Die andere Querfront - Gerhard Hanloser - E-Book

Die andere Querfront E-Book

Gerhard Hanloser

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Beschreibung

»Weder taugen die Antideutschen als Kritikerinnen deutscher Verhältnisse, noch ist von ihnen irgendein kluger Gedanke zu erhaschen oder eine Theorie über die hiesigen oder gar internationalen Entwicklungen; schon gar nicht über den Antisemitismus, den sie laufend beschwören. Sie sind mittlerweile Bestandteil eines politische Lager übergreifenden, Bürger- wie Staatenkriege bejahenden Blocks, der jeglicher Emanzipation, jeglichem Aufbruch, ja selbst der Verhinderung des Schlimmsten, das heißt einer autoritär-rechten Formierung von Gesellschaft und Staat, entgegensteht.« – Aus dem Vorwort Aus antideutschen Linken wurden Flüchtlingsfeinde, Souveränisten oder Verteidiger der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung. In einer historischen Skizze soll dieser beispiellose Zerfall kritischen Denkens nachgezeichnet und aufgeklärt werden. Als 1989/90 die DDR unterging, geriet auch die bundesrepublikanische Linke ins Schlingern. Mit dem größer werdenden Deutschland verstärkten sich überwunden geglaubte reaktionäre Ideologien wie Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Im Glauben, diese Übel abzuwehren, trommelten einige Intellektuelle aus der Linken für den Golfkrieg 1991, formierten sich als leidenschaftliche Bellizisten anlässlich des »War on Terror«, des Kriegs gegen den Irak 2003 und gegen Libyen durch die NATO 2011. Ein Teil der Antideutschen befleißigt sich einer ›Islamkritik‹, der auch rassistische Invektiven nicht fremd sind. Vor allem fand ein markanter Wechsel in der Bündnispolitik statt. In Zeiten der AfD und des neuen Rechtsrucks sind ausgerechnet die vormaligen ›Antideutschen‹ Fürsprecher neuer Grenzziehungen und einer restriktiven Flüchtlingspolitik. Dass der prominenteste Antideutsche der 90er Jahre, Jürgen Elsässer, mittlerweile zu dem Kopf einer neuen rechten nationalistischen Bewegung wurde, erstaunt nur jene, denen die Antideutschen ein Buch mit sieben Siegeln sind.

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Seitenzahl: 510

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Gerhard Hanloser, Jahrgang 1972, stammt aus Freiburg im Breisgau. Mit einer anarchistischen Schülerinnengruppe blockierte er 1991 unter anderem die örtliche Rüstungsfirma Litef, seinen Zivildienst hat er in der Aktion Dritte Welt abgeleistet, war 1998 engagiert im Bündnis gegen Arbeit und besetzte am 8. Mai 1999 zusammen mit sozialrevolutionären und antideutschen ›Genossen‹ anlässlich des Kosovo-Krieges das GRÜNEN-Büro an der Dreisam. 2004 brachte er den mittlerweile vergriffenen Sammelband heraus Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken: Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik. Seine kritische Beschäftigung mit dem Antideutschen-Phänomen reicht bis in die 90er zurück und lässt sich hier auch anhand einiger in den Fußnoten angegebener Schriften nachvollziehen. Er lebt und arbeitet als Lehrer und Publizist in Berlin.

Gerhard Hanloser

Die andere Querfront

Skizzen des ›antideutschen‹ Betrugs

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Gerhard Hanloser: Die andere Querfront

1. Auflage, Oktober 2019

eBook UNRAST Verlag, Januar 2021

ISBN 978-3-95405-024-6

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de – [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden

Umschlag: kv, Berlin

Satz: UNRAST-Verlag, Münster

Inhalt

Vorwort

Ein anständiger Anfang?

Provozierende Punks oder politisierende Poeten?

Nach dem Antiimperialismus …

Desinformationszentrum Dritte Welt

Avantgarde und Renegaten

›Radioten‹ gegen ›Staatsschutzlinke‹

Lieber Krieg als Friedensbewegung

Der (nicht)identitäre Adorno

Von Marx zu Scharon

Post(one)-Marxismus

Eliminatorische Deutsche im Kosovo

Durchschlagend: 9/11

Globale linke Krieger

Karrieren I: Der Antifaschist

Begriffsjoker Antiamerikanismus

Horkheimer in Bagdad

Karrieren II: Der Volkstribun

Kampf dem hässlichen linken Gutmenschen

Adieu Kameraden!

»Keine Grenze ist für immer«

Trump – the man of …?

Extrem verfassungsschutztauglich

Karrieren III: Akademiker und Multiplikatoren

Und täglich grüßt der ›Antisemit‹ von links

Antizionistische Biografien

Verdrängung und Wiederkehr des Sozialen

Der neueste Sound der Berliner Republik

Deutsche Wohlfühlräume

Literatur

Personenregister

Anmerkungen

Vorwort

Querfront ist ein Vorwurf.

Auch dieses Buch operiert mit ihm. Es führt die kritische Beschäftigung mit den Antideutschen fort, die vor 15 Jahren erstmalig in dem vergriffenen Sammelband »Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken« mündete. Mittlerweile ist viel Zeit vergangen und die Kritik muss sich zuspitzen. Wo Betrug konstatiert wird, wie im Titel dieses Buches, ist Entzug des Vertrauens geboten. Wer betrügt, irrt nicht, ihm ist jegliche Legitimität seines Anliegens abzusprechen. Weder taugen die Antideutschen als Kritikerinnen deutscher Verhältnisse, noch ist von ihnen irgendein kluger Gedanke zu erhaschen oder eine Theorie über die hiesigen oder gar internationalen Entwicklungen zu entnehmen; schon gar nicht über den Antisemitismus, den sie laufend beschwören. Sie sind mittlerweile Bestandteil eines politische Lager übergreifenden, Bürger- wie Staatenkriege bejahenden Blocks, der jeglicher Emanzipation, jeglichem Aufbruch, ja selbst der Verhinderung des Schlimmsten, das heißt einer autoritär-rechten Formierung von Gesellschaft und Staat, entgegensteht. Dieses Urteil mag irritieren. Es wird im Folgenden jedoch ausgeführt werden.

Warum eigentlich ›Querfront‹?

Historisch müsste man den Begriff ›Querfront‹ – oder ›Querfrontstrategie‹ – der Epoche der Weimarer Republik zuweisen. Hier markiert er den Versuch der Reichswehrführung, mit nationalistischen und rechtsgerichteten Sozialdemokraten, dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund und dem ›linken‹ Flügel der NSDAP um die Brüder Otto und Gregor Strasser ein Bündnis zu schmieden. Dieses sollte der autoritären Führung des Reichswehrgenerals Kurt von Schleicher eine breitere Basis verschaffen. Auf eine solche konnten sich die Präsidialkabinette ab 1930 unter Brüning und von Papen in der Krisenzeit Weimars nicht beziehen. Die Querfrontidee von Schleicher strebte einen national-autoritären Block an, der die ideologischen Trennungslinien der Parteien aufhebt und sich jenseits von links und rechts verortet. Allerdings lag diese Option historisch nur für einen kurzen Zeitraum auf dem Tisch und wurde nie Realität. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Hitler konnte im Bündnis mit den konservativen alten Eliten und mit nationalkonservativen Verbündeten die Macht an sich ziehen.

Wird heute von Querfront gesprochen, so meist als polemische Wendung, die ein tatsächliches oder angebliches Rechts-Links-Bündnis markieren und skandalisieren soll. Laut Wikipedia sind mit dem Begriff lagerübergreifende Bündnisse mit anti-emanzipatorischen inhaltlichen Schnittmengen wie Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Islamismus und Antifeminismus zu bezeichnen. Außerdem, so das Internet-Lexikon, erkläre die Extremismusforschung solche Bündnisse aus übereinstimmenden »autoritären Dispositionen, kollektivistischen Freund-Feind-Konstruktionen und verschwörungstheoretischen antisemitischen Welterklärungen« bei rechts- und linksgerichteten Bevölkerungsteilen. Für jene, auf die sich Wikipedia hier beruft, haben Querfrontler ein nationalistisches, antiwestliches, antikapitalistisches und antisemitisches Weltbild. Übereinstimmung fänden sie in antiamerikanischer und antiisraelischer Weltanschauung. Fragt man genauer nach, wer gemeint ist, so wird auf linke und rechte Nationalisten und Europagegner, Antiamerikaner und Antisemiten, Lügenpresse-Schreier und Homofeinde, friedensbewegte Aluhutträger und PEGIDA-Rassisten, Reichsbürger und Selbstverwalter sowie Wertkonservative und ostalgische Sowjetfreunde verwiesen – durchgehend natürlich in männlicher Form. Ein wahres Gruselkabinett also. Sie alle hätten sich auch 2015 in der »neuen Friedensbewegung« der Montagsmahnwachen für den Frieden zusammengefunden.

Ein Freidenker und eine Friedensfreundin indes zucken bei dieser Diagnose nur müde mit den Schultern. Denn die Friedensbewegung war seit ihrer Wiederkehr nach dem Zweiten Weltkrieg niemals eine exklusiv linke Veranstaltung; schließlich betrifft die Kriegsgefahr immer eine Mehrzahl der Menschen, auch Konservative, Mittelständler, Unternehmer. Ein Kampf gegen Krieg und für das Überleben spricht viele an. Im Übrigen: Kennt man solche Querverbindungen nicht auch aus der Anfangszeit der GRÜNEN, wo neben ehemaligen Mitgliedern maoistischer K-Gruppen und ex-militanten Spontis auch ökologische Konservative und der ein oder andere Altnazi die Partei formierten? Und müsste man dann der Skandallogik folgend auch Rainer Trampert, Thomas Ebermann, Jutta Ditfurth, ja jedem an dem Parteiprojekt der GRÜNEN Beteiligten, eine Querfrontverstrickung attestieren?

Eine Kritische Theoretikerin würde die oben angeführte Auflistung von autoritären Subjektformen vom Aluhutträger bis zum Putin-Fan auf die Verheerungen der kapitalistischen Verhältnisse selbst zurückführen. Tatsächlich hat der unter Rot-Grün restrukturierte und barbarisierte Kapitalismus in Deutschland Menschen ›freigesetzt‹, ihrer bisherigen Ordnung beraubt und der Kälte und Unwägbarkeit des Marktes unterworfen. Wenig erstaunlich, dass diese Freigesetzten zuweilen zu Obskurantismus und Verschwörungsdenken neigen und gerne bereit sind, allerhand barfüßigen oder falschen Propheten, Heilsbringerinnen und reaktionären Manipulatoren zu folgen. Ob sie freilich zu mehr in der Lage sind, als sich auf der ein oder anderen Demonstration einzufinden und auf Internetforen auszutoben, gar dazu fähig, ein einflussreiches politisches Projekt zu schmieden, mag dahingestellt sein. Im schlimmsten Fall geben sie einem neuen rechten Parteiprojekt ihre Stimmen wie der AfD, aber diese ist ja keine Querfront.

Eine Antifaschistin weiß auch, dass von der Linken noch nie eine Querfront vorgeschlagen wurde. Historisch spielte ja auch die KPD keine Bündnisrolle im Kosmos der Querfront. Wenn Teile der Linken mit Nationalismus und Antisemitismus hantierten, dann aus dem Zweck, Nationalisten und Antisemitinnen nach links ziehen zu wollen. Nutzte man dafür nationalistische Demagogie oder antisemitische Propaganda, dann mit verheerenden, sinnlosen und Vernunft zerstörenden Ergebnissen. Eine Querfront als wirkliches Bündnisprojekt mit Rechten war und ist – von der KPD 1930 bis Aufstehen heute könnte man sagen – jedoch nicht intendiert. Querfrontangebote kamen immer von rechts und wurden von der Linken stets ausgeschlagen. So bleibt der Rechten nichts anderes übrig, als in den Gefilden der linken Kapitalismus- und Imperialismuskritik zu plündern, um das eigene anti-emanzipatorische Projekt schein-materialistisch und sozial zu unterfüttern.

Warum also die Aufregung?

Der hegemoniale Diskurs über die Querfront ist eine Spielart der Extremismustheorie, eine Neuauflage des Antitotalitarismus nach dem Kalten Krieg und in prekär-neoliberalisierten Verhältnissen. Sein Gesellschaftsbild überschreitet nicht wesentlich jenes des Hufeisens, bei dem sich bekanntlich die Extreme berühren.

Die Inflationierung des Querfrontbegriffs scheint längst von der Formierung einer anderen Querfront abzulenken. Sieht man die eine um die Friedensfrage zirkulieren, so formiert sich die andere um Krieg und Bellizismus. Hält man der einen vor, antiisraelisch ausgerichtet zu sein, so ergeht sich die andere in anti-arabischem und muslimfeindlichem Rassismus und Pro-Israel-Ideologie. Heftet sich die eine autoritär an Assad und Putin, so beklatscht die andere Bush und Trump, Scharon und Netanjahu. Geriert sich die eine unpolitisch und antiideologisch, so die andere hyperpolitisch und ideologiekritisch – tatsächlich jedoch ist die eine obskurantistisch-querulantisch, wo die andereQuerfront machtrealistischen Dispositiven folgt.

Historische Analogien drängen sich hier auf. Die utopischen Entwürfe, die am Rand der Montagsmahnwachen mit Zinskritik und Freigeld aufwarteten, mögen an die ebenfalls merkwürdige, aber überbordend phantastische erste Bayrische Räterepublik 1918 erinnern, in der außer den Anarchisten Erich Mühsam und Gustav Landauer auch der Geldkritiker Silvio Gesell neben dem völkischen Sozialisten Ernst Niekisch engagiert waren. Die Attacken auf den Pazifismus und die intellektuelle Kriegsbegeisterung, die Vertreter der anderen Querfront an den Tag legen, können mit dem israelischen Faschismusforscher Zeev Sternhell in einer historischen Analogie dahingegen als Bestandteile des Frühfaschismus gedeutet werden. Schließlich hatte auch Mussolini seinen Abschied von der sozialistischen Linken genommen, indem er Gewalt, Militär und Krieg affirmierte. In ihren Attacken gegen die Friedensbewegung und mit ihrer Kriegsbegeisterung scheint die andere Querfront der historischen der 30er weit näher zu stehen als die friedensbewegte. In den Kreisen der Reichswehr erinnerte man sich schließlich gerne an das national motivierte ›Ja‹ zum Krieg der Sozialdemokraten von 1914, das sie für ein rechtes Bündnis befähigen sollte.

Während die angebliche friedensbewegt und antiamerikanisch ausgerichtete Querfront sich sozial eher unten abspielt, hat die andere Querfront eine Orientierung nach oben. Deswegen wird erstere gerne von allen möglichen Leitmedien genüsslich in ihrer Hässlichkeit ausgeleuchtete, während über zweitere der höfliche Mantel des Schweigens verhängt wird.

Die andere Querfront besteht aus Linkenhassern und im Zweifelsfall antisozialistischen Extremismusforschern, schuldbeladenen Maoisten und ewigen Antikommunistinnen, NATO-Apologetinnen, Atlantizisten und Amerikafreundinnen ohne Kenntnis des ›anderen Amerika‹. Die andere Querfront umfasst in Kollektivkategorien denkende Palästinenserhasser, so vergangenheitsbewältigende wie bedingungslose Israelsolidarische und akute Migrationsfeinde, Abendlandverteidiger und Islamkritikerinnen, Militaristen und Twitterspitzel beispielsweise von Friedensdemowatch, recherchierfaule Journalisten des Berliner Tagesspiegel, der Jüdischen Allgemeinen oder der Jungle World (neuerdings: jungle.world) mit Ressentiments gegenüber der radikalen und antiimperialistischen Linken. Wichtiger Bestandteil ist auch die Glaubensgemeinschaft der vermeintlich Guten, die dadurch nicht antisemitisch sein will, indem sie den Antisemitismus begriffs- und schamlos anderen anhängt. In Kürze: jene, die eine an Kapitalismus- und Imperialismuskritik geschulte linke Kritik dieser Verhältnisse dämonisieren und delegitimieren wollen.

In diesem Buch wird die Geschichte dieser anderen Querfront erzählt. ›Querfront‹ ist freilich ein überspannter Begriff und kann nur augenzwinkernd benutzt werden. Doch die oben skizzierten Querbezüge, Gemeinsamkeiten und Affinitäten sind frappierend. Noch erstaunlicher ist, dass dieses Milieu eine seiner Wurzeln in der sogenannten antideutschen Linken hat, die noch in den 90er Jahren als Anti-Wiedervereinigungs-Linke und als radikale kleine Minderheit gegen einen ›völkischen Konsens‹ opponierte, aber bald Allianzen und Bündnisse jenseits jeglicher linken Vernunft einging. Es wird der Ursprungsort der antideutschen Ideologie im Schwarzwald aufgesucht, von dem aus ein kleiner intellektueller Zirkel wichtige Stichworte für die antideutsche Szene der ganzen Republik lieferte. Neben dem Zielobjekt Friedensbewegung geriet rasch die gesamte Linke in den Fokus der vorgeblich radikalen Kritik der Antideutschen. Doch bereits hier, in der Konstruktion einer zutiefst reaktionären Linken, die es zu verhackstücken gilt, lag der erste Betrug der Antideutschen. Um die eigene, wenig Solidarität aufbringende Kritik als berechtigt ausweisen zu können, wurde das Objekt der Kritik vollständig verzeichnet. So muss dieses Buch auch die Geschichte der Nach-68er-Linken streifen, die von der Nach-89er-›Linken‹ zuweilen in ungerechtfertigter Weise auf den stinkenden Müllhaufen der Geschichte befördert werden sollte. Außerdem haben die Antideutschen Marxismus und Kritische Theorie vereinnahmt, sämtliche Erkenntnisse dieser theoretischen Einsprüche gegen das Bestehende allerdings zur Unkenntlichkeit verzerrt und schließlich entsorgt.

Zu guter Letzt entpuppt sich die Bezeichnung ›antideutsch‹ als bloßer Etikettenschwindel. Dies wird nicht nur in den typisch deutschen Verhaltensweisen dieser im Übrigen erstaunlich männerdominierten Publizistenszene deutlich mit ihrem Hang zum Absoluten und der Absicht, den Gegner nicht nur zu widerlegen und zu bekämpfen, sondern vernichten und ausradieren zu wollen. Nennen sich manche Antideutsche nun ›Ideologiekritiker‹, ist auch dies Betrug, denn sie erweisen sich als fleißigste Ideologieproduzenten, die jedoch auf eine gläubige Gemeinde als Absatzmarkt hoffen können. Hält die andere Querfront Linken vor, nur »deutsche Ideologie« abzusondern, trifft dieser an Marx orientierte Vorwurf doch viel mehr auf sie selbst zu, die sich um eine empirische und materialistische Untersuchung der Wirklichkeit kaum noch bemüht, sondern sich vollständig in den luftigen idealistischen und ideologischen Höhen reiner Gedankenkonstrukte bewegt. Wo die Antideutschen im Bündnis mit Rechtskonservativen und Atlantikern beständig »Antisemiten« und »Antiamerikaner« in der Linken ausmachen, befleißigt sie sich einer moralisierenden und demagogischen Kritik, keiner Spielart wie auch immer gearteter Ideologiekritik. Die Antideutschen, so wusste schon der Marxist Robert Kurz im Jahre 2003, haben immer wieder mit an den Haaren herbeigezogenen Scheinbegründungen oder mit erstunkenen und erlogenen Behauptungen ihnen missliebige Linke als Nazis und Antisemiten zu brandmarken versucht. Besonders auf die Antideutschen trifft Adornos Bemerkung zu, ein Deutscher sei ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.

Diese Streitschrift stellt zuallererst eine kritische Generationenbilanz nach 30 Jahren dar. Einen Haufen linker Dummheiten, ideologischer Konstruktionen und Täuschungsversuche wird die Leserin und der Leser auf den nächsten Seiten bewältigen müssen. Dem Betrug der Antideutschen war auch immer Selbstbetrug eingeschrieben. Der Terror der Antideutschen, im Sinne einer Politik von Furcht und Schrecken gegenüber anderen Linken, lässt sich ohne eine Reflexion auf Traum und Trauma der Linken nicht nachvollziehen. Zu beobachten ist darüber hinaus bei vielen Protagonisten eine schlichte Wanderung und ein längerer Marsch von links nach rechts. Wie immer, wenn es um politische Lebenswege geht, müssen Prozesse der intellektuellen Überforderung durch die Realität berücksichtigt werden, die Gravitation der von den Verhältnissen eingeforderten Anpassung sowie das Interesse, nicht nur direkt materiell, sondern im Sinne Pierre Bourdieus habituell einen kleinen Gewinn in dynamischen Zeiten einfahren zu können. Der Betrug liegt auch in der beharrlichen Weigerung, das eigene Scheitern an der schwierigen Aufgabe einzugestehen, weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.

Was im vorliegenden Buch geleistet werden soll, ist Geschichtsschreibung und Ideologiekritik nicht mehr der Antideutschen allein, sondern der bellizistischen Querfront, die die Linke zum innerstaatlichen Feind erklärt. Zu beobachten ist eine Aufnahme verrotteter innerlinker Szene-Streit-Module (»Antisemit!«) ins Arsenal der hegemonialen bundesdeutschen ›wehrhaften Demokratie‹. Und Personen, die der Linken entstammen und ursprünglich behaupteten, mit ihrer antideutschen Polemik die Linke besser, gesünder, stärker machen zu wollen, haben sich von diesem klebrigen Versprechen gelöst und schießen nun ihre Giftpfeile von rechts außen. Es wird endlich Zeit genauer hinzuschauen.

(und fühlen gar keine deutsche freude? gar nicht die freude der straße, der freien ankunft von stadt zu stadt, von dorf zu dorf, vom waldrand frei rauf bis zur meeresbucht? kein bisschen bunte lust mit schwestern und brüdern: alles bloß bleikalt klassenkampf in unsern köpfen? quatsch. sondern heiß. Mitten im herz. erstens. und zweitens klar freude. daß heute massenhaft menschen plötzlich frei in bewegung kommen, ihre stimme erheben, sich ihr recht nehmen, losspringen durch das bürogestein aus lüge und angst. klar mögen auch wir land ohne stacheldraht, die weite lust der eigenen wege, die wiederentdeckung des kleinen turms, der lange so fern war, zum greifen nah; einfach die offne tür: guten tag, liebe nachbarin; guten tag, lieber nachbar. so einfach mögen auch wir das.

aber so einfach ist das nicht.)

Christian Geissler [k]

So wie der bürgerliche linke Theoretiker lange Zeit auf den Borg einer Revolution gelebt hat, die nicht seine sein und sich auch nicht nach seinen esoterisch aufgeladenen bürgerlichen Kategorien richten konnte, so lebt er jetzt, desillusioniert, auf den Pump einer Leidensgeschichte, die ihn nicht nur als Opfer verschmäht, sondern ihm als Bürger in der Genealogie der Täter einen definitiv konträren Platz zuweisen muss.

Ilse Bindseil

Ein anständiger Anfang?

Als 1989/90 die DDR unterging, geriet die bundesrepublikanische Linke ebenfalls ins Schlingern. Auch wenn sie sich nicht mit dem »Kasernenhofsozialismus« (Robert Kurz) der realsozialistischen Staaten gemein gemacht hatte, war es doch absehbar, dass der Linken nun ein eisiger Wind entgegenschlagen würde. Mit dem größer werdenden Deutschland verstärkten sich überwunden geglaubte reaktionäre Ideologien wie Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Das schlagartig unter Federführung des ewigen Bundeskanzlers Helmut Kohl dicker gewordene Deutschland stellte eine eminente Bedrohung dar, nicht nur für andere Länder, nicht nur für alles, was als ›undeutsch‹ erachtet werden konnte, sondern eben auch für die Linke selbst. In den frühen 90er-Jahren war nicht zuletzt deshalb eine sich selbst als ›antideutsch‹ definierende Stimmung und Haltung in der radikalen Linken weiter verbreitet, als gedacht. Dietmar Dath meinte, die sogenannte »antideutsche Linke« der frühen Neunziger dürfe »in der Rückschau als ein in wesentlichen Zügen anständiger, in seiner negativen Fixierung aufs Deutsche allerdings arg patriotisch überformter Versuch gelesen werden, den ›Antiimperialismus‹ der bundesrepublikanischen linken Vorzeit zu überwinden«.[1] Allerdings war es weniger die Kritik des ›Antiimperialismus‹, sondern es waren vielmehr die Umstände und Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung nach dem Anschluss der DDR, die für radikale Linke eine antideutsche Positionierung notwendig werden ließ. Die Anfangsparole »Nie wieder Deutschland!« schien nicht nur affektiv berechtigt angesichts einer Explosion von Alltagsrassismus, die der deutschen Wiedervereinigung auf den Fuß folgte. Die Pogrome von Rostock und Hoyerswerda, die sprunghafte Zunahme antisemitischer Friedhofsschändungen und ein Erwachen neuer Großmachtbestrebungen zeigten, dass die Alarm schlagende Deutschland-Kritik zur Wiedervereinigung, die im Ausland zu vernehmen war und von relevanten Teilen der Linken artikuliert wurde, prophetisch war. Wer sich nicht auf der großen Frankfurter Demonstration am 12. Mai 1990 unter der Parole »Nie wieder Deutschland! Demonstration gegen deutschen Nationalismus, gegen die Kolonialisierung Osteuropas und gegen die Annexion der DDR«[2] einfand, zu der nicht nur der Frankfurter Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD, sondern auch die Hamburger und Münsteraner Grün-Alternative-Liste, die Kölner Nicaragua-Koordination, die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands und der Duisburger Antiimperialistische Kongress aufgerufen hatten, war vielleicht, wie der Autor dieser Zeilen, ganz lokalistisch dem Aufruf der Antifagruppe Freiburg, dem Bund Westdeutscher Kommunisten, dem Motorradclub Kuhle Wampe und dem u-asta gefolgt und fand sich am Dienstag, den 30.1.1990, am Bertoldsbrunnen unter der Parole »Nie wieder Großdeutschland« ein.[3] Oder er bzw. sie suchte am 1.12. in aller Kälte den Platz vor dem Kaufhaus Schneider in Freiburg auf, um zu konstatieren:

»Das neue Deutschland ist wieder eine souveräne Großmacht. In den 2+4-Gesprächen und dem KSZE-Treffen wurde dem (anscheinend) vorbehaltlos zugestimmt. Es werden der deutsche Faschismus, der 2. Weltkrieg und seine Folgen zu den Akten gelegt. Damit wird die nie ernsthaft in Angriff genommene Auseinandersetzung mit der Geschichte Deutschlands endgültig verneint. Das ist der fruchtbare Boden für die Offensive von deutschem Nationalismus und Rassismus.«

Und die Antworten atmeten den Geist der Subversion und des linken Radikalismus:

»Wahlboykott, Streik, Demos, alltägliche Verweigerung sind wichtige Negationen des Bestehenden. Ebenso muß die Verwirklichung der Utopie einer befreiten Gesellschaft versucht werden. Es ist alles dran zu setzen, daß eine radikale außerparlamentarische Opposition, ein Widerstand von unten gegen das kapitalistische System Konturen annimmt … Widerstand ist die Verweigerung, die Sabotage. Widerstand ist Häuserbesetzen, verstopfte stinkende Straßen zu blockieren, sich die Plätze und Dinge selbstbestimmt anzueignen. Widerstand ist menschliche Wärme, das Zerbrechen der Vereinzelung. Widerstand ist Solidarität mit denen von uns, die sie in die Knäste stecken, ist Solidarität überhaupt.«[4]

Die Sprache und die aufrufenden Gruppennamen verraten es: Nahezu das gesamte Spektrum des radikalen linken Milieus, auch das antiimperialistische, war »gegen Großdeutschland« und fürchtete ein neues »4. Reich«.

In den Anfangsjahren der 90er war die antideutsche Kritik also noch eine Form radikalisierter linker Politik angesichts einer sie überrollenden historischen Entwicklung. Demnach spitzte die antideutsche Linke in ihrem Bedürfnis, die Wiedervereinigung als offizielles Staatsprojekt abzulehnen, die im linken Milieu stets eingeübte Subversionspraxis und Haltung radikaler Kritik am Bestehenden lediglich auf Deutschland und die neue Situation zu. Dass die Linke derart mobilisierte, war nicht verwunderlich, schließlich stand bereits am Anfang der Neuen Linken das Entsetzen über die von Deutschland begonnenen zwei Weltkriege. Die westdeutsche Linke war im Kalten Krieg bemüht, die revanchistische Beantwortung der deutschen Frage abzuwehren, wie im Kursbuch, der wichtigsten, von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Publikation der undogmatischen Linken, ersichtlich wird:

»Nach zwei Weltkriegen hat die ganze Welt die deutschen Querelen satt; Mitgefühl oder gar Mitleid wird niemand aufbringen für eine Nation, die sich und ihre Nachbarn, aus welchen Gründen auch immer, der Gefahr eines dritten Weltkrieges aussetzt.«[5]

Mit dieser Aussage stand Enzensberger nicht allein. Erich Fried hatte beispielsweise 1978 in Wagenbachs Taschenbücherei 100 Gedichte ohne Vaterland veröffentlicht – und die Mehrheit der Neuen Linken, vor allem ihre antiautoritäre und antistalinistische Fraktion, hatte mit der eigenen Nation nichts oder zumindest nichts Gutes im Sinn.[6] Der für die alte wie die entstehende neue Linke wichtige Publizist Erich Kuby, der sich kämpferisch für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aussprach und eine vehemente Gegenstimme zum staatsoffiziellen Antikommunismus der BRD darstellte, formulierte bereits 1959 in seinem Buch das ist des Deutschen Vaterland. 70 Millionen in zwei Wartesälen prägnant, dass in der BRD »die Kräfte die Oberhand« gewinnen würden, »die die Suppe ihrer revisionistischen und nationalistischen Politik am antikommunistischen Feuer kochen wollen«, wobei die Bundesbürger »vom Wohlstand verblendet, ihnen dazu die demokratische Legitimation geben«.[7] Erich Kuby attackierte die beständige Delegitimation der DDR, das willige Aufnehmen des alten Nazi-Personals in das Wirtschaftswunderland und die Dominanz von militaristischem und chauvinistischem Denken in den Institutionen der BRD. Kubys Buch endet mit den impressionistischen und wenn man will antideutsch-antifaschistischen Sätzen:

»Mit der Fahne der Freiheit in der Hand kehrt der unveränderte deutsche Mensch, der als Nazi von der Geschichtsfläche verschwunden war, auf sie zurück (…) Die Fahne der Freiheit in den Händen des deutschen Menschen verdeckt, daß er nationalistische Machtpositionen aufbaut.«[8]

Welche Sätze wollten jedem Linken im Jahre 1989 passender erscheinen als jene aus dem Jahre 1959?

Und so bäumte sich 1989/90 also die nationalismusferne, antifaschistische Linke auf – gegen die Bedrohung durch den deutschen Nationalismus.

Doch in den darauffolgenden 10, 20 und 30 Jahren gab es eine so rasche und schnelle Entmischung und Neuzusammensetzung dieser Linken, eine Verabschiedung alter gemeinsamer Standpunkte und Konsenspositionen, wie man es in dem Umbruchsmoment 1989/90 und den noch im Zeichen des Linksaktivismus stehenden Jahre danach nicht für möglich gehalten hätte.

Zwischenzeitlich trommelten Intellektuelle aus der Linken für den Golfkrieg 1991. So verkündete der Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza anlässlich des US-Kriegs gegen Saddam Hussein, »daß hier einmal aus falschen Gründen und mit falschen Begründungen das Richtige getan zu werden scheint«.[9] Krieg sei notwendig zum Schutz Israels. Zu behaupten, dass »Nie wieder Krieg« und »Nie wieder Auschwitz« unvereinbar seien, gehörte damit zum integralen Bestandteil der Kriegslegitimationen. »Es kann schlimmere Übel geben als den Krieg«[10], darin waren sich plötzlich linke Staatskritiker und liberale Staatsphilosophen wie Jürgen Habermas einig. Als aber schließlich angesichts der jugoslawischen Zerfallskriege und des ersten deutschen Angriffskrieges nach 1945 aus dem Mund des ersten grünen Außenministers Fischer ähnliche Kriegsbegründungen zu vernehmen waren wie im Golfkrieg von den Israel-solidarischen linken Bellizisten, war die große Unüberschaubarkeit ausgebrochen. Gelang es der linken Monatszeitschrift Konkret 1991 noch nicht, ihre Leserschaft auf Kriegskurs zu bringen, wie die Flut empörter Leserbriefe und Abonnementkündigungen zeigte, so vollbrachte Joschka Fischer diese Meisterleistung in Bezug auf seine Partei auf einem außerordentlichen Parteitag in Bielefeld 1999:

»Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen. Deswegen bin ich in die Grüne Partei gegangen …«[11]

In der Diskursfigur »Krieg ist besser als Auschwitz« formierte sich eine flottierende prowestliche Front, die ihre Markierung in einem antifaschistisch begründeten Bellizismus und der Israel-Unterstützung vornahm. Später fanden in dieser Logik Antideutsche Gefallen am War on Terror in der Folge von 9/11, sprachen sich aus für den Krieg gegen den Irak 2003 und den Krieg gegen Libyen durch die NATO. Eine besondere Rolle spielte hier die sich um Justus Wertmüller formierende Zeitschrift Bahamas aus Berlin. Dieser Teil der Antideutschen befleißigt sich sodann einer »Islamkritik«, der auch rassistische Invektiven nicht fremd sind. Einst hielten die Antideutschen anderen Linken vor, sie würden die deutschen Nazis umwerben, wenn sie nicht wie sie einen ungebrochenen völkischen Konsens konstatierten. Außer im Rückzug in die Studierstube und gelegentliche Entrüstung im Chor der ›Schämt euch!‹-Schreie sollten subversive Praxis und linke Bewegungsversuche keine Geltung haben dürfen. Jetzt haben einige Antideutsche durchaus Verständnis für die AfD, wenn diese Israel bedingungslos unterstützt, und für die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA), wenn sich hier eine ›Islamkritik‹ artikuliert. Dem offenkundigen Rassismus und der Anti-Islam-Hetze wird kein ›Schämt euch!‹ entgegengebrüllt. Für einen Großteil der Antideutschen war der klassische Linke das Objekt seiner Abarbeitung; längst war man darin eingespielt, die Linke als antisemitisch, völkisch, nationalistisch und antiamerikanisch zu bezeichnen. In diesem Verdikt – besonders in Antiamerikanismus- und Antisemitismus-Vorhaltungen – traf sich der Antideutsche mit dem Rechten, der mit Springers Welt und Joachim Fest den linken Antiimperialisten schon immer gerne zum neuen Nazi erklärte. Damit lag ein markanter Wechsel in der Bündnispolitik auf der Hand und konservative und offen anti-linke Publizistinnen und Wortführer, Medien und politische Kräfte schienen einem Teil der ›Antideutschen‹ akzeptabel zu sein, um – soweit der beibehaltene alte antifaschistische Reflex – Schlimmeres und Schlimmstes zu verhindern. Der Sommer der Migration 2015 stellte für einen Teil des vormalig antideutschen Milieus ein Kairos dar, der Moment forderte eine Entscheidung. Sie fiel zugunsten des Staates aus. Aus traditionell israelfeindlich eingestellten Ländern, so beschwor man, rückten nun antisemitische Migranten auf Deutschland zu. Diesem Ausnahmezustand war in den Augen der ideologisch aufgerüsteten ehemaligen Linken nur mittels Flüchtlingsabwehr als praktischem Anti-Antisemitismus zu begegnen. Der Betrug der Antideutschen ratifiziert sich nicht zuletzt in dieser rabiat deutsch-souveränistischen Selbstpositionierung. Andere Ex-Antideutsche zelebrieren dafür gelegentlich vor dem Brandenburger Tor und täglich in ihren Redaktions- und Wohnstuben, in denen ein reichlich affirmatives laues Lüftchen weht, den Sieg über den ›völkischen Antikapitalismus‹, was immer das auch sein mag. Sie preisen die bürgerlichen Vermittlungsformen und haben insgesamt Frieden mit den kapitalistischen Verhältnissen allgemein und denjenigen in Deutschland im Besonderen gemacht.[12] Prodeutsch sind sie zuweilen in entspannt globalisiert-neoliberaler Weise und innerhalb der Ordnung der ›Freiheitlich-demokratischen Grundordnung‹. Sie skandalisieren im Verbund mit den Leitmedien der Bundesrepublik, dass es eine gefährliche ›Querfront‹ als weltpolitisches Phänomen gäbe, die antiwestlich, national und sozial ausgerichtet sei.[13] Interessanterweise entstammt einer der prominentesten Querfrontstrategen aus ihrem eigenen antideutschen Milieu. Jürgen Elsässer, führender Antideutscher der 90er-Jahre, ist mittlerweile zu einem Kopf einer neuen rechten nationalistischen Bewegung geworden und agitiert mittels seiner Zeitschrift Compact gegen Flüchtlingsunterstützerinnen und die angeblich Volk und Familie zersetzenden Ausflüsse von 1968. Ausgerechnet der Kopf der Antideutschen versuchte circa drei, vier Jahre eine klassisch antiamerikanische Querfront aufzubauen. Ab 2015 war dieses Projekt allerdings gestorben. Warum? Es fanden sich schlicht keine Linken, die diesem antiemanzipatorischen Projekt zuarbeiten wollten. Elsässers Compact ist ein äußerst rechtes Organ – und nichts weiter. Er kämpft für eine Souveränität Deutschlands und den Stopp des »Asyltsunami«, wobei ihm von einer ehemaligen Mitstreiterin aus radikal linken Zeiten vorgehalten wird, bei öffentlichen Auftritten nicht nur mit antisemitischem Duktus zu spielen, sondern sich wie ein »glühender Antisemit« zu gebärden[14]. Verheerender hätte es nicht kommen können, und augenzwinkernd könnte man sich und Dietmar Dath fragen, warum die ›Antideutschen‹ denn ganz offensichtlich nicht ›anständig‹ geblieben sind, oder besser, warum ihre ›Anständigkeit‹ sich so typisch deutsch ausmacht, dass einen zuweilen das Entsetzen packt.

Provozierende Punks oder politisierende Poeten?

Von Anfang an hatten auch subkulturelle und pop-affine Gruppen des linken Milieus in dieser Anti-Wiedervereinigungs-Linken einen Platz. Der Hamburger Publizist Günther Jacob, ein wichtiger Kopf einer Symbiose von marxistischer Kritik und nicht-konservativer Kulturkritik, die das subversive Potenzial des Pop ausloten will, schilderte, dass sich radikale Linke verschiedener Fraktionen im Dezember 1989 auf Initiative des Roten Forums in Hamburg zu einer Diskussionsrunde namens ›Nie wieder Deutschland‹ trafen. Er machte auf das große Konzert im Anschluss an die Frankfurt-Demo vom 12. Mai aufmerksam, für die im Vorfeld ebenfalls musikalisch geworben wurde: »Für diese Demonstration findet am 7. Mai in der Fabrik ein Benefizkonzert unter dem unzeitgemäßen Titel ›Schnauze Deutschland‹ statt, bei dem populäre Undergroundbands wie die Kolossale Jugend oder die Goldenen Zitronen auftreten, und auch HipHop aufgelegt wird.«[15]

Pop fungiere gleichsam als Teil des Gründungsmythos der Berliner Republik, und diesem miesen prodeutschen musikalischen Gemisch, für das die »Arschkriecherballade« (Wiglaf Droste) Wind of Change der Hardrockformation Scorpions Prototyp war, sollte die Parole ›Kill the Nation with a groove!‹ entgegengehalten werden. Diesen Impetus nahmen später andere Autoren wieder auf, wie der bereits im Alter von 42 Jahren verstorbene Musiktheoretiker Martin Büsser, der beispielsweise 2005 das Buch-CD-Projekt I Can’t Relax in Deutschland gegen den Pop-Nationalismus in Deutschland herausbrachte und sich gegen eine Quotierung deutscher Musik in Radios aussprach.

Einen anständig subversiven Anfang hatte die antinationale und antideutsche Linke, als sie die Reste der verbliebenen Neuen Linken mit poplinken Skills und Habitusformen kombinierte und die Kampagne ›Etwas besseres als die Nation‹ schuf. Angeführt wurde dies offensichtlich von Kadern der K-Gruppen-Zeit wie Jacob, dessen politische Geschichte bis in die 70er-Jahre reicht. In einer trickreichen avantgardistischen Geste nannten sich diese Zirkel in Hamburg, München, Köln, Frankfurt am Main, Düsseldorf Anfang der 90er ›Wohlfahrtsausschüsse‹ und wollten dem neuen deutschen Normalzustand, in dem eine »kaum verhüllte große Koalition aus Parlament, Naziterror, Normalbürgern, Polizei und Medien in einem zynischen Zusammenspiel gemeinsam mit der ›Lösung der Asylantenfrage‹ beschäftigt war«, vor allem auf künstlerische Weise entgegentreten.[16]

Einer der größten und ersten Wohlfahrtsausschüsse war in Hamburg ansässig und agierte ab Dezember 1992. An ihm beteiligten sich zeitweise zahlreiche Personen aus der Hamburger Musikszene, so zum Beispiel Bands wie die Absoluten Beginner, Blumfeld, Die Goldenen Zitronen, Die Sterne oder Cpt. Kirk &. Dieser Wohlfahrtsausschuss verstand sich als »ad-hoc-Gruppe von Musikern, DJs, Künstlern, Autoren und Journalisten, um den faschistischen Angriffen auf Migranten, Schwule, Behinderte, Linke und auf subkulturelle Zusammenhänge zu entgegnen«. Auf den Hamburger Wohlfahrtsausschuss ging auch eine Diskussions- und Vortragsreise durch Ostdeutschland (Rostock, Leipzig, Dresden) unter dem Titel »Etwas Besseres als die Nation« zurück, die von ostdeutschen Linken teilweise heftig kritisiert wurde, weil sie diese jakobinisch-antinationalen Butterfahrten als paternalistisch empfanden, als überhebliche Geste von Westlinken, die sich für die Zustände im Osten und die dortige Geschichte der linken Subversion nicht interessierten. Wie sollte auch ein Gespräch zwischen den jakobinischen West-Antideutschen und ostdeutschen Hausbesetzerinnen und Antifas zustande kommen, wenn Erstere das gesamte »Anschlussgebiet« als konterrevolutionär-bäuerliche Vendée wahrnahmen?[17]

Der Kölner Wohlfahrtsausschuss speiste sich teilweise aus Personen aus dem Umfeld der damaligen Spex- bzw. Texte-zur-Kunst-Redaktionen. Er organisierte vom 25. bis 27. Juni 1993 den Ersten Kongress zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels. Ein Tübinger Wohlfahrtsausschuss sprengte 1995 das traditionelle, politisch stets konfliktbeladene ›Maieinsingen‹ der örtlichen Studentenverbindungen. Als die Veranstaltung 1995 begann, intervenierte der dortige Wohlfahrtsausschuss durch Mittel der Kommunikationsguerilla: Als die Verbindungen zu singen begannen, wurden Bilder von Männerbünden wie Turnvereinen, aber auch von NS-Kriegsverbrechern wie Hanns-Martin Schleyer auf die Stiftskirche projiziert, untermalt mit lauter Klaviermusik.

Günther Jacob ist nicht nur Chronist des antinationalen und popsubversiven Nach-89er-Aufbruchs, sondern er war auch Theoretiker, Aktivist und Stichwortgeber der antideutschen Szene. In den 1970er-Jahren (bis 1976 ) war Jacob Mitglied im Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands (KABD), dann in der von ihm betriebenen Abspaltung Kommunistischer Arbeiterbund/Revolutionärer Weg und ab 1979 im 1985 aufgelösten Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW). Von ihm stammen Broschüren mit den Titeln wie Wer gewinnt wen? Die Opportunisten betreiben die Anpassung der Arbeiterbewegung an den Liberalismus von 1978.[18]

Der ehemalige Maoist, Hip-Hop-Kenner und DJ lieferte Anfang der 90er in 10 Teilen in der marxistischen Hannoverschen Zeitschrift SPEZIAL – links & radikal eine anregende und auf der Höhe der Zeit sich bewegende soziologische Analyse der heutigen »Lebenswelten« aus marxistischer Sicht, die heute noch von Interesse ist.[19] Später legte er die Schrift Agit-Pop – Schwarze Musik und weisse Hörer. Texte zu Rassismus und Nationalismus, Hip Hop und Raggamuffin vor. Darin waren Texte aus der Kölner Musikzeitschrift Spex, aber auch aus Konkret versammelt, in denen Jacob auf der einen Seite den Differenz- und Identitätswahn wie den zuweilen aufflackernden Antisemitismus im Hip-Hop kritisierte und andererseits zu beweisen versucht, dass auch die nun »neu ihrer Identität sich versichernden Deutschen den ›schwarzen Separatismus‹ gut verstehen können«[20]. In dieser eher witzig gemeinten Bemerkung ist bereits das frühe antinationale Missverständnis über ›Identitätspolitik‹ enthalten. Denn nationalistische Deutsche im Identitätsrausch jagten in den 90ern eher Schwarze, als sich für deren vermeintlichen, identitären Separatismus zu interessieren oder ihn gar zu verstehen. Rassistisch identifizierte und angegriffene People of Colour wehrten sich zuweilen mit stolzen antirassistischen Identitätsbekundungen, denen eine spezifische Erfahrung im Alltagsleben eingeschrieben war. Jede Form der ›Identität‹ sollte allerdings unterschiedslos zersetzt und kritisiert werden, ginge es nach den deutschen Antinationalisten, sei es diejenige der antiimperialistischen Szene, die an ›revolutionärer Identität‹ festhielt, sei es jene der wirklich von Rassismus Betroffenen wie der Black Panther, sei es jene der wiedervereinigten Deutschen. Dass sich so unter der Hand eine neue und wahrlich absurde Identitätspolitik formte, nämlich diejenige, sich als deutscher metropolitaner Weißer zum alle Identitäten zerstörenden ›Antideutschen‹ – jenseits von Raum, Zeit und Biografie – zu erklären, fiel gar nicht mehr auf.

Treffende Kritik wie haltlose Überzeichnung lagen bei Jacob und seiner anti-identitären und antinationalistischen Polemik immer nahe beieinander. Günther Jacob verabschiedete sich gegen Ende 1995 aus der Redaktion der antinationalen Zeitschrift 17°C, neben Kritik & Krise der Initiative Sozialistisches Forum (ISF) aus Freiburg und der Bahamas der Gruppe K aus Berlin ein weiteres, wenn auch nicht der Kritischen Theorie verpflichtetes antideutsches Kritikprojekt. Seine antideutsche Phase ging von Anfang der 90er-Jahre bis Anfang der 2000er-Jahre. Auf dem Hamburger Konkret-Kongress vom 26.1.02 diskutierte Jacob mit Jürgen Elsässer, Hermann L. Gremliza, Thomas von der Osten-Sacken und Thomas Ebermann und Rainer Trampert auf dem Podium. Neben einigen Differenzierungsversuchen bemerkte er, die Linke habe zwei unvereinbare Register zu ziehen, wie in einem Kongress-Bericht aus dem Wildcat-Zirkular protokolliert: »Klassenkampf respektive Antiimperialismus (beides in Register I) und das Wissen von Auschwitz und dem NS (Register II), beides könne man nicht vermitteln (weil Kategorien aus Register I wie Interesse usw. Register II uns nicht verstehen lässt).«[21] Danach wurde es still um Jacob.

Etwa zehn Jahre davor hatte Jacob seinen Anteil an wichtigen antideutschen Parolen. So transformierte er 1993 die subversiv-subkulturell Tradition der Ablehnung Deutschlands, für die besonders prominent die Hamburger Punk-Band Slime mit ihrem Song »Deutschland muss sterben …« steht, ins Politische.

»›Schnauze Deutschland‹ ist darüber hinaus die Absage an die linke Tradition, den besseren Deutschen herauskehren zu wollen. Als Berthold (!) Brecht im Exil von der Bombardierung Dresdens hörte, empfand er Genugtuung. Brecht war er selbst und kein Deutscher.«[22]

Einige Jahre später machten antideutsche Antifas mit Bekenntnissen wie »Bomber Harris, do it again!« und »No tears for Krauts« im öffentlichen Raum auf sich aufmerksam. Sie feierten damit den britischen Luftmarschall Arthur Harris, der die Planungen für die Flächenbombardierung deutscher Städte maßgeblich mitbestimmte. Das Bejubeln der Bombardierungen sollte gegen einen »Opferkult der Deutschen« gesetzt sein, der von der bürgerlichen Mitte bis zu Rechtsradikalen geteilt werde und lediglich die Täterschaft der Deutschen im Zweiten Welt kaschiere. In diesen Schlagworten und Parolen erkennt sich noch Jahre später eine identitäre ›antideutsche‹ Szene wieder. So hatte recht medienwirksam im Februar 2014 die Piratenpolitikerin Anne Helm die Aufschrift ›Thanks Bomber Harris‹ auf ihren Oberkörper gemalt und sich zusammen mit einer Femen-Aktivistin in Dresden fotografieren lassen. Die Piratenpolitikerin Julia Schramm kommentierte die Aktion mit dem Tweet »Sauerkraut, Kartoffelbrei – Bomber Harris, Feuer frei«.[23]

Zurück gehen diese Parolen auf das Gedenkjahr 1995, in dem anlässlich der Debatten um eine antideutsche Erinnerungspolitik und angemessene Position zum Kriegsende in Deutschland der ehemalige Kader des norddeutschen Kommunistischen Bundes (KB), Matthias Küntzel, die Pro-Bombardierungsposition zuspitzte:

»Sage mir, wie Du die Tätigkeit eines Bomber-Harris bewertest, und ich sage Dir, auf welcher Seite Du stehst: Entweder auf der Seite der Opfer des NS, die die Bombenangriffe auf deutsche Städte herbeigesehnt hatten, oder auf der Seite der Täter des NS und ihrer de facto unangefochtenen Massenbasis«.[24]

Diese positive Bewertung der Kriegsführung der Alliierten kommt allerdings bereits in früheren Statements des Hamburger DJ Jacob vor. Mit Jacob und Küntzel machen sich hier zwei Exponenten der maoistischen K-Gruppenszene ans Werk und überführen die aus dem Punk geborene Subversionsgeste ›Deutschland muss sterben, damit wir leben können!‹ ins Identitäre: Sag mir wo du stehst! Punks agierten allerdings bislang immer in einer situationistischen und antipolitischen Subversionsgeste. Ein englischer Punk wollte zuweilen die spießigen Tory-Eltern mit Hakenkreuz auf der Lederjacke provozieren, Musiker aus jüdischen Elternhäusern nannten sich The Dictators und spielten wenig sensibel mit Naziutensilien. Indem sie die Zeichen und Symbole des Feindes verwendeten, zeigten sie an, dass sie den Generationenvertrag mit den Eltern kündigten.[25] Bei den Frühantideutschen hatte die Entdeckung der Feindposition jedoch nichts Spielerisch-Subversives mehr. Jacob lag mit seiner Vereinnahmung des kommunistischen Autors Bertolt Brecht für seine Pro-Bombardierungsposition auch gehörig falsch. Zwar ist von Brecht folgende Gedichtzeile überliefert:

»Das sind die Städte, wo wir unser ›Heil!‹/Den Weltzerstörern einst entgegenröhrten./Und unsere Städte sind auch nur ein Teil/Von all den Städten, welche wir zerstörten.«[26] Brecht ist gleichwohl ein schlechter Zeuge für eine Affirmation von Bomber Harris, schließlich urteilte er auch: »das herz bleibt einem stehen, wenn man von den luftbombardements berlins liest. da sie nicht mit militärischen operationen verknüpft sind, sieht man kein ende des krieges, nur ein ende deutschlands.«[27] Der bessere antideutsche Zeuge wäre der Schriftsteller Thomas Mann, der sich im amerikanischen Exil als antideutsch-antifaschistischer Schriftsteller vollständig hinter die Kriegstaktik der westlichen Alliierten stellte, die er als »Sühne« wahrnahm. Anlässlich der Bombardierung seiner Heimatstadt Lübeck sprach er im April 1942 über Äther zu seinen ehemaligen Landsleuten und rechtfertigte die Bombenangriffe nicht nur, sondern wünschte sie sich nach anfänglichen Beklemmungen förmlich herbei.[28] Auch war Mann offensichtlich mit der Unterscheidung zwischen Hitler auf der einen Seite und Deutschland beziehungsweise »das deutsche Volk« auf der anderen Seite, die viele Exilanten vornahmen, alles andere als einverstanden. Er attackierte wohl auch Brecht für dessen Versuche, »etwas für deutschland (und gegen hitler)« zu tun, denn für Brecht waren auch weite Teile der Deutschen dem terroristischen Regime der Nazis unterworfen.[29] Brecht schrieb im Dezember 1943 eines seiner bittersten Gedichte – gegen Thomas Mann. Es trug die Überschrift »Als der Nobelpreisträger Thomas Mann den Amerikanern und Engländern das Recht zusprach, das deutsche Volk für die Verbrechen des Hitlerregimes zehn Jahre lang zu züchtigen«, es beinhaltete den Vers: »Züchtigt den Gekreuzigten nur weiter!/ Züchtigt ihn im Namen des Ungeists!/Züchtigt ihn im Namen des Geists!«

Und gemünzt auf Thomas Mann: »Die Hände im dürren Schoß/ Verlangt der Geflüchtete den Tod einer halben Million Menschen/ Für ihre Opfer verlangt er/ Zehn Jahre Bestrafung. Die Dulder/ Sollen gezüchtigt werden.«

Davor hatte Thomas Mann seine Unterschrift unter eine Resolution bekannter deutscher Schriftsteller und Wissenschaftler zurückgezogen, die von Brecht initiiert wurde und sich für einen Kampf bis zur bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands aussprach, aber auch gegen die Kollektivschuldthese. Brecht und die Unterzeichner machten einen Unterschied zwischen dem Hitlerregime und den mit ihm verbundenen Schichten auf der einen und dem »deutschen Volk« auf der anderen Seite. Einer solchen Sicht konnte Mann nicht folgen. Interessanterweise war Thomas Mann nicht immer ein solch radikaler Kritiker der Deutschen. Noch mit seiner Schrift »Betrachtungen eines Unpolitischen« von 1918 war er mit nationalistischen und antiwestlichen Bekenntnissen zum Deutschtum tief im völkischen Sumpf versunken. »Die Tagebücher aus den Jahren 1918-1920 zeigen einen reaktionären, antisemitischen und antidemokratischen Thomas Mann, einen kleinlichen Hausvater, ängstlichen Villenbesitzer und desorientierten Bürgerkünstler.«[30] Erst im amerikanischen Exil erfolgte die 360-Grad-Wendung des Schriftstellers zum Antideutschen. Bei ihm vollzog sich angesichts der Verbrechen des Regimes und des ausbleibenden Widerstands eine Art »Entidentifikation mit dem Staat und mit dem deutschen Volk«[31].

Ist die antideutsche Linke also eine Thomas-Mann-Linke? Tatsächlich dachte sie in nationalen Kollektiven – und wollte das verachtete deutsche ›Volkskollektiv‹ von England und den USA gezüchtigt sehen. Sie distanzierte sich vom Klassenkampfmarxismus, der den Kampf zwischen oben und unten, zwischen Beherrschten und Herrschern, zwischen Kapitalisten und Arbeiterinnen betont, wie es auch Brecht immer tat, auch wenn er von der »knechtseeligkeit der deutschen« wusste.[32] Im Rückblick erschien vielen älteren Semestern des Antideutschtums ihre eigene maoistische Phase als ›populistisch‹, wenn nicht gar ›völkisch‹, man habe sich in der positiven Agitation des deutschen Arbeiters versucht, ihn umworben, im Befreiungsnationalismus und Antiimperialismus lediglich antiwestliche und antiamerikanische Effekte ausgelebt.[33] Diese biografische Vorgeschichte empfand die Nach-Wiedervereinigungs-Linke zuweilen als peinlich und wollte sie nun ähnlich vehement revidieren wie Thomas Mann seine völkische Phase. Erhebt man diese Beobachtung zur Hypothese, dann wären die Antideutschen lediglich ein Ausdruck eines ja erfreulichen Werdegangs »von rechts nach links«[34] und kein schändliches Querfrontprojekt. Doch emanzipierten sich die Antideutschen tatsächlich zum Besseren? Einfacher gefragt: Kamen sie von rechts und gingen sie nach links?

Nach dem Antiimperialismus …

Die sozialistischen Revolutionen sowjetischer, chinesischer oder kubanischer Art waren allesamt antikolonial. Von ihnen ging ein Weckruf aus, der alle drei in Abhängigkeit gehaltenen Kontinente bewegte. Der kommunistischen Linken eröffnete sich dank des Antikolonialismus eine neue Welt, die linke und sozialistische Kritik löste sich vom Eurozentrismus, verschärfte den Kampf gegen Rassismus und konnte ihren Universalismus erweitern und vertiefen. So gründete sich 1926 in Berlin die erste bedeutende internationale Plattform der Befreiungsbewegungen, die Liga gegen koloniale Unterdrückung. Dem gingen weltweite Kämpfe der Kolonisierten für nationale Unabhängigkeit und Gleichberechtigung voraus wie in Marokko gegen Spanien und Frankreich, die Revolution in China Mitte der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts, der Aufstand in Indonesien sowie Revolten in Syrien und Nicaragua. Soweit sich die Parteikommunisten antikolonial ausrichteten, war ihr Interesse nach der Stalinisierung der Kommunistischen Parteien allerdings immer geprägt von der Außenpolitik und der angestrebten Hegemonie der Sowjetunion. Den klassenübergreifenden Charakter des Antiimperialismus, der die marginale Arbeiterklasse in ein Bündnis nicht nur mit der Masse der Bauern, sondern auch mit ›unterdrückten Völkern‹ führen und später bürgerliche Bündnispartner gewinnen wollte, kritisierten bereits recht früh Vertreter des Rätekommunismus.[35] Für die Rätekommunisten war das nationale Bündnis von Arbeitern, Bauern und »unterdrückten Völkern« ein Beweis für den durchweg bürgerlichen Charakter dieser Revolutionen. Auch Rosa Luxemburg kritisierte die Parole des »Selbstbestimmungsrechts der Völker«, welche die Bolschewiki ausgaben. Doch Rosa Luxemburg blieb ungehört, stattdessen konnten sich diverse Kommunismen in einer leninistisch-bolschewistischen Form überall dort ausbreiten, wo sie den antikolonialen und antiimperialistischen Kampf zu ihrer Sache erklärten und unverhohlen den Nationalismus der ›unterdrückten Völker‹ zu ihrem Anliegen machten.

Später wandte sich der moskautreue Antiimperialismus hauptsächlich gegen den nach dem Zweiten Weltkrieg England ablösenden Hegemon USA, der mit globalem antikommunistischem Anspruch jegliche Sphärenerweiterung des sozialistischen Blocks, aber auch eigene Wege von unbotmäßigen Staaten mit äußersten Mitteln bekämpfte. Damit folgte dieser von Moskau ausgehende Antiimperialismus der Dynamik des Kalten Krieges und war naturgemäß nicht daran interessiert, dass sich hier eigenständige Entwicklungen und Befreiungsmodelle erproben konnten.

Mit der Sowjetunion mal stärker, mal schwächer verknüpft, manchmal im Bündnis, öfter sogar im Widerspruch zur Politik Moskaus schossen ab den 50er-Jahren nationale Befreiungsbewegungen überall auf den südlichen Kontinenten aus dem Boden, um die koloniale Fremdherrschaft mittels diverser bewaffneter Strategien abzuschütteln: in Algerien unter Zuhilfenahme terroristischer Methoden, andernorts angespornt durch das kubanische Beispiel einer Eliteguerilla, vom Vietcong und Mao lernend als Bauernguerilla oder mittels Stadtguerilla wie den in Uruguay operierenden Tupamaros. Verschränkt war dieser Antiimperialismus – vornehmlich auf den drei Kontinenten Asien, Afrika, Lateinamerika – mit Klassen- und Gewerkschaftskämpfen. Zuweilen drängten nationalistisch-bürgerliche Fraktionen, aber auch Parteikommunisten autonome Tendenzen des Klassenkampfes gewaltsam zurück. Nach der marxistischen Arbeitssoziologin Beverly Silver muss von einer »Verwundbarkeit von Arbeiterbewegungen, deren Erfolge von einer Organisationsmacht abhängen, die auf klassenübergreifenden Bündnissen mit politischen Bewegungen beruht« ausgegangen werden.[36] Tatsächlich wurden auch Ansätze der Selbstorganisation, eigenständige Bauernbewegungen oder Arbeiterräte niedergeschlagen, der »Notwendigkeit« einer »nachholenden Entwicklung«, breiten Bündnissen und den Imperativen der Staatenbildung geopfert. Viele nationale Befreiungsbewegungen, die sich vormals marxistisch-leninistisch positionierten, haben sich im Zuge des langanhaltenden Kampfes gegen ›Fremdherrschaft‹ zu autoritär regierenden Staatsparteien transformiert. Nicht wenige beuten nun in Zusammenarbeit mit dem globalen Kapital die eigene Arbeiterklasse aus, deren Befreiung sie einst propagiert hatten. Einige haben sich einer Parlamentarisierung unterzogen, andere wurden blutig geschlagen oder sind schlicht verschwunden.

Ursprünglich war der Antiimperialismus der zentrale Motor des großen Außerparlamentarischen Aufbruchs der 60er weltweit – und führte dazu, dass sich die antiautoritäre Studentenbewegung international ausrichten und vernetzen konnte.[37] 1966 hatte der britische Mathematiker, Philosoph und Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell ein Vietnam War Crimes Tribunal ins Leben gerufen, Pate standen eindeutig die Nürnberger Prozesse von 1945. Der internationalen Kommission um Jean Paul Sartre, Wolfgang Abendroth, Günther Anders, Peter Weiss und James Baldwin wollte keineswegs einleuchten, dass man es bei dem Angriffskrieg der Nazis und dem Holocaust mit einem vollständig anderen »Register« zu tun habe als bei dem kriegerischen Imperialismus, der in Vietnam sein blutiges Gesicht zeigte. »Nürnberg und Vietnam« sollten nicht auseinandergerissen werden. Der ehemalige Chefankläger der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse Telford Taylor hatte unter diesem Titel ein Buch veröffentlicht über die gebotene Notwendigkeit, staatliches Unrecht zu ahnden.[38] Die nicht lange zurückliegenden Verbrechen des Nationalsozialismus und die aktuellen Kriegsverbrechen der US-Armee wogen sich nicht in welche Richtung auch immer auf, sondern provozierten gleichermaßen die Empörung. Dies empfand auch die vielgescholtene globale 68er-Bewegung so. Über die APO-Parole »USA – SA – SS« mag man heute den Kopf schütteln. Nach rechts gewendete ehemalige Maoisten wie Alan Posener, früher KPD/AO, jetzt Die Welt und perlentaucher, wollen darin nur noch Ressentiments gegen Amerika erblicken, Schuldabwehr, die Linksradikale mit dem Rechtsradikalismus verbinden würde.[39] Überlegungen zu Strukturähnlichkeiten imperialistischer Kriege mit ultimativer Feindbestimmung und Vernichtungsabsicht und Vergleiche dieser Art kamen aber schon Mitte der 60er-Jahre aus den USA selbst.[40] Auch die radikalsten Exponenten der außerparlamentarischen Opposition machten recht früh deutlich, dass ihr antiimperialistisch motivierter Antikriegsaktivismus, der beispielsweise US-amerikanische Soldaten zur Desertion aufrief und diese unterstützte, nichts mit Antiamerikanismus zu tun habe:

»Die Vietnam-Kampagne sollte die GIs deutlich in ihre Konzeption des proletarischen Internationalismus einschließen. Jede Vietnam-Demonstration sollte Parolen führen, die die Solidarität mit den GIs in ihrem Kampf gegen die Offiziere und gegen den Krieg ausdrücken. Dadurch wird klargemacht, daß die Vietnam-Kampagne nicht anti-amerikanisch, sondern anti-imperialistisch ist.«[41]

1968 wurde nach der Mobilisierung gegen die Notstandsgesetze, der Empörung über die Nazigeneration in Amt und Würden und der Wiederentdeckung der alten marxistischen Schriften von Adorno, Horkheimer und Marcuse der Sound der ›Dritten Welt‹ von Che Guevara und Frantz Fanon rezipiert. Es ging um nichts weniger als um die gebotene Dringlichkeit, vom zivilen Ungehorsam zum Widerstand überzugehen. Im Februar 68 rief der Frankfurter SDS zu einem Teach-in an der Uni unter dem Motto ›Waffen für den Vietcong – Kampf dem USA-Terror‹ auf. Zehn Tage später schließlich fand als Höhepunkt der antiimperialistischen Kampagne der Internationale Vietnam-Kongress in West-Berlin unter der Losung Che Guevaras statt ›Die Pflicht des Revolutionärs ist es, Revolution zu machen‹. Bereits 1966 verwendete der SDS-Sprecher Rudi Dutschke den Begriff ›Stadtguerilla‹ und im September 1967 hatten Dutschke und Hans Jürgen Krahl angesichts des anhaltenden Vietnamkrieges dazu aufgerufen, dass die antiautoritäre Bewegung sich als »Sabotage- und Verweigerungsguerilla« zu formieren habe und als »urbane Guerilla« in den Metropolen die »rurale Guerilla« in der Dritten Welt ergänzen solle. Vorbild für die später aktiven Gruppen des bewaffneten Kampfes wie die Rote Armee Fraktion (RAF) oder die 1972 gegründete Bewegung 2. Juni war die städtische Guerillabewegung Tupamaros aus Uruguay.

Doch seit es diesen neulinken Antiimperialismus mitsamt seinen bewaffneten Strategien gab, war er auch begleitet von einer Kritik von links bzw. von anderen Linken. So unterzog ein wichtiges Debattenorganen der westdeutschen Neuen Linken der 70er den Antiimperialismus der Vietnamsolidarität einer scharfen Kritik:

»Was bis heute in Gestalt der Parole vom ›Sieg‹ des vietnamesischen Volkes durch die Reden und Schriften der linken Gruppen und Sekten geistert, ist tatsächlich ein Mythos des Guerilleros, der zwar einer verzweifelten Intelligenz ursprünglich das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit nahm und sie in die Lage versetzte, sich gegen die als unmenschlich erkannten Verhältnisse zur Wehr zu setzen«.

Der Text endet mit der Aufforderung, die »bestürzende Verdrängung der Schwierigkeiten sozialistischer Politik« zu überwinden und eine »selbstkritische Auseinandersetzung« mit dem Dritte-Welt-Kampf und den Befreiungsprojektionen zu beginnen.[42] Damit standen diese kritischen Stimmen nicht allein. Am Rand der Linken gab es seit 68 und während der gesamten 70er-Jahre kleine Gruppen von Anarchistinnen, Rätekommunisten oder Linkskommunistinnen, die vehement die Logik der nationalen Befreiung kritisierten.[43] Viele dieser Kritiken wurden von antiimperialistischen Linken aufgegriffen. Viele Ernüchterungen erfolgten nach eigener Anschauung. So eröffnete 1979 die Übersetzung eines ursprünglich 1978 im französischen Journal autrement veröffentlichten kritischen Textes zum Internationalismus zehn Jahre nach dem Mai 1968 das von Wolfgang Dreßen herausgegebene Sozialistische Jahrbuch. Jean-Claude Guillebaud konstatiert: »Zehn Jahre später sind die Mythologien verraucht, die Gewißheiten in Ruinen zerfallen, die Kämpfe mißlungen«, zu lange habe man aufgrund des romantischen Glaubens an die vietnamesische Revolution »voller Respekt und zitternd vor dem nord-vietnamesischen Stalinismus« verharrt. Nach zehn Jahren, so erläutert der linke französische Essayist, sei die traurige Prozession nach 1968 über die mythologische Leiche des Che und den Befürworter des Einmarschs in Prag, Fidel Castro, über die Leichenhaufen und ›sozialistischen‹ Massaker des ›befreiten‹ Kambodscha bis zur Chimäre des ›arabischen Sozialismus‹ fortgeschritten: »Die arabische Welt war seit langer Zeit nicht mehr das große Laboratorium des Sozialismus, sondern ein Durcheinander orientalischer Kalkulationen, Leidenschaften, Haßausbrüchen und Komplotte. Und Palästina nur ein Instrument, eine nützliche und manipulierbare Sache.«

Auch die große linke Fehlrezeption der chinesischen Revolution als wahrhaft antiautoritärer Aufbruch habe sich zugunsten einer Ernüchterung nach dem Tod Maos verflüchtigt. Für Guillebaud kein Grund zum Katzenjammer: »Wenn unsere Illusionen tot sind, umso besser. Sie haben uns geblendet. Wenn die ›Große Revolution‹ in eine Falle getappt ist, hat sie es zweifellos verdient.«[44] Der Essayist schließt, dass ein neuer Mai 1968 nur jenseits dieser Täuschungen und »für etwas Gutes« wieder beginnen könne – »auf einer weißen Seite«, womit er in radikaler Weise den ganzen Glaubenssatz des auf Staatsrevolutionen setzenden Nach-68er-Antiimperialismus verabschiedete. Er war damit keine Ausnahme und seine prominente Stellung auf den ersten Seiten des undogmatischen Sozialistischen Jahrbuchs kein Zufall. Die Kritik des Antiimperialismus stand an: So beklagte 1980 ein kritischer Ex-Maoist das falsche antiimperialistische Vertrauen, das in den ›Volkskrieg‹ gesetzt wurde. Dieser habe als Kraft keine neuen Wege der Sozialrevolution eröffnet und auch keine Eigendynamik entwickelt, die sich schließlich gegen potenzielle neue Herren und Abhängigkeiten hätte richten können. Protagonisten der Irland-Solidarität legten sich Mitte der 80er-Jahre Rechenschaft darüber ab, ob sie sich nicht deutlicher an der ostentativen katholischen Religiosität und dem Märtyrerkult im Norden Irlands und im Umfeld der IRA stoßen sollten und der Kommunistische Bund aus Hamburg, der schließlich nicht ohne Einfluss war, kritisierte 1988 die Hamburger Hafenstraße für ihre bekannte antizionistische Boykottaufruf-Parole.[45] Andere radikale Linke aus der autonomen und spontaneistischen Linken, die noch 1979 in der iranischen Revolution eine Möglichkeit sehen wollten, dem westlichen Entwicklungsweg zu entgehen, und einen wahrhaft tiefgreifenden Umbruch erkennen wollten, wandten sich von jeglichen staatlichen Revolutionsprojektionen ab. Sie wollten in den Revolten der Unterklassen und in den eigenständigen Bewegungen der Migrantinnen Elemente eines neuen Antiimperialismus erkennen, der schließlich das imperiale Wohlstandsgefälle aufbrechen könnte.[46]

1990 verlor die Linke schließlich ihren letzten Hoffnungsort: das sandinistische Nicaragua. Im Februar verloren Ortegas Sandinisten eindeutig gegen das pro-amerikanische Wahlbündnis von Violeta Chamorro. Die neoliberale soziale Kürzungspolitik unter den Sandinisten, Vetternwirtschaft und Repression waren die Gründe für die Wahlniederlage der Regierungspartei. Der linke Internationalismus hatte vor allem nach der Revolution von 1979 sein Hauptaugenmerk wieder nach Mittelamerika verlegt. Hier, in dem 120.000 km2 großen Land, kam es zu einem erbitterten Kampf gegen den Einfluss der USA und gegen lokale Oligarchien, in den sich auch ausländische Aufbauhelfer einbrachten. Spätestens Mitte der 80er-Jahre zeigte sich, dass im Kontext nationaler Befreiung ›Solidarität‹ niemals kritisch ausgeführt werden konnte. Bereits recht früh hatte ›Revolutionsführer‹ Ortega die Macht in hohem Maße auf Familienmitglieder verteilt, und wer dies kritisierte galt schnell als unzuverlässig. Der Krieg der US gestützten Contras war jahrelang die übergeordnete Matrix, die fast jede kritische Diskussion abwürgte und fast jedes Problem erklärte.[47] Doch auch wenn man es heute kaum noch glauben mag: Der kritische Geist begleitete den Internationalismus von Anfang an und entzog sich den zuweilen totalitären Ansprüchen nationaler Befreiungsbewegungen. Nach 1990 war das Abgrenzungsbedürfnis vom Antiimperialismus allerdings so stark ausgeprägt, dass diese bereits vorliegenden Elemente der Kritik und Selbstkritik nicht mehr auszureichen schienen. Mit der Verabschiedung des Antiimperialismus war auch gleich noch die Verabschiedung der linken Imperialismuskritik intendiert. Dass eine wie auch immer geartete Imperialismusanalyse passé sei und nach 1989 Tabula Rasa anstehen würde, machte auch das Gründungsmitglied des KB, der ehemalige Anti-Atomkraft-Aktivist und langjährige Konkret-Autor, Detlef zum Winkel, Sohn des bekannten deutschen Radiologen Karl zum Winkel, auf dem richtungsweisenden Konkret-Kongress 1993 in Hamburg deutlich: »Es gibt nach der Wiedervereinigung hierzulande keinen linken Ansatz und keine linke Überlegung mehr, die auch nur den Anspruch erheben könnten, so etwas wie eine Selbstverständnisdiskussion nach dieser Wiedervereinigung einzuleiten.«[48]

Den für einen Rundumschlag passenden Text legte 1992 der ça ira-Verlag vor, auch wenn er nur wenige Seiten umfasste. Thomas Haurys Artikel »Zur Logik des bundesdeutschen Antiimperialismus« war sichtbar mit der heißen Nadel gestrickt und stellte dennoch in den folgenden Jahren den wesentlichen Bezugspunkt der antideutschen Szene dar, wenn es darum ging, dem linken Antiimperialismus eine Logik zu unterstellen, die in Antiamerikanismus und Antisemitismus münden würde, weil er angeblich einem manichäischem Weltbild, also einer heilsgeschichtlich unterlegten Ideologie, wonach die Kräfte der Finsternis mit jenen des Lichts im Kampf lägen, verpflichtet sei. Der quellenarme Text lebt von einigen Zitate, die man bereits aus früheren Polemiken von Henryk M. Broder kannte. Prominent herangezogen wurden Ausführungen des Antiimperialisten Karam Kellah, der jedoch kaum eine Verbindung zum Internationalismus und Antiimperialismus der Nach-APO-Zeit aufweist.[49] Doch die Vorwürfe kommen wie aus dem Gewehrlauf geschossen: Der Antiimperialismus wolle die deutsche Schuldgeschichte »exkulpieren«, aus den Worten prominenter Antiimperialistinnen gehe »das Programm eines rebellischen Nationalismus von links« hervor und »nicht nur der Wunsch nach echter und kämpferischer Gemeinschaft, sondern auch das nie eingestandene Bedürfnis nach ›deutscher Normalität‹, nach Entlastung von der Vergangenheit des ›eigenen‹ Kollektivs.« Haury konstatiert, im Antiimperialismus liege eine »Identifizierung mit dem Volk und dessen Gleichschaltung mit dem ›guten Volksstaat‹« vor, kombiniert mit der »Tendenz, Politik und Ökonomie zu personalisieren«, womit für ihn »zahlreiche strukturelle Affinitäten mit dem antisemitischen Weltbild« vorliegen würden.[50]

In dieser Zuspitzung mochte das nicht mal auf die dümmsten Protagonisten der autonom-antiimperialistischen Spät-80er-Szenen des Antiimperialismus zutreffen. Gegenbeispiele finden sich zuhauf. So schrieb Brigitte Heinrich, 1966/67 SDS-Pressesprecherin, später militante Linke im Umfeld von RAF und Bewegung 2. Juni, Lebensgefährtin des Rechtsanwalts und DDR-Agenten Klaus Croissant und selbst auch in Spitzeldienste für die DDR-Staatssicherheit involviert, unter der Überschrift »Palästina ist anders – zwischen Schleier und Kalaschnikov« 1979 ein Resümee ihrer Nahostreisen und Besuche von palästinensischen Flüchtlingslagern. Darin legte sie ihr Hauptaugenmerk auf die Befreiungskämpfe der Frauen, kritisierte den Schleier als rückständiges Relikt einer patriarchalen Welt. Sie geißelt den »absurden Überfluß unserer europäischen Konsumgesellschaften«, der im palästinensischen Flüchtlingslager kenntlich wird, notiert aber auch, dass der Islam in den »Kampagnen der Konterrevolution« benutzt werde gegen die Befreiungsbewegungen, bei denen beispielsweise der Konsum von Alkohol »durchaus kein Tabu mehr« sei. Vom Haury‘schen »guten Volksstaat« als projektivem Sehnsuchtsort kann keine Rede sein, und wie es um die »Entlastung von der Vergangenheit des ›eigenen Kollektivs‹« in Heinrichs Ausführungen bestellt ist, kann man sehr anschaulich folgender Passage entnehmen:

»Ich glaube, daß die meisten deutschen Linken angesichts des sog. Nahost-Konflikts mit sehr widersprüchlichen Gefühlen fertigwerden mußten. Wann immer vom Kampf gegen Israel die Rede war – und dieser Kampf war der Angelpunkt für alle Ansätze zur Mobilisierung der palästinensischen Massen – zuckte irgendwer von uns zusammen. Denn Israel, beziehungsweise die dort lebenden Juden, das sind eben auch die Überlebenden von Ausschwitz (!), Dachau, Sachsenhausen … Das Wissen um Ausschwitz (!), die Auseinandersetzung mit der Generation unserer Väter, die in großen Teilen den Faschismus beklatscht oder schweigend überdauert und nicht verhindert hat, daß 6 Millionen Juden in den Konzentrationslagern Hitlers umgekommen sind, ist für viele unter uns Anlaß gewesen, sich vorbehaltlos auf die Seite der Unterdrückten zu stellen. Hier lag zugleich auch der Keim der Revolte gegen dieses System, das derartige Greuel hervorbrachte. Hier jedoch wurden wir damit konfrontiert, daß die ehemaligen Opfer selbst in die Haut von Verfolgern geschlüpt (!) waren«.[51]

Was macht man jetzt mit so einem Zitat? Auch wenn man nicht alles, was Brigitte Heinrich hier mitteilt, unterschreiben mag: Es entzieht sich trotz falscher Schreibweise von Auschwitz vollständig den simplen Konstruktionen von Thomas Haury und anderen und zeigt, dass die internationalistische, antiimperialistische und militante Linke alles andere als geschichtsvergessen war und sehr wohl auf die deutsche Geschichte und ihre Verbrechen reflektierte.

Wenn es denn tatsächlich jemals eine unkritische Identifikation mit den nationalen Befreiungsbewegungen im antiimperialistischen Milieu gab, und eine genauere Sichtung der Dokumente könnte das widerlegen, so in den nationalistisch-maoistischen K-Gruppen der 70er- und bei den eher theoriefernen autonomen Antiimps der späten 80er-Jahre, die sich fürs palästinensische, kurdische oder peruanische ›Volk‹ erwärmen konnten und den reaktionären Implikationen ihrer Selbsttäuschung erlegen waren. Doch ihre Stunde hatte ohnehin geschlagen und für den linken Antiimperialismus oder gar den Internationalismus standen sie nie.

Am 20. April 1998 ging bei der Nachrichtenagentur Reuters ein Schreiben ein: »Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte«. Damit hatte sich der wichtigste Bezugspunkt des kleinen antiimperialistischen Milieus aufgelöst. Die Gruppe Demontage, die sich aus dem Hamburger KB unter Federführung von Gaston Kirsche bildete, brachte zur gleichen Zeit ihr Buch unter dem unklaren Titel Postfordistische Guerilla – Vom Mythos nationaler Befreiung heraus. Ein interessantes Zeitdokument, versucht es doch im wissenschaftlichen Habitus den Befreiungsnationalismus zu kritisieren, wobei vor allem der frühen PKK und der baskischen ETA glaubhaft völkisches Denken nachgewiesen werden konnte, wenn auch die regulationstheoretische Erklärung für das Ableben klassischer nationaler Befreiungsbewegungen blass und nicht nachvollziehbar blieb.[52] Eine ebenfalls dreißig Jahre nach 1968 publizierte Veröffentlichung, die weit über den Szene-Rahmen hinausging und die nationalkommunistischen Ergebnisse in Form einer Kriminalitätsgeschichte bilanzierte, stellte das vom ehemaligen Maoisten Stéphane Courtois herausgegebene Schwarzbuch des Kommunismus dar.[53] In der Anlage oberflächlich finden sich neben dem historisch überzeugenden Beitrag von Nicolas Werth über die bolschewistische Sowjetunion viele weniger tragfähige Bestandsaufnahmen über den Terror in diversen sich kommunistisch nennenden Staaten und Systemen. Im vierten Teil des Buches werden Verbrechen und Terror in China nach der Revolution, in Nordkorea, Vietnam und Laos sowie im »Land der unfaßbaren Verbrechen«, Kambodscha, dargestellt. Die Darstellungen waren eingequetscht zwischen einem Vorwort des Herausgebers und einem Nachwort ausgerechnet des antikommunistischen Paters Joachim Gauck, seit Oktober 1990 Kopf der Gauck-Behörde, die die schriftliche Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) verwaltete und zugänglich machte. Letzterer beschwor den antitotalitären Konsens aller Demokraten. Der französische Herausgeber, der aus der radikalen maoistischen Linken kam, forderte im Vorwort »Trauerarbeit« ein, aber mehr noch, »das Festhalten an der Revolutionsidee« selbst zu überdenken und schloss sich der Nolte‘schen Totalitarismustheorie, wonach der Archipel Gulag ursprünglicher und massenmörderischer als die Judenvernichtung der Nazis gewesen sei, implizit an. Im Konkret Literatur Verlag erschien eine Gegenstreitschrift unter dem Titel Roter Holocaust?. Darin enthalten war auch ein Aufsatz von Daniel Bensaïd, französischer libertärer Trotzkist und Protagonist des Mai 1968, in dem er den Schwarzbuch-Autoren Bußfertigkeit bescheinigt, die nun Mode zu sein schien nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten im Weltmaßstab. Doch wenn jene

»nie ans Ende ihrer Trauerarbeit gelangt sind, ihr schlechtes Gewissen als ehemalige Stalinisten wie eine Eisenkugel mit sich herumschleppen, ihr Abgesang in Ressentiment einmündet, dann ist das ihre Sache. Aber diejenigen, die Kommunisten geblieben sind, ohne jemals den kleinen Vater der Völker gefeiert oder das kleine rote Buch des großen Steuermanns heruntergebeten zu haben, was, Herr Courtois, haben sie zu bereuen? Sie haben sich zweifellos manches mal geirrt. Doch angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie sie heute ist, haben sie weder den falschen Kampf geführt noch den falschen Gegner gewählt.«[54]

Andere Aufsätze, vornehmlich aus französischer Feder, widmeten sich den von Courtois und seinen Autoren präsentierten Fakten und ihren Interpretationen. Die deutschen Beiträger für den Sammelband, von Hermann L. Gremliza über Wolfgang Wippermann bis zu Matthias Küntzel setzten sich mit der im Kern erschütternden, wenn auch in der politischen Einschätzung zu diskutierenden Bilanz des Schwarzbuches erst gar nicht auseinander. Ihr Hauptaugenmerk, das im Kontext der antideutsch-antifaschistischen Linken Schule machte und dessen Ausrichtung sich ständig wiederholen sollte, galt im antifaschistisch-wachsamen Geist lediglich der möglichen »Entlastungsfunktion« im deutschen Diskurs und ihrer Abwehr, nicht aber der Sache selbst.[55] Ihre Einsprüche gestalteten sich dann auch provinziell und sie schrieben am eigentlichen Problem vorbei. Wenn Matthias Küntzel unter Rückgriff auf einen Tucholsky-Satz meinte, man müsse auch auf die Gefahr hin, dass das ausgebeutet werde, eine Selbstkritik vornehmen, gegen die Schwefellauge Seifenwasser sei, konnte man noch aufhorchen, ob von diesem ehemaligen Aktivisten des Kommunistischen Bund wirklich an dem Kern bolschewistischer und stalinistischer Machtpolitik, an ihrer Logik der Verfolgung, der regelrechten Kriegsführung gegen alles, was sich dem »sozialistischen« Entwicklungs- und Industrialisierungsparadigma entzog, gekratzt wird.[56] Doch worin mündete diese angeblich gebotene Selbstkritik? In der Behauptung, dass eines der größten Probleme der von den 68ern angeblich gesuchte »Gefühlskonsens mit der älteren Generation der VollstreckerInnen«, gemeint waren die Nazis, gewesen sei und man der Geschichte der antisemitischen und nationalistischen Kampagnen der KPD in der Weimarer Republik nachzugehen habe.[57] Angesichts des globalen Zuschnitts des Schwarzbuchs, in dem erklärungsbedürftige Massenverbrechen einmal rund um den roten Globus des 20. Jahrhunderts benannt und aufgelistet wurden, gestalteten sich die von Küntzel als brennende Fragen markierten Hinweise erstaunlich deutsch, läppisch und unangemessen. Diese vorgeblich radikale Selbstkritik der Linken hatte etwas frappierend verstelltes, taktisches, provinzialistisches und zeigte ein vollständiges Desinteresse an den Fakten. Diese deutschen Linken, so konnte man meinen, wollten links und antifaschistisch bleiben, ohne auf die Signalsetzung der Bußfertigkeit zu verzichten. Alle Probleme der Geschichte der Linken auf Antisemitismus zu verengen, schien dies in vorzüglicher Weise zu garantieren.