Die Anbetung - Marie-Luise Wolff - E-Book

Die Anbetung E-Book

Marie-Luise Wolff

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Beschreibung

Die Corona-Krise hat gezeigt, wie schnell die digitale Technik zur Überwachung der Bevölkerung genutzt werden kann. In ihrem Buch beschreibt Marieluise Wolff, wie moderne Monopolunternehmen wie Apple, Amazon, Facebook oder Google mit der Digitalisierung eine neue Superideologie erfanden, die weder Fortschritt noch Werte geschaffen hat. Denn ihr Geschäft ist der Verkauf unserer persönlichsten Daten, die auch zur Überwachung missbraucht werden. Es wird Zeit, Die Anbetung der Digitalisierung zu beenden und sich einer modernen Wirtschaft zuzuwenden, die nachhaltige Werte schafft.

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Ebook Edition

Marie-Luise Wolff

Die Anbetung

Über eine Superideologie namens Digitalisierung

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-801-3

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2020

2. Auflage 2020

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel
Inhalt
Worum es mir geht
1 Prolog
2 Die Erosion der Kommunikation:Wie sie entsteht und was daraus folgt
Multi-Lifing
Digitale Ohnmacht
3 Hyperreichtum und Digitalisie­rung: Wie die großen Digitalkonzerne ihr Geld ­verdienen und welche Risiken daraus entstehen
Monopole und Weltverkäufer
Techniken der Plattformökonomie
Umsonst-Strategien
Die Convenience-Formel
4 Geldverbrennung im Silicon Valley: Warum Start-ups nicht mehr glänzen
Erfinder-Männer
Wagniskapital
Geisterrestaurants
Orwell und das 21. Jahrhundert
5 Die digitale Welt von innen:Über die innere Verfasstheit digitaler Unternehmen im amerikanischen Westen
Echokammern
Gehirnkitzler
Zukunft ohne Arbeit?
Die Künstlichkeit künstlicher Intelligenz
6 Der digitale Konsument:Wie man zum Instrument von Algorithmen wird
Bauchgefühle
Nudging
Hypernudging
7 Wegweiser
Das Ende der Anbetung
Wegweiser im persönlichen Umgang mit dem Digitalen3
Mögliche strukturelle Maßnahmen für eine Verbesserung der digitalen Bilanz
Anmerkungen

»Am Ende definieren wir uns nicht durch das, was wir erschaffen, sondern durch das, was wir uns weigern zu zerstören.«

John Sawhill, amerikanischer Naturforscher

Worum es mir geht

Das Digitale ist allgegenwärtig und wird in der Wirtschaft mit ganz besonderer Euphorie verbunden. Jedes Kleinstkind weiß heute, was ein Smartphone, und selbst meine achtzigjährige Mutter, was eine Skype-Konferenz ist. Meine eigene Haltung zum Digitalen hat sich im vergangenen Jahrzehnt verändert, auch nach Besuchen im Silicon Valley, in China und in Südkorea. Zuerst habe ich der Digitalisierung geradezu reformatorische Energie zugetraut, vor allem für die Wirtschaft. Denn klangen nicht ihre Protagonisten wie die Propheten einer sehr modernen Welt? Weniger Bürokratie, weniger Hierarchie, weniger Patriarchat – dafür mehr Demokratie, mehr Teilhabe, mehr Fortschritt.

Neben einigen Erleichterungen, die uns beispielsweise kommunikativ über die Corona-Epidemie hinweghalfen, haben sich im Digitalen gravierende Fehlentwicklungen Bahn gebrochen – in der digitalen Wirtschaft genauso wie bei den Anwendungen, mit denen uns Digitalkonzerne »versorgen«. Diese Fehlentwicklungen sind noch nicht in unserem allgemeinen Bewusstsein ­angekommen – dazu bewundern wir die neuen Technologien immer noch zu sehr. Allerdings haben sie schädliche Veränderungen struktureller Art zur Folge. Diese betreffen nicht nur die Oberflächen und Fassaden unseres Lebens, sondern die inneren tragenden Teile unserer Gemeinsamkeiten: im Alltag, im Arbeits- und Wirtschaftsleben. Diese Entmachtungsvorgänge werden sich in der Zukunft stärker negativ auswirken, als wir es im Moment sehen oder uns vorstellen können. Auch wenn es sich bei der Digitalisierung um eine janusköpfige Angelegenheit handelt, die sowohl Erleichterndes als auch Schaden mit sich bringt, spreche ich mit diesem Buch eine deutliche »Gewinnwarnung« für das Digitale aus. Wir dürfen vor der Digitalisierung nicht weiter in Anbetung erstarren. Damit das Digitale gut wird, müssen wir es kritischer als bisher einordnen und stärker führen. Wir müssen aufhören, uns von der Technologie treiben zu lassen.

Nach rund 50 Jahren an digitaler Entwicklung ist eine genauere Bilanzierung ihrer Erfolge vorzunehmen. Die wichtigsten ­Kriterien, die ich an eine kritische Bilanz anlege, sind die Bekömmlichkeit und Tragfähigkeit digitaler Erfindungen sowie die Problemlösungskraft, die sich bisher aus den digitalen Wirtschaftsmodellen entfaltet hat. Der großen Euphorie folgt oft die Traumzerstörung. Sie soll, sie muss jetzt beginnen, und ich gebe den Auftakt dazu. Das Digitale ist auf der Agenda für unsere Zukunft ganz weit oben einsortiert. Mir geht es darum, ihm genau den Stellenwert zuzuweisen, der ihm gerecht wird.

Eine erste Schlussfolgerung ist, dass Digitalisierung und speziell die Bildung digitaler Plattformkonzerne den Ausfall staatlicher Regulierung bewirkt haben. Ein Teil der in unserer Zeit mit einigem Recht so hochgelobten und bisher durch Steuerrecht, Wettbewerbsrecht, Kartellrecht, Verbraucherschutz und Ähnliches eingehegten Marktlogik des Wettbewerbs ist diesem Staatsversagen bereits zum Opfer gefallen. Es haben sich digitale Weltmonopole gebildet, die gerade erst am Anfang ihrer Entwicklung stehen. In ihrer Tätigkeit werden sie immer radikaler werden, was für den europäischen Handels- und Dienstleistungssektor mit vernichtenden Folgen verbunden sein wird. Neben den leeren Ladenlokalen der Einzelhändler und den strauchelnden Medien- und Verlagshäusern, die wir in unseren Städten schon betrachten können, lockt der gesamte europäische Handels- und Dienstleistungsmarkt den Digitalplattformen als Beute. Beispiele finden sich dafür im Buch.

Unsere »Opferbranchen« lassen wir bisher ungeschützt. Alle Türen stehen den digitalen Weltmonopolen durch das Versagen des Staats weit offen. Digitale Plattformen arbeiten wesentlich mit Umsonst-Leistungen, die durch trillionenfach verkaufte persönliche Daten ihrer Nutzer finanziert werden. Darüber hinaus nutzen sie wie selbstverständlich unsere gut ausgebaute Infrastruktur, zugleich aber jedes Steuerschlupfloch, das sich ihnen bietet. Ohne Gegenwehr ergeben wir uns den Monopolen und ihren Milliardären – mir kommt immer wieder der Begriff »Räumungsverkauf« in den Sinn. Mich irritiert diese Wehrlosigkeit, der wir entgegenwirken müssen. Im Zentrum weiterführender Regulierungen muss das Verbot der Speicherung und des Verkaufs persönlicher Daten stehen, daraus folgen die Kostenpflicht jeglicher digitaler Dienste, die Erhebung von CO2-Steuern auf digitale Dienstleistungen sowie selbstverständlich die Klarnamenpflicht für soziale Medien. Weitere Anregungen zu diesen Punkten finden sich im letzten Kapitel dieses Buchs.

Weiterhin soll der Beste im Wettbewerb gewinnen. Ich war und bin für Markt und Wettbewerb und deshalb gegen das Zulassen von Monopolen. Digitalmonopole sind Monopole, auch wenn sie modern daherkommen. Mit ihrem Geschäftsmodell beamen sie uns in die Wirtschaftsordnung feudaler, vordemokratischer Zeiten zurück. Die Corona-Krise hat soeben das Primat der Politik wiederhergestellt, ebenso den hohen Wert einer Realwirtschaft vor Ort noch einmal verdeutlicht. Die Instrumente einer die Wirtschaft ordnenden Macht müssen schnellstens auf die Digitalsphäre angewandt werden. Die Datenschutzgrundverordnung Europas ist dabei nur als ein sehr vorsichtiger Anfang zu betrachten.

Digitale Geräte und ihre Dienstleistungen gehören heute zu den hauptsächlichen Strom- und Ressourcenverbrauchern der Welt. Rechenzentren benötigen doppelt so viel Energie wie die weltweite zivile Luftfahrt, mit stark steigender Tendenz. Streaming, Videotelefonie und das Internet of Things (IoT) werden den Stromverbrauch massiv steigern. Wir müssen unser Augenmerk deshalb auch auf die CO2-Bilanz digitaler Technologien richten. Ohne Rechnerkapazität verlässt kein Megabit seinen digitalen Absender, und keine einzige digitale Anwendung ist ohne die Zwischenlagerung in einem Rechenzentrum denkbar. Kobalt- und Lithiumabbau gehören zu den CO2-intensivsten Förderarten der Welt.

Es besteht ein logischer Zusammenhang zwischen der Digitalisierung, insbesondere den rapide skalierenden digitalen Plattformmodellen, und einem äußerst aggressiven, von privat gemanagten Fonds ausgehenden Finanzkapitalismus, der Teile der Welt inzwischen dominiert. Dass Börsen zum Spielball und auch zum Handlanger digitaler Spekulanten geworden sind, ist ein gefährlicher und bisher unterschätzter Kollateralschaden für die gesamte Wirtschaft. Auch Börsen müssen sich wirksamere Maßnahmen zur Eindämmung der Finanzspekulation einfallen lassen. Sogenanntes Wagniskapital wird heute weitgehend zur Finanzierung digitalen Spielzeugs verwendet. Fortschrittsleistungen oder nachhaltiger Gewinn sowie nachhaltige Arbeitsplätze gehen davon im Allgemeinen nicht mehr aus. Wagniskapitalsummen dürfen nicht länger als Gradmesser für die Innovationskraft einer Nation angesehen werden, und Unternehmen sind deutlich schärfer im Hinblick auf soziale und ökologische Wirtschaftsaspekte zu kontrollieren. Anregungen dazu finden sich am Ende des Buchs.

Prekäre Arbeitsverhältnisse in den gesamten Lieferketten, fehlende Nachhaltigkeitsstrategien, die mangelnde Unabhängigkeit der Aufsichtsorgane, eine hochvolatile Ergebnisentwicklung sowie ausufernde Managementboni und -gehälter stehen einer nachhaltigen Unternehmensführung grundsätzlich entgegen. Nachhaltige Unternehmen sind langfristig profitabel, schützen Umwelt wie natürliche Ressourcen und tragen zu sozialer Gleichheit sowie Wohlstandsgerechtigkeit bei. Maßnahmen dafür können im Bemühen um einen europäischen oder sogar weltweiten Mindestlohn liegen, in der Verpflichtung zu Erhalt und Ausbau sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze, in klaren CO2-Vorgaben und der Achtsamkeit im Hinblick auf eine umfassende Diversität. Auch hierzu finden sich Vorschläge in Kapitel 7.

Fast noch beunruhigender als die destruktive Wucht digitaler Monopole für die europäische Wirtschaft sind für mich die schon jetzt sichtbaren Effekte eines mehrheitlich in Online-Abhängigkeit verbrachten Lebens. »Ich glaube, wir lieben unsere Telefone mehr, als wir Personen aus unserem Umfeld lieben«, sagt ein dreizehnjähriges Mädchen im Gespräch mit einer Psychologin. Die Folgen für eine Generation, die von Geburt an mit einer Überdosis digi­talen Konsums aufgewachsen ist, beginnen wir gerade erst zu verstehen. Digitale Medien haben die Kraft, uns in unseren fundamentalsten menschlichen Fähigkeiten zurückzubilden. Einschrän­kungen in der Konzentrations- und Denkfähigkeit, Rückbil­dungen in Sprache, Kommunikation, psychischer Widerstandsfähigkeit und Empathie gehören zu den inzwischen messbaren Resultaten. Zur Vermeidung dieser Schäden sehe ich kaum Präventionsmöglichkeiten durch den Staat. Mentale Rückbildungen durch Digitalisierung können wir nur eigenverantwortlich verhindern. Erste Vorschläge dazu gibt es ebenfalls am Ende dieses Buchs.

Wir müssen wieder kritisch mit dem umgehen, was wir als Fortschritt und Innovation bezeichnen. Das, was uns an digitalen Entwicklungen vor allem aus den USA und aus China bisher über den Zaun geworfen wird, müssen wir unter diesem Blickwinkel neu einordnen. Die Anbetung digitaler »Wunder« sollten wir schnellstens beenden.

Mein Ziel geht jedoch weiter: Wir müssen das europäische Selbstbewusstsein aus seinem Dornröschenschlaf wecken. Gegen das Hamsterrad eines Finanzkasinos müssen wir eine konstruktive und sinngebende Ökonomie neu und entschieden absetzen, gegen digitales Spielzeug mit echten Problemlösungen zu Feld ziehen. Nicht Digitalisierung ist ein Ziel, sondern die Beseitigung großer Herausforderungen, beispielsweise des Klimawandels, unter Zuhilfenahme der Digitalisierung. Meines Erachtens ist es Zeit für die Neuentdeckung der Realwirtschaft.

Marie-Luise Wolff

Darmstadt und Köln im Juli 2020

1Prolog

Haben Sie auch das Gefühl, keinen Weg mehr ohne Ihr Smartphone unternehmen zu wollen? Dann sind Sie damit nicht allein. So geht es den meisten erwachsenen Menschen in der entwickelten Welt. Das Smartphone ist jetzt 13 Jahre alt, und man kann sich ein Leben ohne kaum mehr vorstellen. Nur einmal am Tag die Zeitung lesen, nur einmal am Tag Nachrichten hören, keine Kontakte über soziale Medien, kein Twitter, kein WhatsApp, kein LinkedIn, kein Weiterleiten, keine In-Boxen, keine Posts, kein Spotify. Jeder fühlt sich inzwischen ziemlich wohl und vertraut mit all den Bildschirmen, die uns im täglichen Leben umgeben. Und ist das Digitale seit Corona nicht noch wichtiger geworden?

Im Englischen gibt es ein neues Wort: Es heißt »phubbing« und ist zusammengesetzt aus »phone« und »snubbing«. »Snubbing« steht für »jemanden gleichgültig behandeln« oder »jemanden abweisen«. »Phubbing« ist ein digitales Phänomen, das jeder kennt: Im Gespräch mit der Familie, mit Freunden, Bekannten, Kollegen oder Geschäftspartnern greift jemand plötzlich zum Smartphone, um E-Mails zu checken, kurz bei Facebook reinzuschauen oder eine SMS zu lesen – und die Konversation wird für kurze Zeit unterbrochen. Fast jeder tut das, fast jeder kennt das Gefühl, wenn nach einer Zeit die Ablenkung der Online-Welt unwiderstehlich wird. Und fast jeder kennt auch die andere Seite: das Gefühl des Ignoriert-Werdens, den Moment, in dem der Faden der Empathie abreißt.

Jenseits der markanten Gewöhnungen an das Digitale geht eine Furcht um in Deutschland: dass wir in der digitalisierten Welt zurückfallen und den Anschluss an die Tech-Moderne verlieren könnten. Zwar gibt es seit einigen Jahren in Unternehmen kaum ein wichtigeres Thema als die Digitalisierung, aber man fühlt sich nicht wirklich auf der Höhe der Zeit. Es herrscht das Gefühl, in diesem Land geschehe in Sachen Digitalisierung bisher viel zu wenig: Die Glasfaser-Ausbauraten stimmen nicht. Es gibt noch viel zu viel Papier in den Unternehmen. Die Deutschen können keine E-Autos bauen. Alles ist umständlich, die Verwaltungsprozesse sind peinlich altmodisch, »Kill-the-bureaucracy-Initiativen« werden ausgerufen – und versanden wieder. Und bisher gibt es bei uns noch kein wirklich großes neues, rein digitales Unternehmen wie in den USA. Jeder probiert ein bisschen herum, aber etwas wirklich Großes und Erfolgreiches ist dabei bisher nicht herausgekommen. Und alle neue Technologie, die wir kaufen, kommt aus Amerika oder aus China oder aus Korea. Wir müssen uns beeilen, wir müssen weiterkommen, wir dürfen endlich nicht mehr zurückhängen.

Die Speerspitze des Fortschritts wird im Silicon Valley vermutet, mittlerweile auch in China. Dort, in der Ferne, wähnt man seit Langem die Hauptquartiere der digitalen Moderne. Dort gibt es keine Scheu, die vielen unternehmerischen Wagnisse, die sich bieten, auch einzugehen. Dort ist man viel eher bereit, einfach einmal etwas auszuprobieren, Fehler zu machen, Dinge in den Sand zu setzen und dann sogar stolz darauf zu sein, es wenigstens versucht zu haben. Hingegen erscheint Deutschland übervorsichtig und so gemächlich wie ein schwerfälliger Tanker, der kaum vom Fleck kommt und zu viele Altlasten mit sich herumschleppt. Ein Land, das sich inzwischen vor jedem Fortschritt zu fürchten scheint und für die Digitalisierung zu langsam, zu bedächtig, kulturell zu unbeweglich geworden ist. Als Muntermacher gegen den proklamierten digitalen Rückstand macht in Politik, Wirtschaft und Journalismus wieder einmal das alte Kampfargument von der »Gefahr für unseren Wohlstand« die Runde – es musste schon in früheren Debatten für allerlei Auswüchse des Kapitalismus herhalten.

Dabei bemühen wir uns doch. Täglich werden Schulkindern iPads versprochen, und Chief Digital Officers zieren die Organigramme von Unternehmen, oft ohne dass es eine Jobbeschreibung für sie gibt. Smart-City-Projekte werden auf den Weg gebracht, laufend werden Gründerzentren eröffnet, jede größere Stadt hat inzwischen ihren Start-up-Hub. Und man bildet sich weiter: Zuerst sind Manager und Politiker an die amerikanische Westküste gereist, inzwischen geht es auch nach Südostasien, denn der Digitalkapitalismus in Fernost scheint die noch heißere Nummer zu sein: noch größer, noch entschiedener, noch härter. In Scharen fliegen Unternehmer und Politstrategen nach San Francisco, Hongkong oder Peking, mieten sich in ein Hotel ein und fahren mit dem Reisebus durch die Gegend. Palo Alto, Fremont, Menlo Park, Mountain View, Hangzhou und Shenzen sind zu Wallfahrtsorten geworden – denn in diesen Städten sind sie zu besichtigen, die Vorbilder der neuen und führenden Wirtschaftswelt: Google, Facebook, Tesla, Uber, Airbnb, Amazon, Alibaba, Tencent und Baidu.

Deutsche Manager wollen auf diesen Reisen von den Geschäftsmodellen der fremden Digitalkollegen kopieren, was geht. Denn sie sind sich sicher: Die Zukunft, das ist auf jeden Fall etwas Digitales. Die luftig leicht erscheinenden »Innovationen« der Platt­form­industrie haben einen Hype erzeugt, der sich durch künstliche Intelligenzen, durch Algorithmen und Quanten-Computing noch weiter steigern lassen soll. Jeder Manager führt diese Begriffe im Munde, eine wundersame Vermehrung der Innovationen wird der Digitalisierung zugetraut, denn sind nicht digitale Innovationen viel einfacher und schneller erreichbar als andere? Braucht man dafür nicht nur eine zündende Idee und einen Computer? Je mehr Digitalisierung, desto mehr Ideen und Innovationen, so geht die Gleichung. Dazu passt auch einer der vielzitierten Sätze von Jeff Bezos, Gründer und Chef von Amazon: »Anders als beim Goldrausch gibt es kein letztes Nugget, wenn es um Innovation geht. Jede Sache wirft zwei neue Fragen auf und erschafft zwei neue Möglichkeiten.«1

Aber was predigen die Leitfiguren der Digitalisierung eigentlich? Und was leben sie in ihren Unternehmen und mit ihren Produkten vor? In welche Richtung haben sie das Wirtschaftshandeln der Welt verändert? Ist künstliche Intelligenz eine ganz neue Kategorie? Wird sie uns quasi von allein in neue Sphären des Wachstums heben? Was machen digitale Unternehmer anders? Wo sind sie innovativ, und wo liegen die größten Unterschiede zur »analogen Wirtschaft«? Und vor allem: Was sind die Folgen? Man wäre naiv würde man meinen, das Rad könnte zurückgedreht werden. Die Erleichterungen im Alltag, die leichte Zugänglichkeit, die Vereinfachung im Geschäftlichen aber auch diejenige im privaten und aller privatesten Nachrichtenaustausch fühlen sich sogar nach Fortschritt an. Natürlich sind sie es nicht. Jedenfalls nicht ohne weiteres. Alle können alles sehen und empfangen, von überall, fortwährend, ein Dauerzustand der Ansprache und Empfänglichkeit, der Anspannung und Überforderung, wie es ihn für die Menschheit noch nie gegeben hat, sind die Folge. Dabei tendieren Finanzwirtschaft, Wirtschaft, Medien und manche Vertreter der Politik weiterhin dazu, diese Wirkungen zu übersehen oder gar zu negieren. Die mit dem Digitalen verbundene Euphorie scheint noch immer grenzenlos. Das Ziel dieses Buchs ist ein Hinterfragen der größten Vorbilder der Digitalwirtschaft – dazu habe ich mir die Monumente der Plattformindustrie und ihre vorgegebenen Pfade der Digitalisierung genau angeschaut.

Digitalisierung ist ein eher weit gefasstes Phänomen. Als Begriff ist das Digitale am besten historisch aufzulösen. Zuerst kam die schnelle Datenübertragung durch Computer. Bereits die Ablösung der Schreibmaschine war somit eine Folge der Digitalisierung. Schon in den siebziger Jahren wurde damit begonnen, zahlreiche Vorgänge in Unternehmen und Universitäten von analog auf digital umzustellen. Meine Dissertation begann ich in den achtziger Jahren noch auf einem Uni-Großrechner und beendete sie auf einem Heimcomputer. Seither ist jedes Unternehmen dabei, sich mit immer weitgehenderer Automatisierung zu beschäftigen. Spätestens als zu Beginn der neunziger Jahre das Internet zur Kommerzialisierung freigegeben wurde, gab es dazu keine Alternative mehr. Seither wird nicht nur nach innen digitalisiert, sondern auch nach außen, an den Schnittstellen zum Kunden. Noch einmal gut 10 Jahre später wohnte man der Bildung großer Kommunikations- und Konsumplattformen bei. Diese dritte und bisher letzte Phase der Digitalisierung ist das prägnanteste Element einer digitalen Ökonomie. Die Plattformierung ist auch der Grund, warum das Digitale gerade in der Wirtschaft eine so überwältigende Popularität erlangt hat. Seit die bilanziellen Erfolge der großen Plattformen von Google, Amazon und Co. alle Rekorde schlagen, überwiegt in der deutschen Wirtschaft jener seltsame Zustand der Anbetung, ja fast der Scham und der Selbstgeißelung, wenn es um die Digitalisierung geht.

Die Gewinne der Plattformen sind so hoch, dass sie Manager der Realwirtschaft in einen ratlosen Zustand versetzen. War man schon von der ersten Generation der Gründer-Manager beeindruckt – Bill Gates an der Spitze von Microsoft, Larry Ellison bei Oracle oder Steve Jobs mit Apple –, so flößen die Ergebnisse der aktuellen Manager am Ruder von Google, Amazon und Facebook noch etwas mehr Ehrfurcht ein. Allein Google macht mit weniger als einem Drittel der Mitarbeiter von Siemens den sechsfachen Gewinn. Was ihre Marktgröße, ihre Gewinne, ihre Kundenzahlen und ihren Börsenwert betrifft, haben diese Konzerne alle anderen Branchen und Großunternehmen der Welt hinter sich gelassen – noch nie hat es Unternehmen dieser Dominanz gegeben. Noch nie wurden sie so schnell aufgebaut. Europa und vor allem Deutschland haben sich so stark in die Haltung der Anbetung hineinvertieft, dass sie bisher keine eigene, digitale Agenda entwickelt haben. Man ist umhergereist, hat die Stätten des neuen Fortschritts allesamt besichtigt und dann zu allem Ja gesagt, was über den Zaun geworfen wurde: Ja zur unablässigen Beschäftigung mit digitalen Medien, Ja zur Verödung der Innenstädte und Ja zur Flut von E-Rollern, die nun in ihnen herumliegen.

Lesen Sie Die Anbetung, um die Ehrfurcht und den Respekt vor den großen Zahlen ein wenig zu verlieren. Beginnen Sie mit mir zu hinterfragen, wie diese Ergebnisse entstehen, auf welch riskanter Basis sie erreicht werden und welche Gesellschaft sie zurücklassen. Lernen Sie die Stärke des eigenen Tuns im weniger Virtuellen neu zu schätzen. Digitale Monopolkonzerne sind aufgrund eines einzigen Effekts zu ihrer Dominanz gelangt: Man nennt es das Plattformprinzip. Es ist genial und zugleich enorm destruktiv. Es bringt Monopole hervor und hinterlässt Ödland. Mit diesem Prinzip allein verdient man im Silicon Valley bis heute kaum einen Dollar, aber dahinter liegt ein anderes Geschäft, das man mit den Worten Jaron Laniers getrost als »pervers« bezeichnen kann.2 Ein höchst manipulatives, die Nutzer in die Abhängigkeit treibendes Gewinnschema ist die zentrale unternehmerische Basis der so angebeteten digitalen Plattformen. Ein verdecktes Tauschgeschäft, das sich zentral nicht um Technologie, sondern um den Gegenstand der Werbung dreht.

Wenn man sich die manipulativen Winkelzüge der digitalen Führer einmal bewusst gemacht hat, wenn man die Verquickung der Erfindermänner mit einer nur noch hastig agierenden Finanzwirtschaft betrachtet oder das auf seltsame Missionen gestützte »Sinnkonzept« der Convenience, dann wird es immer dringender, in Europa endlich wieder eigene vitale und innovative unternehmerische Konzepte zu entwickeln. Neben den Schäden, welche die Plattformierer für die wirtschaftliche Entwicklung Europas bedeuten, sind wahrhaftige Erosionen im menschlichen Umgang zu verzeichnen, von denen »Phubbing« nur ein Beispiel ist. Gerade diese Erosionen greifen die Grundlagen unseres Wohlstands an. Denn sie gefährden die Fundamente unserer Bildung, unseres Denkens, unserer psychischen Gesundheit und unsere Demokratie.

Die Anbetung betrifft vor allem die westlichen Digitalkonzerne, ich nehme in Teilaspekten aber auch die chinesischen Plattformen in den Blick. Von den Geschäftsmodellen zu den Führungspersönlichkeiten, von ihren algorithmischen Techniken bis zum Blinde-Kuh-Spiel mit den Online-Konsumenten erschließe ich einen Rundumblick in die Welt der digitalen Wirtschaft. Die chinesischen Plattformierer haben sich wie siamesische Zwillinge gegenüber ihren Brüdern und Schwestern im Westen aufgestellt. Dort, wo sie groß geworden sind, bilden sie inzwischen die Grundpfeiler der staatlichen chinesischen Autokratie. Das Sozialpunktesystem Pekings würde ohne Alibaba nicht funktionieren. Und bemerkte man nicht auch hier im Westen während der Corona-Krise, wie naheliegend Schritte zur Überwachung durch Smartphones auf einmal erschienen?

Mein Blick auf die Digitalisierung ist der einer Wirtschaftspraktikerin. Die Anbetung geht von der genauen Beobachtung der Handlungsweisen digitaler Player aus, legt die Stärken und die Schwachstellen bloß und entwickelt konkrete Gegenstrategien. Vor allem im Hinblick auf Fortschritt, der doch das Hauptmotiv ihrer Verehrung ist, sollte man sich nicht allzu sehr von den digitalen Geschäftemachern beeindrucken lassen. Wenn man unter Fortschritt weiterhin die Beseitigung von Mangelzuständen einer Gesellschaft versteht, dann dürften Plattformen nicht ohne Weiteres zu den Fortschrittstreibern gezählt werden. »Wir wollten fliegende Autos, sie gaben uns 140 Zeichen«, hat denn auch Peter Thiel, einer der Frontmänner des Silicon Valley, die Enttäuschung gerade in der Kategorie »Fortschritt« zusammengefasst.3 Zu den drängenden Problemen der Welt schweigen die angeblichen Querdenker. Statt innovativer Lösungen für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts liefern sie »Internetspielzeug«.

Jede Ideologie ist für mich eine verzerrte Wahrnehmung von Welt, die zu einer verengten Sichtweise auf Probleme und Erkenntnisse führt. Unter Superideologie subsumiere ich eine Ideologie, die sich wie ein Schleier über das ganze Denken legt, die zugleich etwas Atemberaubendes wie auch Erstickendes, Verdeckendes und Überwältigendes an sich hat. Die Digitalisierung ist keine Naturgewalt, die über uns kommt wie ein Tsunami; als solche wird sie aber bisher gesehen, und auch deshalb sind wir in seltsamer Anbetung erstarrt. Die Verantwortung und die Zuständigkeit für den technischen Fortschritt sollte nicht länger einer Handvoll Technologieunternehmen überlassen werden. Die Federführung dafür, wie wir leben und was wir zulassen wollen, haben wir selbst in die Hand zu nehmen.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Kapitalismus und Digitalisierung? Ich sehe zwei abträgliche Gleichungen, gegen die Gesellschaften in diesem Jahrzehnt angehen müssen. Digitalisierung und Automatisierung reduzieren menschliche Arbeit und wirken deshalb kostensenkend. Das macht digitale Arbeitsweisen so attraktiv und erhöht den Reiz für Investoren, nur noch in Unternehmen zu investieren, die digitale Tools und Angebote in den Markt stellen. Gleichzeitig sind gerade digitale Dienste extrem schnell und kostengünstig in der Verbreitung und Skalierung. Das Hauptgeld der Investoren fließt deshalb seit Jahren in neue digitale Geschäftsmodelle aller Art. Komplizierte Aufgabenstellungen von Unternehmen, die einen längeren Anlauf benötigen, sind bei Investoren zunehmend unbeliebt geworden. Für eine Volkswirtschaft sind diese Trends jedoch ungesund. Digitalisierung entfremdet nicht nur von menschlicher Arbeit und »befreit« damit gewissermaßen von den Beschäftigten, sondern entwöhnt Unternehmer und Kapitalgeber von den Anstrengungen eines langsamen Aufbaus, von den flacheren Wachstumslinien der Realwirtschaft und damit auch von echten Innovationen. Das Digitale »erlöst« den Kapitalismus scheinbar von Arbeit und Beschäftigten, damit von den Mühen der Ebenen produzierender Wirtschaft. Je stärker die Digitalmonopole werden, desto folgenschwerer wird dieser Effekt.

Nicht jede Automatisierung ergibt zudem Sinn, nicht immer gewinnt der Roboter, was seine Kosten angeht, gegen den Menschen. Das musste nicht zuletzt Elon Musk schmerzhaft erfahren (siehe Kapitel 4). Zudem gibt es zahlreiche neue Aufgaben, die neben dem Digitalen zu lösen sind, für die neue humane Arbeit gebraucht wird. Die Herausforderungen der Welt jenseits digitaler Prozesse sind wahrhaftig groß genug, und an keine dieser Aufgaben hat sich die Digitalwirtschaft bisher herangetraut. Und hier schließt sich ein Zirkel, denn das Finanzkapital hat sich an den Hype um digitale Geschäftsmodelle mittlerweile gewöhnt: Hedgefonds investieren nicht mehr in Projekte und Firmen, die lange an innovativen Herausforderungen arbeiten und stark von menschlichen Produktivkräften abhängig sind, beispielsweise in den Bereichen der Energiewirtschaft, der bautechnischen Infrastruktur, der Agrarwirtschaft, der Biotechnologie oder der Epidemiologie. Genau dort liegen aber ein paar der größten Herausforderungen unserer Welt in dieser Zeit. Dass wir diese allein durch Digitalisierung irgendwie lösen können, ist ein Teil des großen Missverständnisses, wenn es um die Superideologie des Digitalen geht.

Mein eigener Blick auf Wirtschaft ist ein sehr persönlicher, der durch jahrzehntelange Tätigkeit und Erfahrung in Wirtschaftsunternehmen geprägt ist. Wirtschaft ist ein energiereicher und großartiger Teil unseres und meines Lebens. Im Rückblick staune ich, wie oft sich Wirtschaft in den vergangenen 50 Jahren nach den Vorbildern im Westen ausgerichtet hat. Es besteht im Moment die kurze Chance, sich davon vielleicht zu lösen. Meines Erachtens standen deutsche Unternehmen schon einmal an dieser Weggabelung und haben darauf schon einmal die falsche Antwort gegeben.

Das meiste, was ich über Wirtschaft gelernt habe, verdanke ich einem meiner ersten Chefs: Ulrich Hartmann, langjähriger Vorstandsvorsitzender des Energie-, Öl-, Chemie-, Handels-, Telekommunikations-, und Immobilienkonzerns VEBA, der vor einigen Jahren verstorben ist. Sowohl die VEBA wie auch Ulrich Hartmann als Konzernchef zeichnete ein sympathisches Understatement aus, das sich paarte mit einer ausgesprochenen Bewunderung für amerikanisches Unternehmertum, vor allem für die dortige Art des Finanzkapitalismus. Auch wenn der VEBA-Konzern für damalige Verhältnisse reich und mächtig war, kam es mir so vor, als fühlte sich das Management oft selbst zu zurückhaltend, fast zu wohlerzogen, so als spüre man den eigenen Mangel an Courage und Vitalität, um mit Verve ein neues Thema anzupacken. Man schaute mit einer Art Hassliebe auf die angelsächsische Art, ohne Rücksicht auf die eigene Geschichte, ja mit cowboyartiger Rauflust, in jede neue Schlacht zu reiten.

Politisch beachtenswert waren in dieser Zeit die Bestrebungen der deutschen Anti-Atomkraftbewegung, die gegen Ende der neunziger Jahre in Verhandlungen über einen Ausstieg aus der Kernenergie mündeten. Der erste Ausstiegsvertrag wurde unterschrieben, damit entfiel auf absehbare Zeit eine der größten Ergebnisquellen der großen Energiekonzerne. Berater der Boston Consulting Group oder von McKinsey gingen ein und aus, ihre Papiere hatten etwas Befreiendes. Sie enthielten erstaunlich einfache Schaubilder und mündeten in eine ganz neue, aus der amerikanischen Wirtschaft übernommene Leitidee: Das neue Ziel allen Schaffens sollte der »Shareholder-Value« sein, frei übersetzt mit »Aller Wert dem Aktionär«. Ich sehe in dieser ökonomischen ­Theorie und ihrem Zusammenspiel mit dem Finanzsektor die Keimzelle des übermächtig erscheinenden Erfolgs auch jener buchstäblich ins Kraut geschossenen Digitalkonzerne des 21. Jahrhunderts. Ohne Shareholder-Value wären sie nicht so schnell so groß und so mächtig geworden.

Das Buch Shareholder Value von Alfred Rappaport erschien 1986 und legte eine Zündschnur an das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. Noch unter Ludwig Erhard war ganz langsam damit begonnen worden, die größten Staatsmonopole zu privatisieren, jetzt privatisierte man im Morgenrot des Shareholder-Values fast alles, was an staatlichen Unternehmen noch loszuschlagen war. Die globale Ausrichtung der deutschen Wirtschaft war das Credo, und bei VEBA lernten wir nun ein neues Vokabular. Jeder sprach flüssig über den »Free Cashflow«, den »Return on Capital Employed«, und ab sofort galt alle Aufmerksamkeit der Steigerung des Aktienkurses. Im ganzen Unternehmen gehörte inzwischen der ständige Blick auf den Börsenkurs zum Ablauf eines jeden Arbeitstags, und kein Gespräch kam ohne die Frage aus, wie der Kapitalmarkt wohl auf dieses oder jenes reagieren würde.

Zu Shareholder-Value gehörte, dass der Begriff des Wachstums eine ganz neue Bedeutung bekam. Wachstum war vorher kein alltägliches Thema gewesen, einfach auch deshalb, weil nicht jeden Tag irgendwo im Konzern eine neue Sache erfunden wurde. Jetzt wurde Wachstum zum Zwang und war dazu mit der Ansage verbunden, sich von Geschäften, die nicht innerhalb kürzester Zeit ihre Investitionen zurückverdienten, sofort zu trennen. Es wurden also nur noch jene Ideen mit Investitionen honoriert, die versprachen, sehr schnell ihre D-Mark und später ihre Euro zurückzuholen. Jeder weiß, wie gelassen Menschen am Fortschritt ihrer Geschäfte arbeiten, wenn das Pendel des Todes praktisch über ihnen hin- und herschwingt. Controller brachten uns sehr rasch bei, wie man die eigene Rendite inklusive der Kapitalkosten errechnet, und am Quartalsende kalkulierte jeder für sich selbst, ob er schon auf der Verkaufsrampe stand, ob er kurz davor war oder ob er sich mit der Suche nach einem neuen Job noch etwas Zeit lassen konnte.

Die zentrale Frage, die sich mir immer wieder gestellt hat, ist, ob es Alternativen gegeben hätte. Ulrich Hartmann spürte, dass sich die großen Konzerne Deutschlands in der letzten Phase der sozialen Marktwirtschaft in ein Dickicht von Abhängigkeiten zwischen Banken, Parteien, Traditionen und Gewerkschaften manövriert hatten, die das Unternehmerische langsam, aber sicher erstickten. Er hatte sehr gute Gründe für das, was er tat. Vom Aufbruch in die internationale Welt und vom klaren Zahlenwerk der Shareholder-Value-Theorie erhoffte er sich einen Befreiungsschlag.

Wir bemerken heute immer mehr, dass die Wirtschaft mit dem Shareholder-Value-Prinzip in eine Sackgasse geraten ist. Das Rad der kurzfristigen Finanzsteuerung aller Tätigkeiten wurde zu weit gedreht, die soziale Schere ist darüber weit auseinandergegangen. Mindestens in den letzten 50 Jahren lag im Westen unser Leitmarkt der Wirtschaft, in den letzten 20 Jahren haben wir uns ihm durch Anbetung unterworfen. Vor allem seit der Erfindung des Internets schien man dort eine neue, noch gewinnträchtigere Form des Shareholder-Value erfunden zu haben, mit der in noch kürzerer Frist noch höhere Gewinne lockten und mit der Aktionäre in noch kürzerer Frist zu Reichtümern gelangen konnten.

Erst seit Kurzem sehen wir auch die andere Seite dieser Entwicklung: immer mehr Milliardäre, die die Welt mit eher fragwürdigen Dienstleistungsmodellen beschenken, mit Steuerschlupflöchern Geld verdienen und die globale Monopolisierung des Dienstleistungssektors vorantreiben. Wir haben bisher kein Konzept entwickelt, um sie einzugrenzen oder ihnen eine Alternative von Wirtschaft – inklusive Digitalisierung – entgegenzusetzen. Dazu ist jetzt die Zeit.

2Die Erosion der Kommunikation:Wie sie entsteht und was daraus folgt

Multi-Lifing

Wer um das Jahr 2000 geboren ist, hat, seit er denken kann, Menschen um sich gehabt, die die meisten Stunden ihres Tages mit ­einem Bildschirm in Sichtweite oder direkt vor ihrem Gesicht ­verbringen. Ich sehe Mütter und Väter mit einer Hand ihre Kinderwagen schieben, während sie ihren Blick auf das Smartphone gerichtet halten, das in ihrer anderen Hand ruht. Ich sehe Kleinstkinder, die mit iPads ruhiggestellt werden und damit »arbeiten« wie Erwachsene. Ich sehe Familien in Restaurants, jedes der Kinder ein iPad vor sich aufgestellt, die Eltern jeweils ein Handy in der Hand. Ich sehe Eltern, die sich nicht mehr trauen, ihrem Kind Einhalt zu gebieten, wenn es während eines Gesprächs nur noch auf sein Handy starrt. Und ich sehe Eltern, die dasselbe tun. Ich erlebe Mitarbeiter und Führungskräfte, die den ganzen Tag mit Kopfhörern herumlaufen, die im Zug oder während analoger Besprechungen nebenbei an Telefonkonferenzen teilnehmen und die mit ihren Teams unablässig über Texting kommunizieren. Digitalisierung hat eine so massive Veränderung in der Kommunikation untereinander verursacht, wie sie als Konsequenz technologischer Umbrüche noch nie vorgekommen ist. Ein Beispiel für den Übergang von analogem zu digitalem Dasein ist Multi-Lifing, das Betreiben verschiedener Leben im Internet und der analogen Welt und seine zahlreichen Vorstufen.

»Ich glaube, wir lieben unsere Telefone mehr, als wir Personen aus unserem Umfeld lieben«, sagt ein dreizehnjähriges Mädchen aus dem texanischen Houston im Gespräch mit der amerikanischen Jugendpsychologin Jean Twenge, die seit 25 Jahren die Folgen der Nutzung digitaler Medien für verschiedene Generationen untersucht hat. Twenge ist Professorin an der Universität von San Diego, sie hat das Buch IGen geschrieben. Ihre jahrzehntelange Forschung über das Generationenverhalten zeigte bisher, dass sich Einstellungen und Verhalten zwischen Generationen üblicherweise nur langsam und graduell verändern. Millennials, also diejenigen, die zwischen 1980 und 1990 geboren wurden, seien beispielsweise eine hochindividualisierte Generation. Allerdings habe sich der Individualismus schon seit den Tagen der Babyboomer auf einem steigenden Pfad befunden. Ungefähr um das Jahr 2012 notierte Twenge eine scharfe Veränderung im Verhalten und im Emotionshaushalt der Heranwachsenden: In ihrer gesamten Analyse von Generationendaten seit den dreißiger Jahren habe sie einen solch plötzlichen Shift noch nie gesehen.1 2012 sei das Jahr gewesen, in dem der Smartphone-Besitz der amerikanischen Bevölkerung die 50-Prozent-Marke übersprang; in Deutschland geschah dies zwei Jahre später.

Die überwiegende Zahl aller nach 2000 Geborenen erinnert sich an keine Lebenszeit mehr ohne Smartphones. Sie waren 1 bis 7 Jahre alt, als das iPhone 2007 eingeführt wurde. Drei von vier amerikanischen Teens besaßen 2017 ein eigenes Smartphone. Die Ankunft des Smartphones hat das Leben der Jugendlichen in jedem Aspekt radikal verändert, und zwar quer durch alle sozialen Schichten.2 Nicht alle Veränderungen seien dabei schlecht, manche sogar im Ergebnis gut, aber viele sowohl gut als auch schlecht. Die Jugendforscherin stellt heraus, dass die nach 1995 Geborenen beispielsweise viel ungefährlicher leben als frühere Jugendgenerationen. Dies rühre daher, dass Jugendliche dieser Alterskohorte, also die heute Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen, seltener das Haus verlassen, weniger feiern, weniger Drogen oder Alkohol zu sich nehmen. Psychologisch gesehen sei diese Generation jedoch deutlich stärker gefährdet als die der Millennials. Die statistischen Werte über Depressionen, Teenager-Selbstmorde und -Selbstmordversuche sind in den USA seit 2011 merklich gestiegen. »Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass die I-Generation am Rande der schlimmsten Krise der psychischen Gesundheit taumelt, die wir seit Jahrzehnten gesehen haben. Der größte Teil dieser Krise ist dem Smartphone zu verdanken. … Die gleichzeitige Einführung von Smartphone und sozialen Medien hat zu dieser Krise geführt, sie hat zu einem Erdbeben im Leben junger Menschen geführt. Wir können sagen, dass das Smartphone diese Jugendlichen ernsthaft unglücklich gemacht hat.«3

Twenge beschäftigt sich speziell mit amerikanischen Jugendlichen, und sicher muss man die Situation in Deutschland und Europa gesondert bewerten. In Europa gibt es über die Auswirkungen des Smartphones auf die psychische Widerstandskraft von Jugendlichen bisher kaum langfristige wissenschaftliche Studien, die bis in die aktuelle Zeit reichen. Die Fridays-for-Future-Bewegung könnte ein hoffnungsvolles Zeichen für ein stärkeres politisches Engagement und damit einer höheren Widerstandskraft der deutschen Jugend gegen das nur Digitale sein. Aber es gibt auch andere Signale: Das deutsche Ärzteblatt stellte 2019 fest, dass die Suizide von Jugendlichen in Deutschland in den Tagen nach den Sommerferien um 30 Prozent stiegen.4 Der Leiter einer Notfallstation für Kinder und Jugendliche an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich sagt in einem aktuellen Interview, dass die vollendeten Suizide von Jugendlichen in der Schweiz etwa gleichgeblieben seien, die Zahl der suizidalen Notfallkonsultationen von Minderjährigen sich in den vergangenen Jahren allerdings verzehnfacht hätten.5

Ein anderer zunächst ebenfalls durchaus positiv klingender Befund der Generationenveränderung ist der starke Rückgang von Teenager-Schwangerschaften. Die Geburtenzahlen amerikanischer Jugendlicher erreichten 2016 einen Tiefststand von minus 67 Prozent verglichen mit dem Höchststand 1991. Eine ähnliche Entwicklung in einer ähnlichen Größenordnung verzeichnet Eurostat sowohl für Deutschland als auch für Europa. Der Grund für diesen markanten Rückgang liegt laut Professor Twenge in einem stark zurückgehenden Interesse junger Menschen am Intimkontakt mit dem anderen Geschlecht. Insgesamt habe sich das Freizeitverhalten grundlegend verändert. Sogar das Autofahren, einst Symbol adoleszenter Freiheit und des Ausbruchs aus elterlicher Konventionalität, habe für die Jugendlichen seine Attraktivität verloren. Inzwischen drängen oft die Eltern ihre Kinder, den Führerschein zu machen, während früher viele Jugendliche jobbten, um möglichst früh ihren Führerschein zu erwerben und sich früher von ihren Elternhäusern zu lösen. Heute werden Studenten- oder Schülerjobs jenseits verpflichtender Praktikumszeiten immer seltener gesucht. Jugendliche bleiben deutlich länger zu Hause bei ihren Eltern wohnen. Frühere Generationen schienen das Erwachsenenalter auszudehnen, indem sie früher selbstständig wurden, heutige Heranwachsende scheinen die Spanne des Erwachsenwerdens zu verkleinern, indem sie versuchen, länger Kind zu bleiben.6

Studieren die Jungen heute eifriger? Sind sie strebsamer? Sind die heutigen Eltern netter zu ihnen? Verwöhnen sie sie mehr? Die Jugendforscherin sieht den Grund vor allem darin, dass Jugendliche ihr Sozialleben mehrheitlich am Telefon und im eigenen Zimmer verbringen. Sie brauchen heute das Haus gar nicht mehr zu verlassen, um sich in der Nähe ihrer Freunde zu fühlen. Und die Schuldaten lassen erkennen, dass sie eher weniger lernen als ihre Vorgängergenerationen. »Was tun sie mit all ihrer Zeit? … Sie hängen an ihren Telefonen, in ihrem Zimmer, sind allein und oft unglücklich.«7 Im Austausch mit der Forscherin erzählt eine Jugendliche, dass sie einen ganzen Sommer lang zu Hause in ihrem Zimmer verbracht hat, im engen Kontakt mit ihren Freunden, aber nicht real, sondern per Text oder via Snapchat: »Mein Bett sieht inzwischen aus wie der Abdruck meines Körpers.« Analoge Jugendtreffpunkte wie das Jugendheim, die Skateboard-Piste oder der Bolzplatz scheinen heute weitgehend durch soziale Medien ersetzt worden zu sein.8 Jugendliche sprächen deshalb allerdings nicht öfter und schon gar nicht intensiver mit ihren Eltern – Heranwachsende seien heute Experten darin, ihre Eltern einfach auszublenden, während sie mit ihren Telefonen beschäftigt sind.

Sherry Turkle hat einen Lehrstuhl für klinische Psychologie am MIT. Jonathan Franzen bezeichnet sie als das »Gewissen der High-Tech-Welt«.9 Sie hat das Gesprächsverhalten junger Menschen genau analysiert, und ihre Befunde sind ebenfalls alarmierend. In den letzten 20 Jahren ist die Empathie von College-Studenten um 40 Prozent gefallen. Wissenschaftler führen diese Entwicklung auf die Präsenz digitaler Kommunikation zurück. Eine Jugendliche erläutert der Psychologin eine ganz besondere Strategie der Gesprächssteuerung, die es ihr ermöglicht, zeitgleich während der Konversation mit Erwachsenen eine permanente Online-Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Sie nennt es »Dreier-Regel«, die ein populärer Brauch unter Jugendlichen zu sein scheint: Die ­Verabredung sei, dass sich ein oder zwei Kinder mit den Erwachsenen unterhalten müssen, während die anderen an ihren Tele­fonen sind, mit wechselnden Rollen. Der Effekt ist, dass die Gespräche fragmentiert bleiben und immer an der Oberfläche gehalten werden, damit jederzeit ein anderer in das Gespräch ein- und wieder aussteigen kann. »Jeder versucht das Gespräch möglichst unverbindlich zu halten.«10 Dass man Gespräche oberflächlich hält, wenn Handys in Sichtweite sind, ist zu einer neuen Form der »Höflichkeit« für uns alle geworden, sagt Turkle. Wenn ein Smartphone auf dem Tisch liegt, dreht sich das Gespräch hin zu trivialeren Themen, sinken Empathie und Gesprächsintensität. Rund 90 Prozent der Amerikaner sagen, dass sie während ihres letzten Gesprächs das Telefon benutzt oder zumindest aus der Tasche gezogen haben.

Warum texten Jugendliche lieber, als dass sie sprechen? Ihre Begründung klingt auf den ersten Blick nachvollziehbar: Mit dem Absenden von Nachrichten haben sie die Kontrolle über ihren digitalen Austausch, über den Zeitpunkt und die Menge von Nachrichten, die sie erhalten. Sie ökonomisieren ihre Zeit. Diese Begründung hat einen tieferliegenden Grund. Jugendliche sagten Turkle, dass sie lieber texten, weil sie andere Menschen dann in Mengen und in einer Distanz »haben« können, die sie selbst im Griff halten. Die Forscherin nennt es den »Goldilocks-Effekt«, was auf ein Märchen zurückgeht und in der amerikanischen Tradition in etwa heißt, dass man immer nach einem mittleren Maß streben sollte: nicht zu nah, nicht zu distanziert, genau richtig. Dagegen sind reale Gespräche oft unordentlich, empathisch, leidenschaftlich, schwierig oder ausschweifend, es gibt dabei keine Garantie für ein Mittelmaß an Engagement, an Emotion, an Stimmungen und Themen, die angeschnitten werden. Genau diese Situation wollen die Jugendlichen anscheinend vermeiden. »Ich mag keine Gespräche, weil du nicht kontrollieren kannst, was du sagst«, schildert ein Jugendlicher seine Aversion gegen das Sprechen im analogen Raum.11 Im Netz könne man seine Texte ständig editieren und retuschieren – so etwas sei in einem analogen Gespräch nicht möglich. Auf diese Weise können Jugendliche ihre Verletzlichkeit verbergen, sie können dort jemand anderes sein, sie können sich nach ihrem Wunsch darstellen, sich einbilden, dass ihnen immer jemand zuhört, dass sich niemand wehrt oder zurückzieht, was immer sie sagen, resümiert Turkle. Sie leben im Grunde ein doppeltes Leben: eines in ihren digitalen Sozialkontakten, ein anderes in der analogen Welt. Und im realen Leben werden sie immer wortkarger und auch einsamer. Sie ökonomisieren sich selbst, so kann man es wohl zusammenfassen.

Welche Effekte hat ein solches Online-Leben? Sherry Turkle befürchtet, dass Folgegenerationen verlernen werden, ein Gespräch überhaupt zu bestreiten. Sie weiß, dass man schon heute jungen Anfängern im Job erst einmal beibringen muss, wie man miteinander spricht. Sie hat bemerkt, dass nicht nur manche Jugendliche kaum mehr in der Lage sind, eine Pause im Gespräch auszuhalten, und sofort ihr Handy zücken, wenn eine Unterhaltung stockt, sondern auch viele Erwachsene dieselben Nöte plagen. Kaum jemand sei noch in der Lage, Langeweile zu ertragen. Eine 30-Sekunden-Ampelphase ist ohne einen Blick auf das Telefon für viele nicht mehr durchzustehen. Gerade im Gespräch seien Verlangsamungen oder Pausen allerdings oft ein Zeichen dafür, dass sich etwas entwickelt, dass die Partner einen Gedanken gemeinsam weiterentwickeln, dass sie sich von ihren Standpunkten lösen und sich aufeinander zu oder in eine neue Richtung bewegen. Denn dies findet nur statt, wenn man die vorgefassten Stanzen verlässt, wenn gelegentlich gestottert oder gezögert wird, wenn um einen Punkt gestritten wird, wenn man sich tief auf ein Gespräch einlässt. Ein Blick auf das Handy zerstört diesen Moment sofort und unwiederbringlich.

Ich erlebe alle diese Elemente des Gesprächsverfalls in meinem persönlichen und beruflichen Umfeld – und auch bei mir selbst. Wenn Menschen sich an die Ökonomisierung des Kontaktens gewöhnt haben, erreicht man sie immer weniger, sie lassen sich immer weniger auf andere Menschen ein. Sie verlieren dann automatisch das Interesse an Gesprächen, sie beginnen, sich sehr schnell beim Sprechen mit anderen zu langweilen. Eine Folge ist, dass Gespräche an der Oberfläche bleiben oder ganz sterben. Eine andere Konsequenz ist, dass das Denken Schaden nimmt, denn dieses hängt an den Mühen der sprachlichen Formulierung und dem Ringen um Präzision in der Beschreibung von komplexen Wahrnehmungen und Gedanken. Dazu kommt ein anderer gewissermaßen lebenswichtiger Punkt: Das gemeinsame Entwickeln von Lösungen wird immer schwieriger, da Menschen die Empathie füreinander verlieren. Wenn jedoch immer weniger Menschen noch die Geduld aufbringen, ihren Gesprächspartnern zuzuhören und zu warten, bis sie ausgeredet haben, dann wird ein gemeinsames Leben und Arbeiten an ein Ende kommen.

Genau diese Schäden lassen sich schon heute bei Programmierern mit Autismusproblemen beobachten, wie selbst der Digitalisierungsfan und Silicon-Valley-Investor Peter Thiel festgestellt hat: »Wir haben all diese Internetfirmen geschaffen, und die Leute, die sie leiten, sind alle einigermaßen autistisch, wir haben so viele kleine Aspergers in diesem Geschäft, dass die Firmen sich kaum um den Vertrieb kümmern. Es liegt seltsamerweise nicht in ihrer Natur, sozial zu sein. Google ist dafür der Prototyp. Aber in einer Gesellschaft, die kaum noch funktioniert, scheint gerade dies der letzte Bereich zu sein, in dem noch große Wertsteigerungen möglich sind.« Eine erschütternde Diagnose, die hier gestellt wird – mit erheblichen Folgen für die menschliche Zusammenarbeit, wenn sie sich denn auf alle Wirtschaftsbereiche ausdehnte. Viele fordern eine immer stärkere Digitalisierung, aber niemand rechnet die Kollateralschäden in der Zusammenarbeit einmal klar aus. Jeder für sich in seiner eigenen kleinen Filterblase, das wäre keine gute Prognose für das Blühen von Wirtschaft, das gemeinsame Lösen von Problemen, das Weiterbestehen eines auch kulturell anspruchsvollen Lebens.

Die Kommunikationsveränderungen betreffen nicht nur den privaten Bereich vor allem der jüngeren Generationen, sondern sie prägen immer mehr das ganz normale Arbeitsleben, weil auch dort der Umgang mit mobilen digitalen Medien die Überhand gewonnen hat. Hier betreffen die Veränderungen praktisch alle Altersstufen. Was Sherry Turkle für amerikanische Unternehmen aller Art beschreibt, ist in Deutschland ebenfalls bereits Wirklichkeit: Die Distanzsuche zwischen den Kollegen schreitet fort. Mehr und mehr wollen Mitarbeiter Probleme per E-Mail lösen oder einer Telefonkonferenz lieber separat in ihren eigenen Büros beiwohnen. Dann können sie per Telefon an der Konferenz teilnehmen und gleichzeitig weiter an ihren Bildschirmen an anderen Dingen arbeiten. Sie sehen ihre Kollegen nicht, sie können die Kameras nach Belieben an- oder abschalten, und sie können während einer Webkonferenz nebenbei multitasken. Sie glauben fest daran, verschiedene Dinge gleichzeitig tun zu können, und begründen es damit, dass ihnen ein solches Verhalten Zeit spart.