Ein Haus für einen Sommer - Wendy Wax - E-Book
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Wendy Wax

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Beschreibung

Drei Frauen, drei Schicksale und eine Strandvilla in Florida Maddie, Avery und Nikki leben vollkommen unterschiedliche Leben, aber alle drei wurden von einem Anlagebetrüger um ihre Ersparnisse gebracht. Das Geld sehen sie vermutlich nie wieder. Immerhin spricht ihnen das Gericht eine Villa direkt am Strand zu. Aber leider ist das Anwesen extrem baufällig – und die Enttäuschung entsprechend groß. Nach anfänglichem Zögern beschließen die drei Frauen, das Gebäude zu renovieren, um es später meistbietend zu verkaufen. Den ganzen Sommer über arbeiten sie am Haus, teilen Bad und Küche – und werden Freundinnen. Aber können sie auch ihr privates Glück finden? Als nämlich am Ende dieses Sommers ein Hurrikan über Florida hinwegfegt, wirbelt er auch in der Strandvilla noch einmal alles durcheinander ...

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Wendy Wax

Ein Haus für einen Sommer

Roman

Aus dem Englischen von Inka Marter

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Drei Frauen, drei Schicksale und eine Strandvilla in Florida

 

Maddie, Avery und Nikki leben vollkommen unterschiedliche Leben, aber alle drei wurden von einem Anlagebetrüger um ihre Ersparnisse gebracht. Das Geld sehen sie vermutlich nie wieder. Immerhin spricht ihnen das Gericht eine Villa direkt am Strand zu. Aber leider ist das Anwesen extrem baufällig – und die Enttäuschung entsprechend groß.

Nach anfänglichem Zögern beschließen die drei Frauen, das Gebäude zu renovieren, um es später meistbietend zu verkaufen. Den ganzen Sommer über arbeiten sie am Haus, teilen Bad und Küche – und werden Freundinnen. Aber können sie auch ihr privates Glück finden? Als nämlich am Ende dieses Sommers ein Hurrikan über Florida hinwegfegt, wirbelt er auch in der Strandvilla noch einmal alles durcheinander ...

Über Wendy Wax

Wendy Wax stammt aus Florida und kennt beinahe jeden Strand am Golf von Mexiko, wo auch die meisten ihrer Romane spielen. Sie hat für Radio und Fernsehen gearbeitet sowie als Produzentin im Filmgeschäft. 2011 wurde in ihrer Heimatstadt der 12. Mai zum «Wendy Wax Day» erklärt. Heute lebt Wendy Wax mit ihrer Familie in Atlanta, Georgia.

Mein Leben ist wie ein Spaziergang am Strand

so nah am Meeresrand wie es nur geht.

Thoreau

Prolog

März 2009, Wall Street Weekly
Anlagebetrüger Malcolm Dyer mit Bernie Madoff auf der Liste der meistgehassten Personen

NEWYORK – Agenten des FBI durchsuchten heute früh die Büros von Malcolm Dyer, Direktor von Synergy Investments. Dyer wird beschuldigt, durch ein Schneeballsystem etwa 300 Kunden um über 300 Millionen Dollar geprellt zu haben. Die Methode ist nicht zuletzt durch den Finanzbetrüger Bernie Madoff bekannt geworden. Die Investoren glaubten, ihr Geld sei in bankgesicherte Geldmarktpapiere angelegt worden, finanzierten jedoch in Wirklichkeit Dyers ausschweifenden Lebensstil inklusive Privatjet, 32-Meter-Yacht und Häusern in Westchester, Palm Springs, Palm Beach, der Golfküste von Florida und jener karibischen Insel, auf der die besichernde Bank angeblich ansässig war.

Mindestens fünf Jahre lang erhielten Dyers Anleger die versprochenen Renditen, statt aus den nicht existenten Geldmarktpapieren wurden sie jedoch aus den Einlagen neuer Investoren ausgezahlt. Der Betrug wurde erst entdeckt, als die Kunden angesichts der unsicheren Wirtschaftslage ihr Kapital zurückverlangten.

Die Ermittler haben die Unterlagen sichergestellt und alle bekannten Konten und Vermögenswerte Dyers eingefroren. Der Großteil des vermissten Geldes befindet sich aber vermutlich außer Landes. Dyers Aufenthaltsort ist derzeit unbekannt.

1

Auch wenn sie sich hütete, es zu zeigen, war Madeline Singer keineswegs verzweifelt, als ihr Jüngster zum Studium aus dem Haus ging.

In dem Vorort von Atlanta, wo sie wohnte, brachen andere Mütter reihenweise zusammen. Tränen flossen. Antidepressiva wurden geschluckt. Ihre Freundinnen erkannten sich ohne Kinder nicht wieder. Eine kollektive Amnesie hatte die Erinnerung an die Pubertätskrisen der aufmüpfigen Teenager komplett ausgelöscht – so wie der Geburtsschmerz, der vergessen war, sobald man den Säugling in Armen hielt.

Madeline hatte erwartet, dass die Leere im Haus sie erdrücken würde. Sie liebte ihre Kinder und hatte gern auf die Berufstätigkeit verzichtet, um den ganzen Tag für sie da zu sein. Aber während sie sich auf den vernichtenden Schlag gefasst machte, kümmerte sie sich einfach um all die Dinge, für die sie nie Zeit gefunden hatte, als Kyra und Andrew noch zu Hause waren. In jenem Herbst, als ihre Freundinnen zur Therapie gingen, schon mittags tranken und heimlich an der Highschool vorbeifuhren, wo sie so viele Stunden ehrenamtlich gearbeitet hatten, antwortete Madeline mit Freuden auf die Anrufe und SMS ihrer Kinder, klebte allerdings nebenbei die Bilder der gefühlt letzten 20 Jahre in Fotoalben. Dann räumte sie, angefangen mit dem Keller, jedes Stockwerk des Hauses auf und sortierte in einer Art Befreiungsaktion den ganzen Krempel aus, der seit Ewigkeiten überhandnahm.

Danach stürzte sie sich in die vorweihnachtliche Hektik mit Einkaufen, Backen und Geschenkebesorgen und gab sich Mühe, das Weihnachtsfest nicht durch die Wirtschaftskrise überschatten zu lassen. An den Feiertagen kamen die Kinder nach Hause. Andrew von der Vanderbilt University in Nashville. Kyra, die gerade die Filmschule in Berkley absolviert hatte, vom Dreh des ersten Spielfilms, an dem sie seit zwei Monaten arbeitete. Sie strahlte vor Energie und verwandelte sich erneut in den Mittelpunkt des familiären Universums.

Madeline schob die Gedanken an die Projekte, die sie in der Zeit nach den Ferien angehen wollte, beiseite, kochte für die Kinder und deren Freunde, nahm sich Zeit, wenn diese Freunde keine hatten, und störte sich nicht einmal daran, im Leben von Andrew und Kyra nur noch ein Anhängsel zu sein.

Steve, der Weihnachten im Familienkreis mit der Hartnäckigkeit eines Einzelkinds liebte, wirkte besorgt und seltsam abgelenkt, aber wenn sie ihn darauf ansprach, schaffte er es immer, das Thema zu wechseln.

Während sie am ersten Weihnachtstag den Truthahn begoss, wurde Madeline klar: Sie konnte kaum erwarten, dass ihr Mann wieder ins Büro und die Kinder in ihr jeweiliges neues Leben zurückkehrten, damit sie endlich ihr eigenes beginnen konnte.

An diesem ersten Märztag war es im Haus endlich wieder herrlich still. Man hörte keinen Fernseher. Keine Musik. Kein Videospiel-Geballer. Kein Pling, wenn SMS ankamen oder versandt wurden. Keine Kühlschranktür, die auf- oder zuging. Und niemand – wirklich niemand – fragte, was es zum Abendessen gäbe, wann die Wäsche fertig sei, oder ob sie mal eben 20 Minuten Zeit hätte.

Madeline stand in Kyras leerem Zimmer und atmete die Stille ein, hielt sie in ihren Lungen und ließ sich ganz von ihr durchdringen. Das Haus war nicht nur leer, es war vollkommen ordentlich und aufgeräumt. Es war Zeit, ihr «neues» Leben zu beginnen.

Und nicht zum ersten Mal musste Madeline sich eingestehen, dass mit ihr offensichtlich etwas nicht stimmte. Denn die Stille, die ihre Freundinnen so beunruhigte, weckte in ihr ein vorfreudiges Prickeln. Sie wollte vor Freude tanzen. Drachenfliegen. Ein Heilmittel für Krebs finden. Stricken lernen. Einen großen amerikanischen Roman schreiben. Oder eine wirklich lange Zeit einfach gar nichts tun.

Endlich konnte Madeline selbst entscheiden, wie ihr Leben aussah.

Als sie die Fenster aufriss und die ersten Frühlingsdüfte den Raum füllten, baute sie das Zimmer ihrer Tochter in Gedanken in den Arbeitsraum um, von dem sie immer geträumt hatte. Sie würde ein Regal für Bücher und ihren Krimskrams anbringen. Einen Tisch hineinstellen, der als Schreibtisch und Werkbank diente. Vielleicht auch einen Clubsessel mit Hocker, um in der Ecke am Fenster zu lesen. Madeline maß die Fenster für Vorhänge aus, die sie selbst nähen wollte. Sie könnte am Nachmittag in den Stoffladen fahren und sich nach etwas Interessantem umsehen. Vielleicht fuhr sie bei der Gelegenheit gleich bei einem ihrer geliebten Antiquitätenläden vorbei, um nach einem passenden Tisch oder Sessel zu suchen.

Mittags machte sie sich ein schnelles Sandwich und setzte sich an den Küchentisch, um Steves Wall Street Journal und die lokale Wochenzeitung zu lesen. Sie war gerade bei einem Artikel über einen weiteren Vermögensberater, der mit dem Geld seiner ahnungslosen Kunden verschwunden war, als das Telefon klingelte und sie aus der angenehmen Stille riss.

«Mrs. Singer?» Eine weibliche Stimme, kurzangebunden, aber nicht unfreundlich. «Hier ist das St. Joseph’s Klinikum.»

Madeline schloss ihre Finger fester um das Telefon. Sie machte sich auf einen Schlag gefasst.

«Vor etwa einer halben Stunde wurde eine Mrs. Clyde Singer eingeliefert. Sie hat eine Rauchgasvergiftung und eine Platzwunde an der Stirn. Bei ihrem letzten Aufenthalt bei uns hatte sie diese Nummer als Notfallkontakt angegeben.»

«Rauchgasvergiftung?» Madeline stand neben dem Stuhl und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. «Wie geht es ihr?»

«Sie schläft jetzt, aber die Arme hat einiges durchgemacht. In ihrer Küche hat es gebrannt.»

«Oh, mein Gott.» Madeline drehte sich um und rannte mit dem Telefon in der Hand die Treppen hinauf. Letzten Monat war ihre Schwiegermutter im Bad gestürzt und hatte sich nur mit Glück nichts gebrochen. Edna Singer war 87, und es wurde für sie immer schwieriger und gefährlicher, allein zu leben. Bisher hatte sie allerdings nicht einmal darüber nachdenken wollen, ihr Haus aufzugeben, und Steve mochte seine Mutter nicht drängen.

Madeline schrieb sich die Zimmernummer auf und ließ sich noch einmal bestätigen, dass es der Patientin, auch wenn sie schlimm aussah, bald bessergehen würde. «Ich bin in etwa 25 Minuten da.»

Sie tauschte die Shorts gegen eine lange Hose und zog ein Paar Slipper an. Während sie die Eingangstreppe hinunterlief, wählte Madeline die Nummer von Steves Handy. Sofort ging die Mailbox an. Sie hinterließ eine Nachricht mit den wichtigsten Informationen und blieb nur kurz stehen, um Steves Büronummer aus ihrem Notizbüchlein zu suchen. Dort rief sie so selten an, dass die Nummer nicht in ihrem Handy gespeichert war.

Adrienne Byrne, die als Sekretärin seit 15 Jahren vor Steves Eckbüro in der Investment-Firma saß, hob ab.

«Adrienne?», sagte Madeline, während das Garagentor rumpelnd hochfuhr. «Ich bin es, Madeline. Können Sie mich zu Steve durchstellen?»

Am anderen Ende herrschte Schweigen, während Madeline die Autotür aufriss.

«Hallo?», fragte Madeline. «Tut mir leid, wenn ich so kurz angebunden bin, aber es ist ein Notfall. Edna ist wieder im St. Joseph’s, und Steve soll dort hinkommen.»

Madeline setzte sich hinters Steuer, klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter und legte den Rückwärtsgang ein.

«Äh … haben Sie es auf seinem Handy versucht?» Adrienne klang zaghaft, was überhaupt nicht zu ihr passte.

«Habe ich.» Madeline fuhr rückwärts aus der Einfahrt. In ihrem Kopf schwirrten alle möglichen Informationen durcheinander. Wie schlimm sah Ednas Küche aus? Sollte sie Steve allein ins Krankenhaus schicken und sich schon mal das Haus ansehen? «Die Mailbox ist gleich rangegangen. Ist er nicht im Büro? Wissen Sie vielleicht, wie ich ihn erreichen kann?»

Nach einer weiteren Pause sagte Adrienne: «Steve … arbeitet hier nicht mehr.»

Unwillkürlich machte Madeline eine Vollbremsung, und das Auto kam abrupt zum Stehen. «Bitte? Was sagten Sie, wo er ist?»

«Ich habe keine Ahnung, wo er ist, Madeline», sagte die Sekretärin langsam. «Steve arbeitet hier nicht mehr.»

Madeline versuchte zu verarbeiten, was sie gerade gehört hatte.

«Ich habe Steve nicht mehr gesehen, seit er entlassen wurde. Das war Anfang September. Vor etwa sechs Monaten.»

Madeline hatte keine Ahnung, wie sie zum Krankenhaus gekommen war, als sie dort auf den Parkplatz fuhr. Nichts war in ihrem Bewusstsein hängengeblieben, weder die Straßenschilder noch die unzähligen Autos, die auf dem Highway 400 oder der Abzweigung zum Krankenhaus an ihr vorbeigeströmt waren. Auf dem gesamten Weg hatte sie zu begreifen gesucht, was Adrienne ihr gesagt und Steve ihr verschwiegen hatte. Man hatte ihm vor sechs Monaten gekündigt? Er war arbeitslos?

Wie in Trance meldete sie sich an der Rezeption und ging den Flur entlang zu Ednas Zimmer. Überall waren Menschen, es war laut. Eine Krankenliege wurde vorübergerollt, eine Reinigungskraft wischte am anderen Ende des Flurs den Boden. Madeline nahm die Bewegungen, die Hektik um sich herum wahr, aber Bilder und Töne drangen nicht wirklich zu ihr durch. Nichts kam gegen die Fragen in ihrem Kopf an. Wenn Steve keinen Job hatte, wohin ging er dann jeden Morgen, nachdem er seinen Anzug angezogen und mit der Aktentasche in der Hand das Haus verlassen hatte? Und, noch wichtiger, warum hatte er es ihr nicht erzählt?

In der Tür zum Zimmer ihrer Schwiegermutter blieb Madeline kurz stehen und sortierte sich. Edna sah aus, als wäre sie in eine Schlägerei geraten. Ein Verband verdeckte mehr als die Hälfte ihrer Stirn. Die Lippen waren aufgeplatzt, und ein Wangenknochen schimmerte blau. Das Auge darüber sah geschwollen aus.

«Meine Güte», sagte Madeline und trat ein. «Ich will nicht wissen, wie der andere aussieht.»

«Die anderen sind der Küchentisch und der Fliesenboden.» Edna schob das Kinn vor. «Wo ist Steven?»

Gute Frage. «Ich weiß es nicht. Aber ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen, dass du hier bist.»

Ednas Kinn zitterte. Beide wussten, dass Madeline für Ednas einzigen Sohn nur ein kümmerlicher Ersatz war.

«Was ist passiert?», fragte Madeline. «Warum hat es gebrannt?»

Edna senkte den Blick. Ihre Hände, knochig und mager wie der Rest ihres Körpers, umklammerten die Bettdecke. «Ich weiß es nicht. Ich habe gekocht und dann … Mit dem Herd muss etwas nicht in Ordnung sein. Wo ist Steven?»

«Ich bin hier, Mama.» Wie aus dem Nichts heraus stand Steve plötzlich im Raum, eilte zum Bett und nahm die Hand seiner Mutter. «Himmel, hast du mir einen Schrecken eingejagt. Geht es dir gut?»

«Natürlich», sagte Edna, und auf ihren zitternden Lippen erschien ein tapferes Lächeln. Edna Singer duldete ihre Schwiegertochter und schien sich über ihre Enkelkinder zu freuen, aber ihren Sohn vergötterte sie. Als Steves Vater gestorben war, war der Junge erst zwölf gewesen. Seitdem war er ihr Ein und Alles.

Madeline sah zu, wie ihr Mann seine Mutter beruhigte und ihr versicherte, dass alles wieder in Ordnung kommen würde, aber es war, als hätte sie einen Fremden vor sich. Sie kannten sich seit 30 Jahren, seit 25 waren sie verheiratet. Sie hatten zwei Kinder, ein Haus, ein Leben. Und er hatte versäumt, ihr zu sagen, dass er seinen Job verloren hatte?

Sie merkte, dass die beiden sie erwartungsvoll ansahen.

«Ich habe Mama gerade gesagt, dass ich gleich zu ihrem Haus fahre und nachsehe, ob auch abgeschlossen ist. Und dass sie erst mal zu uns kommen soll, wenn sie morgen entlassen wird, dann können wir ein Auge auf sie haben und sie ein bisschen verwöhnen.»

Madeline nickte. Ihr fiel ohnehin nichts ein, was sie hätte sagen können, außer: «Wo bist du jeden Tag gewesen?», oder: «Wie konntest du mir verschweigen, dass du deinen Job verloren hast?», und ganz allgemein: «Was, bitte, ist passiert?»

Madeline trat näher, fassungslos, wie normal Steve klang. Eigentlich wollte sie ihn an den Schultern packen und ordentlich durchschütteln. «Kannst du denn aus dem … Büro weg?», fragte sie bemüht ruhig. «Sonst kann ich deine Mutter auch abholen.»

«Das geht schon», sagte er so beiläufig, als wäre es gar nicht gelogen. «Es steht nichts Dringendes an.»

Während Steve seine Aufmerksamkeit wieder seiner Mutter widmete, klammerte Madeline sich am Bett fest. Sie fühlte sich so morsch wie Ednas Knochen. Eine falsche Bewegung, und sie würde zerbrechen. Sie betrachtete ihren Ehemann und versuchte zu begreifen, warum sich ausgerechnet dieser Mensch, den sie so gut zu kennen glaubte, so rätselhaft verhielt. Er hatte sie angelogen. Jeder Tag, an dem sein Wecker klingelte, an dem er aufstand, duschte, sich anzog und sich auf den Weg zu einer Arbeit machte, die es nicht mehr gab, war eine Lüge gewesen.

Die Frage war natürlich, warum. Warum sagte er nicht einfach, was los war? Warum erzählte er ihr nicht, dass er seinen Job verloren hatte? Hatten sie sich nicht immer alles erzählt?

Ihre Hand zitterte. Madeline ließ sie sinken, nahm sich vor, nicht durchzudrehen und nicht vom Schlimmsten auszugehen, auch wenn ihr absolut keine Erklärung dafür einfiel, warum Steve diese kleine Katastrophe für sich behalten hatte.

Wieder nahm sie das Schweigen im Raum wahr und spürte, dass Steve sie ansah. Madeline blickte in seine leicht auseinanderstehenden, grauen Augen, die sie immer als so warm und offen empfunden hatte, und betrachtete die vollen Lippen, die so gern und häufig lächelten. Zum ersten Mal bemerkte sie ein Netz feiner Fältchen um seine Augen und die Furchen um seinen Mund. Eine tiefe Linie verlief über die ganze Breite seiner Stirn. Wann waren diese Anzeichen für Sorgen aufgetaucht? Und wie hatte Madeline sie übersehen können?

«Ich bleibe noch ein wenig bei meiner Mutter», sagte Steve und entließ sie damit. «Dann fahre ich bei ihrem Haus vorbei und nehme gleich ein paar Sachen mit.»

Madeline hätte ihn am liebsten aus dem Zimmer geschleift und nach der Wahrheit verlangt, aber bei der Vorstellung, ihre Wut und ihren Schmerz in einem Krankenhausflur hinauszuschreien, hielt sie die Worte zurück.

«Gut.» Sie trat vor und drückte ihrer Schwiegermutter pflichtbewusst einen Kuss auf die pergamentartige Wange. Sie achtete darauf, das Bett zwischen sich und Steve zu haben, denn, wenn er sie jetzt berührt hätte, wäre sie mit Sicherheit durchgedreht. «Ruh dich aus und werd gesund.»

Auf dem Weg zum Parkplatz konzentrierte Madeline sich auf ihren Atem. «Ganz ruhig», sagte sie sich. «Wenn er nach Hause kommt, sagst du ihm, dass du Bescheid weißt, und verlangst eine Erklärung. Es wird einen guten Grund geben, warum er dir nichts erzählt hat. Und bestimmt hat er irgendeinen Plan. Er soll dir einfach die Wahrheit sagen. Das ist alles. Solange du weißt, was los ist und ihr es zusammen angeht, wird alles gut.»

Das klang überaus vernünftig. Bis dahin musste sie den Schmerz und die Enttäuschung über den Vertrauensbruch einfach beiseiteschieben. Sie waren nicht arm – Steve war Anlageberater und hatte über die Jahre für ebensolche Eventualitäten ein dickes Polster angespart. Sie würden das durchstehen. Und Steve war qualifiziert und hochangesehen. Vielleicht hatte er einfach eine Auszeit gebraucht und würde jetzt anfangen, sich nach einer neuen Stelle umzusehen. Trafalgar Partners war nicht die einzige Investmentfirma in Atlanta.

Hatte sie nicht «in guten wie in schlechten Zeiten» geschworen? Madeline war keine Treibhauspflanze, die mit der Realität nicht zurechtkam. Wieder spürte sie die Wut wie einen erstickenden Kloß im Hals, und wieder unterdrückte sie das Gefühl.

Während sie den Minivan durch den Nachmittagsverkehr steuerte, überlegte sie, wie sie die Sache angehen sollte. Sie dachte sogar darüber nach, welcher Wein am besten zu so einem Gespräch passte und was sie zum Abendessen machen sollte. Sie würde ihm einfach sagen, dass sie ihn liebte und zu ihm stand, ganz gleich, was passierte. Solange er sie genügend respektierte, um ihr die ganze und unverblümte Wahrheit zu sagen.

Erst später sollte ihr wieder einfallen, dass die Wahrheit nicht immer befreiend war. Und dass man sich seine Wünsche sehr gut überlegen sollte, weil sie manchmal in Erfüllung gingen.

2

Steve kam erst um sechs nach Hause. Madeline stand in der Küche. Sie hatte eine Flasche roten Zinfandel geöffnet und mischte gerade gegrillte Hähnchenstreifen unter einen großen Caesar’s Salad, als sie hörte, wie das automatische Garagentor hochfuhr. Sie hatte sich vorgenommen, nicht gleich mit dem herauszuplatzen, was sie wusste, sie wollte sich ganz normal verhalten und das Thema erst später ansprechen. Aber jetzt, da Steve hier war, spürte sie Schweißtropfen auf der Stirn und eine unerfreuliche Hitzewelle, die ihr Gesicht erröten ließ. Ausnahmsweise lag das nicht an ihren verrücktspielenden Hormonen. Wie zum Teufel hatte Steve das ein halbes Jahr lang hingekriegt?

«Und? Wie sieht Ednas Haus aus?», fragte sie vorsichtig.

Steve seufzte und nahm einen großen Schluck Wein. «Die Küche ist ein Albtraum. Alles ist völlig hin, teils vom Feuer und teils vom Löschwasser.» Er sah sie an. «Es ist ein Wunder, dass sie halbwegs heil da rausgekommen ist. Es macht dir doch nichts aus, dass sie bei uns einzieht?»

«Natürlich nicht.» Ausnahmsweise schien Ednas Abneigung ihr gegenüber nicht wichtig zu sein. «Sie kann bleiben, so lange es nötig ist und bis wir ihre Küche renoviert haben.» Nach all den Jahren konnte Madeline auch noch einen Monat länger auf ihr «neues Leben» warten. Während der Highschool und der Collegezeit hatte Steve in den Ferien auf Baustellen gejobbt. Er würde wissen, was an Ednas Haus gemacht werden musste. Wenn nötig, konnte Madeline helfen, die Renovierung der Küche zu beaufsichtigen, und wenn Edna wieder bei sich einzog, hatte Steve vielleicht schon einen neuen Job.

«Ich meine nicht vorübergehend», sagte Steve, wobei er das eher in sein Glas murmelte. «Sie kommt allein nicht mehr zurecht. Ich habe das Unvermeidliche aufgeschoben, aber jetzt, wo du dich nicht mehr um die Kinder kümmern musst, dachte ich …»

«Du willst, dass deine Mutter … bei uns einzieht? Für immer?» Die Käsereibe rutschte ihr aus der Hand und knallte auf die Arbeitsplatte aus Granit. Das Parmesanstück landete zu ihren Füßen auf dem Boden, aber sie machte keine Anstalten, es aufzuheben.

«Sie ist 87, Madeline. ‹Für immer› ist leider nicht mehr allzu lange.»

Trotzdem konnte es sich noch wie eine Ewigkeit anfühlen. «Deine Mutter mag mich nicht, Steve. Das hat sie nie.»

«Das ist nicht wahr.»

«Wir sind seit 25 Jahren verheiratet, ich sehe sie mindestens zweimal die Woche, wir essen an den meisten Sonntagen bei ihr – und trotzdem nennt sie mich ständig Melinda.» Das war nicht nur ein Versprecher. Steves Freundin in der Highschool hatte Melinda geheißen.

«Sie zieht dich einfach nur gern auf. Sie meint es nicht so.»

«Weißt du, was sie mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat?»

Steve pickte einen Crouton aus dem Salat. «Ein Buch, oder?»

«Es hieß Rundumerneuerung – Wie man seine Fassade auffrischt und Hängepartien strafft.»

«Nein!»

«Oh doch», sagte Madeline.

Steve runzelte die Stirn. Er nahm ihr wie immer nicht ab, dass die Mutter, die ihn so bedingungslos liebte, seiner Frau so wenig Zuneigung entgegenbrachte. Aber wie konnte sie jetzt an so etwas denken, da Steves Lügen und seine Arbeitslosigkeit wie ein Damoklesschwert über ihnen hingen? Sie bückte sich, um den Parmesan aufzuheben, beäugte ihn und warf ihn sicherheitshalber in den Mülleimer, während sie mit ihren hochkochenden Gefühlen rang. Sie hatte das Thema wenigstens scheinbar gelassen ansprechen wollen.

Steve schenkte ihnen gerade nach, als sie sich aufrichtete und die Schultern straffte. Es war klar, dass er nicht vorhatte, ihr sein nicht ganz so kleines Geheimnis zu verraten. Ob er es seiner Mutter gesagt hatte?

«Ich habe heute mit Adrienne telefoniert …», sagte Madeline.

Steve erstarrte wie ein Tier, das Gefahr wittert.

«Ich habe im Büro angerufen, nachdem das Krankenhaus mich benachrichtigt hatte. Adrienne hat gesagt, dass du nicht mehr dort arbeitest. Dass du seit sechs Monaten nicht mehr dort arbeitest.» Sie schluckte und spürte Tränen in ihren Augen brennen, obwohl sie sich geschworen hatte, nicht zu weinen. «Stimmt das?», fragte sie. «Kann das wahr sein?»

Es war, als ließe jemand die Luft aus ihm heraus. Nicht langsam, wie bei einem undichten Reifen, sondern schnell, wie bei einem Ballon, den man losließ, bevor man ihn zugeknotet hatte. Seine Schultern sanken herab, er schrumpfte vor ihren Augen und klappte fast vornüber. Jede Hoffnung, dass er es leugnen oder über Adriennes armseligen Witz lachen würde, verpuffte.

«Ja.»

Sie wartete auf eine Erklärung, aber er saß einfach nur luftleer und zusammengesunken auf dem Barhocker und starrte sie hilflos an.

«Was ist passiert? Warum hat man dir gekündigt? Warum hast du denn nichts gesagt? Was …» Ihre Stimme stockte vor Schmerz. Wegen der Tränen konnte sie nur verschwommen sehen. Dabei wirkte Steve, als würde er selbst gleich anfangen zu heulen, was nicht gerade dazu beitrug, Madelines aufkommende Panik zu dämpfen. Warum sah er sie so an, warum sagte er nichts? «Ich muss es wissen, Steve. Ich verstehe nicht, wie du das vor mir geheim halten konntest. Es ist auch mein Leben.»

Er atmete tief ein, dann wieder aus. «Meine Firmenkunden wurden an Synergy Investments weitergereicht. Malcolm Dyers Unternehmen.»

Madeline erstarrte. Sie hatte nicht viel Ahnung von Finanzen, aber selbst sie hatte von dem berüchtigten Malcolm Dyer gehört, der in der Presse «Mini-Madoff» genannt wurde.

«Ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmt», sagte Steve niedergeschlagen. «Aber der Fonds hat sich so gut entwickelt. Die Rendite war unglaublich hoch, und daran hat sich über fünf Jahre nichts geändert.» Er schluckte. «Man kann auf so hohe Gewinne nicht einfach verzichten. Trotzdem: Ich habe alle Anzeichen übersehen.» In seiner Stimme klang bittere Ungläubigkeit mit. «Es war ein klassisches Schneeballsystem. Und ich habe nichts gemerkt.»

Er schluckte wieder. Sie sah, wie sein Adamsapfel sich hob und senkte.

«Unsere ganze Abteilung wurde im September geschlossen. Trafalgar hat mit den Ermittlern der Regierung zusammengearbeitet und es dadurch aus der Presse raushalten können. Währenddessen wurde neu strukturiert. Wenn die Bundesbeamten die gestohlenen Vermögen ausfindig machen würden, wollte man den Kunden wenigstens einen Teil zurückgeben. Es waren viele gemeinnützige Organisationen darunter …»

Ein Teil von Madeline wollte die Hand ausstrecken und ihn trösten, aber da war immer noch zu viel Wut in ihr. 25 Jahre lang hatten sie sich alles erzählt – das hatte sie zumindest geglaubt. «Hältst du wirklich so wenig von mir, dass du dich lieber jeden Tag in den Anzug zwängst und dieses Theater veranstaltest, anstatt mir die Wahrheit zu sagen?» Sie kippte den Wein hinunter, vielleicht konnte das die Gedanken verlangsamen, die sich in ihrem Kopf überschlugen, oder sogar das Gefühl von Verrat wegspülen. «Wie konntest du das nur tun?»

Steve schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht, Mad. Ich fühlte mich so schuldig und dumm. Und ich wollte dich und die Kinder nicht beunruhigen. Ich dachte einfach, ich würde etwas Neues finden und es dir dann erzählen – wenn es keinen Grund mehr gäbe, sich Sorgen zu machen.»

Steve sah ihr in die Augen. Er wirkte vollkommen fertig. «Aber ich habe keinen anderen Job gefunden. Die Hälfte der Investmentfirmen hat dichtgemacht, die andere Hälfte hat sich verkleinert. Niemand wird mehr eingestellt. Vor allem nicht auf meiner Gehaltsstufe. Oder in meinem Alter.» Sein Ton wurde bitter. «Ich habe jeden einzelnen Tag der letzten sechs Monate mit Arbeitssuche verbracht. Ich bin jeder Möglichkeit nachgegangen, habe jeden Kontakt genutzt. Aber natürlich ist mein Ruf ruiniert. Anscheinend bin ich nicht vermittelbar.»

Eine gefühlte Ewigkeit lang sahen sie sich an. Madeline erkannte ihr Leben beim besten Willen nicht mehr wieder.

«Aber das ist nicht das Schlimmste.» Steve senkte den Blick. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und rieb sich das Gesicht. Madeline wurde flau im Magen, als käme der Pilot ihres Flugzeugs gerade durch den Gang gerannt und schrie: «Anschnallen, wir stürzen ab!»

Eine winzige Sekunde lang wollte sie ihn bitten, nichts weiter zu sagen. Sie wollte lieber aufstehen und weglaufen, aus der Küche und dann gleich ganz aus dem Haus, damit sie seine Worte nicht hören könnte.

«Ich … äh …» Er hielt inne und sah sie dann langsam an. «Unser Geld ist auch weg.» Er sagte es so leise, dass sie zuerst glaubte, sie hätte sich verhört.

«Was?»

«Ich sagte, unser Geld ist weg.»

«Welches Geld meinst du?», fragte sie ebenso leise. Als könnte es den Schlag irgendwie dämpfen, wenn sie die Stimme senkte.

«Alles.»

Die Stille wirkte so undurchdringlich, dass Madeline glaubte, ihre nächsten Worte müssten in Watte gepackt aus ihrem Mund kommen. Vielleicht sollte sie einen albernen Witz erzählen. Damit Steve den Kopf zurückwerfen und lachen könnte. Was sehr viel besser wäre, als den Kopf hängen zu lassen und auf die Hände zu starren.

«Wie ist das möglich?» Ihre Stimme war ein ungläubiges Flüstern.

Er sah ihr in die Augen. «Die Rendite aus dem Fonds war so gut, dass ich auch unser Geld dort angelegt habe.» Er schwieg kurz. «Jeder Penny, den wir nicht zum Leben brauchten, ist bei Synergy gelandet.»

«Aber ich dachte, du hast unser Geld in Einlagenzertifikate von Banken angelegt», sagte Madeline. «Sind die nicht ziemlich sicher?»

«Ja, echte Einlagenzertifikate werden von der Bank gesichert und sind relativ risikoarm. Nicht existierende Einlagenzertifikate, die von einer nicht existierenden Offshore-Bank ausgestellt wurden, eher nicht.»

Madeline hatte das Gefühl, Opfer eines Zugunglücks zu sein. Und vor ihr auf den Gleisen lagen die kaputten, verbogenen Metallteile ihrer Zukunft.

«Das Geld meiner Mutter habe ich auch in den Fonds investiert.»

Madeline fürchtete, ihr Herz würde stehen bleiben. «Ist noch irgendetwas übrig?» Sie konnte sich keuchen hören, aber es gelangte keine Luft in ihre Lungen.

«Nur das hier.» Er zog ein zerknülltes Stück Papier aus der Hosentasche, strich es glatt und legte es auf den Tisch. «Dyer wird vom FBI gesucht. Inzwischen wurde er in einem Zivilverfahren schuldig gesprochen, anscheinend ist das so üblich, wenn man nicht auftaucht. Ich habe einen Antrag auf Entschädigung aus Dyers beschlagnahmten Vermögenswerten gestellt.» Er schob ihr das Papier zu. «Das ist gestern gekommen. Neben unserem Haus und dem, was von dem Haus meiner Mutter übrig ist, besitzen wir ein Drittel eines direkt am Strand gelegenen Anwesens in Florida. In einer aufstrebenden Metropole namens Pass-a-Grille.»

Madeline wusste weder, wo im Haus Steve schlief, noch ob er schlief, und sie war auch zu betäubt, um aufzustehen und es herauszufinden. Sie wälzte sich fast die ganze Nacht auf ihrer Bettseite hin und her und schob alle paar Minuten das Kissen zurecht, als könnte sie diesen Tag allein durch die richtige Schlafposition vergessen. Manchmal konnte sie Steve unten hören. Irgendwann ging der Fernseher im Wohnzimmer an.

Erst nach drei Uhr driftete Madeline in den Schlaf, aber sie schlief unruhig und wurde von verstörenden Träumen heimgesucht. In einem dieser Träume trug ihre Schwiegermutter einen spitzen schwarzen Hut und fuhr auf einem Fahrrad durch einen Gewitterhimmel. Das Zauberer-von-Oz-Setting begleitete sie die ganze Nacht. Steve erschien erst als Vogelscheuche, dann als feiger Löwe und schließlich als stark verrosteter Blechmann. In der schlimmsten Szene trat Malcolm Dyer als der skrupellose Zauberer auf und wurde hinter seinem Vorhang mit der guten Hexe Glinda erwischt, die offensichtlich gar nicht so gut war und kichernd auf seinem Schoß saß.

Madeline erwachte angeschlagen und verstimmt, was kein Wunder war. Steves Enthüllungen schlichen sich sofort wieder in ihr Bewusstsein, direkt auf die Hauptbühne. Weinend vergrub sie das Gesicht im Kopfkissen.

Als die Schlafzimmertür aufging und Steve hereinkam, kniff sie die Augen zusammen und stellte sich schlafend. Während er duschte und sich im Bad anzog, starrte sie an die Decke, aber sobald er das Schlafzimmer betrat, schloss sie wieder die Augen und täuschte regelmäßiges Atmen vor. Sie stand erst auf, nachdem Steve das Haus verlassen hatte.

Als er etwa eine Stunde später mit seiner Mutter zurückkam, hatte Madeline die Decke und das Kissen von der Couch geräumt, Gästezimmer und Gästebad geputzt und eine Suppe aufgesetzt. Sie war fest entschlossen, vor ihrer Schwiegermutter alles so normal wie möglich aussehen zu lassen. Aber es erforderte wirklich eine oscarwürdige schauspielerische Leistung, so zu tun, als ob ihre Welt nicht in ihren Grundfesten erschüttert sei.

«Du bist so still, Melinda», sagte Edna, als Madeline ihr im Gästezimmer ins Bett half und den Fernseher anstellte.

Madeline zwang sich, den falschen Namen zu überhören. Im Vergleich zu Steves Geständnis war das wirklich kaum der Rede wert.

«Ich will euch nicht zur Last fallen, aber Steven hat darauf bestanden …»

«Wir freuen uns, dich hierzuhaben», sagte Madeline und wünschte, es wäre wahr. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie gerade die Gäste der Heimwerkerserie Hammer und Nagel vorgestellt wurden. Sie übergab ihrer Schwiegermutter, die schon voll und ganz auf den Bildschirm konzentriert war, die Fernbedienung. «Allerdings würde ich mich noch mehr freuen, wenn du mich nicht ständig Melinda nennen würdest.»

Ednas Blick löste sich vom Fernseher. Kurz blitzte in ihren Augen der Schock darüber auf, dass Madeline die Stichelei erwähnt hatte.

«Es wäre schrecklich, wenn du schon so tüdelig wärst, dass du dir den Namen deiner Schwiegertochter nicht mehr merken kannst», sagte Madeline. «Vielleicht sollten wir noch ein paar kognitive Tests machen lassen. Wir sind nie zu dem Folgetermin beim Neurologen gegangen.»

Edna schnaubte. «Ihr wollt einen alle nur entmündigen. Zuerst das Auto. Dann kann man angeblich nicht mehr allein wohnen.» Sie gab sich Mühe, so streitlustig wie sonst zu klingen, aber Madeline hörte auch Angst heraus und schalt sich dafür, sie provoziert zu haben.

«Das Alter ist nicht gerade die goldene Zeit im Leben.»

«Nein, sicher nicht», stimmte Madeline zu und ermahnte sich, die kleinen Sticheleien ihrer Schwiegermutter in Zukunft nicht so ernst zu nehmen. «Altwerden ist nichts für Schwächlinge.»

Verheiratet sein allerdings auch nicht, dachte sie und ging aus dem Zimmer.

3

Das Wochenende verbrachte Madeline damit, entweder Steve zu löchern, was er vorhatte, um finanziell wieder auf die Beine zu kommen, oder zu überlegen, was sie selbst nach 23 Jahren Vollzeithausfrau und -mutter tun könnte, um etwas zum Familieneinkommen beizusteuern. Die Antwort auf beide Fragen war «nichts».

Sie las sämtliche Stellenanzeigen, aber weder Putzen noch Kochen und auch nicht das Bilden von Fahrgemeinschaften, für das man Organisationstalent und Überredungskunst benötigte, schien sie für eine der Stellen zu qualifizieren. In Zeiten, in denen selbst ausgebildete und erfahrene Kräfte keine Arbeit bekamen, lagen ihre Chancen, einen halbwegs anständigen Job zu finden, zwischen «nicht so bald» und «nicht mehr in diesem Leben».

Sonntagabend war sie völlig erledigt davon, zu allen nett und freundlich zu sein und Edna gegenüber nach wie vor so zu tun, als sei alles in Ordnung. Am Montag dann fing Steve, in dessen Willenskraft sie sich einst verliebt hatte und der für sie immer ein Fels in der Brandung gewesen war, an, sich gehenzulassen. Nach seinem Geständnis hatte er anscheinend jede Hemmung abgelegt, sich seiner Verzweiflung hinzugeben. Zum ersten Mal zog er sich morgens nicht an und verließ auch nicht das Haus. Stattdessen nahm er seine von nun an bevorzugte Position auf der Wohnzimmercouch ein, die Fernbedienung locker in einer Hand.

Die meiste Zeit des Tages sah er sich Sportsendungen an. Sobald Edna wieder aufstehen konnte, bediente sie ihn wie eine Glucke und jammerte ständig, dass die Leute in seiner Firma ja nicht wüssten, was sie täten. Dann prophezeite sie, dass man Steve bald die Tür einrennen würde, um ihn einzustellen. Madeline nahm an, dass Steve ihr nur eine gekürzte Fassung seines Abschieds von Trafalgar Partners gegeben hatte. Ihre finanziellen Schwierigkeiten hatte er wahrscheinlich gar nicht erwähnt.

Jeden Tag wartete Madeline darauf, dass ihr Mann die Versicherung anrief, um Ednas Schaden zu melden, aber das geschah nicht. Auch schien er nicht geneigt, seine Jobsuche wiederaufzunehmen oder seine Kontakte zu pflegen. Vielmehr arbeitete er vor allem daran, das tägliche Fernsehprogramm auswendig zu lernen. Außerdem hatte er ein System entwickelt, um vorherzusagen, welche Kandidaten als Nächstes bei Star Search und The Voice ausscheiden würden. Er und Edna wussten inzwischen besser Bescheid als jeder Fünftklässler.

Madelines Wut und ihr Schmerz wurden auch mit der Zeit nicht weniger. Im Gegenteil: Die Gefühle durchströmten sie und vermischten sich mit Angst. Das Herz schlug schwer in ihrer Brust. Da sie Steve nicht dazu bringen konnte, wühlte Madeline sich selbst durch die Ordner im Arbeitszimmer. Sie fand die Versicherungspolice ihrer Schwiegermutter sowie Ednas und ihre Kontoauszüge und brütete ein paar Tage über den Papieren. Dann vereinbarte sie einen Termin mit dem Schadenssachbearbeiter und traf sich mit ihrem Berater bei der Bank. Sie öffnete die Rechnungen, die stapelweise eintrudelten und stapelte sie in einer Ecke von Steves Schreibtisch. Aber wie sehr sie ihm damit auch in den Ohren lag, er warf noch nicht einmal einen Blick darauf. Als sie ihn zu einer Sitzung bei einem Psychologen schleifte, den sie selbst bezahlen mussten, weil sie keine Krankenversicherung mehr hatten, weigerte er sich, auch nur ein Wort zu sagen.

Ein paar Wochen hatten sie sich so durchgeschleppt, als Madeline eines Tages vom Einkaufen nach Hause kam – wobei sie ihre dritte und vorletzte Kreditkarte bis zum Limit ausgeschöpft hatte – und ihre Tochter am Küchentisch vorfand, wie sie sich ein Sandwich machte. Zwei große Koffer standen in einer Ecke. Es war der erste April.

«Kyra?»

«Hi, Mom.» Kyra stand auf und umarmte sie. «Ich habe gesehen, dass Oma hier ist. Ich hoffe, mein Zimmer ist noch frei?!»

«Natürlich», sagte Madeline. «Aber was ist los? Ich dachte, du drehst bis Ende Mai in Seattle.»

«Ich bin nicht mehr dabei.»

Madeline wartete auf ein «April, April!». Denn Kyra hatte während der gesamten Ferien ununterbrochen von dem Film, der unglaublichen Besetzung und der noch tolleren Crew erzählt. Es sei eine einmalige Gelegenheit, ein echter Karriereschub. «Aber …»

«Ähm, und ich habe noch eine andere … kleine Überraschung.»

«Soll ich mich lieber setzen?» Bei dem Gesicht, das ihre Tochter machte, war es wahrscheinlich besser, gleich wegzurennen und sich zu verstecken, dachte Madeline, hielt aber den Mund.

«Vielleicht.»

Madeline ließ sich neben ihrer Tochter auf einen Stuhl fallen. Kyra sah abgemagert aus, ihre Augen waren verquollen. «Und Oma? Was hältst du davon?»

«Ach, sie macht nicht viel Arbeit. Sie und dein Vater leisten sich Gesellschaft.» Und sie sagt auch nicht mehr ständig Melinda.

«Nein. Ich meine, was hältst du davon, Oma zu werden?»

«Bitte sag, dass das ein Aprilscherz ist.»

Kyra schüttelte den Kopf, während Madeline sich nach der versteckten Kamera umsah. «Jetzt weiß ich. Du drehst eine neue Reality-Show. Der Titel ist Foltere deine Eltern!»

Kyra spannte den Kiefer an und schob das Kinn vor. «Ich fürchte, die Elternfolter ist nur ein unverhoffter Extrabonus. Ich bin schwanger, Mom. Anscheinend ist es okay, während der Dreharbeiten zu einem großen Film Sex mit einem Schauspieler zu haben. Allerdings nur, bis seine Frau auftaucht und sich wichtigmacht.»

Wieder einmal wünschte Madeline, sich verhört zu haben. «Oh, Kyra, Süße. Wie konnte das passieren?»

«Danke für die Unterstützung und schön, dass du dich freust.» Kyras Stimme klang angestrengt.

«Kyra, das ist nicht fair. Du musst zugeben, dass das ein ziemlicher Schlag ist. Und zwar nicht der einzige, der hier in letzter Zeit niedergegangen ist.»

Das Gesicht ihrer Tochter glühte vor Enttäuschung und Wut. Offensichtlich war sie nicht an den Problemen anderer interessiert. «Oh Gott, es war so schön. Und jetzt ist alles ein Riesenchaos.»

«Das Gefühl kenne ich.» Madeline betrachtete Kyra. Die große, schlaksige junge Frau mit den dichten dunklen Locken und den auseinanderstehenden grauen Augen ihres Vaters war eher beeindruckend als schön. Den Hang zur Dramatik hatte sie schon als Kind gehabt, und mit den Jahren war er nicht schwächer geworden.

«Wer ist der Vater und …» Madeline hielt inne, unsicher, wie sie fortfahren sollte. «Und hat er vor, sich … einzubringen?»

Kyra zögerte.

«Sag es mir einfach.» Madeline fuhr sich durch die Haare. Sie könnte es nicht ertragen, wenn noch ein Familienmitglied wichtige Informationen zurückhielte. «Du bist meine Tochter, und ich gebe mir Mühe, unvoreingenommen zu sein.»

«Es ist Daniel. Daniel …»

«Daniel Deranian?» So hieß der Megastar des Films, an dem Kyra mitgearbeitet hatte. «Aber er ist …»

«Mit Tonja Kay verheiratet.»

Madeline nickte. Tonja Kay war selbst eine Berühmtheit. Die beiden waren eines von Hollywoods Superpaaren, fast so bekannt wie Brad und Angelina.

«Und er ist …»

«Ein bisschen älter?»

«Das ist wohl ziemlich untertrieben. Er ist mindestens zehn Jahre älter als du. Und er soll eine Affäre nach der anderen haben. Warum …»

«Das nennst du unvoreingenommen?» Kyra verschränkte die Arme vor der Brust.

«Schatz, ich will nur sagen, dass du wahrscheinlich keine Vorstellung davon hast, wie sehr ein Baby dein Leben verändern wird. Du bist erst 23. Es liegt noch so vieles vor dir. Du weißt, dass du …»

«Ja, das weiß ich», sagte Kyra. «Ich kenne meine Möglichkeiten. Und ich werde Daniels Baby bekommen.»

«Und was denkt Daniel darüber?» Es kam Madeline albern vor, einen Hollywood-Star beim Vornamen zu nennen. Als hätte sie ihn jemals irgendwo außer in Zeitschriften oder auf Kinoleinwänden gesehen.

Kyra rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. «Ich weiß es nicht. Ich habe es ihm noch nicht erzählen können.»

«Ach, Kyra.»

«Er hat gesagt, dass er mich liebt, Mom. Er ist nicht, wie du denkst. Oder wie er in der Klatschpresse beschrieben wird.» Kyra starrte so intensiv auf ihre verschränkten Hände, als läge die Antwort zwischen den Fingern. «Es war so schön. Und dann taucht Tonja am Set auf, und plötzlich erfahre ich, dass ich entlassen bin.» Sie sah auf, ihre grauen Augen umwölkten sich vor Schmerz. «Als ich später an Daniels Wohnwagen geklopft habe, sagte sein Assistent, dass er keine Zeit hätte. Und das war’s.»

Seufzend senkte sie den Kopf. «Ich wollte dir das nicht einfach in einer Mail oder SMS schreiben.»

«Ach, Süße.» Madeline zog ihre Tochter an sich. Wie kam dieser dahergelaufene Hollywood-Romeo dazu, das Leben ihrer Tochter zu ruinieren und sie dann einfach rauszuwerfen? Wie konnte ihr Kind ein Kind kriegen? Und woher um alles in der Welt sollten sie das Geld für ein weiteres Kind nehmen?

«Kann ich eine Weile hierbleiben?», fragte Kyra und entzog sich der Umarmung. «Meine Wohnung ist untervermietet, weil ich dachte, dass ich den ganzen Frühling am Set bin. Ich weiß nicht, wo ich sonst hinsoll.» Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, wie sie es schon als Kind getan hatte, um Tränen zu unterdrücken. Madeline war ebenfalls zum Heulen zumute. Sie hatte geglaubt, sich ausgeweint zu haben, aber anscheinend besaß der Mensch einen unerschöpflichen Vorrat an Tränen. Sie spürte, wie es hinter ihren Lidern brannte.

«Natürlich kannst du bleiben. Du und das Baby.» Madeline schloss kurz die Augen. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass Kyra Mutter wurde. «So lange du willst.»

Madeline sah hilflos zu, wie Kyra ihre Koffer zur Hintertreppe schleifte und in ihr Zimmer hochwuchtete. Das Zimmer, das sich offensichtlich nicht so bald in einen Arbeitsraum verwandeln würde.

Mitte April war Madeline klar, dass es definitiv bergab ging. Ednas Versicherung hatte noch nicht gezahlt, und beim Zusammenleben mit ihr war deutlich geworden, dass sie wirklich nicht mehr allein wohnen konnte. Leider konnte sie sich aber auch nicht leisten, in eine Seniorenresidenz zu ziehen, selbst wenn sie das Haus renovieren und auf dem miserablen Immobilienmarkt loswerden könnten – sofern Edna sich überhaupt dazu bereiterklären würde.

Steve befand sich immer noch im freien Fall und ließ sich weder durch Betteln noch Schmeicheleien oder Drohungen dazu bewegen, etwas halbwegs Nützliches zu tun. Er behauptete, er würde nur auf den Aufschwung warten, aber Madeline kam es vor, als hätte er einfach keine Lust mehr zu arbeiten.

Eines Abends holte Madeline das zerknitterte Blatt mit der Adresse des Anwesens in Florida und den Namen der anderen beiden Besitzerinnen hervor, setzte sich neben Steve auf die Couch und legte ihm den Zettel auf den Schoß. «Wir müssen uns das ansehen und herausfinden, was es wert ist.»

Er brauchte dringend eine Rasur, und obwohl er ständig auf dem Sofa lag, oft mit geschlossenen Augen, wirkte er alles andere als ausgeruht. «Es gibt keinen Markt für Immobilien, Madeline. Und selbst wenn. Ich bezweifle ernsthaft, dass wir für ein ‹Anwesen› an einem Strand am Arsch der Welt irgendwas kriegen.»

Seine Mutter saß in der Nähe und blätterte in einer Zeitschrift. Sie und Edna hatten sich nicht unbedingt ausgesprochen, aber Madeline hatte schon vor Wochen aufgehört, ihr heile Welt vorzuspielen.

«Aber der Markt wird sich erholen, Steve. Wir können nicht einfach hier rumsitzen und alles verlieren. Wir müssen es wenigstens versuchen.»

«Du hast keine Ahnung, wie es da draußen zugeht.» Seine Stimme war so müde und niedergeschlagen wie sein Blick. «Ich habe 25 Jahre lang die Brötchen verdient, und ich habe einfach keine Kraft mehr.» Er gab ihr den Brief zurück. «Tut mir leid, aber ich kann nicht.» Damit nahm er die Fernbedienung und stellte den Ton wieder lauter.

«Edna?» Madeline war so verzweifelt, dass sie sich sogar an ihre Schwiegermutter wandte.

Aber Edna zuckte nur mit den klapprigen Schultern. «Ich glaube, Steven braucht einfach eine kleine Pause», sagte sie, als ginge es um ein Mittagsschläfchen und nicht darum, jegliche Verantwortung von sich zu weisen. «Wir müssen ihm etwas Zeit geben.» Sie beugte sich vor und klopfte ihrem Sohn auf die Schulter.

Als Madeline den Raum verließ, starrten beide bereits wieder auf den Fernseher, wo ein Kandidat beim Glücksrad versuchte, ein Wort zu entschlüsseln.

In der Küche schenkte Madeline sich ein Glas Wein ein. Sie versuchte, die Haushaltsausgaben so weit wie möglich zu reduzieren, also hatte sie im Supermarkt den Angebotswein mitgenommen. Sie ging auf die Terrasse und nippte sparsam an ihrem Glas, während sie die Bäume im hinteren Teil des Gartens betrachtete. Die Kiefern wiegten sich sanft in der leichten Abendbrise. Madeline atmete den Duft der Kamelie ein, die neben dem Haus blühte. Dann blickte sie in den Himmel, um dort wenigstens ein klitzekleines bisschen Gelassenheit zu finden, aber es war unmöglich.

Vor ein paar Tagen hatte schon ein Gerichtsvollzieher angerufen, weil sie ihre Rechnungen nicht zahlten, und im Supermarkt konnten sie sich kaum noch die Billigmarken leisten. Gestern hatten sie die letzten wenig getragenen Kleidungsstücke zu einem Second-Hand-Laden gebracht, der gebrauchte Markenklamotten auf Kommission verkaufte.

Drinnen klingelte das Telefon, und kurz darauf öffnete sich die Verandatür, und Kyra trat hinaus. «Es ist Andrew. Er will mit dir sprechen.» Sie gab ihrer Mutter das Telefon.

Madeline kippte den letzten Schluck Wein hinunter, bevor sie sich den Hörer ans Ohr hielt. «Hallo, Schatz», sagte sie. «Wie war die Prüfung in Literatur?» Schlagartig wurde ihr bewusst, dass ihr Jüngster inzwischen als Einziger dort war, wo er hingehörte, und tat, was er sollte.

«Nicht so gut.»

«Nein?» Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und legte die Füße aufs Geländer. Verglichen mit den wirklich schrecklichen Ereignissen der letzten Zeit konnte man sich kaum über eine schlecht gelaufene Klausur aufregen. «Es wird schon klappen, wenn du für die nächste Prüfung mehr lernst. Du musst dich einfach dahinterklemmen. Du warst doch immer ein guter Schüler.»

«Nein, Mom, dafür ist es zu spät.»

Madeline atmete tief ein, und plötzlich ging es nicht mehr um Gelassenheit, sondern einfach nur darum, nicht zu explodieren. «Warum ist es zu spät? Du hast doch noch einen Monat Zeit für die nächste Prüfung.» Sie drehte das Weinglas in der Hand und sah es sehnsüchtig an, aber es war kein Tropfen mehr übrig.

«Ich komme im Literaturkurs auf höchstens 50 Prozent.» Es folgte eine kurze Pause. «Und in Geschichte auf 65 Prozent. Vielleicht könnte ich gerade eben noch bestehen, aber das Stipendium bekomme ich ganz sicher nicht mehr.»

Madeline hörte die Worte und verarbeitete sie, aber konnte sie einfach nicht glauben.

«Wenn ich die Kurse im Sommer wiederhole und besser abschneide, kann ich mich zum nächsten Herbst noch mal bewerben.»

Madeline mahnte sich, ruhig zu bleiben, aber es war wirklich viel verlangt. «Du hast genau gewusst, welche Noten du für das Stipendium brauchst», sagte sie streng. «Und der Stoff war sicher nicht zu schwer. Wie konnte das passieren?» Diese Frage hatte sie in letzter Zeit etwas zu oft gestellt. Und bisher hatte sie nie eine befriedigende Antwort darauf bekommen.

«Ach, ich war einfach ein bisschen faul in letzter Zeit», gab Andrew verlegen zu, als hätte er etwas so Unbedeutendes vergessen, wie ein Buch rechtzeitig in der Bibliothek zurückzugeben. «Wenn du mir die Studiengebühr für das Sommersemester schicken könntest, dann …»

«Nein.»

«Was?» Er hatte eindeutig nicht damit gerechnet, dass seine Bitte abgelehnt werden könnte.

Tatsächlich konnte Madeline sich nicht daran erinnern, wann sie Andrew das letzte Mal etwas abgeschlagen hatte. Möglicherweise war das Teil des Problems. «Nein», wiederholte sie, bemüht, nicht die Stimme zu erheben. «Nein.» Sie stand auf und ging ein paar Schritte auf und ab. Sie konnte nichts anderes sagen. «Ohne Stipendium keine Vanderbilt-Uni.»

«Ach, Mom, das ist nicht …»

«So ist es nun mal. Du wirst alles tun, um deine Noten zu verbessern. Dann kannst du nach Hause kommen und im Sommer arbeiten, um Geld für die Studiengebühren zu verdienen. Das nächste Jahr musst du selbst aufbringen.»

«Aber das schaffe ich nicht. Die Studiengebühren für eine Privat-Uni kann ich mir niemals leisten!»

«Wir auch nicht», sagte sie knapp. «Jedenfalls nicht mehr. Wenn du nicht genug für die Vanderbilt zusammenbringst, musst du dich eben an einer staatlichen Uni bewerben.»

«Aber …»

«Es gibt kein Aber. So ist es nun mal.»

«Gib mir Dad», sagte Andrew trotzig. «Er wird mir das Geld schicken.»

«Dein Vater kann grad nicht rangehen.» Die Untertreibung des Jahrhunderts. «Außerdem hat er mir die Verwaltung unserer Finanzen überlassen.» Das war leider nur zu wahr. «Ich würde also keine Zeit damit verschwenden, ihn überreden zu wollen. Vor allem nicht, da du die Zeit anscheinend zum Lernen brauchst.»

Sie verabschiedete sich, und zum ersten Mal seit Ewigkeiten hatte sie kein schlechtes Gewissen, weil sie nein gesagt hatte. Sie war nun mal für die Finanzen der Familie zuständig, vielleicht nur mangels Alternative, aber sie war zuständig. Und sie würde sich überlegen müssen, was als Nächstes zu tun war.

Madeline gönnte sich noch ein zweites Glas Wein, nahm es mit ins Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Erneut holte sie das zerknitterte Blatt aus der Tasche, strich es glatt und las es sorgfältig durch. Im Internet googelte sie Pass-a-Grille und entdeckte, dass es der untere Teil einer winzigen Barriereinsel war, die vor der Mitte der Westküste Floridas im Golf von Mexiko lag. Die Suche nach einem Foto des Hauses blieb leider erfolglos. Auf Google Maps konnte sie zwar den genauen Ort finden, das Bild war aber unkenntlich gemacht.

Dann googelte sie die Namen der beiden Miteigentümerinnen und erfuhr, dass eine von ihnen, Avery Lawford, Moderatorin bei Hammer und Nagel war, der Heimwerkerserie, die Edna so mochte. Die andere, Nicole Grant, war Gründerin und Inhaberin von Heart Incorporated, einer elitären Partnervermittlung mit Büros in New York und Los Angeles. In ihrem Lebenslauf hatte sie mindestens 50 Ehen aufgelistet, die auf ihr Konto gingen, außerdem hatte sie einen Bestseller über Tipps und Tricks beim Flirten geschrieben.

Abgesehen davon, dass Malcolm Dyer sie alle drei übers Ohr gehauen hatte, schien Madeline nichts mit den beiden anderen gemein zu haben, das sah man gleich. Sie waren jünger und um einiges glamouröser, und Madeline bezweifelte ernsthaft, dass eine von ihnen so pleite war wie sie selbst. Aber bestimmt würden sie wenigstens einen Blick auf ihr Eigentum werfen wollen. Vielleicht würde ihr eine von ihnen sogar ihren Anteil abkaufen? In jedem Fall war es eine Chance, die dringendsten Kosten zu decken, bis man Malcolm Dyer fand und er ihnen ihr Geld zurückzahlte.

«Lieber Gott», dachte Madeline, als sie die erste Nummer wählte. «Bitte mach, dass sie den Kerl schnell schnappen. Und bitte mach auch, dass diese Frauen nicht schwierig sind.»

4

Mit dem Ex zusammenzuarbeiten machte in etwa so viel Spaß wie eine zweifache Wurzelbehandlung. Ohne Betäubung. Wenn man es auch noch vor laufender Kamera tat, kamen noch vier vereiterte Weisheitszähne dazu.

Avery Lawford stand zwischen ihrem Exmann Trent und einem riesigen Kühlschrank, der Teil einer halb renovierten Küchen-Kulisse war. Hinter ihnen justierte ein Bühnenarbeiter die Hintergrundbeleuchtung. Vor ihnen, locker im Dreieck positioniert, machten die drei Kameras einen Testlauf. Trent lehnte an der Arbeitsplatte und las sich seinen Text auf dem Teleprompter durch, während Dorothy, die Visagistin, seine Stirn abtupfte und eine neue Schicht Puder auftrug. Dann toupierte sie Averys blondes, schulterlanges Haar nach und gab eine weitere Schicht Lipgloss auf die ohnehin schon dick bemalten Lippen.

«In der nächsten Szene machen wir eine Großaufnahme von Avery, wie sie lächelnd auf den Eckschrank deutet, den Trent gerade eingebaut hat. Dottie, bitte etwas mehr Spray, damit ihr das Haar nicht nach vorn fällt. Es verdeckt sonst ihr … ähm, Profil.» Jonathan, der Regisseur, meinte damit eigentlich ihr Dekolleté, das eindeutig mehr Großaufnahmen bekam als der Rest von ihr.

«Kamera eins bleibt bei Trent. Kamera zwei, du startest mit Trent, während er den Einbau erklärt, dann aufziehen zu einem Zweier mit Avery. Dann ranzoomen: Großaufnahme Avery und Schnitt, wenn sie beeindruckt zu ihm aufsieht.»

Avery schluckte ihren Ärger runter, als die Visagistin tat, wie ihr aufgetragen wurde, und außerdem Averys knallroten und eine Nummer zu kleinen Pulli nach unten zog, damit der tiefe V-Ausschnitt noch tiefer saß.

Als der Sender die erste Staffel von Hammer und Nagel gekauft hatte, waren sie und Trent, damals drei Jahre verheiratet, noch gleichberechtigte Moderatoren gewesen. Avery hatte vorher Häuser für die Bradley Group, ein Architekturbüro in Nashville, entworfen, und Trent war Vertriebsleiter für einen bekannten Möbelhersteller gewesen und hatte nebenbei manchmal Einzelstücke für Privatkunden gebaut. Nur aus Spaß hatten sie die Renovierung ihrer eigenen Wohnung dokumentiert und aus dem Filmmaterial eine Demoaufnahme für eine wöchentliche Heimwerkerserie geschnitten.

In den ersten drei Staffeln standen sie in etwa gleich viel Zeit vor der Kamera und wurden auch gleichberechtigt angekündigt. Aber dann stellte der Sender eine neue Programmleiterin ein, und die verlor keine Zeit und machte Trent zum «Experten» mit deutlich mehr Text. Avery war nur noch seine «Assistentin». In den letzten zwölf Monaten, während ihre Ehe den Bach runterging und schließlich zerbrach, strich man ihre Rolle weiter zusammen, bis Avery kaum mehr zu sagen hatte als die Glücksradfee Vanna White.

«Stand-by. Zehn Sekunden.» Die Aufnahmeleiterin hielt beide Hände hoch und begann mit dem Countdown. Mit dem Zeigefinger, der übrig blieb, zeigte sie auf Trent. Ein rotes Licht leuchtete an der Kamera, die ihn filmte.

Trent grinste lässig in die Linse. Er schob einen Hammer zurück in seinen Werkzeuggürtel und las vom Teleprompter den Text ab, in dem er erklärte, wie er den Schrank an der Wand befestigt hatte.

Jetzt blinkte das Licht an Averys Kamera, und sie sah ihren Ex an: Trent Lawford – über 1,80 Meter groß, breite Schultern, markante, ebenmäßige Gesichtszüge und ein Grübchen im Kinn, das an Cary Grant erinnerte – sah noch genauso gut aus wie an dem Tag, an dem er das erste Mal die Büroräume der Bradley Group betreten hatte. Sie hatte sich gleich angezogen gefühlt von seinem ruhigen, mit Ehrgeiz gepaarten Selbstvertrauen, und sein lässiger Charme hatte das Übrige getan. Erst später, nach der aufregenden Anfangszeit, der Hochzeitsplanung und dann der Begeisterung beim Kauf und der Renovierung der ersten gemeinsamen Wohnung fiel Avery langsam auf, dass stille Wasser nicht immer tief sind. Trents selbstbewusste Ausstrahlung kaschierte lediglich ein tiefsitzendes Bedürfnis nach Bestätigung.

Eines Tages begriff sie, dass sie ihre Ehe nur noch mit Mühe vor dem Schiffbruch bewahren konnte. Und nach dem Tod ihres Vaters war ihr Heuchelei ein Gräuel geworden.

«Cut.» Die Stimme des Regisseurs riss sie aus ihren Gedanken. «Avery, verdreh bitte nicht die Augen während der Aufnahme. Du sollst lächeln, auf Trent deuten und nicken.»

Avery seufzte. Sie hatte in der letzten Zeit so viel genickt, dass sie sich schon wie ein Wackeldackel vorkam.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Trent sie an. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Als sie den Sinn ihrer Ehe hinterfragt hatte, war er fassungslos gewesen. Angesichts der schieren Anzahl von Frauen, die über die Jahre hinter ihm her gewesen waren, war es ihm offensichtlich nie in den Sinn gekommen, dass eine Frau – und noch dazu seine eigene – das Glück hinterfragen könnte, ihn abgekriegt zu haben. Solange keiner von beiden log oder betrog, gab es nach Trents Einschätzung kein Problem und ganz gewiss keinen Grund, die Beziehung unter dem Mikroskop zu betrachten. Als Avery dann nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters nicht nur ein Mikroskop, sondern gleich ein Seziermesser hervorgeholt hatte, verwandelte sich seine Fassungslosigkeit in Wut. Am Schluss war natürlich sie an allem schuld, und er hatte sich sowieso trennen wollen.

«Versuchen wir es noch mal», sagte Jonathan.

Trent lächelte in die Kamera und zog den Hammer aus dem Werkzeuggürtel für den zweiten Take.

Hinter den Kameras entdeckte Avery Victoria Crosshaven, die Programmleiterin, die aufmerksam zusah. Victoria war Anfang 50, und obwohl sie 15 Jahre älter war als Avery und Trent, war sie immer noch schön auf eine gebügelte, gut konservierte Art.

Das rote Licht an der mittleren Kamera leuchtete auf, als die Aufnahmeleiterin erneut die Hand senkte. Trent schob den Hammer in den Werkzeuggürtel und wiederholte seinen Text. Diesmal setzte Avery ihr schönstes Lächeln auf, klimperte mit den Wimpern und zeigte glücklich auf den Schrank, auch wenn sie deutlich sehen konnte, dass er mehr als nur leicht schief hing.

«Cut! Das ist es!» Jonathans Stimme dröhnte durch die Sprechanlage. «Mittagspause, ich erwarte alle in exakt einer Stunde zurück.»

Das Set leerte sich bereits, als Victoria Crosshaven an den Kameras vorbei zu Trent und Avery stolzierte.

«Sie waren großartig», sagte Victoria zu Trent. «Sie sind Gold vor der Kamera. Und ich werde dafür sorgen, dass jeder das erkennt.»

Sie winkte James, den Produzenten, heran. «Ich dachte, in der nächsten Staffel könnten wir einen Teil mit Zuschauerfragen gestalten. Trent könnte Fragen zu Architektur und Inneneinrichtung beantworten.»

«Das ist eine großartige Idee», sagte James. «Solche Zuschriften bekommen wir tatsächlich. Allerdings …» Unbehaglich trat er von einem Fuß auf den anderen. «Avery ist die ausgebildete Architektin. Vielleicht sollte sie diesen Part übernehmen.»

Es entstand eine kurze, aber vielsagende Stille. Avery schob sich herausfordernd in Victorias Sichtfeld. James legte ihr warnend eine Hand auf die Schulter.

«Ich denke darüber nach», sagte die Programmleiterin, was aber offensichtlich gelogen war. Abschätzig lächelnd sah sie Avery von oben bis unten an. «Schicker Pulli.» Dann hakte sie sich bei Trent unter und führte ihn vom Set.

Den größten Teil der Mittagspause verbrachte Avery damit, wütend zu sein. «Hammer und Nagel war meine Idee», erklärte sie James. «Ich habe dem Sender das Konzept angeboten und verkauft. Und jetzt soll ich nur lächelnd auf irgendwas zeigen, als hätte ich weder einen Abschluss in Architektur noch überhaupt etwas im Kopf. Ich habe meine Kindheit auf den Baustellen meines Vaters verbracht! Mit acht habe ich Barbies Traumhaus und die Inneneinrichtung ihres Feriencampers neu entworfen.» Sie nippte an ihrem Wasser, konnte aber kaum schlucken. «Kann Victoria denn einfach machen, was ihr passt?»

«Ja», sagte James mit absoluter Sicherheit.

Avery berührte ihre toupierten Haare. «Ich sehe aus wie eine Dolly-Parton-Imitatorin.» Sie schob den Teller weg. «Es ist entwürdigend.»

In James’ Augen sah sie durchaus Zustimmung, aber auch noch etwas anderes, das sie nicht identifizieren konnte.

«Ich weiß nur, dass ich keinen Vertrag mehr unterschreibe, in dem wir nicht in jeder Hinsicht gleichberechtigt sind.» Avery sah an ihrem Pulli hinunter, der selbst für ein B-Körbchen zu klein gewesen wäre – ganz zu schweigen von ihrer D-Größe. «Und ich denke, eine Klausel zu meiner Kleidung wäre angebracht.»

«Falls es überhaupt einen neuen Vertrag gibt.» James räusperte sich. «Bist du sicher, dass euer Agent noch euch beide vertritt?»

Avery runzelte die Stirn. «Wir verhandeln schon seit vor der Scheidung. Trent sagt, wir hätten uns mit dem zufriedengeben sollen, was wir hatten, aber mir geht so einiges gegen den Strich.»

«Über Trents Vertrag mache ich mir auch keine Sorgen», sagte James.

«Wieso?»

«Ernsthaft, Avery. Ihr seid nicht länger nur im Doppelpack zu haben, und der Sender weiß das. Ganz abgesehen davon, dass Victoria scharf auf Trent ist. Und es sieht nicht gerade so aus, als würde er sich dagegen wehren.»

«Nein, stimmt schon.» Avery nahm ihre Gabel in die Hand und legte sie direkt wieder hin. Sie hatte keinen Appetit auf den Salat, der vor ihr stand. Frauen hatten Trent immer attraktiv gefunden. Zwar glaubte sie nicht, dass er vor der Trennung mit einer seiner Verehrerinnen geschlafen hatte, aber er war extrem empfänglich für Schmeicheleien. Für einen so gut aussehenden Typ war er erstaunlich bedürftig. Sie schob den Teller weg, legte die Serviette auf den Tisch und sah der Wahrheit ins Gesicht. Vielleicht würde Trent sie nicht direkt vor einen fahrenden Bus schubsen, aber er würde sich kaum ein Bein ausreißen, um sie zu retten.

Am Ende war es, als hätte der Bus sie nicht nur überfahren, sondern wäre zur Sicherheit noch ein paarmal über sie drübergerollt. Keine zwei Wochen nach dem Mittagessen mit James schied Avery aus der Serie aus. Hammer und Nagel würde in Zukunft allein vom superheißen Trent Lawford moderiert werden. Nachdem der Sender offiziell verkündet hatte, dass sie sich nach «anderen Möglichkeiten» umsehen wolle, lud der Rest der Crew sie zu einem deprimierenden Abschiedsessen ein. Diesmal bestellte Avery nicht einmal mehr Essen, sondern konzentrierte sich gleich auf die Margaritas, die James ständig kommen ließ. Weder Trent noch Victoria Crosshaven ließen sich blicken. Avery ging mit den guten Wünschen ihrer ehemaligen Kollegen und einer soliden Grundlage für einen Kater nach Hause.

Als sie jetzt in der Wohnung saß, in der sie früher mit Trent gelebt hatte, stellte Avery fest, dass sie keinen Grund mehr hatte, in Nashville zu bleiben. Ihre engsten Freunde lebten ohnehin im ganzen Land verteilt. Bei den Freunden, die sie zusammen mit Trent kennengelernt hatte, war noch nicht klar, zu wem sie halten würden. Und wieder für die Bradley Group als Architektin zu arbeiten, bot nach fünf Jahren Fernsehen keinen großen Anreiz.

Sie lag in einem zerschlissenen Bademantel auf dem Sofa, zappte durch die Kanäle und stopfte Erdnussflips in sich rein – auch wenn eine Person von knapp 1,60 Meter sich kaum ein paar Extrakilos leisten konnte. Sie umklammerte ein Foto, das sie und ihren Vater mit Schutzhelmen auf einer seiner Baustellen zeigte. Der Farah-Fawcett-Mähne und dem nicht vorhandenen Busen nach zu urteilen, musste sie um die zehn gewesen sein – etwa zwei Jahre, bevor ihre Mutter sie verlassen hatte. Als sie das liebevolle Lächeln auf dem Gesicht ihres Vaters betrachtete und den starken Arm, den er um ihre Schultern gelegt hatte, spürte Avery, wie ihr Tränen in die Augen traten.

Ihr Vater war vor etwas über einem Jahr gestorben. Er hatte auf einer Baustelle einen Herzinfarkt erlitten und war sofort tot gewesen. Laut seinem langjährigen Partner Jeff Hardin hatte er eben noch mit einem Trockenbauer diskutiert und in der nächsten Minute tot auf dem unfertigen Unterboden gelegen. Sie sollte wohl dankbar sein, dass er nicht gelitten hatte und bei der Arbeit gestorben war, die er so liebte. Auf der Beerdigung hatte sie sich ihn in einer Art Baustellenhimmel vorgestellt, den Geruch nach Sägespänen in der Nase und einen Werkzeuggürtel um die Hüften geschlungen. Nur so hatte sie die Zeremonie überstanden. Danach war Avery wie eine Schlafwandlerin durch die Scheidung getaumelt. Sie war völlig betäubt durch den Verlust des Menschen, der sie am meisten geliebt hatte. Entgegen der Ratschläge ihres Anwalts hatte sie kaum Forderungen gestellt. Schließlich hatte sie die Trennung gewollt. Außerdem hatte sie bei Hammer und Nagel nicht schlecht verdient. Und seit ihre Mutter weggelaufen war, hatte ihr Vater immer wieder betont, dass seine Tochter alles erben würde. Seine Anwälte hatten das nach seinem Tod bestätigt. Man hatte ihr versichert, dass er ein beträchtliches Vermögen besaß und sie nur die Testamentseröffnung abwarten müsse.