Bertas Reise - Birgit Hermsdorf - E-Book

Bertas Reise E-Book

Birgit Hermsdorf

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Beschreibung

"Wer einmal Katerbornwasser getrunken hat oder mit seinem Wasser getauft wurde, kommt immer wieder nach Delitz zurück." So steht es in der Delitzer Dorfchchronik und so ist es auch Berta ergangen. Geboren als eines von vielen Kindern eines Zugewanderten arbeitet sie als junge Frau auf dem Rittergut als Dienstmädchen. Als sie 1909 davon erfährt, dass ein Luftschiff mit dem Grafen Zeppelin über Halle fahren wird, ist ihre Neugier geweckt und sobald sie 18 ist, macht sie sich auf ins ferne Friedrichshafen. Eine glückliche Zeit mit Theodor und ihrer Tochter Luise beginnt dort. Dann aber macht der Krieg alle Träume zunichte, denn ihr Ehemann fällt an der Front. Berta kommt eher durch Zufall nach Nürnberg und versucht dort einen Neustart. Als sich das als eine Fehlentscheidung herausstellt, zieht sie es zurück in ihr kleines Dorf am Buggel, wie es die Einheimischen nennen. Dort angekommen, steht sie am Ende vor der Aufgabe, ganz allein den großen Hof zu führen, auf den ihre Schwester Rosa vor Jahren ein-geheiratet hat, denn der Weltkrieg und die Spanische Grippe haben auch hier Opfer gefordert. Letztendlich geht sie nach Halle, heiratet 1919 ein zweites Mal und lebt dort bis zu ihrem Tod. Das Buch entstand während Wallys Erforschung des Lebens ihrer Ahnen. Im Nachlass ihrer Mutter findet sie interessante über 100 Jahre alte Fotos und Urkunden, die alle in Halle und Umgebung ihren Ursprung haben, aber auch eines ihrer Großmutter Berta aus einem Fotostudio in Nürnberg. Zwischen der Zeit als Dienstmädchen in Delitz und der Hochzeit in Halle liegen mehr als 10 Jahre. Niemand aus Wallys Familie hat je davon erzählt. Im Geburtsort ihrer Großmutter Berta ist jetzt ihr eigenes Zuhause.

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Seitenzahl: 197

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Birgit Hermsdorf

Bertas Reise

Familienroman

Impressum

Texte: © 2025 Copyright by Birgit Hermsdorf

Umschlag: © 2025 Copyright by Karl-Heinz Hermsdorf

Verantwortlich für den Inhalt:Birgit Hermsdorf

Kontakt: [email protected]

Berta will Pfingsten 1909 den Zeppelin über Halle mit eigenen Augen sehen. Mit ihrer großen Liebe Theodor und Tochter Luise lebt sie einige Jahre glücklich im fernen Friedrichshafen, bis ihr Ehemann 1915 im Krieg fällt. Auf sich allein gestellt versucht Berta einen Neuanfang, zunächst in Nürnberg, später in Teicha, bis ihre Reise nach mehreren Jahren vorerst in Delitz am Berge, dem kleinen Dorf am „Buggel“ endet.

Berta betrachtet die Aufnahme aus dem Nürnberger Photostudio. Aufrecht steht sie hinter der Bank, eine Hand auf deren Lehne und blickt selbstbewusst den Betrachter an, wie es scheint. Wenn das Theo nur noch hätte sehen können. Ihr kommen die Tränen.

„Berta Reise“ ist die Fortsetzung von „Die Suche nach dem verborgenen Keller“. Der autobiografische Roman verbindet Elemente eines Heimatromans mit der Geschichte einer starken Frau.

Bertas Reise ist auch als Taschenbuch bei epubli und allen gängigen Shops bestellbar.

Inhalt

Kapitel 1 Bertas Traum

Wally – Sommer

Erwachen

Wally – Fragen

Überleben

Angst

Neubeginn

Wally – Spuren

Neugier

Theodor

Herkunft

Heißer Sommer

Wally – Urkunden

Kapitel 2 Bertas Reise

Friedrichshafen

Sehnsucht

Angekommen

Drei Jahre Später

Kriegswitwe

Nürnberg

Wally – Ahnen

Flucht

Gestrandet

Schule am Buggel

Wally – Erkenntnis

Sesshaft

Wally – Gefunden

Nachwort

Wahrheit oder Dichtung

Glossar

Ende

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Kapitel 1 Bertas Traum

Feuer

Dunkle Nacht, Leute am Lagerfeuer, Musik, ich habe solche Angst, plötzlich rennt eine Frau mit einer Fackel in der Hand los, ehe ich es begreife, bricht Feuer aus, die Scheune steht in Flammen, ich renne der Frau hinterher um sie zu retten, es ist verqualmt, dann knackt es laut, ich sehe nichts, doch, an der Seite ist eine kleine Tür, noch kein Feuer dort, kurz davor gibt der Boden unter mir nach…

Schweißgebadet und mit pochendem Herzen erwacht Berta. Es ist es stockfinster, also muss der Morgen noch weit entfernt sein. Immer wieder verfolgt sie dieser Traum. Wenn sie nur wüsste, was daran wahr ist, denn die Scheune kommt ihr bekannt vor. Und diese Frau mit der Fackel ähnelt irgendwie ihrer Schwester Rosa. Aber wieso brennt es nur?

Berta dreht sich auf die andere Seite und schließt die Augen, denn der neue Tag wird viel Arbeit bringen.

Wally – Sommer

Ein langer, wieder einmal viel zu warmer Sommer ist vorüber. Zwar stieg die Thermometeranzeige diesmal nicht über 36°C, aber so viele tropische Nächte, also solche über 20°C, ließen die Biergärten überquellen und lockten die Menschen in ihre Gärten und Wälder, in Schwimmbäder und an die Seen der Umgebung. Lediglich die Mückenplage vermochte den Aufenthalt im Freien zu verleiden. Klimawandel hin und her, Wally mag zwar warme Sommer, aber sie freut sich auch schon auf die bunten Farben des sich ankündigenden Herbstes. Den heutigen Abend verbringt sie auf ihrer Terrasse, neben sich auf dem Tisch ein Glas Weißburgunder vom Geiseltalsee und die obligatorische große Flasche Wasser. Noch reicht die Helligkeit zum Lesen, und so blättert sie wieder einmal in der Chronik des Dorfes, in dem ihre Großmutter Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurde. Ein Kapitel befasst sich mit dem Wetter und der Landwirtschaft in dieser Zeit.

Erstaunt liest sie von Dürresommern, Überschwemmungen, Kälteeinbrüchen und milden Wintermonaten und deren Folgen für die Ernte und den Lebensumständen der Bauern.

Als Wally im vergangenen Jahr für ihr Hobby, das Geocaching, auf der Suche nach geeigneten Orten für das Versteck einer Schatztruhe war, wurde sie durch diese Chronik fündig. Sie erdachte eine Geschichte, die im Dorf und dessen Umgebung spielte, sowie auf dem nahen ehemaligen Gut des Dorfes.

Dabei war sie auf eine Sage von Lichtern in der Nacht, verschwunden Hühnern und Blumenkränzen auf den Stufen eines Hauses gestoßen. In dieser Gegend im Saalekreis gibt es viele derartige Sagen und sicherlich hat manche von ihnen einen wahren Kern.

Plötzlich hat Wally eine Idee, vielleicht sogar eine Ahnung. Seit fast 10 Jahren steht in ihrem Zimmer eine Kiste voller alten Fotos und Urkunden ihrer Eltern und deren verstorbenen Angehörigen. Eigentlich wäre es an der Zeit, wieder einmal darin zu stöbern.

Die Sonne ist inzwischen untergegangen, das Abendlicht wechselt ins Bläuliche, die Mondsichel erscheint im Südosten. Mit den Füßen auf einem zweiten Stuhl hängt sie ihren Gedanken nach. Recht schnell wird es empfindlich kühl. Eine Jacke mag sie nicht anziehen und so räumt Wally alles an seinen Platz und wechselt ins Zimmer.

Dunkelheit

Ringsum lodern Flammen auf, der Boden gibt nach, Dunkelheit, Erde rieselt mir ins Gesicht, meine Hände ertasten eine Wand, zwei Schritte zur Seite, da ist nichts, vorsichtig setze ich ein Bein vor das andere, stoße mir den Kopf, meine Hände fassen ins Leere, ich begreife, dass sich vor mir ein niedriger Gang erstreckt, wo nur ist Rosa? Auf den Knien krieche ich los, es wird immer dunkler, meine Knie schmerzen, immer wieder stoße ich irgendwo an, eine gefühlte Ewigkeit vergeht, die Luft wird knapp, kann mir im Dunklen schwarz vor Augen werden? Mir schwinden die Sinne…

Wo bin ich?

Wieder dieser dunkle Gang, war da irgendwo ein Feuer? Ich erschrecke, vor mir ist Stoff, ein alter Sack? Ich schiebe ihn beiseite, dahinter fühle ich Platz und mehr Luft. Erschöpft sinke ich zu Boden.

Es ist erbärmlich kalt, ich friere. Meine Kehle ist so trocken, ich kann kaum schlucken, habe feuchte Knie und Hände. Ich berühre meine Lippen. Ist das Blut?

Zitternd taste ich den Raum um mich herum ab. Holz in Kniehöhe, ein Brett, ist das ein Regal? Ich finde eine verkorkte Flasche, kann sie öffnen und probiere gierig. Angeekelt spucke ich aus. Ist das vergorenes Bier? Wo bin ich nur? Da ertaste ich etwas Weiches, ein Schaffell?

In dem Moment versinke ich wieder im Dunkel.

Die Höhle

Rosa und ich sitzen auf einer Bank. Es ist Winter. Rosa springt auf mit einer Fackel in der Hand. Schon bin ich im Feuer. Im nächsten Moment erwache ich auf dem Schaffell. Neben mir ertaste ich Streichhölzer und eine Kerze. Mit zitternden Fingern gelingt es mir, sie anzuzünden. Ich bin in einer kleinen flachen Höhle. Mit einem erstickten Schrei komme ich zu mir.

Erwachen

Jetzt weiß sie es wieder. Da war diese Feier am letzten Tag des Jahres 1907 an der Feldscheune. Eigentlich wäre sie lieber im Haus ihrer Schwester gewesen, nach dem, was ihr zuvor widerfahren war. Auch daran erinnert sich Berta an diesem Morgen im Januar 1908.

Genau so klar und klirrend wie die Winterluft sind ihre Gedanken. Sie war überhaupt nicht zuhause und zur Arbeit würde sie wohl kaum gehen können.

Rosa, ihre um zwei Jahre ältere Schwester, hatte Rache nehmen wollen an dem schrecklichen Monster, das ihr Gewalt angetan hatte und dabei die Scheune in Brand gesetzt. Als Berta begriff, was Rosa vorhatte, stürzte sie ihr nach, weil ja sofort alles lichterloh brannte und sie ihre Schwester retten wollte. Doch im Qualm konnte sie nichts erkennen, war im Boden eingebrochen und irgendwie durch einen Tunnel in eine Art kleiner Höhle gelangt. Dort war sie bewusstlos geworden. Wie lange sie dort auf der Erde und später auf dem Fell gelegen hatte, wusste sie nicht.

Aber die Januarkälte hatte sie ins Leben zurückgerufen. Ihr war eiskalt gewesen. Zum Glück fand sie eine Kerze und Streichhölzer und mit steifen Fingern gelang es ihr, Licht zu machen. Verblüfft erblickte sie eine richtige kleine Wohnung.

In einem Regal lagen Äpfel, von denen sie einen hungrig verschlang. Auch einen Krug mit Wasser entdeckte sie in der Ecke. Und was am besten war – auf einer Pritsche lagen Decken und Felle. Dort ließ sie sich erneut mit schmerzgeplagtem Körper voller Angst nieder.

Wie lange sie zwischen Wachsein und Schlaf getaumelt hatte, wusste Berta nicht, den Wechsel zwischen Tag und Nacht konnte sie schlicht nicht wahrnehmen. So hatte sie eine lange Zeit im Dunkel unter der Erde verharrt.

Als die Schmerzen nachließen und der Wasserkrug bis auf den letzten Tropfen geleert war, war auch die Luft immer schlechter geworden, obwohl sie die Kerze immer nur kurze Zeit angezündet hatte. Und so beschloss die junge Frau, nach einem Ausgang ihrer Höhle zu suchen. So schwer sollte das nicht sein, denn weit entfernt von der alten Feldscheune, an der sie gefeiert hatten, konnte sie sich nicht befinden. Aber sie erinnerte sich auch nicht, dass ihr irgendetwas aufgefallen wäre, was einer Tür oder einem Eingang im Entferntesten ähnelte. Schon einige Male war Berta den Weg vom Gutshof zum Schloss des Gutsbesitzers mit ihrer Schwester Rosa gegangen. Auf den Feldern zwischen den beiden Dörfern war nichts weiter zu sehen als die Scheune und der Bahndamm der Rübenbahn, der vom nahen Lauchstedt bis nach Schlettau führte. Wo nur würde sie ins Freie gelangen?

Voller Erwartung zündete sie die Kerze an, um in deren schwachen Licht die Wände des Raumes genau zu untersuchen. Der Eingang hinter dem alten Kartoffelsack führte unter den Boden der Scheune, daran erinnerte sie sich nun wieder. Aber als sie durch die Bretter brach, rutschte Erde hinterher und versperrte ihr den Rückweg.

Nun erst nach vielen Stunden der Einsamkeit begann Berta zu überlegen, was das überhaupt für eine Höhle war, und wozu sie diente. Und vor allem, wem.

Es schien, als wäre sie natürlichen Ursprungs, denn die Wände bestanden aus natürlichem, nicht geebnetem Gestein und war sehr flach. Nur in der Mitte konnte sie aufrecht stehen. An einer Seite befand sich das Regal mit einigen Vorräten, ein kleiner Schemel und gegenüber die Liegestatt. Jetzt erst entdeckte sie unter dem Regal hinter einem herabhängenden Tuch eine Art Schatzkiste mit einem Vorhängeschloss. Was wohl darin versteckt sein mag, fragte sich die junge Frau. Einen Schlüssel dazu konnte sie nicht sehen.

So betrachtete sie die Umgebung ganz genau. Und tatsächlich. Dort, wo der Wasserkrug stand, lehnte ein Brett lose an der Wand. Als sie es beiseite nahm, erkannte sie einen sehr niedrigen weiteren Gang. Das muss ein zweiter Eingang sein, glaubte sie.

Berta ergriff den Kerzenhalter mit dem bereits sehr kurzen Stumpf, leuchtete hinein, ließ sich nieder, klemmte sich den Rock in den Bund und begann, auf allen Vieren vorsichtig hinein zu kriechen.

Es waren vermutlich nur wenige Meter, dann endete der Gang abrupt. Gerade wollte sie der Mut verlassen, als sie direkt über sich Holz ertastete. Berta drückte dagegen und tatsächlich schaffte sie es, ein weiteres Brett etwas anzuheben. Sie blinzelte geblendet in das hereinfallende Licht. Kalte Winterluft umströmte sie und füllte nach einem tiefen Atemzug ihre Lunge. Neugierig schaute sie durch den Spalt. Kahle Erde. Als sie den Kopf etwas wendete, erkannte sie einen Haufen Steine.

Jetzt glaubte sie, sich zu erinnern, wo der liegt. Aber schon erlahmten ihre Kräfte und sie ließ das Brett zurückfallen. Erneut umgab sie Dunkelheit, denn die Kerze war durch den Luftzug erloschen.

Und in dem Moment füllten sich ihre Augen mit Tränen. Tage voller Angst, Hunger und Erinnerungen an die schlimmsten Momente ihres jungen Lebens hatten ihre Nerven strapaziert. Bertas Schultern bebten, so sehr muss sie schluchzen. Dann aber wurde ihr Geist ganz klar und sie begann, ihre Lage zu analysieren und einen Plan zu machen.

Wally – Fragen

Neugierig beginnt Wally, den Inhalt ihrer Kiste nach und nach auf dem Fußboden rings um sich zu verteilen. Zuoberst liegen Hefter mit ehemals wichtigen Unterlagen und Fotoalben ihres Vaters. Eine Menge Material existiert von ihm, hat er doch über Jahrzehnte Familienforschung betrieben, denn sein Name ist sehr selten. Fotos sind beschriftet, der Lebenslauf sehr ausführlich. Wally kennt eine Menge seiner Vorfahren und Verwandten, wenn auch meist nicht persönlich. Wie viele überhaupt noch leben, weiß Wally nicht.

Aber heute sucht sie die Vorfahren ihrer Mutter Dora. Da gibt es leider nicht so viel in der Kiste. Ein Album, aus dem Bilder entfernt worden sind, wenige einzelne Fotos und Porträtpostkarten, deren alte Schrift sie überwiegend lesen kann. Leider fehlen Absender, nur Vornamen der Grüßenden erkennt sie. Zum Glück sind in einer Tüte alte Urkunden verwahrt.

Aus früheren Gesprächen kennt Wally die Vornamen der Geschwister ihrer Mutter. Das war vor 100 Jahren eine regelrechte Patchworkfamilie.

Die Ehe von Wallys Großeltern (Berta A. geb. S. und Otto Karl A.) wurde 1919 in Halle/Trotha geschlossen.

Wallys Großvater Otto hatte aus einer früheren Ehe zwei Töchter, Else und Lotte, sowie die angenommene Helen.

Ihre Großmutter Berta brachte aus vorhergehenden Beziehungen Luise, Gertud und Herbert mit in die Ehe.

Die Mutter Dora war als jüngstes Kind dieser Familie mit den zwei älteren Brüdern Fritz und Walter aufgewachsen, die den gleichen Vater hatten wie sie selbst.

Sogar die Namen der Geschwister der Großmutter Berta waren aufgeführt. Rosa, Max, Eduard jr. und Frieda.

Jetzt wurde es interessant, denn diese Großeltern hatten um 1860 in Wallys Heimatdorf geheiratet und alle fünf Kinder waren hier geboren. Leider war nirgends vermerkt, wann es jeder einzelne verlassen hatte oder verstorben war. Viel ist über diese Menschen nicht bekannt.

Auf jeden Fall weiß Wally, dass ihre Großmutter Berta hier auf dem Dorf 1892 geboren ist, in der „Badstuwwe“, wie erzählt wurde, und später eine Weile als Dienstmädchen auf dem Gutshof gearbeitet hat. Dann verliert sich ihre Spur bis 1919. Die Schwester Rosa hat irgendwann einen gewissen Möller geheiratet, mehr ist auch über sie nicht bekannt.

Draußen ist es finster geworden. Nachdenklich betrachtet Wally ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem die beiden Schwestern mit dunklen Kleidern und weißen Schürzen vor einer Hauswand gemeinsam mit drei anderen jungen Leuten stehen. Sie ähneln einander sehr.

Wie wohl ihr Leben Anfang des 20. Jahrhunderts gewesen sein mag? Was ist aus Rosa geworden und wie ist es Berta bis 1919 ergangen, hatte sie doch bereits drei Kinder bis zur Hochzeit mit 27 Jahren?

Wally beschließt, sich demnächst ausführlicher mit ihren Ahnen zu befassen.

Überleben

Berta hatte keine Ahnung, wie es draußen nach dem Brand aussah und wie es den Menschen, die auf dem Fest waren, ergangen ist. Am meisten bedrückte sie der Gedanke an ihre Schwester. Warum nur war sie mit der Fackel in die Scheune gerannt? Hatte womöglich sie den Brand entfacht? Was geschah mit ihr, nachdem sie selbst im Boden eingebrochen war? Die junge Frau hatte große Angst, dass Rosa im Feuer umgekommen sein könnte. Was würde Rosas Schwiegervater dazu sagen, war es doch sein Besitz und er hatte extra seine Söhne beauftragt, achtzugeben, dass bei der Feier am Jahresende nichts passiert. Konnte sie sich jetzt noch auf den Otto-Hof wagen?

Jetzt im Winter wurde es schnell dunkel. Berta war inzwischen sehr hungrig und musste sich auch unbedingt erleichtern. Hier in der kleinen Höhle war keine Gelegenheit dazu. Eine Weile wartete sie noch und kroch dann ein zweites Mal durch den engen Gang.

Mit all ihren Kräften gelang es ihr, das Brett anzuheben und etwas beiseite zu schieben, gerade genug, um sich aufrichten zu können. Tatsächlich war die Dämmerung schon weit fortgeschritten und der Himmel außerdem bedeckt. Niemand würde sie sehen können und so schaute sich Berta um. Sie hatte sich nicht geirrt, direkt neben ihr lag ein Steinhaufen am Wegesrand. Na klar, sie erinnerte sich, daran schon vorbeigelaufen zu sein. Gar nicht weit von der Scheune entfernt. Aber wie sah die aus? Vom Dach war nichts mehr übrig, fast alle Wände aus Lehm waren in sich zusammengefallen. Nur ein kleiner Anbau aus Ziegeln stand noch nahezu unversehrt. Mehr vermochte Berta im Dunkeln nicht zu erkennen.

Da niemand zu sehen war, griff sie nach einem Tuch und einem Fell, das sie mitgenommen hatte und schaffte es, hinaus zu klettern. Sie streckte sich und hüllte sich notdürftig ein. Langsam geht sie zur Ruine. Jetzt erst begriff die junge Frau, was für ein Glück sie hatte, nicht verbrannt oder unter den Trümmern begraben worden zu sein. Erneut drückte ihr die Angst die Kehle zu, ihr wurde schlecht und nun brauchte sie dringendst eine Stelle, wo sie sich hinhocken konnte.

Ganz schwach ging Berta zurück zum Steinhaufen. Sie musste unbedingt etwas essen und vor allem trinken. Ihr fiel ein, dass nur etwa 100 Meter von hier entfernt der kleine Dorfbach entlangfloss, dessen Quelle am Katerborn sauberes Wasser spendete. Seit das Bachbett 1865 zwischen der Schule und dem Rittergut begradigt worden war, lief bei starkem Regen nicht mehr so viel Erde von den Feldern und Dorfgärten hinein. Allerdings ließen dort auch einige Höfe und Wohnhäuser ihre Abwässer hineinfließen. Es nutzte nichts, sie musste etwas trinken.

Als Berta kurz darauf an einer flachen Stelle ankam, begann die Bewölkung sich aufzulockern und hunderte Sterne leuchteten über ihr am Himmel. Berta sah das als gutes Zeichen. Mit den Händen schöpfte sie etwas kaltes Wasser. Es duftete frisch und schien klar zu sein. Langsam trank sie ein wenig und beschloss, zeitig am Morgen, bevor alle ihr Tagwerk beginnen würden, mit dem Krug aus der Höhle wieder herzukommen, denn wie Regen sah es nicht aus.

Wo aber etwas zu essen herbekommen? Vielleicht sollte sie sich in einen Hühnerstall schleichen? Sie wusste, wer hier Hühner hielt und demzufolge auch Eier hatte. Aber am Abend waren die Nester sicherlich leer. So kehrte Berta hungrig zum Höhleneingang zurück. Ihr Blick fiel auf den Scheunenanbau und neugierig ging sie ein weiteres Mal dorthin. Im Sternenlicht konnte sie erkennen, dass die Tür rußgeschwärzt war und das Schloss wie immer davor hing. Aber dort, wo der Anbau ehemals an die Scheune angrenzte, klaffte ein Loch im Mauerwerk, groß genug, um hindurchzusteigen. Viel konnte Berta nicht erkennen, aber sie sah, dass hier eine Vorratskammer war und möglicherweise nichts dem Feuer zum Opfer gefallen.

Tatsächlich ertastete sie eine Sandkiste, in der Möhren aufbewahrt wurden und ein Regal, ganz offensichtlich eine Kartoffelhorte. Überglücklich nahm sie fürs erste drei große Möhren mit.

Mangels eines besseren Planes kletterte sie damit zurück in ihren Unterschlupf.

Wer weiß, für wie lange.

Angst

Eine Woche war vergangen, der Januar ungewöhnlich mild. Unter der Liegestatt der Höhle fand Berta eine alte Männerjacke, die zwar fürchterlich stank, aber dennoch wärmte. Ihr Winterkleid und Wintermantel waren zwar sehr verschmutzt, hatten aber den Aufenthalt in der kleinen Höhle gut überstanden. Schlüpfer und Strümpfe hatte sie einmal im Bach ausgewaschen und über Nacht getrocknet.

Im Morgengrauen füllte Berta ihren Wasserkrug am Bach, der gerade klares Wasser führte. Zum Glück ist es von der Stelle hier nicht weit bis zu einer der beiden Quellen, dem Katerborn, wo sich das ganze Dorf mit Wasser versorgt.

Bis jetzt war sie dabei noch niemandem aus dem Dorf begegnet. Aus dem Anbau hatte sie ein wenig Gemüse geholt und auch etwas getrocknetes Korn, das sie mit zwei harten Steinen zerrieben hatte und sich Fladen zubereitete. Dazu hatte Berta an einer ihrer Meinung nach vor neugierigen Blicken geschützten Stelle in der Ruine ein kleines Feuer entfacht. Das erste Mal spät in der Nacht, weil sie meinte, alle würden schlafen. Aber da hatte sie sich geirrt, denn plötzlich hörte sie von weitem sich nähernde Stimmen. Wie es sich kurz darauf herausstellte, torkelten drei Männer laut singend vom Rittergut kommend Richtung Schloss die Straße entlang. Bertas Herz schien beinahe stehen zu bleiben. Schnell löschte sie das Feuer, in der Hoffnung, dass die Betrunkenen mit sich selbst beschäftigt waren und nichts davon mitbekommen hatten. Beim nächsten Mal entzündete sie das Feuer noch im Hellen und kochte sich in einem verbeulten Topf ein halbes Dutzend Eier und eine Handvoll Kartoffeln.

Von Tag zu Tag drängte es sie aber immer mehr, ihr Versteck zu verlassen und zum Otto-Hof zu gehen. Wenn man sie abweisen würde, wollte sie ihren Vater in der Saalestadt aufsuchen mit der Bitte, ihr eine Arbeit zu verschaffen. Noch wusste er sicherlich nichts von dem Unglück. Vielleicht macht sie sich jedoch zu viele Sorgen, ihrer Schwester ginge es gut und beide dürften bei deren Schwiegereltern wohnen bleiben. Selbstverständlich würde Berta dann hier irgendwo eine Anstellung suchen. Nur eines wusste sie ganz genau, den Mühlbachschen Gutshof würde sie nie wieder betreten.

Heute Morgen war die junge Frau beizeiten entlang der alten Heerstraße bis zur Saale gelaufen, denn als sie nach Jahren, in denen sie in Halle gewohnt hatte, zu Rosa und Friedrich auf das Dorf zu Besuch gekommen war, hatte sie ihr Schwager mit dem Pferdewagen vom Stadtrand abgeholt. Sie wollte nun wissen, wie lange sie bis dahin zu Fuß brauchen würde. Unterwegs waren ihr einige Leute begegnet. Morgens liefen Männer, Frauen und einzelne ältere Kinder ein Stück mit in ihre Richtung, teils ohne Schuhe. Niemanden davon kannte die junge Frau. Sie wusste jedoch, dass die in der Zuckerfabrik, die der Gutsbesitzer hatte errichten lassen, arbeiteten und ihre Holzschuhe schonten, weil eine Neuanschaffung zu teuer wäre, wenn sie abgelaufen waren. Auch auf den Wegen in der Saaleaue waren Leute zu Fuß unterwegs, zwei beladene Pferdefuhrwerke fuhren aus der Stadt hinaus auf die Dörfer.

An der Saale bei Röpzig angekommen, machte Berta eine Pause. Hier könnte sie mit der Fähre übersetzen.

Wenn sie sich recht erinnerte, führte auf der anderen Seite des Flusses eine Straße sowohl nach Halle als auch oberhalb seines Ufers zu der Stelle, wo sie und der Vater damals von der Elektrischen abgeholt worden waren. Jetzt verließ Berta allerdings ihr Mut, denn weder hatte sie Geld mit, noch gescheite Sachen an, um zum Vater zu gelangen. Also machte sie sich auf den Rückweg in ihr Dorf.

Am Nachmittag kam ein kalter Wind auf und so war sie froh, sich in ihrem Versteck verkriechen zu können. In den letzten Tagen hatte sie Brennnesseln und einige andere Kräuter gesammelt, die den Winter bis jetzt überstanden hatten und brühte sich an einem winzigen Feuerchen einen Tee auf. Schon wurde es dunkel und sie krabbelte in die Unterkunft.

Trotz des Tees erfüllte heute eine unangenehme Kälte diesen Raum. Berta wickelte sich in ihre Sachen ein, so gut es ging und versuchte, einzuschlafen. Es nutzte nichts, sie fror. Im Halbschlaf griff sie die Jacke, die sie hier gefunden hatte und zog sie über sich.

Wieder diese dunkle Nacht, Leute am Lagerfeuer, Musik, ich habe solche Angst, plötzlich rennt Rosa mit einer Fackel in der Hand los, sie verfolgt einen betrunkenen Mann, wer ist das nur? Schon bricht das Feuer aus, ich renne der Rosa hinterher, um sie zu retten, kann aber nichts erkennen.

Was riecht hier nur so? Berta fand aus dem Alptraum zurück in die Wirklichkeit. Sie hatte vergessen, die Kerze zu löschen, die dann heruntergebrannt war. Der Docht qualmte noch etwas. Dieser Geruch erschreckte sie immer wieder. Aber noch etwas anderes war in ihr Bewusstsein gedrungen. Die Jacke! Ihr Geruch! Sie erinnerte sich. An den Tag auf dem Gut, als ihr Rosa die Badestube gezeigt hatte. Sie begann zu zittern. Aber jetzt war es nicht nur die Kälte, sondern das Erlebte kam mit aller Macht zurück in ihr Bewusstsein. Dieser Mann, der Rosa gewürgt und sie selbst geschändet hatte, der hatte genauso gerochen. Es konnte doch nicht sein, dass sie unter dessen Jacke lag?

Berta sprang auf, warf die Jacke soweit von sich, wie es in der Enge der Höhle möglich war.

Hieß das, er hätte sich auch hier aufgehalten? Und vor gar nicht so langer Zeit? Das Wasser im Krug war ja noch frisch gewesen, als sie hier eingedrungen war. Sie suchte eine weitere Kerze. Als sie aufleuchtete, wurde es der jungen Frau bewusst, dass dies die letzte war.

Sie musste hier weg. Und zwar sehr bald. Aber eines musste sie noch wissen, nämlich was sich in der verschlossenen Schatztruhe befand. Aber ohne Schlüssel wäre das Öffnen aussichtslos. Ob der Besitzer ihn immer bei sich hatte? War das das Monster, welches Rosa verfolgt hatte? Dann wäre er vermutlich im Feuer umgekommen. Jedoch – eine Leiche hatte Berta nicht gesehen. Nun ja, wenn dem so wäre, hätten die Leute nach dem Brand sicherlich die Opfer beseitigt. Oder ob dieser Verbrecher womöglich noch lebt? Erneut wurde sie von Panik ergriffen. Wobei – in dem Falle wäre er bestimmt hier aufgetaucht.

In dem Moment erinnerte sich Berta, dass ihr aufgefallen war, dass die Gestalt mitten im Winter keine Jacke angehabt hatte. Die Jacke! Sie lag hier!