichts schien ihm deshalb geeigneter, als selbst in einer Bibliothek zu arbeiten.

In seiner Stadt gibt es neben vielen alten Gebäuden, einem Viertel mit einer Reihe kleiner Geschäfte, einigen Kirchen und Schulen auch ein altes Schloss. Es liegt oberhalb des Flusses und besitzt einen Kräutergarten, wirkt aber ansonsten sehr unnahbar. Die Leute munkeln, dort geschähen geheimnisvolle Dinge, denn an manchen Tagen gingen viele Menschen dorthin, die aber weder dort wohnten, noch wieder heraus kämen. Ein Seelendoktor würde in gewissen Räumen Experimente machen, unbekannt, welcher Art. Und manchmal würden andere Personen das Schloss verlassen, oft mit völlig unpassender Garderobe oder Haartracht.

Auch könne man mitunter nachts sehr laute, eigenartige rhythmische Klänge, ähnlich seltsamer Musik, von dort vernehmen, ohne dass jemals Musikanten oder Spielleute im Schloss gesehen worden wären.

In vergangenen Zeiten wären die Bewohner schnell in Verruf geraten, Hexen zu sein, zumal der Apotheker von Zeit zu Zeit gewisse Kräuter aufs Schloss liefert, von denen einige dafür bekannt sind, einen mächtigen Rausch hervorzurufen.

Aber man spricht auch davon, dass im Schloss eine der größten Bibliotheken des Landes untergebracht sei.

Und das fasziniert Quinn derart, dass er allen Mut zusammennimmt und sich eines Tages zum Schloss aufmacht, um beim Besitzer zu erkunden, ob eine Stelle für ihn frei sei.

Nun ist er noch ein sehr junger Mann, trägt seine lockigen schwarzen Haare offen bis zur Schulter, am Kinn wächst kaum etwas Flaum, und hat sich am fraglichen Tage – seiner Meinung nach – elegant gekleidet. Eine schwarze Hose, schwarze Lederschuhe, ein weißes Hemd mit einem Rüscheneinsatz und ein kurzer schwarzer Mantel mit Stehkragen sollen ihn elegant und nobel aussehen lassen. Er versucht an einem der Tage sein Glück, als wieder einmal eine ganze Reihe von Menschen zum Schlosse strebt.

Am Portal angekommen, das heute geöffnet ist, muss er sein Begehr einem Lakaien vortragen und sich dann in einen schlichten, weiß gekalkten, völlig schmucklosen Raum zu anderen Wartenden auf eine Bank setzen.

Wenig später wird er aufgerufen und bekommt ein Blatt ausgehändigt. Darauf soll er seinen Namen, den seiner Eltern, sein Alter, seinen genauen Wohnort und sein Anliegen niederschreiben. Der Lakai nimmt danach das Blatt entgegen und verschwindet wieder.

Gerade als Quinn wegen der langen Wartezeit ungeduldig wird, erscheint ein anderer Mann, gekleidet wie ein Studierter und bittet ihn, mitzukommen.

Vom Warteraum neben dem Eingangsportal aus geht es nun über den sehr ausgedehnten Innenhof. Auffällig ist das Pflaster, das in interessanten Mustern verlegt ist sowie die alten Korbweiden, die im Winter immer wie krüppelige Wesen aussehen, aber jetzt dank der neu sprießenden Zweige und Zweiglein wirken, als hätten sie eine absonderliche Frisur.

Am Seitenflügel des Gebäudes, an dem „Dr. Keylam, Psychoanalytiker“ offenbar seine Praxis hat, bleiben sie stehen und der Mann, der ihn begleitet hat, läutet die Glocke neben der Tür.

Kurz darauf erscheint eine Bedienstete, und bittet den Besucher, ihr zu folgen.

Sie schließt sorgfältig die Tür hinter ihnen ab und führt Quinn einen kurzen, nur spärlich beleuchteten Korridor entlang, in dem es entfernt nach Weihrauch oder einem ähnlichen Kraut riecht.

An der nächsten, diesmal sehr schlichten Tür, die nur aus einfachen Brettern gezimmert scheint, klopft die Frau an und wartet ein gut zu vernehmendes „Herein“ ab.

Die Tür wird geöffnet und was Quinn nun sieht und zu hören bekommt, trifft ihn völlig unerwartet.

Zunächst ist er beinahe von einer gleißenden Helligkeit nahezu geblendet. Die Musik, die überlaut zu hören ist, scheint direkt aus zwei schwarzen Schränken an der mit roter Samttapete bezogenen Wand hinter einem riesigen Schreibtisch zu kommen. Der Lehnstuhl am Schreibtisch ist leer, aber der Hausherr sitzt in einem monumentalen Schaukelstuhl, über dessen Lehne ein weißes Fell gebreitet ist vor einem offenen Kamin, in dem ein gemütliches Feuerchen brennt, in der Hand einen mit Rotwein zur Hälfte gefüllten Kelch. Die Ohren sind von einer Art Ohrschützern bedeckt. Vor den Augen trägt er ein eigenartiges schwarzes kastenförmiges Gestell und scheint seinen Besucher zunächst offenbar nicht zu bemerken. Quinn ist mehr als verwirrt, harrt aber höflich der Dinge, die da kommen sollten. Der Hausherr berührt mit einem Finger eine unscheinbare Stelle des Augenkastens, woraufhin die Musik erstirbt, nimmt die Dinge vom Kopf und legt alles beiseite.

Quinn verneigt sich leicht, sein Gegenüber erhebt sich aus seinem Schaukelstuhl und reicht ihm die Hand. „Guten Tag, ich begrüße Sie in meiner Praxis. Wie Sie ja wissen, ist mein Name Dr. Keylam und wie ich aus Ihrer Anmeldung entnehme, heißen Sie Quinn. Erläutern Sie mir doch einmal Ihr Anliegen.“

Quinn ist über die offenbar unkomplizierte Art des Doktors verblüfft, mehr noch über sein Äußeres. Er trägt eine blaue derbe Hose und darüber einen kurzen wollenen Pullover mit einem Schriftzug darauf, weiße Schuhe mit blauen Schnürbändern und sehr dicken Sohlen aus einem ihm unbekannten Material.

Seine blonden Haare sind sehr kurz geschnitten, sein Gesicht sieht aus, als könne er sich nicht entscheiden, ob er sich einen Bart stehen lassen wolle oder nicht. Auch ist er sehr jung. Das soll ein Doktor sein?

Quinn erwidert den Händedruck und gibt bereitwillig Auskunft.