Die Alternative oder: Macht endlich Politik! - Christian Ude - E-Book

Die Alternative oder: Macht endlich Politik! E-Book

Christian Ude

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Beschreibung

Die richtige Alternative für Deutschland –
Eine Streitschrift von Christian Ude


Zum Höhepunkt des Wahlkampfs meldet sich ein starker, unbestechlicher politischer Praktiker zu Wort und spart nicht mit robuster Kritik an den eigenen Parteigenossen und der Politik in Berlin und Brüssel. Christian Ude, seit über 50 Jahren Kommunalpolitiker, erlebt die Welt nach seinem Ausscheiden aus der Tagespolitik völlig neu. Und mit wachsendem Unverständnis. Weil die schönen Verheißungen des Politikbetriebs immer weniger mit der Realität zu tun haben. Weil Politiker die ökonomische und politische Spaltung der Gesellschaft ignorieren. Und weil Christian Ude die Pflege eigener Befindlichkeit als politisches Programm nicht ausreicht.

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Seitenzahl: 277

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Das Buch

»Macht endlich wieder Politik. Sonst machen es andere.«

Christian Ude, Kommunalpolitiker mit jahrzehntelanger Erfahrung, meldet sich besorgt, aber kampfeslustig zu Wort und liest dem politischen Establishment die Leviten. Er bezieht Position auf den entscheidenden Politikfeldern – Einwanderung, Islam, Türkei, Europa – und tritt an gegen die vorherrschende Politik des »alternativlosen Sachzwangs«, moralischer Selbstüberhöhung und emotionaler Befindlichkeit. Als in der Wolle gefärbter Demokrat plädiert er für ein schonungsloses »Sagen, was ist«, die gesellschaftliche Debatte von wirklichen Alternativen und nicht zuletzt für mehr plebiszitäre Teilhabe.

Der Autor

Christian Ude wurde am 26. Oktober 1947 in München-Schwabing geboren und trat 1966 als Schüler der SPD bei. Während und nach dem Studium war er Redaktionsmitglied der »Süddeutschen Zeitung« und machte sich als Mieteranwalt bundesweit einen Namen. Von 1993 bis 2014 war Ude Oberbürgermeister von München, acht Jahre lang auch Präsident des Deutschen Städtetags. Bei der Landtagswahl 2013 in Bayern trat er als Spitzenkandidat der SPD an. Seit seiner Pensionierung arbeitet Christian Ude in der Erwachsenenbildung, an der Spitze der Äthiopienhilfe »Menschen für Menschen«, als ehrenamtlicher Berater eines Oppositionsbürgermeisters in Istanbul sowie in zahlreichen sozialen und kulturellen Initiativen.

www.christian-ude.de

Weitere Informationen zu unserem Programm unter www.knaus-verlag.de

Christian Ude

Die Alternative oder:Macht endlich Politik!

KNAUS

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2017

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Vermittelt durch Stefan Linde, München

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Foto Umschlagvorderseite: Wolfgang Roucka, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21671-9V001

www.knaus-verlag.de

»Politik machen heißt, es nicht anderen zu überlassen,wie man morgen leben wird.«

Für Edith, voller Dank für Jahrzehntegemeinsamen Engagements

Inhalt

Kapitel 1

Warum dieses Buch: Macht die Politik nicht schlecht, sondern besser!

Kapitel 2

Plötzlich leben wir in zwei verschiedenen Welten

Kapitel 3

Lauter Goldene Zeitalter – oder: Die geplatzten Verheißungen

Kapitel 4

Nieder mit Sachzwang und Alternativlosigkeit – oder: Die Rückkehr zur Politik

Kapitel 5

»Demobilisierung« als Ziel, »Selbstentkernung« als Folge

Kapitel 6

Parlament und Parteien auf der Flucht vor Politik

Kapitel 7

»Ich bin der Bürger«, »Wir sind das Volk«

Kapitel 8

Volksverräter gegen Neonazis – oder: Wie das Flüchtlingsthema spaltet

Kapitel 9

Rolle rückwärts – oder: Wir sind bunt und wagen weniger Demokratie

Kapitel 10

Türkei – oder: Krise ohne Ende

Kapitel 11

Griechenland – oder: Trugbilder als Markenkern

Kapitel 12

Alle Wahlkampfjahre wieder: Es geht um Gerechtigkeit!

Kapitel 13

Zum Schluss: Wie souverän ist eigentlich der Souverän?

Kapitel 1

Warum dieses Buch: Macht die Politik nicht schlecht, sondern besser!

Hätte ich lieber Ruhe geben sollen? Leute, die mich noch nie leiden konnten, halten das sicher für eine gute Idee. Ich nicht. Denn hier geht es nicht darum, dass ein Ruheständler keinen Ausgang aus seinem Politikbetrieb finden kann. Ich will nicht meine 50 Jahre Mitgliedschaft in der SPD als Lustreise durch die Zeitgeschichte verkaufen und schon gar nicht meine 24 Amtsjahre im Münchner Rathaus vergolden. Mir geht es in diesem Buch um die quälende Frage, ob uns nach Jahren der politischen Farblosigkeit der politischen Parteien und der gähnenden Langeweile im Publikum, nach einer nicht enden wollenden Serie geplatzter Versprechungen und gescheiterter Verheißungen, nach unaufhörlichen Profil-, Mitglieder-, Wähler- und Vertrauensverlusten, nach wachsender Politikmüdigkeit und -verdrossenheit, bei zunehmenden Aversionen und Aggressionen die Fähigkeit abhandengekommen ist, uns überhaupt noch seriös zu informieren und Argumente auszutauschen, Analysen anzufertigen und Konzepte zu entwickeln, Alternativen zu erkennen und Richtungsentscheidungen zu treffen, kurz: nicht nur die eigene Befindlichkeit zu pflegen, sondern im Sinne der Aufklärung Politik zu machen und damit Probleme zu lösen und Zukunft zu gestalten.

Noch zum Jahreswechsel 2016/2017 hätte jeder missgelaunte Beobachter des Zeitgeschehens diese Frage bejaht: Ja, diese Fähigkeit haben wir eingebüßt, und die Folge ist fast überall auf der Welt ein Vormarsch der Rechten. In deutschen Landen wurde die SPD abgestraft wie noch nie, teilweise sogar schon hinter der »Alternative für Deutschland« eingereiht. In Polen und Ungarn regieren die Rechten bereits, in Österreich müssen wir uns freuen, dass die beiden einstmals großen Volksparteien mit einem grünen Kandidaten (!) und in höchster Not gerade noch einen aggressiven rechten Präsidenten verhindern konnten. In Frankreich wurden beide (!) einstmals großen Parteien vernichtend geschlagen, während die Rechtsradikale Marine Le Pen auf ein Drittel kam und sich Europas Hoffnungsträger Emmanuel Macron zwar auf überwältigende Sympathien, aber nicht einmal auf eine eigene Partei stützen kann. In Großbritannien wurde der Brexit beschlossen, nachdem die großen Parteien vorher auch kein klares Ja zu Europa zustandegebracht hatten, und in Amerika sind die Auswirkungen der Wahl von Donald Trump auf das politische Klima, auf die politische Kultur, auf den Umgang mit Minderheiten im Inneren und auf den Welthandel, vielleicht sogar auf den Frieden in der Welt, unabsehbar, wahrscheinlich aber äußerst negativ. Das könnte einen schon depressiv stimmen.

Doch dann kam schon ein bisschen nach dem Brexit und massiv nach Donald Trumps Triumph plötzlich das Bedürfnis auf, endlich etwas gegen die alarmierende Entwicklung zu tun, nicht nur nörgelnd im Abseits zu stehen. Bei der SPD geschah so Unglaubliches, dass sie es erst gar nicht fassen konnte und dann in Entzücken verfiel: Es gab tatsächlich Leute, die eintreten wollten! Wer hätte das jemals gedacht in den Jahren zuvor? Eintreten! Freiwillig! Obwohl das sogar einen Beitrag kostet! Und trotz der Agenda 2010! Nur weil die Partei versprach, jetzt das soziale Thema zu entdecken, was ihr nach eigener Einschätzung wohl in den letzten 153 Jahren noch nicht wirklich gelungen war! Danach schien der Groll verflogen und der kurze Marsch zum Kanzleramt nicht mehr aufzuhalten. Wir sind gut drauf – das muss reichen! Doch dann sorgten gleich drei Landtagswahlen für herbe Ernüchterung, ja neue Verzweiflung. Sogar für die Depression, alles sei alternativlos.

Die Begeisterungswelle, die mit der Kanzlerkandidatur von Martin Schulz ausgelöst wurde, stellte nur kurze Zeit eine Chance dar: Für die SPD die Chance, wieder Gehör zu finden und nicht von vornherein abgewiesen zu werden, für die Union die Chance, sich am Riemen reißen zu müssen und nicht länger lustlos dahinzudösen, für die kleinen Parteien die Chance, in einem wieder interessant gewordenen politischen Diskurs Themen einbringen und Korrekturen vornehmen zu können, für den Wähler die Chance, doch noch Alternativen geboten zu bekommen und über die Richtung entscheiden zu dürfen. Inzwischen ist die SPD verzagter als zuvor, die Kanzlerin mehr denn je in Versuchung, sich alternativlos zu finden, manche kleine Partei noch mutloser und der Wähler auf der Suche nach Alternativen noch ratloser geworden.

Wie vor einem halben Jahrhundert – und ganz anders

Die Situation heute erinnert mich an die Sechzigerjahre. Auch damals herrschten schon lange Stillstand und Resignation. Da hat 1961 ein von Martin Walser herausgegebener Bestseller für Zündstoff gesorgt: »Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?« Damit traten liberale und linke Intellektuelle gegen die Restauration der Adenauerzeit an, gegen deren Anspruch, »alternativlos« zu sein!

Vier Jahre später – in Zeiten einer sichtlich erschöpften großen Koalition genau wie jetzt – folgte der von Hans Werner Richter herausgegebene Band »Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative«. Ein bemerkenswerter Wandel: erst eine Sehnsucht nach einer Alternative zum Gewohnten, dann sogar schon der Anspruch der Alternative, alternativlos zu sein!

Dieser geistige Aufbruch proklamierte einen politischen Wechsel, der dann auch tatsächlich eintrat – mit gesellschaftlicher Öffnung und Liberalisierung, mit Willy Brandts Vorsatz »mehr Demokratie zu wagen«, mit grundlegenden sozialen Korrekturen, mit einer kühnen neuen Ostpolitik und erstmals auch mit Umweltschutz.

Heute – über ein halbes Jahrhundert später – ist vieles ganz ähnlich wie damals, nicht nur die große Koalition, sondern auch die Ohnmachtsgefühle außerhalb des Parlaments, die in ein großes Aufbegehren münden. Aber vieles ist auch ganz anders: Die Bevölkerung ist gespaltener als das Parlament, vor allem in der zentralen Flüchtlingsfrage. Verdrossenheit gilt immer öfter nicht nur dem Regierungslager, sondern dem politischen Betrieb insgesamt einschließlich der Medien, der Kirchen und der Gewerkschaften, und die demokratische Linke, die damals zum Aufbruch blies und Morgenluft schnupperte, erlebt fast weltweit einen Horror nach dem anderen und muss sich ernsthaft fragen lassen, welchen Anteil sie selber am Vormarsch der Rechten hat. Und das ausgerechnet, weil sie, die sich stets als Entdeckerin und Erfinderin der sozialen Frage präsentieren wollte, diese uralte Frage lange Jahre aus den Augen verloren hat, in strukturschwachen Gebieten Deutschlands ebenso wie in den Bezirken Frankreichs, in denen der Anteil der Sozialhilfeempfänger genauso herausragt wie der Anteil der Wähler des Front National. Das gilt auch für die von Margaret Thatcher und Tony Blair gleichermaßen vernachlässigten ehemaligen Industrieregionen des Vereinigten Königreichs und die deindustrialisierten in den Vereinigten Staaten. Dies alles ist nicht dadurch aufgearbeitet, dass jetzt das Arbeitslosengeld I in bestimmten Fällen länger ausbezahlt werden soll.

Symbolpolitik ist gerade nicht das Gebot der Stunde, auch wenn es schon sehr reizvoll erscheint, komplexe Probleme beängstigenden Ausmaßes nicht wirklich anzupacken, sondern stattdessen einfach »ein Zeichen zu setzen«, ein »richtiges Signal zu geben«, ein »symbolkräftiges Bild zu schaffen«.

Die Erschütterung des linken Lagers reicht tiefer: Bei einigen Themen war man unter den verschärften Bedingungen des globalen Wettbewerbs glücklicherweise auf der Höhe der Zeit und hat Sozialsysteme und Unternehmen konkurrenzfähig gemacht. Aber allzu oft ist man ohne eigenen Kompass den wirtschaftsradikalen Kräften einfach hinterhergelaufen, mit Steuergeschenken und Schlupflöchern für internationale Konzerne, mit Senkung des Spitzensteuersatzes und explodierenden Managergehältern, denen in den Aufsichtsräten und ihren Präsidialausschüssen ja stets auch die Gewerkschaftsvertreter zugestimmt haben (und es immer noch tun)!

Immer mehr Teile der Bevölkerung haben das fatale Gefühl, die Politik wolle, auch wenn sie täglich von Partizipation spricht und immer mehr Workshops für die Gestaltung von Bushaltestellen anbietet, in den wirklich wesentlichen Fragen der Politik lieber Bevormundung praktizieren. Schließlich meine größte Sorge: Könnte es nicht sein, dass ausgerechnet die Progressiven, die eigentlich Freiheit und Gleichheit immer weiter vorantreiben wollen, im Zeichen multikultureller Aufgeschlossenheit erschreckende »Rollen rückwärts« (siehe Kapitel 9) vollziehen: im Umgang mit religiös begründeten Machtansprüchen, mit dem Import von Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Antisemitismus, überraschenderweise auch im Umgang mit aufsteigendem Nationalismus, wenn er nur aus dem Ausland kommt, im schlimmsten Fall auch mit Gewaltverherrlichung und Gewaltbereitschaft, wenn sie nur angeblich hehren Zielen in fernen Befreiungskämpfen dient? Bunt sein – und weniger Demokratie wagen? Das hätte mit dem geistigen Aufbruch vor gut einem halben Jahrhundert in der Tat nur wenig zu tun.

Jetzt rächt es sich, dass etliche Jahre lang der politische Diskurs sträflich vernachlässigt worden ist, weil die großen Parteien im Kampf um einen Platz in der Mitte sich selbst entkernt haben, sich in der zentralen Flüchtlingsfrage in moralische Überlegenheit oder Symbolpolitik geflüchtet haben, die Diskussion neuer Herausforderungen (von der Bankenrettung über Griechenland und die Türkei bis zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr) im Parlament ebenso verweigert haben wie an der eigenen Basis, vor der großen Politik davongelaufen sind und lieber »kleine Fluchten« angetreten haben, ins Klein-Klein örtlicher Interessensvertretung oder in die Vergangenheit, in der sich Rechte und Linke auf gegensätzliche Weise plötzlich gleichermaßen wohler fühlten als in der strapaziösen Gegenwart.

Ein großer Teil der Versäumnisse geht auch darauf zurück, dass es für die Wähler immer vermeidbarer wurde, unbequeme Tatsachen und abweichende Meinungen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, und immer einfacher, auch für den größten Unfug Zustimmung zu ernten. Das Netz macht’s möglich. Man kann sich dort darauf beschränken, nur Gleichgesinnte zu »liken«, zu lesen oder anzuhören, schon erfährt die eigene Einstellung eine unfassbare Bestätigung, und den Rest der Welt hat man schon vergessen. So führt die beste Informationstechnologie der Weltgeschichte auf Wunsch der User zur schlimmsten Verengung des Horizonts und lädt zur Radikalisierung ein, weil alles, was ohne Widerspruch bleibt, doch absolut richtig sein muss.

Der Realität kann man aber viel einfacher auch dadurch entgehen, dass man auf Fakten, Normen, Argumente generell verzichtet und die eigene Befindlichkeit, eigene Sympathien und Aversionen oder eine abstrakte »Moral« zur obersten Norm erhebt. »Mein Bauchgefühl sagt mir«, heißt es dann, oder: »Ich empfinde es aber so …«

Wenn es eh nur auf Gefühle und Befindlichkeiten ankommt, wird Erfahrung zum Vorwurf, während Ahnungslosigkeit den Kandidaten adelt. Vielleicht lassen Sie sich ja gerne von einem Chirurgen operieren, der garantiert noch keinen OP betreten hat und dem medizinischen Establishment fernsteht – mir aber macht dieser Gedanke eher Angst. Wie Donald Trump halt. Deshalb werbe ich für politisches Denken, für politische Einsichten, für politische Regeln und Erfahrungen, für politischen Austausch, ja: auch für politischen Streit, für politisches Engagement, das offen zugibt, politisch zu sein und auf Interessen zu basieren – und nicht behauptet, moralisch weit darüber zu schweben, wie es viele allzeit politisierende Medienvertreter, Wissenschaftler, Juristen tun.

Macht die Politik nicht schlecht, sondern besser!

Ich setze ganz anachronistisch auf handfeste Politik mit Analysen, Konzepten, Alternativen und Richtungsentscheidungen. In politischen Parteien, in Kommunen, in Gewerkschaften und Verbänden, genauso in Bürgerinitiativen, in kirchlichen Gremien oder in der Flüchtlingsbetreuung, in Studentengruppen oder Nachbarschaftshilfen – und ohne den Anspruch, etwas »Besseres« zu sein, nur weil man »etabliert« ist oder aber weil man »nicht etabliert« ist und »sich nicht mit Parteipolitik schmutzig macht«. In diesem Sinne: Macht endlich Politik! Macht sie nicht schlecht, sondern besser! Sie entscheidet immerhin darüber, wie wir morgen leben werden. Wie kann das bedeutungslos oder uninteressant sein? Oder so strapaziös, dass man es lieber anderen überlässt? Wohlgemerkt: das eigene Leben. Mischt euch ein in die Niederungen der Politik, verschwindet nicht im Abseits und steigt nicht gleich aufs hohe moralisch-abstrakte Ross!

Zugegeben: Dieses Buch enthüllt keine unbekannten Fakten, ist keine wissenschaftliche Studie, auch kein politisches Programm. Es will Anstöße geben, sich nicht in Frust, Resignation oder modische Verdrossenheit zu stürzen und sich auch nicht mit Befindlichkeiten oder althergebrachten Meinungen zufriedenzugeben, sondern die atemberaubenden Entwicklungen der letzten Jahre nochmals unvoreingenommen zu reflektieren und darüber nachzudenken, was wir auch am eigenen Credo und am eigenen Verhalten korrigieren müssen, um die Herausforderungen zu meistern.

Nach Jahrzehnten aktiver Politik will ich auch einige Erfahrungen einbringen, selbst wenn sie auf manchen Kritiker der politischen Klasse wie Ratlosigkeit wirken:

Ich weiß keine Zeit und kein anderes Land, in dem es Menschen besser gegangen wäre als uns heute in Deutschland, sodass es doch trotz aller Ungerechtigkeiten und Skandale, die kein Mensch leugnen kann, reichlich peinlich wäre, in Selbstmitleid zu schwelgen.

Ich weiß kein Programm, das alle Erfahrungen dieses Kontinents besser zusammenfassen würde als unser Grundgesetz mit den Grundrechten und der Rechtsstaatsgarantie, sodass wir diese Bastion gemeinsam verteidigen sollten.

Ich weiß keinen Grund, kein Ziel und keine Lehre, die es rechtfertigen könnte, in Hass, Fanatismus oder Gewaltbereitschaft zu verfallen.

Und ich weiß kein besseres als das europäische Projekt, um den Frieden und die Völkerfreundschaft auf diesem Kontinent zu bewahren, den Ausgleich zwischen armen und reichen Regionen zu organisieren und in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch eine selbstbestimmte europäische Rolle zu spielen.

Vor allem aber weiß ich keine geeignetere Methode, das Leben der Menschen zu verbessern, als im demokratischen Diskurs den Menschen Alternativen anzubieten, damit sie selber Richtungsentscheidungen darüber treffen können, wie sie leben wollen.

Nichts Neues also? Mag sein. Denn all dies wurde schon einmal erkannt und verkündet. Aber in den letzten Jahren hatte es nicht gerade Hochkonjunktur. In den wirtschaftsradikalen Zeiten war »weniger Staat« angesagt, in Angela Merkels Amtszeit »Alternativlosigkeit«, also Einschläferung des Wahlvolks. Politikverdrossenheit machte sich breit, Wahlmüdigkeit und Selbstmitleid. Und zunehmend Hass und Fanatismus. Und Europamüdigkeit. Raffen wir uns doch einmal auf, wieder politisch zu denken, zu argumentieren, zu handeln und tatsächlich mögliche Veränderungen herbeizuführen.

Die Probleme, die der rasante technologische Wandel und die Globalisierung der Wirtschaft, die instabile Weltpolitik und die Verschärfung sozialer Konflikte sowie die internationalen Flüchtlingsströme mit sich bringen, sind so gewaltig, dass wir uns endlich daranmachen müssen, sie wirklich zu verstehen. Nur auf dieser Basis können und sollten wir zu mehrheitsfähigen Auffassungen gelangen, wie die Probleme gelöst werden sollen. Das wird in unserer Vielparteienlandschaft, die niemand anderes als das Wahlvolk geschaffen hat, viele Nerven kosten und Zugeständnisse verlangen – aber was wäre die Alternative? Augen zu und hoffen, dass nichts Schlimmes passiert? Oder zurück in die Vergangenheit fliehen, die garantiert für die Gestaltung der Zukunft keine Lösungen bereithält? Oder zufrieden damit sein, dass man allen anderen moralisch überlegen ist, auch wenn man nichts bewegt? Oder Sündenböcke suchen, die man wieder richtig hassen kann?

Die wirkliche Alternative heißt: zurück zur Sachpolitik. Probleme benennen, unterschiedliche Vorschläge zu ihrer Lösung unterbreiten und zur Abstimmung stellen. Niemand kann Heilslehren aus dem Ärmel schütteln. Zum Glück würde auch kaum jemand daran glauben. Aber sachbezogene Alternativen können wir uns erarbeiten, über die wir ohne Unfehlbarkeitsanspruch streiten und dann besten Wissens und Gewissens in Wahlen und Abstimmungen entscheiden sollten. Das wäre das Gegenstück zu einem Politikbetrieb der angeblichen Alternativlosigkeit, des Sachzwangs, der moralisch behaupteten Überlegenheit, der bloßen Gefühle und Symbole oder der längst historisch widerlegten Irrlehren.

Kapitel 2

Plötzlich leben wir in zwei verschiedenen Welten

»Einstein«. Ein schöner Name für ein Zentrum der Erwachsenenbildung. Die Münchner Volkshochschule hat diesen Namen für ihren Neubau gewählt, der in der Einsteinstraße liegt. Ich leite dort seit meiner Versetzung in den Ruhestand den Kurs »Politik der Woche«, in dem ich mich jedes Mal aufs Neue wundere, wie groß das politische Interesse, das Informationsbedürfnis und die Diskussionsfreude vieler Leute sind, wenn zu aktuellen Themen kontroverse Debatten geboten werden. Genauso wie in Theatern und Konzertsälen, in Universitäten, in katholischen und evangelischen Akademien, in kulturellen Vereinigungen und sogar in kleinen Instituten: volle Säle, große Neugier.

Spannende, beunruhigende, bestürzende Themen gab und gibt es ja genug: die Nahostkrise, die Griechenlandkrisen, die Euro-Rettung, der Islamische Staat, die Rolle der Bundeswehr, die steigenden Flüchtlingszahlen, die Probleme offener Grenzen, die Krim, Russland und die Ukraine, die Präsidentschaftswahlen im Nachbarland Österreich, der Brexit mit unabsehbaren Folgen für Europa, die Wahlen in den Niederlanden, die dramatische und alarmierende Entwicklung der Türkei, die Wahlkämpfe in den USA und Frankreich – niemand hatte dies vorhergesehen, jeder musste an Erklärungen basteln, konnte sich nur wundern, wer sich alles nachträglich durch die Entwicklung bestätigt fühlte, wollte über die eigene Position nachdenken.

Wie gesagt: volle Säle, große Neugier. Aber nicht in den politischen Parteien. Dort ging es in vergleichsweise kleinem Kreis bevorzugt um alte Gewissheiten. Man kann ja im Netz studieren, zu welchen Themen in den vergangenen Jahren eingeladen wurde. Die großen Fragen, die jetzt nach Jahren der Abstinenz wieder für eine beachtliche Politisierung sorgen, sind kaum dabei. Ein erstaunlicher Verzicht auf Mitwirkung an der politischen Willensbildung, die den Parteien sogar im Grundgesetz verbürgt ist. Jetzt, im Frühjahr 2017, überlassen sie sogar ihr größtes und umstrittenstes Projekt, ihr Ja zu Europa, auf den Straßen und Plätzen der Republik einer kleinen sympathischen Bürgerinitiative, die aber kaum mehr als Sympathie äußern kann. Die Parteien könnten es, tun es aber nicht. Ich verstehe das nicht, denn eigentlich bin ich vor 50 Jahren aus politischem Interesse einer politischen Partei beigetreten, was ja keineswegs originell, sondern ziemlich naheliegend war.

Kein Grund zur Dankbarkeit?

Im neuen »Einstein« ging es im März 2017 allerdings nicht um die große Politik, sondern zur Eröffnung des neuen Bildungszentrums um eine Münchner Geschichtsstunde mit den beiden Altoberbürgermeistern, mit Hans-Jochen Vogel und mir. Wir sollten aus dem Nähkästchen plaudern, was wir uns beim Start ins Amt vorgenommen hatten – und was daraus geworden ist. Doch dann brachte jemand aus dem Publikum den aktuellen europaweiten Rechtsruck zur Sprache und damit den 91-jährigen Hans-Jochen Vogel so richtig in Fahrt. Mit knappen Strichen skizzierte er, wie trostlos und vor allem perspektivlos seine Lebenssituation in Kriegsgefangenschaft zu sein schien. Deutschland hatte mit Nationalismus und Rassenwahn ganz Europa in einen verheerenden Krieg gestürzt, die Städte in eine Ruinenlandschaft verwandelt. Der millionenfache Judenmord hatte Deutschland gebrandmarkt. Niemals hätte er sich damals vorstellen können, dass schon einige Jahre später die Städte wieder weitestgehend aufgebaut sein würden. Dass sich die Wirtschaft wieder erholen könnte, ja stärker denn je werden würde. Dass er und seine Mitgefangenen schon bald in den von deutschen Armeen überfallenen und zerstörten Ländern den Urlaub verbringen könnten. Dass schon 1972 die ehemalige »Hauptstadt der Bewegung« Olympische Spiele veranstalten dürfte und dass die Jugend der Welt auch tatsächlich kommen würde. Dass dieses Deutschland mit all seiner Schuld Mitglied der Vereinten Nationen werden könnte, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und später der Europäischen Union. Dass ein deutscher Bundeskanzler den Friedensnobelpreis erhalten würde. Dass wir eine friedliche Wiedervereinigung erleben dürften, bei der kein einziger Schuss fallen würde. Dass wir heute, 70 Jahre nach Kriegsende, als Demokratie, als Rechtsstaat und wirtschaftlich starkes Land weltweit so geachtet und geschätzt sein würden, dass Menschen aus anderen Kontinenten hier Zuflucht suchen und finden würden. Und dann – Herrgott noch mal – sollen die Politiker alles nur falsch gemacht haben!? Sollen wir keinen Grund haben, für diese Entwicklung dankbar zu sein, die wir trotz unserer Vergangenheit erleben durften, statt immer nur nörgeln und schimpfen? Nein, sagte Vogel mit zorniger Stimme, wir sollten die Demokratie und die Grundrechte verteidigen, »die wir seit 70 Jahren genießen dürfen«. Das Auditorium applaudierte wie befreit: Man muss ja gar nicht nörgeln, um als mündiger Bürger anerkannt zu werden. Man darf auch stolz sein auf das eigene Gemeinwesen!

Menschen, die in der DDR noch in den Achtzigerjahren Unfreiheit und Unrecht am eigenen Leib erlitten haben, müssten eigentlich wenigstens seit der schmerzlich späten Wiedervereinigung – so möchte man als ahnungsloser Wessi meinen – auch das Gefühl haben, jetzt endlich mehr Demokratie und Rechtsstaat, mehr Freiheit und Sicherheit zu genießen, als sie sich vor der historischen Zäsur vorstellen konnten, und auch mehr Wohlstand, als sie vorher hatten und manche anderen Völker in Europa auch heute noch vorweisen können. Offensichtlich ist es aber nicht so, dass alle diese Vergleiche anstellen und daraus Konsequenzen ziehen.

Einen ähnlichen Temperamentsausbruch habe ich erlebt, als der CSU-Ehrenvorsitzende Theo Waigel als ehemaliger Bundesminister der Finanzen die Irrungen und Wirrungen der Euro-Debatte schilderte und dabei auf manches Kopfschütteln wegen währungspolitischer Details stieß, sodass er plötzlich grundsätzlich wurde: Er und die Generation seines Vaters könnten sich durchaus noch an die Zeiten erinnern, als das Verhältnis der europäischen Völker geprägt worden sei durch Sprüche wie »jeder Schuss ein Russ, jeder Tritt ein Britt, jeder Stoß ein Franzos«. Eine ganze Generation junger Männer sei mit der Lehre aufgezogen worden, in den Franzosen oder umgekehrt in den Deutschen den »Erbfeind« zu sehen, der vernichtend geschlagen werden müsse. Unendlich viele dieser jungen Männer seien auf den Schlachtfeldern liegen geblieben. Und jetzt, nach 70 Jahren in Frieden, Freiheit und Wohlstand, sollen nur noch währungspolitische Unstimmigkeiten zählen, die es bei der D-Mark in viel größerem Ausmaß, aber unbemerkt von einer desinteressierten Öffentlichkeit gegeben habe? Und das größte Friedensprojekt der Geschichte dieses Kontinents, die europäische Einigung nach Jahrhunderten der Kriege, des Tötens und Sterbens, soll daneben nicht mehr ins Gewicht fallen? Auch da reagierten die Teilnehmer sehr ergriffen und bewegt.

Diese Einsichten ins Wesentliche sind also vorhanden, aber sie schützen offenbar nicht mehr allgemein verbindlich vor wachsender Unzufriedenheit und zunehmendem Unmut, vor schlechter politischer Laune, vor Missgunst und Misstrauen bis hin zu Hassgefühlen.

Die Wirtschaftsdaten sind gut – und irrelevant

Auch die Wirtschaftsdaten, die Deutschlands Bürger vom Beginn des Wirtschaftswunders an bis zum Scheitern des Marktradikalismus in der Finanzkrise so ernst genommen und zum Maßstab ihres Befindens erklärt haben, spielen keine bedeutende Rolle mehr. Die Wirtschaftsdaten sind gut, sehr gut sogar. Die Arbeitslosigkeit ist aktuell die geringste sei der deutschen Einheit. Selbst die regionalen Unterschiede innerhalb Deutschlands, die es immer gegeben hat, treten in den Hintergrund, wenn man sich Vergleichszahlen in Europa anschaut. Da gibt es Länder und Regionen, in denen ein Drittel der Bevölkerung arbeitslos ist und über die Hälfte der jungen Menschen – nicht nur in Griechenland, auch in Süditalien und Spanien.

Wenn in früheren Jahrzehnten die Arbeitslosigkeit auch nur geringfügig gestiegen ist, gab es plötzlich kein anderes Thema mehr als die Frage: Wie wollen Sie Arbeitsplätze schaffen? Wie kann man Betriebe ansiedeln? Wie die Wirtschaft endlich wieder ankurbeln? Aber jetzt, wo das Ausland zunehmend nervös wird, weil Deutschland bereits annähernd den Zustand der Vollbeschäftigung erreicht hat und Jahr für Jahr Exportüberschüsse verzeichnet, ist die Arbeitslosigkeit, die wir in früher unvorstellbarem Ausmaß nicht haben, einfach kein Thema, kein Maßstab mehr. Ebenso die Preisstabilität. Was ist Willy Brandt damals noch getadelt worden, weil die Preise in seiner Regierungszeit weltwirtschaftlich bedingt kräftig gestiegen sind! Heute haben wir uns an winzige Steigerungsraten gewöhnt, die damals kein Mensch zu versprechen gewagt hätte. Aber diese niedrige Inflationsrate wird ignoriert, keineswegs mit Beifall bedacht. Und die Zinsen? Gerade die linken Studenten haben in den APO-Zeiten Zinsen als das »Krebsübel des Kapitalismus« angeprangert, weil sie die Reichen reicher machen und die Armen noch mehr ausplündern. Heute grübelt selbst Die Linke, wie man das Zinsniveau wieder heben könnte, obwohl es doch für Häuslebauer eine feine Sache ist, an billiges Geld zu kommen und für den Staat eine große Entlastung, seine Schulden abtragen zu können, statt sie durch hohe Zinsen und noch höhere Zinseszinsen laufend erhöht zu bekommen. In der Zwischenzeit hat man wohl gelernt, dass Zinseinnahmen für Sparer, von denen es offenbar überraschend viele gibt, für Versicherungen aller Art, deren zahlreiche Kundschaft sowie für wohltätige Stiftungen eine feine Sache sind. Deshalb würdigen wir früher herbeigesehnte niedrige Zinsen und stabile Preise genauso wenig wie sichere Arbeitsplätze.

Und auch für den Sozialetat des Bundes spielt es keine Rolle, dass er höher ist als jemals in der deutschen Geschichte und im Verhältnis zur Bevölkerungszahl höher als in jedem anderen europäischen Land. Es zählt nur, dass bestimmte Sozialleistungen gekürzt oder nicht ausreichend erhöht worden sind, was gerade in einem Land mit permanent beschworenem wirtschaftlichem Erfolg schwerer zu verstehen und zu ertragen ist als in Regionen, in denen das Elend vermeintlich alle trifft.

Entscheidend ist für immer mehr Menschen nicht das, was die Wirtschaftsdaten aussagen, sondern das, was man selbst erlebt beziehungsweise »fühlt«, und zwar im Vergleich zu anderen, die entweder mit ihren Spitzengehältern attraktive Wohnungen wegschnappen (das ist die großstädtische Variante), einen mit ihren Profiten oder Boni bis aufs Blut reizen (die sozialkritische Variante) oder mehr Sozialleistungen kassieren, als man selbst je erhalten hat (das ist die sozialneidische und flüchtlingsfeindliche Variante).

Benachteiligt – aber im Vergleich zu wem?

Das Gefühl, benachteiligt zu sein, richtet sich nicht mehr zwingend gegen die Reichen und Allzureichen mit dem Ziel eines sozialen Ausgleichs, sondern vermehrt ausgerechnet gegen die Ärmsten der Armen, deren Armut unter Hinweis auf die hohen Schlepperkosten (nicht immer abwegig) in Zweifel gezogen wird und die nicht als ebenfalls unterprivilegierte Schicksalsgenossen, sondern als Konkurrenten um Sozialleistungen, um Sozialwohnungen, um Jobs mit niedrigem Anforderungsprofil und um die soziokulturelle Dominanz im eigenen Viertel sowie als Sicherheitsrisiko erlebt und empfunden werden. Wer wegen Benachteiligung oder fehlender Gerechtigkeit Empörungslawinen lostreten will, muss plötzlich aufpassen, was er damit bewirkt: Druck, soziale Reformen durchzuführen, oder Hass auf Flüchtlinge? Einsicht in ökonomische Ungerechtigkeiten oder pauschale Ablehnung von »allen da oben«, ohne die ja tatsächlich die Verhältnisse nicht so wären, wie sie sind?

Wir merken zunehmend, dass wir zwar in einem Land, aber in zwei verschiedenen Welten leben. Das war einerseits schon immer so, aber andererseits anders als heute. Immer schon haben Hilfeempfänger in einer anderen Welt gelebt als Spitzenverdiener, Mietskasernenbewohner in einer anderen Welt als Villenbesitzer, Menschen in abgehängten Regionen in einer anderen Welt als begehrte Fachkräfte in der Boomtown. Aber neu ist für die Bundesrepublik nach 1945, dass die Benachteiligten nicht mehr auf sozialen Fortschritt und sozialen Ausgleich setzen, wie ihn seit Beginn der Industrialisierung die Linke verspricht und erkämpfen will, sondern plötzlich auch Resonanzboden sind für ausgesprochen rechte Kräfte und rechte Stimmungen.

Die alte Rechte – und ein neuer Resonanzboden

Nationalistische, ausländerfeindliche, auch antisemitische Stimmungen gibt es in Deutschland – wie auch sonst in Europa – seit Langem. In meiner Schulzeit in den Sechzigerjahren ist die NPD bereits als bedrohliche Kraft empfunden worden, in den Neunzigerjahren galt das für die Republikaner, und zwischendrin gab es immer Studien, die aufs Neue bestätigten, dass bis zu 15 Prozent der Bevölkerung ein geschlossenes rechtsradikales Weltbild haben sollen. Aus diesem gesellschaftlich vorhandenen, politisch aber nicht wirkungsvoll organisierten Revier ist früher indes kaum ein Funke in die politische Mitte übergesprungen. Das ist jetzt nicht mehr so. Die Rechte hat ihren Resonanzboden gefunden, seit sie nicht mehr mit Reichskriegsflagge und Springerstiefeln herumläuft und die Bürgerschaft erschreckt, sondern in der Pose des »besorgten Bürgers« Ängste aufgreift, die es tatsächlich gibt, die aber im öffentlichen Leben lieber gebrandmarkt als angehört werden: Ängste vor einer Überfremdung, die schnell aufkommen, wenn man die im eigenen Treppenhaus und im Bus zur Arbeit gesprochenen Sprachen nicht mehr versteht. Ängste vor einem Islam, den man lange Zeit gar nicht wahrgenommen hatte, als er die Religion friedlicher Nachbarn war, der jetzt aber in Verbindung gebracht wird mit radikalisierten Massen in islamischen Ländern und islamistischen Anschlägen in Europa. Ängste vor dem Verlust von finanziellen Mitteln, die jetzt tatsächlich in wachsendem Ausmaß für die Unterbringung, Ausbildung, Gesundheitsversorgung usw. von Flüchtlingen in Anspruch genommen werden. Plötzlich fügt sich dies zu einem geschlossenen Weltbild auch bei Leuten, die sich vehement dagegen wehren würden, in die rechte Ecke gestellt zu werden: Die Migrantenströme sind die Ursache dafür, dass Geld fehlt, dass man Wohnungen, Arbeitsplätze und Sicherheit vermissen muss. Wer »Flüchtlinge hereinlässt«, ist an alledem schuld, also die Regierung, das Parlament, aber auch alle, die dies aus rechtlichen oder humanitären Gründen unterstützen, seien es die Medien, die Kirchen oder die Gewerkschaften. So entledigt man sich aller Informationen und aller Autoritäten, die Einhalt gebieten könnten. Wer als Feind geoutet ist, kann nicht mehr verunsichern. Wie groß die Reichweite dieser Einstellung auch in einem mitteleuropäischen Land sein kann, hat Marine Le Pen in Frankreich bewiesen.

Diese Entwicklung, die es der Rechten ermöglicht hat, auch mit »linken Themen« wie unzulänglichen Sozialleistungen, fehlenden Wohnungen und Arbeitsplätzen mit beachtlicher Zustimmung zu agitieren, hat die Linke in Ratlosigkeit gestürzt: Soll sie jetzt – wie einst die Konservativen in den Sechzigerjahren – sagen, dass das nur eine »kleine, radikale Minderheit« sei? Den Gegner kleinreden? Etwa mit der Frage: Sind nicht die Pegida-Demonstrationen außerhalb Dresdens nur ein armseliges Häuflein, das man vergessen kann? Das wäre nach den rechten Erfolgen in Polen und Ungarn, in Österreich, in den Niederlanden und Frankreich und vor allem in den Vereinigten Staaten grob fahrlässig. Es stünde auch in krassem Gegensatz zum eigenen Verhalten, das jede fünfköpfige rechte Mahnwache aufgeregt und mit großem Aufwand bekämpft, als würde der Faschismus wieder sein Haupt erheben und nach der Macht im Staate greifen. Umgekehrt will man aber auch nicht zugeben, dass es tatsächlich bereits ein Kampf aller Demokraten gemeinsam gegen ihre rechten Widersacher um die Mehrheit im Lande ist, denn damit würde man ja ungewollt und indirekt einräumen, dass es innerhalb des demokratischen Spektrums keine alternativen Konstellationen für die parlamentarische Mehrheitsfindung mehr gibt.

Also tröstet man sich mit den schlechten Umfragewerten der sich selbst demontierenden »Alternative für Deutschland«, die ja vielleicht tatsächlich hinter früheren Umfragen weit zurückbleibt und, während ich dieses Buch schreibe, in den Umfragen um die zehn Prozent schwankt. Aber ist deshalb der Resonanzboden plötzlich verschwunden? Spielt er keine Rolle mehr? Kann man ihn ignorieren wie in den vergangenen Jahren die ersten Warnzeichen? Ist unsere liberale demokratische Ordnung wieder in Sicherheit, weil alle demokratischen Parteien zusammen eine Bundestagswahl vermutlich ganz gut überstehen? Ich meine: nein! Die Erfahrung, dass wir neuerdings in zwei verschiedenen Welten leben, die wenig voneinander wissen und am liebsten nichts voneinander wissen wollen, sollte nicht gleich wieder verdrängt werden. Wie schnell dies politisch relevant werden kann, sollten wir gelernt haben, als wir vor einem rechten Sieg in Österreich, in den Niederlanden oder in Frankreich, also durchaus vergleichbaren Demokratien, gezittert haben oder in den USA von einem Wahlsieg überrascht worden sind, den in ganz Europa kaum jemand vorhergesagt hat, weil uns der siegreiche Kandidat dazu viel zu rüpelhaft, chauvinistisch, nationalistisch, frauen- und minderheitenfeindlich vorkam. Aber wenn ein Multimilliardär aus der Immobilienbranche in den USA als Retter der Mühseligen und Beladenen und als Rächer der Enterbten gewählt werden kann, ist auch bei uns nichts ausgeschlossen.

Deshalb sollte es keine baldige Rückkehr zum »business as usual« geben – mit gebrochenen Wahlversprechen, unverhältnismäßigen Diätenerhöhungen und atemberaubenden Nebenverdiensten für Lobbyismus im Parlament, anrüchigen Spendenskandalen, nicht mehr nachvollziehbaren Versorgungsprivilegien und einem Aufblähen des politischen Apparats und des Parlaments. Es sollte die Haltung vorherrschen, dass wir nach dramatischen Vertrauensverlusten, die ja schon bei Wahlen zu Buche geschlagen haben, eine Bewährungszeit erhalten haben. Diese sollte für eine Gratwanderung genutzt werden: Einerseits sollten wir den harten Kern der ideologischen Rechten konsequent bekämpfen, wo immer er Menschen in seinen braunen Sumpf locken will. Andererseits sollten wir alle Menschen, die dort hineingeraten könnten, ohne dazuzugehören, endlich ernst nehmen mit ihren sozialen Nöten, ihren Abstiegs- und Marginalisierungsängsten, den kulturellen Konflikten und Sicherheitsbedürfnissen. Wir sollten sie fairer behandeln, nicht gleich moralisch abkanzeln, nicht mit bildungsbürgerlicher Arroganz abfertigen, sondern ausreden lassen, intensiver aufklären – kurz: wieder integrieren. Darin sollten wir uns doch einig sein: dass Integration eine gute Sache ist!

Kapitel 3

Lauter Goldene Zeitalter – oder: Die geplatzten Verheißungen