Die alte Villa am Strand - Wendy Wax - E-Book
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Die alte Villa am Strand E-Book

Wendy Wax

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Beschreibung

Wenn dir das Leben nicht nur Sonne und Strand bietet – sondern eine zweite Chance Als die ungleichen Freundinnen Madeleine, Avery und Nicole in Miami ankommen, sind alle drei bereit für einen Neuanfang, persönlich wie beruflich: Für eine TV-Show sollen sie ein historisches Anwesen renovieren. Begleitet wird ihre Arbeit rund um die Uhr von einem Fernsehteam – und jeder Menge Ärger. Denn nur wenn sie erfolgreich sind, kann Nikki ihre Schulden begleichen, Avery ihre Karriere wieder aufnehmen und Maddie die eigene Familie zusammenhalten. Können die drei den Auftrag erfolgreich erfüllen, ohne ihre Freundschaft zu riskieren? Als sie Unglaubliches über das Schicksal des Villenbesitzers erfahren, überschlagen sich die Ereignisse ... Der ideale Sommerschmöker über Freundschaft, Liebe und Häuser am Meer!

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Wendy Wax

Die alte Villa am Strand

Roman

Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus

Über dieses Buch

Wenn dir das Leben nicht nur Sonne und Strand bietet – sondern eine zweite Chance

 

Als die ungleichen Freundinnen Madeleine, Avery und Nicole in Miami ankommen, sind alle drei bereit für einen Neuanfang, persönlich wie beruflich: Für eine TV-Show sollen sie ein historisches Anwesen renovieren. Begleitet wird ihre Arbeit rund um die Uhr von einem Fernsehteam – und jeder Menge Ärger. Denn nur wenn sie erfolgreich sind, kann Nikki ihre Schulden begleichen, Avery ihre Karriere wieder aufnehmen und Maddie die eigene Familie zusammenhalten. Können die drei den Auftrag erfolgreich erfüllen, ohne ihre Freundschaft zu riskieren? Als sie Unglaubliches über das Schicksal des Villenbesitzers erfahren, überschlagen sich die Ereignisse ...

 

Der ideale Sommerschmöker über Freundschaft, Liebe und Häuser am Meer!

Vita

Wendy Wax stammt aus Florida und kennt beinahe jeden Strand am Golf vom Mexiko, wo auch die meisten ihrer Romane spielen. Sie hat für Radio und Fernsehen gearbeitet sowie als Produzentin im Filmgeschäft. 2011 wurde in ihrer Heimatstadt der 12. Mai zum «Wendy Wax Day» erklärt. Heute lebt Wendy Wax mit ihrer Familie in Atlanta, Georgia.

Dieses Buch ist Zena Adler gewidmet,

in Liebe und Dankbarkeit.

Du fehlst.

Prolog

Millie konnte es nicht ertragen, ihren Mann weinen zu sehen. Er hatte wirklich nicht das Gesicht dafür. Oder die Erfahrung. Wenn man seinen Lebensunterhalt damit verdiente, die Leute zum Lachen zu bringen, waren Tränen nicht Teil des Repertoires. In all der Zeit, in der sie ihn kannte, hatte sie Max erst einmal weinen sehen. Und das war vor über fünfzig Jahren gewesen.

Sie selbst war andererseits geradezu eine Expertin für Tränen geworden. Aber sie war ebenfalls zur Expertin darin geworden, sie zu verbergen.

«Du bist zu alt, um zu weinen», sagte sie. «Und ich habe Besseres zu tun, als hier zu liegen und mich von dir volltropfen zu lassen.»

Er lächelte, wie sie es beabsichtigt hatte. «Was? Musst du irgendwohin?» Er sprach in dem übertriebenen Tonfall, den er auf der Bühne bis an die Grenze ausspielte. Dem, der sagte: Seht ihr, womit ich mich rumschlagen muss?

Sie hob die Hand und wischte ihm eine Träne von der zerfurchten Wange. Ihre Augen schlossen sich für einen Moment. Wer hätte gedacht, dass Augenlider so schwer sein konnten? «Ja, muss ich. Ich warte auf den Lichttunnel, von dem immer alle reden. Und dann bin ich hier raus.» Sie bemühte sich um einen kecken Tonfall, aber es kostete sie schon Mühe, nur die Lippen zu bewegen. «Endlich habe ich das Scheinwerferlicht mal ganz für mich allein.»

Max lächelte erneut. Es war das Lächeln, das sie für sich immer sein Megawattstrahlen genannt hatte. Ein Herz konnte brechen angesichts dieses Lächelns.

«Du warst immer der Star, Millie», sagte Max. «Immer. Ich hatte nur das Glück, der Typ zu sein, der neben dir stehen durfte.» Er schluckte schwer. «Ich will hier nicht ohne dich bleiben.»

Das Gewicht des Abschieds hing über ihnen. Sie umfasste sein Gesicht mit ihren Händen, bereit zu gehen. Abgesehen von einer Sache.

«Versprich mir, dass du noch einmal nach ihm suchst, Max», sagte sie. «Heutzutage ist es leichter, jemanden zu finden. Wie im Fernsehen. Diese Frau, die 30 Jahre lang vermisst wurde.»

Sie starrte ihm in die Augen und verwandte den letzten Rest ihrer Kraft darauf, ihn zu etwas zu bringen, worüber er sich so lange geweigert hatte zu sprechen. «Versprich es mir!»

Schließlich nickte er. «Ich werde es tun, Millie.» Er nahm ihre Hand, die seitlich heruntergefallen war, und drückte sie, genauso wie er sie beim ersten Mal – und bei jedem Mal – gedrückt hatte, als sie zusammen eine Bühne betreten hatten.

«Und lass das Haus renovieren», sagte sie. «So, wie es jetzt aussieht, wird er es niemals wiedererkennen. Ich will, dass du es bereit machst. Für den Moment, wenn er nach Hause kommt.»

Sie hielt seine Hand fest, solange sie konnte, genoss ihre Wärme und ihren Trost. Hätte sie am liebsten mit sich genommen. «Versprichst du es mir, Max?»

Eine weitere Träne rann über seine Wange. Sie sah zu, wie sie fiel. Spürte, wie sie auf ihren verschränkten Händen landete.

«Ich verspreche es.»

1

Lass es sie nie merken, wenn du ins Schwitzen kommst.

Nicole Grant, ehemalige Dating-Guru und Partnervermittlerin der Reichen und Schönen, wusste: Es war ein schlechtes Zeichen, wenn die Philosophie, nach der man lebte, aus einer Deo-Werbung stammte. In der Welt der Sinnsprüche war dieser nicht im entferntesten so hochtrabend wie Nichts ist so erfolgreich wie Erfolg oder ganz so motivierend wie Wenn es dir beim ersten Mal nicht gelingt, versuch es wieder, und noch einmal. Doch als sie im Torbogen von Bitsy Baynards Esszimmer in Palm Beach stand und sich angestrengt untersagte, sich die schwitzigen Hände an den Seiten ihres Vintage-Valentino-Cocktailkleids abzuwischen, war dieser Spruch so ungefähr alles, woran sie sich klammern konnte.

Niemand in diesem Raum wusste oder würde jemals wissen, dass sie einen Großteil ihres restlichen Bargelds für einen Haarschnitt mit Färben ausgegeben hatte oder dass sie ihr Make-up umsonst bei Saks Fifth Avenue bekommen hatte, nachdem sie dort am Kosmetikschalter einen Aufstand gemacht und die Fluggesellschaft verwünscht hatte, die angeblich ihren Kosmetikkoffer nicht mit nach Palm Beach geflogen hatte.

Sie richtete sich auf und machte sich durch das feierlich dekorierte Esszimmer auf den Weg zu ihrem Platz. Dabei dankte sie dem Himmel für Gene, die es ihr auch mit 46 Jahren noch erlaubten, wie jemand auszusehen, die das Sagen hatte, mit einem grazilen Hals und ihren berühmten Wangenknochen. Die lebenslange Angewohnheit zu joggen und eine kürzliche, wenngleich unwillkommene Phase harter körperlicher Arbeit hatten ihren einst so flotten Metabolismus davon abgehalten, ins Stottern zu geraten.

Bitsys Tisch war für 20 Personen gedeckt. Wie versprochen, hatte sie ihre Gästeliste aus der erschreckend kleinen Anzahl von Palm-Beach-Bewohnern zusammengestellt, die kein Geld an Nicoles Bruder verloren hatten. Malcolm Dyer war vor Kurzem in ein Sicherheitsgefängnis für kriminell Unersättliche eingezogen.

Bitsy hatte ihr versichert, dass keiner der Gäste auf Malcolms Schneeballsystem zu sprechen kommen würde, das Nicole ebenso in den finanziellen Ruin getrieben hatte wie Hunderte anderer Opfer. Aber als sie ihre Plätze einnahmen, spürte Nicole ihre Blicke auf sich wie die von Autofahrern, die an einem Autowrack nicht vorüberfahren können, ohne abzubremsen und es anzustarren.

Nicole hob das Kinn und trotzte den Blicken. Jeder von ihnen war ein potenzieller Kunde oder eine künftige Referenz. Sie lächelte Bitsy dankbar an, als sie sah, welcher Platz ihr zugeteilt worden war. Es war der neben Helen Maryn, einer Geschiedenen, deren erster Mann sie für eine bekannte Jockette verlassen hatte und deren zweiter in ein tibetisches Kloster geflohen war, um sich zu finden. Es war eine solch verzehrende Suche nach sich selbst gewesen, dass er drei Jahre später immer noch damit beschäftigt gewesen war, als Helen ihn schließlich aufgespürt hatte, um sich von ihm scheiden zu lassen.

Helen Maryns Gesicht war rund und rosa und erinnerte auf unglückliche Weise an Miss Piggy. Doch während sie mit körperlichen Attributen dürftig ausgestattet schien, waren ihre Vermögenswerte ansehnlich.

«Sie sind also so was wie die Partnervermittlung für Millionäre?», fragte Helen, als der erste Gang abgeräumt war.

«Ja», entgegnete Nicole mit freundlichem Lächeln. «Aber ohne das Vulgäre und ohne Angestellte mit verrücktem Haarschnitt.» Und ohne das Geld oder den Ruhm. Beides hatte ihr Bruder ihr gestohlen.

«Nicole hat Bertrand und mich zusammengebracht», fiel Bitsy hilfsbereit ein und strahlte ihren Ehemann an, der sich als eine mehr als lohnende Investition erwiesen hatte. «Sie hat viele prominente Ehen vermittelt. Und sie ist sehr diskret.»

Nicole warf Bitsy ein warmes und dankbares Lächeln zu. Die Partie von Bitsy und Bertrand war einer von Nicoles befriedigendsten Erfolgen. Von den Hunderten reicher und berühmter Kunden, für die sie Partner gefunden hatte, war Bitsy die Einzige, die Nicole nicht die Nase vor der Tür zugeschlagen hatte, als öffentlich bekannt wurde, in welchem Verhältnis sie zu Malcolm Dyer stand.

Eine Linie feiner Schweißperlen bildete sich über Nicoles Oberlippe, und sie musste sich erneut in Erinnerung rufen, dass sie an Malcolms Verbrechen keine Schuld trug. Sie war nicht die Aufpasserin ihres erwachsenen Bruders. Diese Aufgabe hatte jetzt die Landesregierung übernommen.

Sie lächelte weiter, während die Forelle à la russe serviert wurde, und zwang sich, das Essen zu genießen. In ihrer unmittelbaren Zukunft rechnete sie nicht mit Mahlzeiten, die von einem an Cordon bleu ausgebildeten Spitzenkoch zubereitet worden waren. Es kam nicht in Frage, sich das hier verderben zu lassen.

«Und sie macht in einer neuen Fernsehsendung auf Lifetime mit», fuhr Bitsy fort. «Darin werden Häuser wieder schick gemacht. Nicole und ihre Kostars haben Bella Flora renoviert, ein wunderschönes Haus im mediterranen Stil, das ihnen oben an der Küste von Florida gehört. Und jetzt kümmern sie sich um ein Gebäude in South Beach in Miami.» Sie wandte sich an Nicole. «Wie heißt die Sendung, Nikki?»

«Alles Neu.» Genau das erhoffte sie sich auch selbst insgeheim von der Serie. «Die Pilotsendung wird am 1. Juli ausgestrahlt», fügte Nicole hinzu. Sie sah keine Notwendigkeit auszuführen, dass die Mitwirkung in dieser Serie für sie bedeutete, einen weiteren Sommer vor einer erbarmungslosen Kameralinse Knochenarbeit leisten zu müssen. Oder dass sie und Madeline Singer und Avery Lawford diesmal in einem Haus schuften würden, das ihnen nicht gehörte und von dem sie bislang noch nicht einmal ein Foto gesehen hatten.

Nicole griff nach ihrem Weinglas. «Wenn die Pilotsendung gut läuft, werden die Episoden aus Miami nächstes Frühjahr landesweit gezeigt.» Falls nicht, wäre Schwitzen vor Zuschauern ihr geringstes Problem.

Von der gegenüberliegenden Tischseite aus folgte eine Frau mit Adleraugen ihrem Gespräch. Sie beugte sich vor und verzog das Gesicht zu etwas, das ein Lächeln hätte werden können, wenn die plastische Chirurgie ihr die geringste Kontrolle über ihre Gesichtsmuskulatur gelassen hätte. «Es muss für Sie im Moment unmöglich sein, neue Kunden zu finden», sagte sie. «Ich meine, Ihre Firma existiert doch gar nicht mehr, oder?» Sie sprach in einem Ton, den man gemeinhin mit einer gehobenen Augenbraue unterstrich, doch diese Akzentsetzung war ihr nicht mehr möglich. Ihre beiden Brauen wölbten sich in einem ewig überraschten Ausdruck nach oben.

«Ich bin Heart, Incorporated», sagte Nicole und hob eine Augenbraue, nur um zu zeigen, dass sie es konnte. «Ich habe die Büros in New York und L.A. geschlossen, aber das waren nur Adressen. Ich biete noch immer dieselben Dienstleistungen und lege die höchsten Maßstäbe an, um einen Kunden abzusichern.» Sie riss raffiniert beide Augen ein Stück weiter auf, nur um die Frau neidisch zu machen. «Und ich garantiere noch immer für die besten Ergebnisse.»

Immerhin hatte sie eine junge Frau angemessenen Reifegrads für den griechischen Lebensmittelmagnaten Darios T. gefunden. Für andere Kunden hatte sie Arbeitslisten erstellt, auf denen von der gewünschten Beinlänge bis zur Hirnkapazität alles aufgeführt war. Über die Jahre hatte sie gelernt, dass eine Ehe auf vielerlei basieren kann, solange das Verhältnis von Risiko und Gewinn für beide Parteien gleich vorteilhaft erscheint.

Nicole hielt das Gespräch mit Helen Maryn beim Dessert und auch später im großen Salon in Gang, einem wunderbaren Raum mit bodentiefen Fenstern an der Längsseite, die auf den in schönster Perfektion getrimmten Garten des Anwesens hinausblickten. Doch auch ohne das stümperhafte Schmunzeln der Frau mit dem gefrorenen Gesicht wusste sie, dass sie sie verloren hatte.

«Ich würde mich freuen, Sie morgen zu treffen, bevor ich nach Miami fahre», sagte Nicole trotzdem, wobei sie sorgsam darauf achtete, dass ihre Verzweiflung sich nicht in ihrer Stimme zu erkennen gab. «Wir könnten uns zu einem späten Mittagessen treffen und besprechen, wonach Sie suchen.» Auch wenn sie ihre Notfall-Kreditkarte benutzen müsste, um für das Essen zu bezahlen, würde es sich lohnen. Sie könnte einen Vorschuss einstreichen und eine prominente Kundin landen. Sie brauchte nur eine einzige, auf der sie aufbauen konnte.

Helens Augen glitten zur Seite. Die Frau mit dem gefrorenen Gesicht nickte und hob eine halbe Lippe.

Ohne mit dem Lächeln aufzuhören, zog Nicole eine Visitenkarte aus ihrer Abendtasche und reichte sie Helen. Den restlichen Abend tat sie so, als hätte sie weder Sorgen noch Schulden auf dieser Welt und als wären ihre Tage als Partnervermittlerin nicht gezählt.

«Sie ist wieder vom Haken gesprungen, oder?», fragte Bitsy, als sie die Massivholztür hinter dem letzten Gast geschlossen hatte.

Nicole nickte und brachte ein unbekümmertes Schulterzucken zustande. «Ich weiß den Abend trotzdem zu schätzen. Und das Essen war wunderbar.» Sie umarmte Bitsy. «Ich werde dir deine Mühen nicht vergessen.»

In der vornehmen Gästesuite stieg Nicole aus dem grauen Seidenkleid und hängte es sorgfältig auf einen gepolsterten Bügel. In dem vergoldeten Bad voller Spiegel drehte sie sich die Haare auf und befestigte sie mit einem Clip. Sie begutachtete den Bademantel, der an der Tür hing, und öffnete die Flasche mit dem teuren Badeschaum, die neben der löwenfüßigen Wanne stand. Sie drehte den Wasserhahn auf, und als die Wanne voll war, ließ sie sich in das dampfend heiße Wasser sinken und seufzte angesichts seiner geschmeidigen Lieblichkeit.

Mit geschlossenen Augen, umhüllt von duftender Wärme, verdrängte Nicole ihre Sorgen, entschlossen, diese letzte Nacht im Luxus zu genießen. Sie hatte keine Ahnung, was Madeline, Avery und sie selbst in Miami vorfinden würden. Oder unter welchen Bedingungen sie dort leben würden. Es reichte, sich diesen Realitäten morgen zu stellen. Ihrer aller Zukunft hing an einer ungewissen Fernsehkarriere und dem Verkauf von Bella Flora auf dem schlechtesten Immobilienmarkt seit der Weltwirtschaftskrise in den zwanziger Jahren.

Nicole wühlte sich tiefer in das warme Wasser und griff nach der Schwammgurke. Morgen würde sie die Frauen wiedersehen, die so unerwartet zu Freundinnen geworden waren. Zusammen würden sie ihr Bestes geben, um Alles Neu zum Erfolg zu machen.

Aber bevor sie nicht sicher waren, dass die Sendung ein Hit war und die entsprechenden Einkünfte brachte, konnte sie es sich nicht leisten, Heart, Inc. nicht wiederaufzubauen. Sogar in der gegenwärtigen Wirtschaftslage wimmelte es in Miami von Celebritys und hochvermögenden Menschen.

Wenn sie Glück hatte, würde sie jemanden finden, der nie von ihrem betrügerischen Bruder gehört hatte. Jemanden, der weder las noch Englisch konnte. Oder der sich einen Flug in einem Sojus-Raumschiff geleistet hatte und gerade erst auf die Erde zurückgekehrt war.

«Auf uns!» Steve Singers Stimme frohlockte, als er Madeline sein Weinglas entgegenhielt und sie über den leinengedeckten Tisch im Bacchanalia anlächelte, einem der elegantesten Restaurants von Atlanta. «Auf 26 Jahre als Mann und Frau.»

Madeline stieß ihr Glas gegen seines und nahm einen tiefen Schluck. Das flackernde Kerzenlicht verlieh seinen grauen Augen eine metallisch silberne Schattierung und warf Schatten auf die Flächen und Kanten seines immer noch attraktiven Gesichts. Wenn sie die Augen genau richtig zusammenkniff, konnte sie Steve beinahe so sehen, wie er gewesen war, als sie sich vor 27 Jahren zum ersten Mal begegnet waren. Damals war er groß und gut gebaut gewesen, beruhigend besonnen und sicher. Einen Augenblick lang konnte Madeline beinahe ihren zu schnellen Herzschlag in der Brust spüren, wie jedes Mal, wenn sie ihn damals erblickte. Und den köstlichen Schmerz in ihrem Kiefer, der daher rührte, dass sie stundenlang ohne Unterlass geredet und gelacht hatten.

Heute hatten sie eine bedeutende Trennlinie überschritten: Nun war sie länger mit Steve Singer verheiratet, als sie unverheiratet gewesen war. Madeline lächelte und hob das Glas, um erneut anzustoßen. «Alles Gute zum Hochzeitstag. Auf uns!»

Steve ließ ihr Gesicht nicht aus den Augen, während sie tranken. Maddie schaltete in Gedanken den Film mit ihren gemeinsamen Highlights an, um nach einer besonders fabelhaften Erinnerung zu suchen, auf die sie trinken konnten.

Sie begriff erst, wie viele großartige Momente es gegeben hatte, als sie im Schnelldurchlauf in Gedanken die Jahre durchging. Sie blieb bei den Geburten ihrer Kinder Kyra und Andrew hängen und bei all den besonderen Augenblicken, die ihre 26 Jahre als Hausfrau und Mutter angefüllt hatten. Momentaufnahmen von Steves Erfolgen in der Finanzwelt mischten sich mit Bildern von Familienurlauben und Reisen.

Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie geschworen, dass ihr Schnelldurchlauf es mit jedem anderen aufnehmen konnte. Vielleicht hätte sie ihn sogar für den Besten Film oder das Beste Drehbuch nominiert. So vieles in ihrem Ehespielfilm verdiente Applaus. Aber die letzten anderthalb Jahre waren brutal gewesen. Sie hatten ein ganzes Leben voller Erinnerungen in neues Licht getaucht.

Der Kellner wischte die letzten störenden Krümel von der Tischdecke, verbeugte sich knapp und entschwand mit dem Versprechen von Kaffee und Dessert.

Maddie versuchte noch einmal den Trick mit den zusammengekniffenen Augen. Doch es gelang ihr nicht mehr, das Bild von Steve auf dem Sofa auszublenden, wo er gelegen hatte, nachdem er seinen Job, ihre gemeinsamen Ersparnisse und zuletzt sein Rückgrat verloren hatte.

Irgendwie hatten sie die Kernexplosion überlebt, die ihr Leben in Stücke gerissen hatte. In mancherlei Hinsicht sahen sie immer noch gleich aus. Sämtliche Gliedmaßen waren intakt. Aber alles in ihnen, das wusste Maddie, hatte sich neu geordnet. Sie hatte Angst, dass entscheidende Teile nun fehlen könnten.

Sie blickte in ihr leeres Glas und lächelte, als ihr die Zeile «Abgesehen davon, Mrs. Lincoln, wie hat Ihnen das Stück gefallen?» durch den Kopf ging.

«Mad? Maddie?»

Madeline blinzelte und richtete ihren Blick erneut auf Steve. Sie sah direkt in seine Augen, die die Farbe eines stürmischen Himmels hatten, gesprenkelt mit Wolken, die sie als Verletzungen erkannte. «Entschuldige», sagte sie, «was hast du gesagt?»

«Ich sagte, ich habe jetzt einen Job. Du musst nicht nach Miami und in diesem Haus Sklavenarbeit verrichten.» Er klang überaus rational. «Die Fernsehserie ist Trash – vielleicht wird nicht mal was daraus. Und für so einen großen Sender zahlen sie einen Hungerlohn.»

Das zumindest stimmte. Aber wenn Madeline im Zuge ihrer Kernschmelze eins gelernt hatte, dann dies: Es war besser zu handeln, als andere für sich handeln zu lassen. Hätte sie den letzten Sommer nicht mit Avery und Nicole in St. Petersburg verbracht und sich bemüht, die verfallene Bella Flora wieder ins Leben zurückzuholen, dann besäßen sie jetzt nicht einmal diesen potenziellen Vermögenswert. Und Maddie hätte nicht die Möglichkeit, mit ihrer Tochter und den Fremden, die zu Madelines Freundinnen geworden waren, eine Fernsehsendung zu drehen.

«Alles Neu ist eine große Chance für uns alle, und besonders für Kyra», sagte Madeline. «Ihre Doku unserer Arbeit an Bella Flora hat alles in Gang gesetzt. Sie verdient es, die Früchte zu ernten, die daraus erwachsen sind.» Sie schüttelte den Kopf, immer noch erstaunt darüber, wie ihre Tochter, die jetzt eine viel zu junge alleinerziehende Mutter war, ihr Leben noch einmal komplett gedreht hatte.

Steve griff nach Maddies Hand. «Dann lass Kyra hinfahren. Sie filmt, Avery leitet die Bauarbeiten, Averys Mutter kann sich um die Raumgestaltung kümmern. Nicole macht, was immer es ist, das sie macht.» Er lächelte gewinnend. «Ich weiß, du bemutterst gern – und du bist wirklich großartig darin, aber sie werden auch ohne dich überleben.»

Madeline erstarrte. «Also glaubst du nicht, dass ich für das Team ein Gewinn bin?»

«Das habe ich nicht gesagt.»

Nein, das hatte er nicht. Nicht wortwörtlich. Gleichzeitig brauchte man, wenn man schon länger verheiratet als unverheiratet war, keinen Übersetzer mehr für Dinge, die ungesagt blieben. Sie zog ihre Hand zurück.

Vor nicht allzu langer Zeit, als Andrew ausgezogen und aufs College gegangen und ihr Nest erstmals leer gewesen war, hatte sie von einem eigenen Werkraum geträumt und von langen Phasen des Müßiggangs. Aber diese Person war nicht mehr sie. Nun kamen ihr all diese Nichtigkeiten vor wie … zu wenig.

«Wir sind verheiratet», sagte Steve. «Ich liebe dich und will dich bei mir haben. Wo du hingehörst.»

«Ich liebe dich auch», sagte sie. Sie musste ihren Schnelldurchlauf nicht noch einmal abspielen, um das zu wissen. «Darum geht es nicht. Ich kann Kyra einfach nicht allein nach Miami fahren und das vielleicht wichtigste Projekt ihres Lebens abwickeln lassen, während sie sich nebenbei noch allein um unseren sechs Monate alten Enkel kümmern soll.»

Und sie wollte es auch nicht.

Die Mousse au Chocolat und der Kaffee wurden serviert. Steve rührte Sahne und Zucker in seinen Kaffee und probierte einen Löffel vom Dessert.

«Ich dachte, du wärst damit einverstanden», sagte Maddie. Er hatte ihr dabei geholfen, den Kleinbus für die Fahrt morgen zu packen und kein Wort gesagt.

«Sie zahlen dir nicht genug, als dass all das Sinn machen würde», fuhr Steve fort und schaltete die charmante Ernsthaftigkeit ein, die ihm sonst immer so gute Dienste leistete. «Ich habe jetzt ein Einkommen und baue mir langsam einen neuen Kundenstamm auf. Wenn sich Bella Flora verkauft, können wir fast alle unsere Schulden bezahlen.»

Er legte seinen Löffel ab und griff erneut nach ihrer Hand. Sie fühlte sich allmählich an wie der Preis bei einem Tauziehen. «Du hast schon genug getan, Maddie. Es tut mir leid, dass du so viel tun musstest. Aber ich weiß, wir haben das Schlimmste hinter uns gebracht. Jedenfalls bald, wenn du das zulässt.»

Da war er. Der Subtext von allem, was ausgesprochen und nicht ausgesprochen worden war. Die Sache, um die sie auf Zehenspitzen herumgeschlichen waren. Steve wollte gern so tun, als wäre er nicht aus dem Glied getreten und weggerannt, als sie in ihrem Versteck beschossen wurden. Er hatte ihr nicht verziehen, es mit dem Feind aufgenommen zu haben. Nicht wirklich. Und trotz monatelanger Bemühungen hatte sie ihm nicht ganz vergeben, dass er sie in die Lage gebracht hatte, genau das tun zu müssen.

Maddie sah ihrem Mann dabei zu, wie er die Mousse löffelte und an seinem Kaffee nippte, konnte sich aber nicht mehr vorstellen, selber noch etwas zu schlucken.

«Es tut mir leid», sagte sie so sanft, wie sie konnte. «Aber ich habe einen Vertrag mit dem Sender unterschrieben und Avery und Nicole mein Wort gegeben. Ich weiß, dass Kyra sich darauf verlässt, dass ich ihr mit dem Baby helfe. Aber ich zähle darauf, dass du mich oft besuchen kommst.»

Weil sie wusste, dass es ihn verletzen würde, verriet sie nicht, wie sehr sie sich darauf freute, mit ihren Freundinnen und ihrer Tochter an diesem Projekt zu arbeiten. Und sie hoffte, dass das Prädikat Alles Neu für sie alle gelten würde.

2

Schon lange bevor sie aufs College kam, um Jura zu studieren, war Avery Lawford bewusst geworden, dass ihr Äußeres und ihr Inneres nicht miteinander harmonierten. Wie eine millionenschwere Wohnung in Manhattan, die voller Ikea-Möbel stand, oder eine rustikale französische Küche in einem Frank-Lloyd-Wright-Gebäude: Ihre Form passte einfach nicht zu ihrer Funktion.

Es begann mit ihrer Körpergröße, die zu klein war, um Respekt einzuflößen, und wurde von zarten puppenhaften Zügen, überdimensionierten Brüsten und der Sorte blonder Blauäugigkeit verschlimmert, die Wildfremde dazu veranlassten, ihr IQ-Punkte abzuziehen und besonders langsam mit ihr zu sprechen. Wobei sie extra kurze Worte benutzten.

Avery war 36 und kämpfte trotz ihrer Ausbildung und trotz dreier Berufsjahre beim Sender HGTV immer noch darum, ernst genommen zu werden. Selbst die erfolgreiche zweimalige Renovierung von Bella Flora hatte ihr keinen Respekt verschafft. Bella Flora hieß die Villa im Mediterranean-Revival-Stil aus den zwanziger Jahren, vor der sie nun stand.

Bella Flora selbst hatte dieses Problem nicht. Das Haus thronte in der Abendsonne wie eine riesige Hochzeitstorte frisch aus der Bäckerei. Eine blassrosa Fassade mit adrettem weißem Zuckerguss an den Rändern umschloss Reihen von Bogenfenstern. Glockentürmchen krönten ein Vieleckendach aus Tonziegeln und ragten in den wolkenlosen Himmel. Die wuchtige Fassade bildete einen schönen Kontrast zum tiefen Blaugrün des Golfs von Mexiko und der Bucht, in die er sich ergoss.

Averys zufriedener Blick wanderte vom Haus zu dem glänzenden neuen For Sale-Schild, das an der niedrigen Gartenmauer baumelte. Sie kannte und liebte jeden Zentimeter von Bella Flora. Beinahe jeden Stein der Grande Dame hatte sie mit eigenen Händen angefasst.

Ein Lastwagen hielt am Bordstein, und Chase Hardin kam auf sie zu, der Bauunternehmer, der bei der Renovierung mitgeholfen hatte – bevor und nachdem Hurricane Charlie einen Großteil des kleinen Küstenorts Pass-a-Grille verwüstet hatte. Dabei war er ihr aller Partner geworden.

«Ich weiß», sagte er. «Wir sind alle darauf angewiesen, dass sie sich verkauft, aber es ist schwer, sich vorzustellen, dass jemand anderes hier wohnen soll.»

Er lächelte. Das war ein großer Schritt ausgehend von dem Gesichtsausdruck, mit dem er sie gemustert hatte, als sie zum ersten Mal zusammenarbeiten mussten. Er hatte sie behandelt wie die Vanna White der alternativen Do-it-yourself-Szene und nicht wie den Profi, der sie war. Ständig hatte er versucht, ihr die Leitung des Projekts streitig zu machen. Jetzt löste sein Lächeln ein Gemisch von Gefühlen aus, von denen jedes einzelne kompliziert war. «Andererseits rechne ich nicht damit, dass jetzt ganz schnell etwas passiert», sagte er. «Auch abgesehen von der Wirtschaftslage ist der Sommer die absolut schlechteste Zeit, um in Florida Immobilien zu verkaufen.»

Sommer war auch nicht die beste Zeit, um Immobilien zu renovieren. Aber keine von ihnen konnte es sich leisten, auf die Möglichkeiten zu verzichten, die Alles Neu ihnen eröffnete.

Die Sorge, die sie erfolgreich verdrängt hatte, hob ihr hinterhältiges Haupt. Sie waren vor allem auch deswegen bei der Wiedererweckung von Bella Flora so erfolgreich gewesen, weil Weglaufen keine Option war. Ein unbekanntes Haus fürs Fernsehen zu renovieren konnte eine brenzlige Sache sein. Avery wusste aus erster Hand, was passieren konnte, wenn man einem Sender gegenüber Rechenschaft ablegen musste.

Ihr Blick wanderte zu ihrem Auto, das auf der gepflasterten Einfahrt stand. Das Faltverdeck des Mini Coopers war heruntergeklappt. Koffer und Gepäckstücke, von denen beinahe keines ihr gehörte, türmten sich auf dem Rücksitz und ergossen sich zwischen den Vordersitzen.

Absätze klapperten die Einfahrt herunter, und sie blickte auf. Deirdre Morgan, Averys Mutter, Innendesignerin der Stars und unwillkommene Mitfahrerin, kam mit einer großen Reisetasche am Arm auf sie zu.

Deirdre sah zehn Jahre jünger aus als die 61 Jahre, die sie tatsächlich alt war. Ihr Make-up war gekonnt aufgetragen, und sie hatte einen Designerschal um ihren blonden Bob geschlungen, der sich auf ihrem Weg nach Süden zweifellos kunstvoll hinter ihr bauschen würde. Ihre Brust war, wie diejenige, die sie Avery vererbt hatte, zu groß für ihren Körper, aber der Schnitt der blauen Seidenbluse, die sie in ihre weiße Leinenhose gesteckt hatte, kaschierte das gut. Und ihre hochhackigen, strassbesetzten Sandalen machten sie beinahe groß genug, um das zusätzliche Gewicht auszugleichen.

Sie sah aus wie jemand, dachte Avery irritiert, der gleich ein Kreuzfahrtschiff besteigen wollte, und nicht wie jemand, der sich in wenigen Momenten eine verkrampfte Fahrt lang Floridas Alligator Alley hinunter in einen überfüllten Kleinwagen zwängen würde.

Ein Hauch von Deirdres Gardenienparfum attackierte Averys Nase. Wieder einmal fragte sie sich, was Deirdre dazu bewogen hatte, in ihr Leben zurückzukehren, und wie lange sie vorhatte zu bleiben.

«Es ist eine schöne Fahrt runter nach Miami», sagte Chase im Plauderton.

Das hätte wahr sein können, wenn Avery die Reise nach South Beach ohne Deirdre und ihre Besitztümer hätte antreten können. Und wenn der Sender sich nicht irrsinnigerweise weigern würde, auch nur die Adresse des Hauses herauszurücken, das sie renovieren würden, bevor sie in der Stadt ankamen.

Sie beobachtete, wie Deirdre erst das Auto und dann ihren Kosmetikkoffer musterte, machte aber keine Anstalten, ihr bei einer Lösung des Problems zu helfen. Sie machte sich ohnehin schon Sorgen, ob nicht vielleicht auf dem Highway der Kofferraum aufplatzen und Deirdres Habseligkeiten in die Everglades katapultieren würde wie ein Geysir, der Öl ausspuckt.

«Denk nicht mal darüber nach», warnte sie Deirdre. «Ich musste mich schon auf den Kofferraum setzen, um ihn zuzukriegen. Du kannst diesen Koffer nur mitnehmen, falls du beabsichtigst, ihn den ganzen Weg bis nach Miami auf dem Schoß zu halten.» Avery nahm ihre Sonnenbrille lang genug ab, um in ein Augenpaar zu starren, das genau denselben Blauton aufwies wie ihr eigenes. Andauernd eine deutlich gepflegtere Version seiner selbst vor Augen zu haben, war unglaublich irritierend.

«Gut.» Deirdre stellte den Koffer auf den Beifahrersitz und ihre übergroße Hobo Bag in den Fußraum. Dann wanderten ihre Augen an Avery hinauf und wieder hinunter und registrierten das uralte Neckholdertop, die fransig abgeschnittene Jeans und die pinken Flip-Flops. «Sobald du dich umgezogen hast, sind wir startklar.»

Chase gab ein ersticktes Lachen von sich, aber der Mann war klug genug, den Mund zu halten.

«Ich werfe mich nicht in Schale, um fünf Stunden im Auto zu sitzen», sagte Avery. «Kyra hat versprochen, bis morgen früh nicht zu filmen. Aber nur um das gleich klarzustellen: Ich werde auch keine manikürten Hände schonen oder auf hohen Absätzen herumstöckeln, während ich Böden abschleife und Wände streiche.»

«Ich weiß, Schätzchen», sagte Deirdre. «Aber wir können nicht wissen, was uns bei der Ankunft erwartet. Wäre es nicht das Beste, Kriegsbemalung aufzutragen?»

«DAS ist meine Kriegsbemalung», sagte Avery mit zusammengebissenen Zähnen. «Und falls es dir nicht reicht, kann ich dich auf dem Weg aus der Stadt bei einer Autovermietung absetzen.»

«Nicht nötig», antwortete Deirdre. Was Averys Vermutung zufolge bedeutete: «Nicht genug Geld.» Wie sie alle saß Deirdre in der Klemme. In ihrer Karriere als gefeierte Hollywood-Designerin, für die sie Avery und ihren Vater hatte sitzenlassen, war sie bloß zur Expertin im Umgang mit Blendwerk geworden. «Ich bin gleich wieder da.» Deirdre drehte sich um und ging zurück ins Haus.

«Sie ermöglicht uns einen Abschied unter vier Augen», sagte Chase, zog Avery zu sich heran und schlang seine Arme um ihre Taille. Sein Kuss war lang und tief, seine Wirkung überraschte sie immer noch. «Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wann ich es schaffe nachzukommen.»

Avery seufzte und blickte in seine Augen – steil nach oben. Chase war Witwer, hatte zwei Kinder und führte die Baufirma seines Vaters inmitten der Kraterlandschaft einer zerstörten Bauwirtschaft. Gleichzeitig musste er sich um den labilen Gesundheitszustand seines Vaters kümmern. Avery konnte immer noch nicht sagen, wie sie von Gegnern zu Geliebten geworden waren, aber die einschüchternde Last, die er auf seinen Schultern trug, war ihr mehr als bewusst, und sie wollte sie keinesfalls noch schwerer machen. «Zerbrich dir nicht den Kopf darüber», sagte sie. «Du kommst einfach, wenn du kommen kannst.»

Er ließ das so stehen und wechselte mit einem zweiten Kuss das Thema. «Ihr könnt es in unter fünf Stunden schaffen, es gibt keine Anzeichen von Regen.»

«Wenn ich auch nur einen Regentropfen sehe, werde ich Deirdres Sachen am Straßenrand ausladen, damit ich das Verdeck zubekomme.»

«Bist du sicher, dass du klarkommst?», fragte Chase. «Ich habe ein bisschen Angst davor, morgen früh in der Zeitung zu lesen, dass die Überreste einer Frau an der Alligator Alley aufgefunden wurden.»

«Also, wenn diese Überreste auf einem Berg von Designerkoffern liegen, weißt du, dass es Deirdres Überreste sind.»

Er lächelte erneut und fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles, kurzes Haar. «Sie gibt sich Mühe, weißt du?»

Sie traten einen Schritt auseinander, als Deirdre wiederauftauchte.

«Vielleicht», sagte Avery. Aber bei Deirdre hatte unvermeidlich alles einen Haken: den Eigennutz, den man erst bemerkte, wenn es zu spät war, um sich davor zu schützen. Avery war sich nicht sicher, was sie mehr fürchtete: es mit Deirdre aufnehmen zu müssen oder mit dem Sender.

Chase zog einen Umschlag aus der Tasche und hielt ihn ihr hin. «Die notarielle Vollmacht, dass du als meine gesetzliche Vertreterin handeln darfst, zusammen mit einer Kopie meiner Unternehmerlizenz.»

«Danke.»

«Ruf mich jederzeit an. Falls du einen Ratschlag brauchst.»

«Das könnte dauern», antwortete sie. Sie war auf den Baustellen ihres Vaters aufgewachsen und immerhin eine ausgebildete Architektin.

«Ich könnte dir von Leuten, die ich da unten kenne, eine Liste mit möglichen Subunternehmern erstellen lassen. Und wir könnten einmal pro Woche eine Telefonkonferenz abhalten. Ich weiß, dass du …»

Avery legte ihm einen Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie brauchte zwar die Vollmacht für Zulassungen und um die Stadtverwaltung zufriedenzustellen, aber sie brauchte weder Chase Hardin noch sonst jemanden als Coach bei dieser Renovierung. Sie hob das Kinn und forderte ihn stumm heraus, das zu bestreiten, aber tief in sich spürte sie ein nervöses Flattern. Alles Neu war mehr als ein Renovierungsprojekt – viel mehr. Es war für sie alle eine Rettungsleine. Es durfte nicht vermasselt werden.

Sie gab ihm einen letzten Kuss, und Deirdre umarmte ihn. Beide sahen zu, wie er in seinen Laster kletterte und davonfuhr. Erst als Chases Rücklichter außer Sichtweite waren, quetschten sie sich in den Mini Cooper.

Avery sprach kein Wort mit Deirdre, als sie Pass-a-Grille hinter sich ließen und auf den Pinellas Bayway fuhren. Auch verschwendete sie keinen Gedanken daran, wie unbequem Deirdre es mit dem Kosmetikkoffer auf dem Schoß und der Tasche zwischen ihren Beinen haben musste. Gedankenverloren fuhr sie auf die Sunshine Skyway Bridge, die hoch über der Tampa Bay aufragte. Alle ihre Gedanken waren beunruhigend.

Sie und ihre zumeist fröhliche Truppe waren auf dem Weg in eine fremde Stadt, wo man von ihnen erwartete, für einen Hausbesitzer, über den sie nichts wussten, ein Haus zu renovieren, das sie nie gesehen hatten. Und dabei mussten sie interessant genug vorgehen, um den Sender davon zu überzeugen, dass Alles Neu seinen Sendeplatz verdiente.

Averys Hände krampften sich um das Lenkrad. Sie wusste, das Ziehen in ihrem Bauch hatte nichts mit der schwindelerregenden Höhe der Brücke zu tun, sondern alles mit ihrer Furcht vor dem Fall.

Es war beinahe halb acht, als sie den MacArthur Causeway erreichten, der sie in Miamis South Beach ausspucken würde. Averys nackte Haut war sonnenverbrannt. Ihre Haare, die schon seit Stunden in alle Richtungen abstanden, starrten vor Schmutz und bewegten sich kaum noch in der warmen, salzigen Brise von der Biscayne Bay. Die Sonne sank bereits, als sie die im Hafen von Miami liegenden Kreuzfahrtschiffe erblickten und Palmen, Hibiskus und Star Island vorbeifliegen sahen.

«Nervös?», fragte Deirdre.

«Nein, natürlich nicht», log Avery. Sie befanden sich an der Kreuzung von Fifth Avenue und Ocean Drive und hatten einen freien Blick auf den palmengesäumten Strand und den Atlantischen Ozean. Es war an der Zeit, die Adresse des Hauses abzurufen, das sie renovieren würden. In wenigen Minuten würden all ihre unbestimmten Ängste und Sorgen verpuffen. Oder sich als berechtigter erweisen, als sie es sich vorgestellt hatte.

Sie spürte Deirdres Blick. «Wir warten noch ein paar Minuten, bevor wir anrufen», sagte Deirdre. «Bieg links ab. Wir haben es verdient, einmal durch den Art-déco-Distrikt zu fahren.»

Mit einem Pling! traf eine Nachricht ein, aber Avery wendete bereits. Sie wäre nicht überrascht gewesen, einen himmlischen Chor zu vernehmen, als sie die ersten der berühmten auf Stand gebrachten Hotels des historischen Viertels erblickte. Sie hielt die Luft an und verschlang die tropischen Art-déco-Fassaden mit den Augen, deren Details vielfach die Motive und Formen von Seefahrtschiffen aufgriffen. Sie fuhr, so langsam sie konnte, am Park Central, am Beacon, am Colony, am The Cleavelander und dem Carlyle vorbei. Zehn fabelhafte Blocks lang verdrängte sie sowohl die Sorge als auch die Vorfreude.

An einer roten Ampel las sie schließlich die SMS und alle anderen, die mittlerweile eingetroffen waren.

Wir sind da. Wo seid ihr? Wie ihre Absenderin waren auch Nicole Grants Textnachrichten direkt und auf den Punkt.

Madeline Singer, deren Daumen und iPhone miteinander auf Kriegsfuß standen, hatte eine Nachricht geschrieben, die so klang: Ee wrsin da. Abars Haus is … grimöimasig.

Kyras SMS kam als nächste an. Sie ließ Averys Atem stocken.

«Was?», fragte Deirdre. «Was ist?»

Avery hielt ihr das Handy hin, damit sie es selbst lesen konnte. Hast du die Filmcrew heute schon erwartet?

«Mist», sagte Deirdre.

«Kein Scherz», sagte Avery. Sie hatte vorgehabt, am Wochenende erst mal nur anzukommen und einen Plan auszuhecken.

Die Kamera ist auf uns gerichtet, nicht das Haus!!! Angesichts der Ausrufezeichen am Ende von Kyras Nachricht stieg Panik in Avery auf.

Eine weitere Nachricht von Maddie traf ein, und vor ihrem inneren Auge sah Avery Madeline, Kyra und Nicole mit fliegenden Fingern nebeneinanderstehen. Es war ein Bild, das ihr ein Lächeln entlockt hätte, wenn nicht die unangemeldete Filmcrew gewesen wäre und die Eindeutigkeit von Maddies Nachricht. Veeil dick!

3

Die Meridian Avenue war eine gepflegte, baumgesäumte Straße mit einer Mischung aus Einfamilienhäusern und kleineren Wohnblocks, deren Zustand von spektakulär gut renoviert bis zu bitte abreißen reichte. Üppige tropische Pflanzen quollen über schmiedeeiserne Tore und erklommen dschungelartig stuckverzierte Wände. Frischgesetzte Pflänzchen sprenkelten den dunklen Streifen frischer Erde zwischen Gehweg und Randstein, und die Straßenlampen waren schlank und schwarz und sahen aus wie neu installiert.

Nummer 301 beanspruchte den größten Teil der Ecke von Meridian/Third Avenue. Abgegrenzt wurde das Anwesen von einem schulterhohen schmiedeeisernen Tor, das kaum höher war als das Gras, das dahinter wucherte. Ein Torflügel stand offen, und Avery rollte über den Gehweg auf die betonierte Auffahrt und parkte neben Nicoles Jaguar und Madelines Kleinbus.

Sie und Deirdre stiegen aus und starrten das imposante zweistöckige Gebäude an. «Sie hätten kein Haus aussuchen können, das besser zu dir passen würde», bemerkte Deirdre. Beide besahen sich die stromlinienförmige Gestaltung des Hauses mit seinen wunderlichen nautischen Akzenten.

Deirdre hatte recht, auch wenn Avery keine Ahnung hatte, was das bedeutete, falls es denn etwas bedeutete. Das Haus hatte eine großartige Struktur, aber der abblätternde Putz und das Durcheinander verschiedener Fenstersorten sprachen von jahrelanger Verwahrlosung.

Avery reckte den Hals nach den anderen, aber das Grundstück war ein amoklaufender Floridatraum, völlig überwuchert und verwildert. Da sie sich nicht sicher waren, ob sie es ohne Führer und Tropenhelm durch den Garten schaffen würden, gingen sie durch das Tor wieder nach draußen und den Gehweg entlang zur Vorderseite des Hauses. Dort fanden sie Madeline, Kyra und Nicole, die sich bemühten, die zweiköpfige Filmcrew mit der Kamera und dem Mikrophon zu ignorieren, die auf sie gerichtet waren.

Der Kameramann war groß und hatte zottiges, sonnengesträhntes blondes Haar. Der Tontechniker trug einen dunklen Bart und hatte das Gesicht eines Teddybären. Er war deutlich kleiner und untersetzter als der Kameratyp; sein dunkler Haarschopf reichte kaum bis zu der Videokamera auf der durchtrainierten Schulter seines Kollegen. Beide sahen aus, als wären sie in ihren Zwanzigern.

Die Kamera und das Galgenmikrophon schwangen zu Avery und Deirdre herum, als sie näher kamen. Avery konnte förmlich spüren, wie die kastenförmige Linse der Videokamera für ein Close-up an sie heranzoomte. Sie versuchte zu erraten, worauf sie sich richtete: ihre bebenden Brüste in dem unglücklichen Trägertop oder die weiten Flächen nackter Haut, die von den noch unglücklicheren Hotpants entblößt wurden.

«Ich will kein Wort hören von wegen, du hättest es mir ja gesagt», knurrte sie Deirdre aus dem Mundwinkel zu.

«Im Traum nicht», entgegnete Deirdre. «Auch wenn das hier genau das ist, wovor ich dich bewahren wollte.»

«Und kein Schauspielern für die Kamera», setzte Avery hinzu. Sobald eine Kamera innerhalb eines Radius von fünf Meilen auftauchte, bestand die Gefahr, dass Deirdre den Schalter umlegte.

«Wer, ich?», fragte Deirdre unschuldig, aber ihr attraktives Lächeln hatte sich bereits über das ganze Gesicht ausgebreitet, und sie neigte den Kopf im richtigen Winkel, um die lose Haut in der Kinnregion zu verbergen.

Die Frauen umarmten einander steif, weil ihnen allen das unerwartete Publikum allzu bewusst war. Nicole sah noch halbwegs gesammelt aus in einem ihrer klassischen Sommerkleider und mit dem tiefroten Haar, das sich um ihre schmalen Schultern lockte. Maddie sah erschöpft aus. Die über elfstündige Fahrt von Atlanta hierher mit Kyra und dem Baby an Bord stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Kyra hatte es besser überstanden, aber mit 24 ist wenig Schlaf kein ehrfurchtgebietender Feind. Ihr langes, dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und sie trug kein Make-up, das hatte sie auch nicht nötig. Ihre hochgewachsene, schlanke Gestalt war mit der Geburt etwas kurviger geworden. Sie hielt entspannt das Baby im Arm. Sein Kopf mit den dunklen Locken lehnte an ihrer Schulter, und es hatte sich den Daumen in den runden Mund geschoben. Mit seinen sechs Monaten war der Junge bereits das Ebenbild seines berühmten Vaters.

Kyra stellte sie einander mit wütend zusammengepressten Lippen vor. Ihre freie Hand lag auf ihrer eigenen Videokamera, die ihr von der Schulter baumelte. «Das ist Troy», sagte sie und nickte dem großen, blonden, breitschultrigen jungen Mann knapp zu, dessen gutgeschnittene Züge ihn leicht vor die Kamera hätten bringen können statt dahinter. «Und am Ton, das ist Anthony.»

Anthony nickte. Seine Augen waren dunkel und von Fältchen gesäumt, und er lächelte deutlich bereitwilliger als der Kameramann.

Kyra streckte die Hand aus und schob die Kameralinse zur Seite. «Mir wurde gesagt, dass im Lauf der Woche jemand geschickt werden soll, der mit zusätzlichen Aufnahmen beginnt», sagte sie. «Mir ist nicht klar, was ihr zum jetzigen Zeitpunkt hier macht.»

«Ich hätte gedacht, das sei ziemlich offensichtlich», entgegnete der Kameramann und schwenkte die Kamera zurück in Position.

«Ich habe in Bella Flora sämtliche Filmaufnahmen selbst gedreht», sagte Kyra. «Und es waren meine Filme auf YouTube, die überhaupt zu der Idee für die Serie geführt haben.» Sie setzte sich das Baby auf der Hüfte zurecht.

Der Kameramann zuckte mit den Schultern, senkte aber die Kamera nicht.

«Wir haben nicht mit einer Crew gerechnet», beharrte Kyra. «Und wir brauchen auch keine.»

«Ist notiert», gab Troy zurück. «Jetzt käme es mir entgegen, wenn du dich ein Stück nach links lehnen könntest, damit ich das Baby besser ins Bild bekomme.»

In Kyras grauen Augen blitzte Wut auf. «Nein», sagte sie und verlagerte ihr Gewicht so, dass er nicht um sie herumfilmen konnte. «Dustin ist nicht Teil dieses Projekts. Was mich betrifft, ist er tabu.»

Troys Finger bewegten sich kaum merklich auf dem Zoomknopf. Avery hätte nicht sagen können, ob er heranzoomte, um das Baby ins Bild zu kriegen, oder ob er sie alle ins Bild holte.

Unbehagen kletterte ihre Wirbelsäule hinauf. Ihr war sehr bewusst, wie wenig sich ein Sender darum kümmerte, was seine Talente dachten oder fühlten.

«Hört mal», sagte Avery. «Uns ist klar, dass wir die Erlebnisse hier dokumentieren müssen, aber wir haben Kyra. Und keine von uns hat unterschrieben, dass wir ständig unter Beobachtung sind.» Noch als sie es aussprach, dämmerte ihr, dass sie nicht überrascht sein durfte. Ein Sender, der sie dazu zwang, ein zu renovierendes Haus ungesehen als Projekt anzunehmen, würde es sich keineswegs entgehen lassen, ihre ersten Reaktionen einzufangen. «Wir sind hier, um ein Haus zu renovieren, nicht um eine Reality-Show zu drehen.»

Kyra streckte erneut die Hand aus, um die Kamera beiseitezuschubsen. «Das stimmt», sagte sie, und die anderen nickten zustimmend. «Und mein Sohn ist tabu.»

«Tut mir leid», entgegnete Troy, aber sein Ton besagte, dass dem nicht so war. «Ich weiß von keinem Tabu. Wir sind rund um die Uhr vor Ort und filmen, was wir sehen.»

Ohne ein Wort zu wechseln, traten Avery, Nicole, Deirdre und Madeline näher und bildeten einen schützenden Kreis um Dustin. Zusammengedrängt standen sie im schwindenden Licht des Tages und wussten nicht, wie sie die Pattsituation auflösen sollten. Da öffnete sich knarrend die Haustür.

Die Kamera, das Mikro und alle Blicke schwangen zu der Gestalt herum, die heraustrat.

Der Mann, der vor der runden, zweistöckigen Eingangshalle stand, war klein, alt und hatte kurzgeschnittenes weißes Haar, ein gebräuntes Gesicht und ein breites, einladendes Lächeln, das man sogar vom Gehweg aus erkennen konnte. Er trug zu seiner weißen Hose ein weißes Hemd und einen marineblauen Blazer, der an ihm herunterhing, als habe er ihn sich von einem größeren Mann ausgeliehen.

Der Mann kam die geschwungene Eingangstreppe herunter und langsam auf sie zu. Das Gras und die Pflanzen wuchsen stellenweise so hoch, dass es aussah, als watete er durch ein tropisches Maisfeld. Auch wenn seine Schritte entschlossen wirkten, wurde beim Näherkommen doch deutlich, wie vorsichtig er sich bewegte. So vorsichtig, dass er beim Wettlauf mit einer Schnecke von der Schnecke bereits überholt worden wäre.

Alles an ihm wies das Angebot einer möglichen Unterstützung zurück, und so blieben sie, wo sie waren, und warteten darauf, dass er sie erreichte. Das rote Aufnahmelicht der Kamera leuchtete.

Als er nahe genug heran war, wurden seine Gesichtszüge erkennbar. Sein verwittertes Gesicht wurde von einer etwas zu großen, aber eleganten Nase und intelligenten braunen Augen beherrscht, die von buschigen Augenbrauen im selben Weiß wie sein Haar beschattet wurden. Seine Hände waren knotig und mit Altersflecken übersät. In einer Hand hielt er eine nicht angezündete Zigarre. Unter seinem Arm klemmte eine Kapitänsmütze.

Als er vor ihnen anhielt, setzte er sich diese Mütze schwungvoll auf den Kopf und blickte direkt in die Kamera. Er öffnete weit die Arme und donnerte: «Ich bin Max Golden. Willkommen in The Millicent!»

Zu überrascht, um etwas zu sagen, starrten sie ihn an.

Er senkte die Arme und wedelte mit der Zigarre. «Soll ich es noch einmal versuchen?», fragte er den Kameramann. «Ich kann es ohne die Zigarre machen. Oder vielleicht sollte ich die Mütze abnehmen, es wird ja gleich schon dunkel?»

Troy nickte beinahe unmerklich. Anthony rückte das Mikrophon in Position. «Ja, Sir», sagte er knapp. «Wir drehen noch.»

Max Golden drehte sein Lächeln wieder zur vollen Strahlkraft auf, öffnete erneut weit die Arme und sagte: «Willkommen in The Millicent! Ich bin Ihr Gastgeber. Max Golden!»

«Ist im Kasten», sagte Troy.

«Das war’s», stimmte Anthony zu.

«Gut», sagte Max Golden und senkte die Arme. «Ich komme in dieser Jacke nämlich ganz schön ins Schwitzen, auch wenn die Sonne schon untergeht.» Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich die Stirn. Auf seinen eingefallenen Wangen und auf der Oberlippe glänzte Schweiß.

Avery trat auf Max Golden zu. Er war ungefähr so groß wie sie, und sie konnte ihm direkt in die Augen sehen. Das war eine nette Abwechslung zu all den Unterhaltungen mit einem in den Nacken gelegten Kopf. «Ich bin Avery Lawford. Ich werde ihren Umbau koordinieren.»

Sein Händedruck war überraschend fest. Sie stellte ihm die anderen vor, und Max schüttelte allen die Hand. Insbesondere Dustins winzige Gliedmaße schwang er auf und ab, bis er ein zahnloses Lächeln erntete. «Ich war ungefähr in seinem Alter, als ich zum ersten Mal im Varieté aufgetreten bin», sagte Max. «Ich war natürlich mehr eine Requisite als ein Darsteller, aber ich habe gelernt, auf Anweisung am Daumen zu nuckeln.»

«Bestimmt eine nützliche Fähigkeit.» Nicoles Ton war ein winziges bisschen trocken.

«Ja», antwortete Max jovial. «Auch wenn sie mir jetzt weniger zugutekommt als damals.»

Dustin schien die Augen nicht von der Zigarre abwenden zu können, die Max beim Sprechen herumschwenkte. Kyra reichte das Baby Madeline und hob die Videokamera von ihrer Schulter. Die anderen blieben dicht beieinander stehen und taten ihr Möglichstes, um Dustin vor der Kamera des Senders abzuschirmen.

«Ich habe nicht mehr so viele schöne Frauen gesehen, seit wir das letzte Mal in Vegas waren», sagte Max. «Das ist ein Bonus, mit dem ich nicht gerechnet habe.»

«Sie sind ein wenig in der Unterzahl», bestätigte Avery. «Sind Sie sicher, dass Sie uns hier alle unterbringen können?» Im Geiste setzte sie Deirdre bereits ganz oben auf die Liste der Personen, die an einem anderen Ort untergebracht werden mussten. Vielleicht konnten sie den Sender davon überzeugen, das Kamerateam mit ihr mitzuschicken.

«Oh, ich habe jede Menge Platz», entgegnete Max herzlich mit einem Seitenblick zur Kamera. «Aber er ist nicht im besten Zustand. Wir mussten in den Sechzigern das obere Stockwerk in Wohnungen umwandeln. In den letzten fünf oder sechs Jahren haben fast nur noch Millie und ich hier gelebt. Und dann … also … meine Frau ist vor etwas über einem Jahr gestorben, kurz nachdem der letzte Mieter aus dem Poolhaus ausgezogen ist. Ich bin kein besonders guter Hausmann. Oder Gärtner.» Das war seine einzige Bemerkung zu brusthohem Gras und dschungelartigem Dickicht. «Und ich bin auch nicht besonders praktisch begabt.»

«Tja, aus diesem Grund sind ja wir hier, nicht?», sagte Deirdre, trat vor und nahm Max am Arm. Nicole fasste schnell nach dem anderen Arm.

«Wie wahr», sagte Nicole, während sie mit leichter Beschleunigung auf die Eingangstreppe zuhielten. Avery war sich nicht sicher, ob Max’ Füße zwischen Deirdre und Nicole noch den Boden berührten.

Dustin gab ein Wimmern von sich und vergrub seinen Kopf unter dem Kinn seiner Großmutter.

Max blickte auf das Baby und dann auf Maddie, die ein Gähnen unterdrückte. «Es wird allmählich spät», sagte er galant. «Am besten zeige ich Ihnen jetzt Ihre Zimmer, und wir sparen uns den Rundgang für morgen auf.»

Sie stimmten erleichtert zu, und Max schlug eine andere Richtung ein. Er führte sie nach hinten Richtung Garage über Gartenplatten, die von Unkraut überwuchert waren und in unbeabsichtigten Winkeln schief standen. Nicole und Deirdre umfassten Max’ Arme etwas fester und sandten ein Stoßgebet zum Himmel, auf dass er es ohne Sturz und Genickbruch dorthin schaffen würde, wohin er sie brachte.

«Ich liebe die nautischen Elemente von The Millicent», schwärmte Avery und sah hinauf zu dem von einem Kreuzfahrtschiff inspirierten Aussichtsturm, der über dem zweistöckigen Eingang und einer Flucht von Bullaugen aufragte. Zwei Schornsteine erhoben sich majestätisch aus dem flachen Dach in den Abendhimmel.

«Wir haben unsere Flitterwochen auf der SS Franklin verbracht», sagte Max. «Wir gehörten zum Unterhaltungsprogramm, obwohl Millie dort zum ersten Mal auf der Bühne stand. Als ich ein paar Jahre später sah, dass dieses Haus zum Verkauf stand, wusste ich, dass ich es haben muss.»

«Es erinnert mich an die Titanic», murmelte Nicole. «Nach dem Eisberg. Und angenommen, dass sie zuvor eine Schar Flamingos umgemäht hat.»

«Das Zusammenspiel von Rosa- und Grüntönen ist ein wenig unglücklich», stimmte Deirdre ihr leise zu. «Und die Fassade ist völlig kaputt.» Sie deutete auf die Brocken, die überall herumlagen.

Aber Avery war es egal, wie viele Stuckteile das Haus abgeschüttelt und in wie vielen Farben es gestrichen war. Mit seinen klaren Geraden und geschmeidigen Kurven war es eines der prächtigsten Beispiele für die Architektur der Stromlinien-Moderne, das sie je gesehen hatte.

«The Millicent hat vielen Stürmen getrotzt», gab Max zu. «Ich bin recht sicher, dem Sender gesagt zu haben, dass es ein gutes Stück Arbeit werden wird, es wieder in Schuss zu bringen.» Er fummelte mit seiner Zigarre herum.

Avery und Maddie wechselten einen Blick. «Wohin nehmen Sie uns eigentlich mit?», fragte Maddie, als sie an der Auffahrt vorübergingen und die Garage umrundeten.

«Ihre Räume sind im ersten Stock, aber von innen kommt man da nicht mehr hoch», erklärte Max. «Zuerst haben wir die oberen Zimmer an andere Darsteller vermietet, Leute, die wir kannten. Als wir angefangen haben, sie auch an Fremde zu vermieten, haben wir das Erdgeschoss vom ersten Stock getrennt. Die Treppe ist hinten.»

Wie das Äußere von The Millicent war auch der Garten hinter dem Haus einmal wunderschön gewesen. Zwei Treppen im Stil von Gangways führten zu großen Decks hinauf, die von einer Reling eingefasst waren. Ein Deck hatte einen dreieckigen «Bug», der nach Osten zeigte, das andere war wie ein Achterdeck geformt.

Der Pool hatte Risse und war schmutzig. Ein würfelförmiges, einstöckiges Gebäude daneben war durch die Hecke, die es umgab, kaum zu sehen. «Das ist das Poolhaus», erklärte Max. «Das war der erste Raum, den wir vermietet haben.» Am anderen Ende des Gartens senkten sich einige Zitronenbäume über den schmiedeeisernen Zaun.

Alle waren müde, und sie waren sich der Kamera von Lifetime viel zu bewusst, um sich auf Geplauder einzulassen. Kyra hatte ihre Videokamera ebenfalls an. Die Linsen bewegten sich ständig, sodass Avery keine Ahnung hatte, was sie eigentlich filmte. Sie versuchte, sich ihre Sorge nicht anmerken zu lassen, während sie sich einen Überblick über das Ausmaß der Schäden an The Millicent verschaffte. Ihr stach die uralte, wandmontierte Klimaanlage ins Auge, deren schwarze Endstücke aus dem Haus ragten wie Pickel aus dem Gesicht eines Teenagers. Bestimmt war das Haus innen besser in Schuss gehalten worden.

«Gibt es eine Zentralheizung oder eine zentrale Belüftung?», fragte Maddie.

«Nein», antwortete Max. «Aber viele der Wandgeräte funktionieren noch.» Er sagte es mit einem gewissen Stolz.

«Die Art-déco-Häuser in Südflorida wurden für einen optimalen Durchzug gebaut», betonte Avery, ohne zu wissen, wen sie damit zu beruhigen suchte. «Und die Wände sind dick, wenn auch vermutlich nicht so dick wie die von Bella Flora.» Sie wandte sich an Max, der sich seinen Blazer über die Schulter geworfen hatte und sich einmal mehr die Stirn wischte. «Ich vermute, das Haus wurde 1938 oder 1939 gebaut. Wissen Sie, wer es entworfen hat?»

«Henry Hohauser», sagte er, ohne zu zögern. «Wir haben es von den Leuten gekauft, für die er es gebaut hat.»

«Es ist ein Hohauser?» Deirdre lebte auf. «Das sollte den Preis gehörig nach oben treiben, wenn es so weit ist, dass es auf den Markt kommen kann.»

Ein seltsamer Ausdruck glitt über Max Goldens Gesicht. Wieder fummelte er an der Zigarre herum.

Dustin begann auf Maddies Arm zu weinen. Er streckte die Arme nach seiner Mutter aus, die die anderen gerade dabei filmte, wie sie das Haus anstarrten und redeten. Und die Filmcrew filmte Kyra, wie sie filmte.

Hinter Max, der sich an das wacklige Geländer klammerte, stiegen sie die Treppe hinauf. Avery schickte ein leises Gebet gen Himmel, dass das Innere von The Millicent in besserem Zustand sein möge als die Treppe, die nun unter ihren Füßen schwankte und bebte.

4

Die Luft drinnen war dick von angestauter Feuchtigkeit und roch nach mangelnder Belüftung und mangelndem Einsatz von Reinigungsmitteln.

Es gab drei Schlafzimmer, von denen jedes eine kleine Küchenzeile hatte. Die beiden Zimmer auf der Westseite des Hauses teilten sich ein Bad.

«Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich ein Fenster öffne?», fragte Nicole im dritten Schlafzimmer. Ihr Gesicht hatte eine grünliche Farbe angenommen.

Avery hatte ihr Möglichstes getan, um nur durch ein Nasenloch zu atmen. Was keine einfache Aufgabe darstellte, wenn man sich zudem gleichzeitig bemühte, nicht zu hyperventilieren.

«Ach, lassen Sie mich das machen.» Max schlurfte zu einer Reihe von Sprossenfenstern hinüber. Den ersten Griff, den er anfasste, hatte er gleich in der Hand. Der zweite ließ sich nicht bewegen. Avery konnte sich kaum zurückhalten, hinüberzustürzen und ihm zu Hilfe zu eilen, als er sich mit seinem ganzen Gewicht an den dritten hängte. Sie alle entspannten sich ein wenig, als es ihm gelang, dieses Fenster ein paar Zentimeter aufzustemmen.

Max schaltete das Wandklimagerät ein, das tatsächlich Geräusche von sich gab, als sei es angesprungen. Aber kein Lüftchen bewegte sich.

Das Baby begann ernsthaft zu jammern. Avery hatte das ungute Gefühl, dass sie selbst so entsetzt aussah wie die anderen, und natürlich trug sie noch immer lächerlich kurze Shorts und ein inzwischen schweißfleckiges Trägertop.

Max sah ebenfalls erschlafft aus, seine Scherze und die Bühnenpersönlichkeit von vorhin schienen vergessen zu sein. Er führte sie hinaus auf das östliche Deck, wo sie am Bug standen und in Richtung des nachtumwobenen Atlantiks blickten.

«Das hier wäre ein großartiger Platz, um sich den Sonnenaufgang anzusehen», sagte Madeline. «Das Meer ist nur ein paar Häuserblocks entfernt.»

Avery zuckte bei dem Vorschlag zusammen. Sie war kein Morgenmensch und würde nie einer sein.

«Ich stimme dir zu, es kommt mir viel zivilisierter vor, auf den Morgen anzustoßen», sagte Deirdre und bezog sich auf ihr gemeinsames Ritual in Bella Flora. «Aber ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, Avery so früh am Morgen Käseflips essen zu sehen. Es war schlimm genug bei Sonnenuntergang.»

Madeline und Nicole lachten.

«Es gibt keinen schlechten Zeitpunkt für Käseflips», neckte Avery sie. «Ich bin ziemlich sicher, dass das genau so auf der Packung steht.»

Max wischte sich die Stirn. Seine Wangen wirkten womöglich noch eingefallener. In den Arm seiner Mutter gekuschelt, wimmerte Dustin und gähnte dann. Seine Wimpern berührten die Wangen.

«Ich glaube, wir haben für heute genug», sagte Avery. «Lasst uns die Zimmer aufteilen und eine Mütze voll Schaf nehmen.» So müde sie war, wusste sie doch, dass sie den Großteil der Nacht mit offenen Augen verbringen und beten würde, dass die untere Hälfte des Hauses besser in Schuss war als die obere. Wenn sie diese zum ersten Mal besichtigte, wollte sie ihre Reaktionen nicht von der Lifetime-Crew dokumentieren lassen.

«Wann willst du morgen früh anfangen, Kyra?», fragte sie und ignorierte absichtlich Troy und Anthony. «Neun oder halb zehn?» Sie betonte die zweite Uhrzeit, die ihr mehr Zeit geben würde, einmal in Ruhe durchs Haus zu gehen und einen groben Plan zu machen. Sie war erleichtert, als Kyra sich für halb zehn entschied.

«Ist das für Sie in Ordnung, Max?», fragte Madeline.

«Vollkommen», antwortete Max, dem die Erleichterung ins Gesicht geschrieben stand. «Wir sehen uns morgen früh, Kinder. Es sollten in allen Zimmern saubere Laken sein.» Er schwenkte seine Kapitänsmütze in ihre Richtung und machte sich an den Abstieg über die Gangwaytreppe.

Die Frauen sahen einander an, und Avery wusste, sie war nicht die Einzige, die ihm gern die Stufen hinuntergeholfen hätte. Aber ihr war genauso klar, dass er ein solches Angebot abgelehnt hätte.

Dustin stieß einen ernstlichen Schrei aus und griff nach seiner Mutter. Kyra setzte die Kamera ab. «Schnitt», sagte sie und drückte das Baby mit dem Rücken zur Kamera des Senders an sich.

«Aber …», hob Troy an, der seine Kamera immer noch auf der Schulter balancierte.

«Ich sagte, wir sind fertig», wiederholte Kyra in einem Ton, in dem ein Offizier seinem Untergebenen befiehlt wegzutreten. Sie starrte ihn an, bis er schließlich gehorchte. «Wir machen morgen früh um halb zehn weiter, falls ihr dann wiederkommen wollt.»

«Wir haben Anweisung, hierzubleiben und rund um die Uhr einsatzbereit zu sein», sagte Troy und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. «Ich bin davon ausgegangen, dass wir auf dem Gelände untergebracht werden.»

«Ich wüsste nicht, wie», sagte Kyra. «So, wie es aussieht, müssen sich die meisten von uns ohnehin schon ein Zimmer teilen.»

Troy verschränkte die Arme vor der Brust. «Wir gehen hier nicht weg.»

Maddie stemmte die Fäuste in die Hüften, bereit, Kyra Beistand zu leisten. Avery, Nicole und Deirdre standen Troy und Anthony gegenüber. Wenn dies ein Spielfilm gewesen wäre, wären nun die ersten Töne von I Am Woman, Hear Me Roar aufgeklungen.

«Wir werden uns jetzt nicht darüber streiten», sagte Avery. «Wir rufen beim Sender an, wenn wir alle eingezogen sind, und klären, wer was filmt.»

«Und wo alle wohnen», fügte Troy hinzu.

«In der Zwischenzeit könnt ihr beide das Poolhaus haben», sagte Avery und zeigte auf den von der Hecke verdeckten Betonwürfel draußen. «Wenn ihr euch beeilt, holt ihr Max auf dem Weg zur Haustür ein und könnt ihn nach dem Schlüssel fragen.»

«Aber wir wissen gar nicht, ob es bewohnbar ist», warf Anthony ein.

«Ich habe nicht mal eine Tür gesehen», pflichtete Troy ihm deutlich verärgert bei.

«Nicht unser Problem», sagte Kyra.

«Wir haben unbewohnbar hinter uns», stellte Nicole klar. «Unbewohnbar gibt es nicht. Es ist reine Willenssache.»

«Und wenn ihr glaubt, ihr packt das nicht, könnt ihr euch jederzeit ein Hotel suchen», fügte Kyra mit süßer Stimme hinzu.

Troy und Kyra starrten einander ein paar lange Sekunden finster an. Troy knickte als Erster ein, nickte Anthony zu, und sie griffen nach ihren Sachen. Dustin weinte und rieb sich die Augen.

«Ich muss Dustins Sachen aus dem Bus holen. Dann muss ich ihn füttern. Seine Schlafenszeit ist schon lang vorbei», sagte Kyra.

Schweiß rann Averys Rücken hinab. Sie alle sahen aus wie durch die Mangel gedreht. Sie hoffte inständig, dass es fließendes Wasser gab.

«Würde es euch etwas ausmachen, wenn wir dieses Zimmer nehmen?», fragte Kyra, als sie wieder das Haus betraten. «Die verglaste Veranda würde uns ein bisschen mehr Platz geben, um Dustins Reisebett aufzustellen, und ihr müsstet nicht mit einem Windeleimer im Bad leben.»

«Für mich in Ordnung», sagte Avery. «Seid ihr auch einverstanden?»

Deirdre und Nicole nickten. Die drei gingen über den Flur, der von dem bisschen Mondlicht erhellt wurde, das es durch die schmutzigen rechteckigen Glasbausteine und das benachbarte Bullauge schaffte.

«Ich finde, Avery und ich sollten uns ein Zimmer teilen», sagte Deirdre. «Da wir zusammen in Doppelbetten schlafen müssen, ist es doch sinnvoll, dass wir uns nach Familien aufteilen.»

«Meiner Meinung nach sind wir gar nicht besonders verwandt», sagte Avery.

«Und ich habe nicht die Absicht, mein letztes verbleibendes Familienmitglied in näherer Zukunft zu besuchen», sagte Nicole trocken. «Ich bin kein Fan von vergitterten Fenstern.»

Avery schwieg. Sie war nicht in der Lage, sich Deirdre aktiv zur Zimmergenossin zu erwählen.

Deirdre verzog schmollend den Mund. «Gut. Dann nehme ich das hintere Zimmer. Wenn du kein Zimmer mit mir teilen willst, lässt dich Max ja vielleicht unten schlafen. Oder du kannst dich bei der Filmcrew einquartieren.»

«Also gut.» Avery zog eine Augenbraue hoch. «Aber falls du schnarchst, übernehme ich keine Verantwortung für meine Handlungen.»

Deirdre konterte mit einer ihrerseits hochgezogenen Braue. «Ich schnarche nicht.»

«Doch.» In Bella Flora hatten sie sich kurzzeitig ein Zimmer geteilt – und im selben Bad übernachtet, als Hurricane Charlene über sie hereingebrochen war.

Sie seufzten.

«Du liebe Güte.» Nicole lachte. «Ihr beide seid wie zwei Spiegelbilder. Das ist richtiggehend darwinistisch.»

Avery verdrehte die Augen und stöhnte auf, als sie Deirdre dasselbe tun sah.

«Also dann», sagte Avery und achtete sehr darauf, die Lippen nicht zu demselben Schmollmund zu verziehen wie ihre Mutter. «Ich gehe nach unten und hole meine Sachen.» Beinahe freute sie sich darauf, Deirdre dabei zuzusehen, wie sie ihr ganzes Gepäck allein die Gangway hinaufschleppte.