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Die Ärztin: Stürme des Lebens E-Book

Helene Sommerfeld

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Beschreibung

Sternstunden der Medizin im deutschen Kaiserreich – und eine Frau schreibt Geschichte. Teil 2 der großen Historien-Saga um die Ärztin Ricarda Thomasius München, 1890: Die junge Ärztin Ricarda führt mit Brauereierbe Georg und Tochter Henny fern der Berliner Heimat ein beschauliches Leben. Mit der Eröffnung einer eigenen Praxis scheint sich ihr größter Traum zu erfüllen. Doch kaum jemand nimmt die erste Ärztin der Stadt ernst. Als eine Diphteriewelle München erfasst und der «Würgeengel» Hunderte von Kinderleben fordert, läuft Ricarda gegen Mauern. Denn ihre männlichen Kollegen halten das vielversprechende neue Heilmittel Emil von Behrings für Humbug. Die Ärztin ist entschlossen, für ihre Überzeugung und ihre Patienten zu kämpfen. Bis ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit Ricarda alles zu nehmen droht, was ihr am Herzen liegt. Ein Geheimnis, dessen dunkle Kraft auch die nächste Generation bestimmen wird.

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Helene Sommerfeld

Die Ärztin: Stürme des Lebens

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Sternstunden der Medizin im deutschen Kaiserreich – und eine Frau schreibt Geschichte.

Teil 2 der großen Historien-Saga um die Ärztin Ricarda Thomasius.

 

München, 1890: Die junge Ärztin Ricarda führt mit Brauereierbe Georg und Tochter Henny fern der Berliner Heimat ein beschauliches Leben. Mit der Eröffnung einer eigenen Praxis scheint sich ihr größter Traum zu erfüllen. Doch kaum jemand nimmt die erste Ärztin der Stadt ernst. Als eine Diphteriewelle München erfasst und der «Würgeengel» Hunderte von Kinderleben fordert, läuft Ricarda gegen Mauern. Denn ihre männlichen Kollegen halten das vielversprechende neue Heilmittel Emil von Behrings für Humbug. Die Ärztin ist entschlossen, für ihre Überzeugung und ihre Patienten zu kämpfen. Bis ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit Ricarda alles zu nehmen droht, was ihr am Herzen liegt. Ein Geheimnis, dessen dunkle Kraft auch die nächste Generation bestimmen wird.

Wenn er auf einmal plötzlich vor mir stände,

O Erd’ und Himmel, was begönn’ ich nur?

Sein teures Haupt nähm’ ich in beide Hände

Und küßte meiner alten Küsse Spur

Auf seinen Augen, Lippen, Haaren, Wangen –

Was hab’ ich ohne dich nur angefangen!

Auf seinen Grübchen, Groll- und Lächelfalten –

Wie hab’ ich’s ohne dich nur ausgehalten!

 

Ricarda Huch

(1864–1947)

Die wichtigsten Personen

Familie Petersen Ricarda «Rica» *1863, Ärztin Karla *1842, ihre Mutter Rosamunde «Rosel» *1865, ihre Schwester Gustav *1840, ihr Vater

 

Familie von Freystetten Friedemann *1864, Rosels Ehemann Luise *1842, seine Mutter Raimund *1838, sein Vater Henriette *1842, seine Tante Florentine «Flora» *1862, seine Schwester

 

Familie Kögler Georg *1850, Ehemann von Ricarda Rupert *1848, Georgs Bruder Magdalena *1851, Ruperts Ehefrau Marianne *1873, beider Tochter

 

Katharina Henriette «Henny», *1890, Ricardas Tochter

Siegfried Thomasius *1860, Arzt

Hilde Thomasius *1877, seine Schwester

Käthe Hausmann *1842, Ärztin

Eleonore Singer «Lore» *1864, Ricardas Freundin

Kumari Kallstadt *1864, Ricardas Freundin

Die einzige rote Rose

April 1890

Rosen, rot wie die Leidenschaft, waren offenbar verpönt. Zartrosa wie die noch unschuldige Liebe oder gar weiß wie die reine Vernunft mussten sie sein. Nachdenklich blickte Ricarda auf die üppigen Sträuße, während sie durch die Empfangshalle zu den Anproberäumen ging. In großen Kristallvasen schmückten die langstieligen Blumen die weitläufigen Räume von Beauté. Das Atelier für elegante Brautmode in der Friedrichstraße, unweit Unter den Linden. Elegante Verkäufer breiteten vor den Damen der besten Kreise, die hier zu Gast waren, kostbare Stoffe aus. Tee, Kaffee und Gebäck wurden gereicht, die Luft war mit dem Duft diverser Damenparfüms gesättigt.

Da entdeckte Ricarda doch noch eine rote Rose, die einzige weit und breit. Wie ein Versprechen stand sie in einer zarten Vase auf dem Klavier, an dem ein Herr im Frack mit leichter Hand zarte Töne zauberte, um die Nervosität der Damen zu zerstreuen. Denn das Motto der nach eigener Werbung ersten Adresse in der Hauptstadt des Kaiserreichs lautete: Als Braut soll sich eine Frau wie eine Königin fühlen, der die Welt zu Füßen liegt. Von Liebe war nicht die Rede. Aber wegen der Liebe war Ricarda schließlich auch nicht zur letzten Anprobe ihres Brautkleides gekommen.

«Ein Lächeln würde dir jetzt gut stehen», sagte die Komtess. Sie nahm im Anproberaum schräg hinter Ricarda in einem dunkelroten Samt-Fauteuil Platz. Der Rücken kerzengerade, ein angedeutetes Lächeln im Gesicht, blickte sie Ricarda durch den Spiegel forschend an. Ganz alter Adel.

«Da hat Ihre Frau Mutter sehr recht, gnädiges Fräulein», bestätigte die Schneiderin, die an Ricardas Taille arbeitete, während sie sich nicht rühren durfte. Wie eine zweite Haut wurde das wundervolle Kleid angepasst.

Ricarda wollte die Schneiderin korrigieren, besann sich dann aber. Die Komtess hatte darauf bestanden, das Brautkleid zu bezahlen, und damit sowohl das Modeatelier ausgewählt als auch über den Stil entschieden. Ricarda hätte für das sündhaft teure Kleid selbst nicht aufkommen können, schließlich hatte sie gerade erst ihr Studium als Ärztin abgeschlossen.

«Erst mit einem Kuss des Bräutigams ist für die Braut die Zeit für ein Lächeln gekommen», scherzte Käthe und zwinkerte Ricarda verschwörerisch zu.

Da haben sie mich also noch zur Braut gemacht, meine beiden mütterlichen Ratgeberinnen Käthe und die Komtess, dachte Ricarda und lächelte nun doch, obwohl ihr gar nicht danach war. Die Hochzeit war eine Notlösung. Doch es führte zu nichts, sich diesen Umstand in Erinnerung zu rufen, fand Ricarda.

Dennoch konnte sie nicht umhin, das zarte Gewebe zu bewundern, in das sie gehüllt war. Es war nicht nur einfach ein Brautkleid, sondern ein Kunstwerk. Gerüschter Tüll, von fein glitzernden Strasssteinchen zum Leuchten gebracht, ließ Schultern und Brust leicht und dennoch betont weiblich erscheinen. Die Oberarme waren weit, die Unterarme eng anliegend gehalten, damit die Taille schmal wirkte. Das schlicht gehaltene Unterteil aus Seide und Damast lief in eine kurze Schleppe aus. Allerdings meinte Ricarda, dass Schneeweiß übertrieben war. Elfenbeinfarben wäre für sie passender gewesen. So sah sie mit ihrer blassen Haut und dem pechschwarzen Haar ein wenig wie Schneewittchen aus.

Ein erneuter Blick auf die Rosen erinnerte sie zudem daran, dass gerade kein Märchen wahr wurde. Im Gegenteil – eine große Liebe hatte sie opfern müssen, um diesen Schritt tun zu können. Vernunftehen nannte man sie, denn die meisten Ehen mussten trotz des romantischen Prunks im Atelier Beauté auf dem trockenen Boden der Wirklichkeit gedeihen.

Ricardas Blick fiel auf ihren Bauch. Sie war jetzt im vierten Monat.

«Niemand wird etwas bemerken», sagte die sie aufmerksam beobachtende Komtess leise, die neben sie getreten war. Der intensive Sandelholzduft ihres herben Parfüms dominierte wie immer. Etwas lauter ergänzte sie: «Du siehst wunderbar aus, Rica.»

«Sie können sich glücklich schätzen, eine so hübsche Tochter zu haben, gnädige Frau», meinte die Schneiderin und steckte weiter das Oberteil ab.

Noch immer hatte niemand die Schneiderin darüber aufgeklärt, dass Henriette von Freystetten keineswegs die Brautmutter war. Doch die Komtess, die keine eigenen Kinder hatte, genoss ihre kurzzeitige Mutterrolle offensichtlich.

«Wir Frauen sollten uns keineswegs auf unsere äußeren Werte verlassen», hob die Komtess in ihrem manchmal etwas dozierend klingenden Ton an. «Schönheit vergeht, Bildung bleibt, wie ich zu sagen pflege. Ricarda wurde gerade der Doktorgrad einer Ärztin verliehen.»

Der Gelobten war es peinlich, auf diese Weise ausgestellt zu werden. Aber da sagte die Schneiderin schon, eine Stecknadel mit den Zähnen haltend: «Das ist gewiss eine gute Sache, bevor man sich verheiratet.»

Die Komtess blickte ratlos drein. Offenkundig verstand die Schneiderin nicht, dass Ricarda ein Studium der Medizin abgeschlossen hatte, was in Deutschland in der Tat nicht möglich war. Käthe schien sich zu amüsieren und hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten. Denn die frisch erworbene Doktorwürde war so ziemlich das Letzte, was eine junge Ehefrau brauchte.

Vor zwei Monaten hatte Ricarda ihren Abschluss in Zürich gemacht und wollte nichts lieber, als in ihrem Beruf als Ärztin zu arbeiten. Stattdessen heiratete sie nun und war dadurch auf das Wohlwollen ihres Mannes angewiesen, der ihr die Ausübung eines Berufes durchaus untersagen konnte. Jeder Ehemann durfte per Gesetz über das Leben seiner Gattin bestimmen.

«Au, verflixt», rief Ricarda unbeherrscht, als die Schneiderin sie in diesem Moment unbeabsichtigt mit der Nadel stach und sofort erschrocken um Verzeihung bat.

Ricarda glaubte nun zu wissen, warum ihr plötzlich übel wurde. Es war die einzelne rote Rose auf dem Klavier. Sie war wie das schlechte Gewissen, das sie quälte. Denn sie erinnerten sie an den Mann, den sie nächste Woche nicht heiraten würde.

Ricarda atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Es gab einen vernehmlichen Knacks. Eine bereits fertige Seitennaht war geplatzt.

 

«Ich sah dir an, wie schwer dir die Anprobe gefallen ist», sagte Käthe mit einem Schmunzeln und hakte Ricarda unter. Gemeinsam verließen die drei Damen das Modeatelier.

«Ich hatte den Eindruck, dass sie es genossen hat, Käthe. Habe ich nicht recht, Ricarda?», meinte die Komtess.

Angesichts der generösen Spenderin war Widerspruch nicht angebracht. Käthe zwinkerte Ricarda wieder vertraut zu.

Mütterliche Lehrerin und mütterliche Seelenfreundin – das war die Rollenverteilung der beiden Freundinnen, die Ricarda schon als Backfisch unter ihre Fittiche genommen hatten. Mit siebenundvierzig und achtundvierzig Jahren hätten sowohl Käthe als auch die Komtess durchaus Ricardas Mutter sein können. Ricarda war gerade siebenundzwanzig geworden, ein Alter, in dem eine alleinstehende Frau rasch zu den Mauerblümchen gezählt wurde. Da Ricarda das Vorbild dieser beiden Frauen hatte, die unverheiratet durch das Leben gingen, um in ihrer gemeinsamen Praxis Unter den Linden als Ärztinnen arbeiten zu können, hatte sie sich nie als übrig geblieben empfunden. Ärztin sein zu können, empfand sie als größtmögliche Freiheit für eine Frau.

Die drei schlenderten über den Boulevard Unter den Linden, die zartgrünen Blätter zauberten ein flirrend leichtes Mai-Licht.

Wie mir Berlin fehlen wird, dachte Ricarda und seufzte. «Was soll ich nur in München?»

«Heiraten und das Kind bekommen», antwortete die Komtess knapp. «Du kannst nichts ungeschehen machen, Rica.»

«Ja, ich weiß, Komtess.» Immer diese förmliche Anrede! Nie hatte ihre Gönnerin ihr – so wie Käthe schon vor Jahren – das vertraute Du angeboten.

«Gib München eine Chance. Und vor allem gib sie Georg», mahnte Käthe, deren Familie aus der Stadt an der Isar stammte. «Georg liebt dich. Er wird dir jeden Wunsch von den Augen ablesen.»

Ricarda nickte und schwieg. Natürlich würde ihr künftiger Mann ihr das Leben so leicht wie möglich machen. Dass sie ihrer Hochzeit mit gemischten Gefühlen entgegenging, lag ja auch nicht an Georg. Sondern an ihr selbst. Sie hatte ihr Herz vor langer Zeit einem anderen versprochen.

Vor wenigen Tagen erst war Siegfried ihr vor dem Haus der Komtess begegnet. Als wäre er vom Himmel gefallen. Während sie am Arm des Mannes ging, den sie in Kürze heiraten wollte. Ricarda hatte geglaubt, dass Siegfried in Afrika im Kolonialdienst als Arzt arbeitete. Sie war von der Situation dermaßen überfordert gewesen, dass sie ihn noch nicht einmal begrüßt hatte. Er hatte nur überrascht seinen Hut gezogen. Kurz darauf entdeckte sie in der Wohnung der Komtess den riesigen Strauß roter Rosen, den er dagelassen hatte, und begriff nun erst: Siegfried war ihretwegen zurückgekehrt. Aber er war zu spät gekommen. Sie hatte ihre Entscheidung, Georg zu heiraten, bereits getroffen, weil die Zeit gedrängt hatte. War sie zu ungeduldig gewesen? Hätte sie auf Siegfried warten sollen?

Unbewusst legte sie die Hand auf ihren Bauch. Wie hätte er reagiert, wenn er von ihrer Schwangerschaft erfahren hätte? Mit der gleichen Selbstlosigkeit, mit der Georg sie aufgefangen hatte?

Nur zu gern hätte Ricarda ihren Begleiterinnen ihr Herz ausgeschüttet. Doch es ging nicht. Denn es war Käthes Cousin, den sie heiraten würde. Und die vielen roten Rosen, die Siegfried gebracht hatte, waren noch am selben Abend so spurlos verschwunden gewesen, als hätte es sie nie gegeben. Ricarda hatte das Zeichen verstanden: Für die Komtess und Käthe gehörte Siegfried der Vergangenheit an. Ricarda musste ihn vergessen. Die Gegenwart gehörte Georg.

Wie um ihren Gedanken Nachdruck zu verleihen, kam er geradewegs auf sie zuspaziert.

 

Entspannt wie ein Mann von Welt führte Georg den Spazierstock. Ricarda war groß für eine Frau, aber er überragte sie um mehr als eine halbe Kopflänge. Er trug einen eleganten dunklen Anzug mit Weste und schwerer goldener Uhrkette. Als er den Hut zur Begrüßung lupfte, wurde das sich lichtende Haar des fast Vierzigjährigen sichtbar. Im Knopfloch des Anzugrevers trug er eine weiße Rose, die er löste und Ricarda zur Begrüßung überreichte.

Gegenwärtig ließ Georg sich wieder jenen Vollbart wachsen, den er getragen hatte, als Ricarda ihn kennengelernt hatte. Sie hatte beiläufig erwähnt, dass er besser zu seiner stattlichen Erscheinung passe als der Schnauzer, der ihn zwischenzeitlich geschmückt hatte. Es zeigte ihr, dass er alles tat, um ihr zu gefallen.

Georg Kögler entstammte einer reichen Münchner Brauerei-Familie, und das sah man ihm auch an, fand Ricarda. Allerdings hatte er sich nicht auf den Lorbeeren seiner Herkunft ausgeruht, sondern sich als Rechtsanwalt einen Namen gemacht. Vor allem aber war er ein Mann mit dem Herz am rechten Fleck. Ein Mann, auf den Verlass war. Ein Fels, wenn die Wellen des Lebens anbrandeten. Dieses Gefühl gab er ihr auch jetzt, als er ihr seinen Arm bot.

«Hast du es gut überstanden?» Seine wohlklingende Stimme hatte einen schelmischen Unterton.

«Ich schon, die arme Schneiderin weniger!» Ricarda lachte. «Einmal tief eingeatmet, Naht geplatzt.»

«Besser dort als in der Kirche», antwortete er grinsend.

«Und du?», fragte Ricarda. «Was hast du so gemacht, während ich Kleiderpuppe gespielt habe?»

«Mir Berlin angeschaut. Die Stadt gefällt mir zunehmend», antwortete er. «Ich glaube, wir werden öfter hier sein.»

«Das ist erfreulich, aber was heißt das?»

«Wenn wir in München sind, werde ich mich mit meinem Bruder besprechen. Doch ich denke, wir sollten uns hier an einer Brauerei beteiligen.»

Wie das klang! Für sie ein Kleid, für ihn eine Brauerei … Doch sie wusste, dass er nicht nur Jurist, sondern auch ein ehrgeiziger Geschäftsmann war. Sein Bruder Rupert jedoch war Braumeister und somit der Fachmann.

Der Portier öffnete die Eingangstür zum Haus Unter den Linden, das der Komtess gehörte. Sie, Käthe, Ricarda und Georg traten ein. Und wieder durchfuhr Ricarda der Gedanke, dass auch dieses kleine Stadtpalais, das einst ihr Zuhause gewesen war, schon ganz bald und sehr endgültig zu ihrer Vergangenheit gehören würde. Doch noch gab es das Zimmer, das die Komtess ihr zugeteilt hatte. Damals, als sie als dreizehnjährige Gärtnertochter vom Brandenburger Land in die Hauptstadt gekommen war. Auch so eine einschneidende Wende in ihrem Leben, gegen die sie sich nicht gewehrt hatte.

«Entschuldigt mich. Ich möchte mich einen Moment zurückziehen», sagte Ricarda.

«Geht es dir nicht gut?», fragte Georg. Ehrliche Fürsorglichkeit stand in seinen Augen. «Man wird dir einen Tee bringen, ja?»

«Danke.» Sie ging in ihr Zimmer, streifte die Schuhe ab und ließ sich auf das Bett fallen, auf dem sie so viele Träume gehabt hatte. Der von einem Leben als Ehefrau war seltsamerweise nie darunter gewesen. Das fiel ihr jetzt erst auf.

Ob das gut gehen wird: ich als Ehefrau? Es musste gut gehen.

Schatten der Vergangenheit

Mai 1890

Von Schmerzen gepeinigt, reißt der am Boden liegende Drache sein zahnbewehrtes Maul auf, die Schwingen nutzlos ausgebreitet. Das Böse kann nicht mehr entkommen, die Lanze des entschlossen blickenden Reiters bohrt sich bereits in sein Herz.

Ricarda war so fasziniert von dem gewaltigen Altarbild, vor dem sie gerade neben Georg stand, um ihm das Jawort zu geben, dass sie kaum die Augen abwenden konnte. Sie hatte nicht gewusst, dass die mit hellem Marmor und Gold reich verzierte Barockkirche im Dorf Bogenhausen vor den Toren Münchens dem heiligen Georg gewidmet war, dem Drachentöter. Umso stärker beeindruckte sie die Darstellung, denn sie passte so gut zu Georgs Rolle in ihrem Leben. Wie ein Held in glänzender Rüstung war er gekommen, um ihr beizustehen.

Das leise Aufschluchzen in ihrem Rücken riss Ricarda aus ihrem Tagtraum. Auf den Bänken, denen sie den Rücken zuwandte, saßen Hunderte von Menschen, die zu ihrer und Georgs Hochzeit gekommen waren. Und das Schluchzen aus der ersten Reihe erkannte Ricarda deutlich. Ihre Mutter Karla war eine gläubige Katholikin mit spanischen Eltern, für die sich gerade ein Lebenstraum erfüllte: Ihre älteste Tochter heiratete nun auch. Endlich. Zwar hatte Ricardas Schwester Rosamunde, die alle nur Rosel nannten, fast auf den Tag genau vor drei Jahren den Bund fürs Leben geschlossen, aber eben nur in einer evangelischen Kirche in Brandenburg. Insofern konnte Ricarda sicher sein, in den Augen ihrer Mutter wenigstens ein Mal etwas richtig gemacht zu haben. Denn das mit dem Studium der Medizin war für die bodenständige Köchin Karla Petersen eher eine etwas zweifelhafte Sache. Wer ließ sich schon von einer Ärztin behandeln …

Um sich zu vergewissern, dass es ihrer Mutter gut ging, linste Ricarda nun doch über die Schulter. Rosel reichte ihr gerade ein Taschentuch, fing aber dennoch Ricardas Blick auf und lächelte ihr ermutigend zu.

Rosel war so ganz anders als sie selbst, hatte vom Vater das rotblonde Haar geerbt und die weichen Gesichtszüge der Mutter. Vor allem hatte sie ein unbeschwertes Naturell. Neben Rosel saßen die Komtess und Käthe, die selbstverständlich auch eine der Trauzeuginnen war. Neben ihr Lore, Ricardas Freundin seit Schulzeiten. Doch Lores Gesicht war wie versteinert. Ricarda sah ihr auch in diesem flüchtigen Moment an, dass sie nicht verstand, wieso Georg in dieser Kirche neben Ricarda stand. Und nicht Siegfried.

«Ricarda Petersen, ich frage dich vor Gottes Angesicht», fuhr der Pfarrer jetzt fort. «Nimmst du deinen Bräutigam Georg Kögler an als deinen Mann und versprichst, ihm die Treue zu halten in guten und bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, ihn zu lieben, zu achten und zu ehren, bis der Tod euch scheidet?»

In Georgs Gesicht lag der Anflug jenes Lächelns, das Ricarda inzwischen so gut an ihm kannte. Ein Lächeln, das ihr Mut machen sollte: Vertrau mir, wir schaffen das.

«So antworte mit Ja», sagte der Pfarrer.

«Ja», erwiderte Ricarda.

Behutsam schob Georg den Ring auf ihren Finger.

Der Kuss, mit dem Ricarda das Wort besiegelte, schmeckte eher nach Vernunft als nach Leidenschaft. Ein Gefühl von Dankbarkeit und Geborgenheit durchströmte sie, das schon, aber sie hätte sich gewünscht, Liebe zu empfinden. Denn Georg war ein liebenswerter Mann. Sie wollte ihn nicht enttäuschen.

 

Nur eine kleine Hochzeit sollte es werden, hatte Georg versprochen. Seine Familie kannte Ricarda so gut wie gar nicht und in München sowieso eigentlich niemanden. Sie hatte ja nicht ahnen können, was in Georgs Familie als kleine Hochzeitsfeier galt! Als Ricarda und Georg nun die Kirche verließen, liefen sie unter Blumengirlanden zur Kutsche, begleitet von den Jubelrufen Hunderter von Menschen, die den Platz vor der Dorfkirche füllten: «Gott beschütze das Brautpaar!»

Der Kutscher riss die Mütze vom Kopf, verneigte sich tief: «Von Herzen alles Gute, Herr Justizrat!» Er half Ricarda galant in die Kutsche. «Frau Justizrätin, möge Gott seine Hand allzeit über Sie halten!»

Frau Justizrätin. Es brauchte nur ein einziges Ja, um statt einer Frau Doktor etwas ganz anderes zu sein. Sie hatte den Titel ihres Gatten mitgeheiratet.

Georg winkte den Zaungästen zu. Weit mehr als tausend Angestellte, das hatte Georg ihr bei einer Führung durch den weitläufigen Gebäudekomplex gesagt, arbeiteten für die Brauerei seiner Familie.

«So a schönes Paar!», rief eine Frau überschwänglich. Ging es dem Fabrikbesitzer gut, ging es den Mitarbeitern gut, das war die einfache Wahrheit.

«Bist du ein wenig glücklich?», fragte Georg.

«Es ist ein wunderbarer Tag zum Heiraten», sagte sie. Die mit weißen Bändern und Blumen geschmückte Kutsche rumpelte unter dem hellgrünen Blätterdach der Bäume über den Sandweg am Hochufer der Isar entlang. Auf der anderen Seite des Flusses lag die Stadt, die von den Zwillingstürmen des Mariendoms überragt wurde. «Ich danke dir, Georg.»

«Ich bin dir dankbar, dass du dein Leben mit mir teilen willst.» Er sah sie verliebt an.

Die Kutsche erreichte den unter noch jungen Kastanienbäumen liegenden Biergarten, der zur Königlichen Hofbrauerei Kögler, kurz dem Köglerbräu, gehörte. Fahnen in den weißblauen Farben des Königshauses wehten im milden Maiwind, und auch hier jubelten bereits die Menschen dem Brautpaar zu. Eine Kapelle spielte lautstark auf Blechblasinstrumenten und stimmte einen Tusch an, als Ricarda und Georg aus der Kutsche stiegen.

«Eine kleine Hochzeit nennst du das?», fragte Ricarda lachend.

«Bei einer großen kommt der Prinzregent persönlich!», rief Georg ihr munter über den Lärm hinweg zu.

Ricarda konnte sich unter einem Prinzregenten zwar nichts vorstellen, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es besser wäre, wenn es tatsächlich bei einer kleinen Hochzeit bliebe. Denn es war ohnehin schon alles kompliziert genug, wie ihr der leicht empörte Blick ihrer Freundin Lore signalisiert hatte. Es war höchste Zeit, mit ihr ein klärendes Wort zu sprechen.

 

In dem mit Blumen reich geschmückten Ballsaal, dessen majestätische Gewölbedecke von römischen Säulen getragen wurde, gruppierten sich festlich gedeckte Tische um die Tanzfläche, wo eine Kapelle spielte. Doch Ricarda hatte ein wenig das Gefühl, Gast auf der eigenen Hochzeit zu sein. Denn bei der Gestaltung hatte sie nicht mitreden können. Geplant und arrangiert hatte alles Georgs Schwägerin Magdalena, die Ehefrau seines Bruders Rupert und neben Käthe Ricardas zweite Trauzeugin. Während ihr Mann Rupert die Ausstrahlung eines gutmütigen Bären hatte, schien Magdalena, eine rundliche, wie die meisten Damen in bayerische Tracht gekleidete Person, stets innerlich angespannt zu sein.

Leider hatte Georg Ricarda erst auf der Zugfahrt von Berlin nach München verraten, dass Magdalena die Schwester seiner vor vielen Jahren verstorbenen ersten Frau war. Zunächst hatte Ricarda dem keine Bedeutung beigemessen. Jetzt jedoch begriff sie, dass zumindest Magdalena sie stets mit ihrer toten Schwester vergleichen würde. Die ebenfalls von der Schwägerin festgelegte Tischordnung hatte das Brautpaar mit der Familie Kögler gemeinsam an einem Tisch platziert. Somit war Ricardas aus dem fernen Preußen angereiste Familie an den Nachbartisch verbannt.

Nur Käthe, die ebenfalls zu den Köglers zählte, hatte Magdalena einen Platz am Tisch des Brautpaars zugestanden. Nachdem gespeist worden war, meinte Käthe im Vertrauen: «Was ist denn mit Lore los? Sie macht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.»

Ebenso wie sie selbst hatte Lore bei Käthe und der Komtess das Grundwissen einer Krankenpflegerin erworben. Seit der Schulzeit hatten die Freundinnen alle Geheimnisse geteilt. So war Lore auch die Erste gewesen, die von Ricardas zuerst nur sehr zarter Verliebtheit in den Medizinstudenten Siegfried erfahren hatte. Selbst die Trennung, die Ricarda des Studiums wegen nach Zürich geführt hatte, konnte die beiden nicht entfremden. Im Gegenteil: Lore war es gewesen, die Siegfried der Schicklichkeit halber als Anstandsdame nach Zürich begleitet hatte.

Doch die Vertrautheit hatte einen Bruch bekommen. Die Freundin war in Berlin gewesen, Ricarda in Zürich, als sich Anfang dieses Jahres die Ereignisse überstürzt hatten. Ricarda hatte einfach nur noch versucht, nicht unterzugehen in dem Strudel, in den sie geraten war. Erst vor ein paar Wochen hatte sie Lore von ihrer Hochzeit erzählt, vielleicht auch, weil sie ahnte, dass die Freundin ihre Entscheidung nicht billigen würde.

Mit einer Mischung aus Wiedersehensfreude und schlechtem Gewissen setzte Ricarda sich nun neben Lore an den Tisch, an dem auch Ricardas Familie saß. «Danke, dass du die weite Reise gemacht hast», sagte sie und legte ihr vertraut den Arm um die Hüfte.

Trotz des festlichen Anlasses trug Lore ein schlichtes schwarzes Kleid mit dezentem weißem Spitzenbesatz. Sie ist wohl die einzige Frau, deren Kleidung eher bei einer Beerdigung angemessen wäre, dachte Ricarda. Lores dunkelblondes, dichtes Haar war zu einem strengen Knoten gesteckt, was ihre weichen Gesichtszüge betonte.

«Ach, Rica, du hast immer alles anders gemacht als wir alle», sagte Lore mit einem schiefen Lächeln, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. So hatte sie schon reagiert, als Ricarda ihr gesagt hatte, dass sie Georg heiraten wollte.

«Freu dich ein bisschen für mich, bitte», sagte Ricarda.

«Tue ich doch.» Lore wischte sich die Tränen vergeblich fort. «Georg ist so …» Lore brach ab, und Ricarda hing gebannt an den Lippen der Freundin, um ihr Urteil zu hören. «Anders», sagte sie. «Anders als ich gedacht habe, dass der Mann wäre, den du heiratest.»

Wir brauchen Männer, die zu uns passen, hörte Ricarda die Freundin sagen. Acht Jahre war das her. Es war eine Kampfansage an die Männerwelt gewesen. Als hätte Lore verlangt, dass es im Hochsommer schneit. Frauen durften so nicht denken. Frauen mussten sich Männern anpassen. Sie beide hatten sich dem verweigern wollen. In den Augen der Freundin musste es so aussehen, als hätte Ricarda dieses Ziel verraten.

«Lass dich von seinem Äußeren nicht täuschen, Lore», sagte Ricarda. «Du wirst ihn kennenlernen. Und du wirst ihn mögen. Er ist …»

In diesem Moment spielte die Kapelle wieder einen lauten Tusch. Es waren Blechbläser. Und sie schafften es, jedes Gespräch zum Erliegen zu bringen, wenn sie wollten. Nun forderte der Hochzeitslader, der für die Stimmung im Saal verantwortlich war, das Brautpaar auf die Tanzfläche. Lore hatte gerade nach Ricardas Hand gefasst gehabt, und sie musste sie ihr entziehen. Alle Augen richteten sich auf die Braut. Sie musste lächeln und mit ihrem Mann tanzen. Und die Freundin mit ihren Fragen allein lassen.

 

Ricarda schwebte über das Parkett des geschmückten Ballsaals vom Köglerbräu. Gott sei Dank war die schlimme Phase der Schwangerschaft, in der sie ständig unter Übelkeit gelitten hatte, überstanden. Wie es bei einer Hochzeit im Stil alter Volksbräuche üblich war, lösten sich die Herren darin ab, mit der Braut zu tanzen. Nachdem zuvor Georg mit ihr getanzt hatte, war es nun ihr eigener Vater, der sie elegant über das Parkett geleitete.

Gustav Petersen war aus dem fernen Rügen gekommen und hatte damit die wohl weiteste Anreise aller Gäste gehabt. Seitdem er und ihre Mutter sich vor drei Jahren getrennt, allerdings nicht scheiden hatten lassen, hatten sich Vater und Tochter nicht gesehen. Der Tanz bot Gelegenheit zum ungestörten Gespräch, bei dem er erzählte, dass er auf der Insel eine Gärtnerei eröffnet habe.

«Er scheint ein ehrbarer Mann zu sein, dein Georg», sagte er. «Aber ich bin überrascht über deine Wahl.»

Da war er nicht der Einzige, das war ihr klar. «Warum, Vater?», fragte sie dennoch.

«Du warst immer eine kleine Rebellin, Ricarda. Ich hätte erwartet, dass du einen Mann wählst, der dir ähnlicher ist.»

Ricarda lachte. «Georg hätte es in der Tat einfacher haben können als ausgerechnet mit mir!»

Ihr Vater stimmte in ihr Lachen ein, dann wurde er wieder ernst. «Meinst du nicht, dass Berlin dir fehlen wird?»

«Natürlich», gab sie zu. Jahrelang hatte sie in Zürich gelebt, heimisch hatte sie sich immer nur in Berlin gefühlt. «Aber alles hat seinen Preis, nicht wahr?»

Gustav Petersen nickte. «Ich wünsche dir viel Glück, Rica.»

Die Musik endete. Es war der erste Tanz, den sie je getanzt hatten. «Ich wusste gar nicht, dass du das so gut kannst», sagte sie, als ihr Vater sie zu ihrem Platz an Georgs Seite geleitete.

In diesem Moment intonierten die Blechbläser der Musikkapelle einen flotten Marsch, und alle, die gesessen hatten, standen auf, klatschten mit und blickten erwartungsvoll zum Eingang des Ballsaals. Ein freundlich lächelnder, schlanker Herr in Uniform von Ende sechzig mit einem prächtigen Vollbart spazierte von ein paar Offizieren begleitet hinein.

«Wer ist das?», flüsterte Ricarda ihrem Mann zu.

Georg grinste, und sie sah ihm an, dass er gerade sehr stolz war. «Wird doch eine große Hochzeit: Das ist der Prinzregent.»

Der Monarch winkte den Gästen zu und wirkte dabei eher amüsiert als geschmeichelt. «Mein lieber Kögler, ganz herzlichen Glückwunsch zur Eheschließung», sagte er, sobald die Marschmusik geendet hatte.

«Durchlaucht, es ist mir eine Ehre! Vielen Dank. Darf ich Ihnen meine Gemahlin vorstellen. Frau Doktor Ricarda Kögler.»

Ricarda konnte nur vermuten, dass von ihr ein tiefer Knicks erwartet wurde, während sie gleichzeitig Dankbarkeit empfand. Georg hatte sie mit ihrem akademischen Titel eingeführt. Der Knicks gelang, obwohl Ricarda bezweifelte, dass er höfisch genug war.

«Eine Frau Doktor!» Der Prinzregent küsste ihre Hand. «Welche Art von Doktor sind Sie denn?»

«Der Medizin, Durchlaucht.»

«Mein lieber Kögler, da kann Ihnen ja nun gar nichts mehr passieren. Eine Leibärztin haben Sie sich geheiratet. Dann passen Sie mal gut auf Ihren Gemahl auf, kleine Frau. Alles Gute für Sie, in unserem schönen Bayern! Jetzt entführ ich Ihnen noch mal kurz den Gemahl.»

Georg zwinkerte ihr zu und gab der Kapelle gleichzeitig das Zeichen, wieder aufzuspielen. Dann verließen die beiden Männer Seite an Seite wie vertraute Bekannte den Ballsaal.

«Ist das nicht ungewöhnlich, dass der König zu einer Hochzeit kommt?», fragte Ricarda.

Käthe lachte. «München ist nicht Berlin. Hier kennt man sich. Das ist wie ein großes Dorf. Außerdem ist er kein König, er vertritt ihn nur. Der eigentliche Thronfolger ist geistig umnachtet. Eine traurige Sache, aber gerade weil Luitpold nicht König sein muss, ist er vielleicht ein bisschen anders.»

«Der Prinzregent ist ein Geschenk!», mischte sich Rupert ein, der nun hinzutrat. «Schwägerin, schwingst du mit mir auch einmal das Tanzbein?»

Ricarda mochte Georgs Bruder Rupert seit ihrer ersten Begegnung. War der zwei Jahre jüngere Georg schon ein Mann, den nichts aus der Ruhe zu bringen schien, so brauchte es wohl ein Erdbeben, um Rupert zu erschüttern. Doch auf der Tanzfläche bewegte sich der bärige Mann erstaunlich elegant. Dabei erzählte er amüsant von Luitpolds Neffen, dem vier Jahre zuvor verstorbenen Ludwig II. Dem sogenannten Märchenkönig verdankten die Köglers die Gnade, ihre Firma Königliche Hofbrauerei nennen zu dürfen.

«Seitdem ist die Brauerei ganz hervorragend gewachsen», sagte er, als ihm ein Herr auf die Schulter klopfte, um ihm zu bedeuten, dass er ihn beim Tanz mit der Dame abzulösen gedachte.

Ricarda hob den Kopf, und das Blut gefror ihr in den Adern, als sie in die spöttisch blickenden Augen des Mannes sah, mit dem sie jetzt tanzen musste, wenn sie keinen Skandal provozieren wollte.

 

«Was bilden Sie sich ein!» Sobald sie sich einigermaßen sicher war, dass niemand zuhören konnte, fuhr Ricarda Giacomo Cossata d’Aperi mit kaum unterdrückter Wut an. «Auf meiner Hochzeit aufzutauchen, das ist eine Unverschämtheit!»

«Sie sind immer so uncharmant, Dottoressa.» Er schüttelte mit gespieltem Beleidigtsein den Kopf. «Wir waren doch damals in Zürich schon gute Freunde!»

Gute Freunde? Damals?

Es war gerade einmal vier Monate her, dass er sie in Zürich vergewaltigt hatte. Ihr ganzes Leben hatte er in den wenigen Augenblicken verändert, in denen er auf einer Treppe über sie hergefallen war. Das Kind, das sie unter dem Herzen trug, hatte er gewaltsam gezeugt.

Den Vergewaltiger bei der Polizei anzeigen? Ricarda hatte es ebenso wenig erwogen wie ihre Ratgeberinnen, die Komtess und Käthe. Stand es Aussage gegen Aussage, hatte die Frau keine Chance. Eine schwangere, ledige Frau war in den Augen der Gesellschaft nicht mehr wert als eine Prostituierte. Deswegen war Georg zu dem Ritter geworden, der ihren Ruf als ehrbare Frau rettete.

«Wie kommen Sie überhaupt hierher?», schnaubte sie.

«Contessa Florentine bat mich darum, sie zu begleiten. Selbstverständlich konnte ich ihr den Wunsch nicht abschlagen. Wir waren in Zürich doch wie eine große Familie.»

Ricarda hätte vor Wut platzen können. Wo immer möglich, war sie Cossata in der Zeit aus dem Weg gegangen, als sie in Florentines Züricher Villa gewohnt hatte.

Florentine von Freystetten, die Nichte der Komtess, hatte Ricarda bislang nur flüchtig begrüßt. Insofern war der Auftritt dieses Mannes für sie eine sehr unangenehme Überraschung. Natürlich hatte sie Florentine einladen müssen. Mit Begleitung. Alles andere wäre ein Affront gewesen. Von der Vergewaltigung wusste Florentine zwar nichts, dass Ricarda Cossata jedoch nicht mochte, das allerdings konnte nicht einmal Florentine verborgen geblieben sein. Leider war Feingefühl nie Floras Stärke gewesen, das wurde auch jetzt offenbar.

«Ich solle Glanz verbreiten, meinte die Contessa. München ist in der Tat ein bisschen provinziell, finden Sie nicht?»

«Der einzige angemessene Ort, den es für Sie gibt, ist ohnehin ein Müllhaufen», zischte Ricarda und schob seine Hand, die eindeutig zu weit nach unten gewandert war, brüsk fort.

Ihre Frechheit animierte ihn zu einem tiefen Lachen. «Sie gehören zur guten Gesellschaft, habe ich festgestellt», sagte er. «Sogar der hiesige König macht Ihnen seine Aufwartung. Ihr Gemahl scheint vermögend zu sein.»

Worauf lief das hier hinaus?, dachte sie. «Sie haben doch schon eine Gans, die Sie nicht nur zur Weihnachtszeit ausnehmen», fauchte sie.

Er amüsierte sich köstlich. «Wunderbar, Dottoressa! Wenn Sie so zornig sind, fühle ich, was ich schon einmal für Sie empfunden habe.»

«Lassen Sie mich los!» Sie versuchte, sich frei zu machen, hatte jedoch nicht mit seiner Gegenwehr gerechnet, obwohl sie beide sich längst nicht mehr im Takt des Walzers bewegten.

«Mein Herr, ich denke, ich sollte nun wieder mit meiner Braut tanzen», sagte Georg, der plötzlich hinter Cossata aufgetaucht war. Er war etwas größer und seine Schultern breiter. Zum Glück endete jetzt der Walzer.

«Ich brauche eine Pause», sagte Ricarda und hängte sich bei Georg ein.

Sobald sie die Tanzfläche verlassen hatten, sagte Cossata: «Dottoressa, wollen Sie mich Ihrem Herrn Gemahl nicht vorstellen?»

«Nein», antwortete sie entschieden.

«Offenbar behagt meiner Braut Ihre Anwesenheit nicht. Ich bitte Sie, das Fest zu verlassen», sagte Georg sofort.

Cossata fiel für einen Moment die Maske der gespielten Höflichkeit vom Gesicht. Dann lächelte er. «Ich denke nicht daran. Ich bin mit Contessa Florentine von Freystetten hier. Sie hat mich gebeten, sie zu begleiten.»

Der ungewöhnliche Wortwechsel hatte inzwischen die Aufmerksamkeit mehrerer Gäste erregt. Sie bildeten bereits einen Halbkreis um Ricarda und die beiden Männer.

«Dann werde ich die Komtess fragen, ob sich das so verhält», sagte Georg mit seiner festen Stimme.

«Sie bezichtigen mich, ein Lügner zu sein?»

«Wenn Sie darauf bestehen», erwiderte Georg ruhig.

Cossata legte sich theatralisch die Hand auf die Brust. «Mein Name ist Giacomo Cossata d’Aperi. Ich entstamme altem lombardischen Adel.»

«Entstammen Sie, wem Sie wollen. Sie sind meiner Frau und mir nicht willkommen», erwiderte Georg.

Der Kreis der Neugierigen wurde immer größer. Nun trat Georgs Bruder Rupert hinzu, und ihm folgte Käthe, die wiederum von Komtess Henriette begleitet wurde. Im Gegensatz zu Käthe kannte die Komtess Cossata oberflächlich von einem früheren Besuch in der Villa ihrer Nichte. Allerdings hatte Ricarda beiden gesagt, dass er sie vergewaltigt hatte. Georg hingegen hatte sie dies nie eröffnet, dennoch hatte er das Geheimnis um die Vaterschaft großzügig akzeptiert. Jetzt, da der Konflikt sich unversehens zuspitzte, hatte Ricarda den Eindruck, dass der feinfühlige Georg Cossatas Rolle im Leben seiner Frau begriff.

Ricarda spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Und in diesem Augenblick fühlte sie den Tritt. Sie zuckte zusammen und griff sich instinktiv an den Bauch. Das Kind bewegte sich zum ersten Mal! Georg legte den Arm schützend um Ricarda.

«Oh, ich verstehe», sagte Giacomo Cossata d’Aperi gedehnt und mit einem hässlichen Grinsen.

«Werft ihn raus», sagte Georg betont ruhig.

Sein Bruder und ein paar andere Männer packten den Mann und führten ihn unsanft zur Tür.

«Sie werden von mir hören!», rief Cossata d’Aperi, bevor er aus Ricardas Sichtweite verschwand.

 

In den fünf Jahren ihrer Ausbildungszeit hatte Ricarda bei etlichen Geburten geholfen und sie am Ende sogar selbst geleitet. Doch keine der Frauen hatte ihr von diesem unglaublichen Moment erzählt, wenn die werdende Mutter den ersten kleinen Gruß von dem Leben erhält, das in ihr heranwächst. Es war schon erstaunlich, dass sie ausgerechnet in dem Augenblick, als der Streit mit Cossata d’Aperi eskaliert war, den ersten kleinen Tritt gefühlt hatte. Als empfände das Ungeborene das, was die Mutter spürte: Wut und Empörung.

Zu gern wäre sie jetzt allein gewesen und hätte einfach nur in sich hineingespürt. Sie riss sich zusammen und ließ den kostbaren Moment verfliegen, als ihre Freundin Lore auf sie zukam. «Geht es dir gut, Rica?»

«So ein eingebildeter Affe», erwiderte Ricarda und versuchte zu lächeln.

«Den meine ich nicht», sagte Lore, die als Pflegerin schon etliche Geburten begleitet hatte. «Du hast dir so seltsam an den Bauch gegriffen.»

«Es ist nichts.»

Zuerst aus Scham und dann, weil sie einen folgenschweren Entschluss gefasst hatte, hatte Ricarda auch Lore nie eingeweiht: Niemand sollte je erfahren, wer der tatsächliche Vater des Kindes war. Es sollte unbehelligt von der Vergangenheit als Georgs Kind aufwachsen dürfen.

Nun kam Rupert zurück und legte seine Hände beruhigend auf die Schultern des Brautpaares. «Zu einer zünftigen Hochzeit gehört ein kleiner Skandal!», rief er leutselig in die Runde, und alle lachten gelöst.

«Cousin Rupert, lass uns tanzen», meinte Käthe und entschwand mit ihm auf die Tanzfläche.

Ricarda beobachtete, wie die Komtess sich an einen etwas weiter entfernten Tisch setzte, an dem auch ihre Nichte Florentine saß. Offenbar war Flora Cossata d’Aperi nicht nach draußen gefolgt. Eigentlich hätte Ricarda sich nun auch zu Flora setzen müssen, aber ihr fehlte die Kraft dazu.

Jetzt beugte sich von der anderen Seite Ruperts Frau zu Georg. Sie sprach leise und eindringlich auf ihn ein. Ricarda hatte mit Magdalena Kögler bislang wenig zu tun gehabt. Sie war meistens zu Hause und kümmerte sich um ihre beiden Kinder. Dass sie als Ricardas zweite Trauzeugin fungierte, hatte rein praktische Gründe. Lore, die Ricarda am liebsten als Trauzeugin gehabt hätte, war jüdischen Glaubens und kam damit nicht in Frage.

Plötzlich sagte Georg entschlossen: «Ach, Magdalena, du siehst ja Gespenster!»

Seine Schwägerin zog sich mit beleidigter Miene zurück.

«Was ist denn?», fragte Ricarda ihren Mann.

«Magdalena meint, dass man mich zum Duell fordern könnte. Solch ein Unsinn. Lass uns tanzen! Wir heiraten nur ein Mal, und ich werde mir unsere Feier nicht verderben lassen.»

Er küsste sie auf die Wange, und sie ließ sich von ihm fortziehen. Das Kind in ihrem Bauch hörte auf zu boxen, als Ricarda sich ganz der Musik hingab.

Jetzt, wo sie ungestört waren, hätte Georg fragen können, wer der Mann war, auf den Ricarda so wütend reagiert hatte. Er tat es nicht. Stattdessen hätte sie selbst es erzählen müssen, doch sie war weiterhin fest entschlossen, das Kind in ihrem Bauch vor der Wahrheit zu beschützen. Solange sie es konnte.

 

Käthe hatte Ricarda ein gemütliches Kaffeehaus in der Amalienstraße nahe der Münchener Universität empfohlen, um sich dort mit Lore am nächsten Vormittag auszusprechen. Wie immer, wenn Wichtiges zu besprechen war, bestellten die Freundinnen heiße Schokolade.

Lore kam gleich zur Sache: «Weißt du noch, wie wir vor ein paar Wochen über die Pfaueninsel gingen und du mir sagtest, alles ist aus mit dir und Siegfried? Rätseln hast du mich lassen, warum. Du hättest mir doch nur sagen müssen: Ich erwarte ein Kind von einem anderen Mann. Du bist meine Freundin. Ich hätte es schon verstanden, wenn du es mir erklärt hättest.» In Lores Blick lagen Enttäuschung und ein wenig Zorn. «Man schwindelt doch nicht die beste Freundin an, wenn es um etwas so Bedeutendes geht.»

Ricarda stimmte ihr schweigend zu. Wenn es nur so einfach gewesen wäre, wie Lore annahm.

«Du sagst nichts, Rica?» Lore nahm Ricardas Hand, die auf dem Tisch lag. Die andere beschützte ihren Bauch. «Da stimmt doch etwas nicht. Was ist los? Wir haben einander immer vertrauen können.» Lores Stimme war einfühlsam und ihr Blick sanft.

Die Freundin war die Erste gewesen, die von Ricas Verliebtheit in den jungen Medizinstudenten Siegfried Thomasius gewusst hatte. Und hatte nie zu jemandem ein Wort gesagt. Aber war das Geheimnis um das Ungeborene nicht so viel schwerer zu hüten, weil es einen Menschen betraf, der sich nicht selbst schützen konnte?

«Ich wollte erst heiraten, bevor ich das freudige Ereignis allen mitteile», sagte Ricarda so leichthin, wie es ihr möglich war.

Ein Schleier der Enttäuschung legte sich über Lores Gesicht. Sie spürte, dass sie belogen worden war. Für einen Moment erwog Ricarda sogar noch, die Lüge zurückzuholen. Doch sie ließ es.

«Ich habe mich wohl sehr in dir getäuscht», sagte Lore mit zornig funkelndem Blick. «Ein steinreicher Mann, der dir alle Hindernisse aus dem Weg räumt, ist dir lieber als ein unbekannter Stabsarzt.»

«Nein!», rief Ricarda tief getroffen.

«Wie stolz er auf dich ist, dein Georg. Sogar dem freundlichen König hat er es gleich gesteckt – seine Frau Doktor. Ach, Ricarda, merkst du denn nicht, was gespielt wird? Du bist ein Accessoire.»

Wie bitter die Freundin klang. Nein, Ricarda war kein Anhängsel von Georg, da war sie sich sicher. Es war zwar auffällig, wie stolz er sie vorgestellt hatte. Dass er ihre Leistung herausstellte, hatte sie aber erst recht gefreut.

«Wie dem auch sei», sagte Lore und räusperte sich. «Ich muss dir auch etwas erzählen.»

«Sag bloß, du hast einen Mann in dein Herz gelassen», sagte Ricarda. So ganz mochte sie nicht annehmen, dass es so war. Dazu passte der Tonfall der Enttäuschung nicht, der nach wie vor in ihrer Stimme lag.

Lore sah sie entsetzt an. «Nein! Wie kommst du darauf?»

«Das wäre doch schön, wenn es so wäre, oder?»

«Ist ja nicht jede so übereifrig in Liebesdingen wie du.»

Das saß und tat weh.

«Ich habe Siegfried getroffen», sagte Lore.

Ricarda glaubte, ihr Herz würde aussetzen. «Ach», brachte sie nur hervor.

«Ich habe ihm gesagt, warum ich nach München fahre.» Ihr Blick schweifte ab zum Fenster, das auf die Straße ging.

«Wirklich?», hauchte Ricarda und spürte, wie das Kind in ihrem Bauch wahre Boxkämpfe ausfocht. «Wie hat er reagiert?»

«Interessiert dich das denn überhaupt?»

Ricarda schlug die Augen nieder. «Nein, es darf mich nicht interessieren. Du hast recht.»

«Ich sag dir trotzdem, wie er reagiert hat. Er hat keine Miene verzogen. Als wäre es ihm egal. Und ich sagte: Du bist aber hart im Nehmen. Und er sagte: Ich hatte ein wenig Zeit, es zu verarbeiten. Die Komtess hat mir gesagt, dass Ricarda im Mai heiratet.» Lore wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

Ach du lieber Gott, dachte Ricarda. Sie selbst hatte ihm das Herz gebrochen und die Komtess ihm den endgültigen Todesstoß versetzt. Ja, sie konnte brutal konsequent sein. Niemand hatte Siegfried die Hintergründe erklärt, warum Ricarda sich gegen ihn entschieden hatte, als er so plötzlich in Berlin aufgetaucht war. Seit Jahren hatte er, der vom Militär ausgebildete Stabsarzt, für das Vaterland seinen Dienst in den deutschen Kolonien geleistet.

«Dass du Siegfried nicht gesagt hast, wie es um euch steht, war feige, Ricarda», sagte Lore leise und mit fester Stimme. «Und ich dachte immer, du bist so mutig.»

«Es war nicht so, wie du es darstellst, Lore. Siegfried hatte mir einen Brief aus Afrika geschrieben. Dass er fünf Monate später nach Deutschland käme. Dann sollten wir heiraten. Wenn ich zustimmte, aber …»

«Hat er mir alles erzählt», unterbrach Lore. «Du hast ihm telegraphiert. Nur ein einzelnes Wort: Nein. Siegfried nahm das nächstbeste Handelschiff, das voller Ratten war, um zu dir zu kommen. In nur drei Wochen von Westafrika nach Berlin, weil er um dich kämpft. Kauft einen Riesenstrauß Rosen, um dich zu halten, und du spazierst ihm fröhlich am Arm eines anderen Mannes Unter den Linden entgegen. Und sagst nicht mal guten Abend. Rica, was für ein Mensch bist du?»

Ricardas innere Stimme hatte an jenem Abend sogar gesagt: Lauf, hol die Liebe deines Lebens zurück! Doch sie war geblieben. An der Seite von Georg, der nie eine Frage gestellt hatte. Der nur gesagt hatte: Ich stehe dir bei, egal was ist, weil ich dich liebe. Für seine Selbstlosigkeit hatte sie sich entschieden. Anstatt in ihrer unsicheren Lage auf einen Mann zu warten, mit dem sie seit Jahren verlobt war. Der aber nie an ihrer Seite war, weil er durch die Welt reisen musste.

Das Ungeborene in Ricardas Bauch boxte und trat um sich. Sie konnte sich kaum auf dem Stuhl halten, so übel war ihr. Aber so hart ihre Entscheidung Lore auch erscheinen mochte, sie stand dazu.

Lore legte Geld auf den Tisch. «Ich hätte gar nicht erst zu deiner Hochzeit kommen sollen. Das war ein Fehler. Ich verstehe dich nicht. Du hast dich verändert, vertraust mir nicht mehr. Ich glaube, unter diesen Umständen ist es nicht sinnvoll, weiter an unserer Freundschaft festzuhalten. Es tut mir leid.» Sie erhob sich. «Ja, es tut mir wirklich leid um uns. Wir haben uns immer gerngehabt.» Sie stürzte zur Tür.

Ricarda starrte ihr regungslos nach. Sie begriff gar nichts. Wieso reagierte die Freundin derart heftig? «Lore, geh nicht. Nicht so, bitte!»

Die anderen Gäste starrten sie an. Ricarda ignorierte ihre Blicke und stürzte Lore nach, die draußen gerade in eine Droschke stieg. Ricarda hob die Hand, um ihr zu winken, rief: «Lore, warte!»

Aber die Kutsche fuhr einfach weg.

 

Gedankenschwer ging Ricarda langsam durch die Maxvorstadt zurück zu ihrem neuen Zuhause. Wie eine Traumwandlerin lief sie dahin. Dachte an die erste Begegnung mit Lore in der Lehranstalt von Lucie Crain. Die neuen Eindrücke, die Menschen im großen Berlin, die so ganz anders waren als in ihrer Heimat auf dem Dorf in Brandenburg. Vor allem Lore war ihr so feindlich begegnet, dass sie nie gedacht hätte, dass aus ihnen beiden einmal Freundinnen werden würden. Und dann kam Lores vierzehnter Geburtstag, der Wendepunkt. Einen wichtigen Anteil daran hatte Kumari, das Mädchen mit der ceylonesischen Mutter und dem deutschen Vater, der mit Löwen und Menschen aus Afrika handelte. Die drei Mädchen waren lange so unzertrennlich, dass sie sogar den gleichen Beruf anstrebten und Pflegerinnen werden wollten. Bis Kumari nach Ceylon und Ricarda später nach Zürich ging, um als einzige der drei Freundinnen Medizin zu studieren.

Ich muss unbedingt Kumari schreiben, dachte Ricarda jetzt. Sie steht bestimmt noch immer im regen Briefwechsel mit Lore. Vielleicht kann sie vermitteln. Aber was schreibe ich Kumari? Die gleichen Lügen? Oder kann ich ihr, die jetzt mit zwei eigenen Kindern im fernen Britisch-Ostafrika lebt und meinem Kind wohl nicht so bald begegnen wird, die Wahrheit anvertrauen?

Sie kehrte ungern in die Villa der Brauereikönige zurück, dieses riesige Anwesen, dem man das Geld ansah. Zeigte der Spiegel, den Lore ihr vorgehalten hatte, das wahre Abbild ihres gegenwärtigen Ichs?

Nun hatte ihr Geheimnis sie Lores Freundschaft gekostet. Wen würde sie noch verlieren, um das Verbrechen zu vertuschen, das man ihr angetan hatte?

Obwohl alle Straßen des Viertels sich rechtwinklig kreuzten, war es Ricarda gelungen, sich komplett zu verlaufen. Sie fand sich vor einem Gebäude wieder mit drei großen Bögen, in denen kriegerisch blickende Männer von zwei Steinlöwen bewacht wurden. Zwischen den Löwen führten Stufen hinauf, auf denen sie sich entmutigt niederließ.

Eine alte dicke Frau mit einem Korb ging vorbei. Ricarda achtete nicht weiter auf sie. Aber die Frau blieb stehen und sah sie an. «Ja, was is mit Ihnen, junge Frau?», fragte sie. «Sie schaun ja so traurig drein.»

«Ich weiß nicht, wo ich bin», sagte Ricarda, und die Tränen schossen ihr in die Augen.

«Das hier is die Feldherrnhalle. Wo wollen S’ denn hin?»

«Karolinenplatz. Da wohnt mein Mann», sagte sie und putzte sich die Nase.

«Und Sie doch auch, gell?», sagte die Frau mit einem zurückhaltenden Lächeln. «Da, nehmen S’ das Straußerl und bringen S’ das Ihrem Schatz.» Ihr Korb war voller Maiglöckchen. «Und auf dem Weg zu ihm, da riechen S’ immer wieder an die Maiglockerl. Alles wird wieder gut, wenn man nur den Mut dazu hat.»

 

Mit dem hübschen Strauß in der Hand betrat Ricarda die Villa Kögler. Inzwischen war es Mittag geworden, jeden Tag pünktlich um zwölf versammelte sich die ganze große Familie zum Essen. Das waren manchmal zwanzig Menschen, die aus allen Ecken der Stadt herbeikamen. Entsprechend geschäftig lief um diese Zeit das Personal durch die Halle.

Plötzlich stand Frau Zeilinger vor Ricarda. «Frau Justizrätin, gut, dass Sie endlich da sind! Die Herrschaften sind alle im Salon!»

Jetzt hörte sie die Stimmen, die durcheinandersprachen. Sie atmete durch und trat ein. Augenblicklich herrschte gespenstisches Schweigen, und alle schienen auf den Maiglöckchen-Strauß in ihrer Hand zu starren. Plötzlich kam er ihr lächerlich klein vor. Vor Georg, der vor dem Kamin stand, lagen seine beiden Hunde. Max war ein schokoladenbrauner Deutsch Kurzhaar und Moritz ein hellbrauner Langhaardackel. Sobald Ricarda eintrat, standen die beiden Hunde auf und liefen auf sie zu.

«Was ist passiert?», fragte Ricarda. «Frau Zeilinger war ganz aufgeregt.»

«Man hat mich zum Duell gefordert», sagte Georg, ohne eine Miene zu verziehen.

«Um Himmels willen!», rief Ricarda und trat zu ihrem Mann an den Kamin. «Das ist ja furchtbar.»

Ricardas Schwägerin Magdalena Kögler schoss aus ihrem Plüschsessel empor. «Und das nur wegen dir. Das war so ein friedliches Haus, bevor du kamst.» Von Magdalena, die erheblich kleiner und breiter war als Ricarda, ging eine massive Körperlichkeit aus.

Während Magdalenas Mann Rupert nur auf seiner Lippe kaute, wies Georg seine Schwägerin zurecht: «Ich verlange, dass du dich sofort bei Ricarda entschuldigst, Magdalena.»

«Verzeihung», murrte Magdalena. «Aber ein ungutes Gefühl darf ich ja wohl haben.»

«Wer fordert dich zum Duell?», fragte Ricarda.

«Als ob du das nicht wüsstest!», ereiferte sich Magdalena.

Georg reichte Ricarda einen elfenbeinfarbenen Umschlag, den ein verspieltes Wappen zierte. Es sah edel und billig zugleich aus. Darunter in geschwungenen Lettern der Name des Absenders. Giacomo Cossata d’Aperi.

Dieser Name genügte, um die unangenehme Szene auf der Hochzeitsfeier vor ihrem inneren Auge wieder lebendig werden zu lassen. Sie werden von mir hören.

Mit fliegenden Mantelschößen stürmte nun Bernhard Althuber in den Salon. Er war Georgs Partner in der Anwaltskanzlei und sein Trauzeuge. Die beiden Männer nahmen sich Schulter klopfend in die Arme. Die beiden Kögler-Brüder und Bernhard verband eine jahrelange Freundschaft. Er war groß, trug die Haare millimeterkurz, eine Brille mit runden Gläsern und Drahtgestell – eine Mischung aus Intellektuellem und Tatenmensch.

«Nein, Georg», meinte er leidenschaftlich, «darauf lässt du dich nicht ein! Ich kenn dich. Ich weiß, dass du solch einer Herausforderung nicht aus dem Wege gehen willst. Aber nur über meine Leich!»

«Der will meine Leiche, nicht deine!»

An Georgs manchmal sehr trockenen Humor hatte Ricarda sich noch nicht gewöhnt.

Bernhard küsste Ricarda galant die Hand. «Mach dich nicht verrückt, Ricarda. Das schaffen wir aus der Welt. Georg hat den Mann nicht direkt einen Lügner genannt. Das haben alle gehört. Er gibt also keine Grundlage für ein Duell.»

«Kommt drauf an», widersprach Georg ebenso gelassen. «Du sagst es selbst: Wir haben es alle gehört. Aber wenn er Gäste benennt, die das Gegenteil bezeugen, habe ich ein Problem.»

«Solche Winkelzüge beherrschst du!» Bernhard lachte. «Fraglich, ob jener Herr sich auskennt.»

Ricarda erinnerte sich plötzlich an ein Treffen von Lore, ihr und der gemeinsamen Freundin Kumari im Hotel de Rome in Berlin Unter den Linden. Kumari, die aus Ricardas Hand las. Drei Männer spielen in deinem Leben bedeutende Rollen, hatte sie vorausgesagt. Einer ist der ganz falsche.

Und dann hatte sie prophezeit: Hier in dieser Linie sehe ich ein großes Problem auf dich zukommen, und das hängt mit dem falschen Mann zusammen. Du musst gut aufpassen in nächster Zeit.

 

Georgs Atem ging langsam und ruhig. Hin und wieder drehte er sich von einer Seite auf die andere. Dann lag er wieder ganz still.

«Du kannst auch nicht schlafen», sagte Ricarda leise. Sie rückte zu ihm herüber und schmiegte den Kopf auf seine Brust. «Was denkst du?»

«Nichts.»

«Ich will nicht, dass du dich duellierst.»

«Es muss sein, Rica.»

Sie schrak hoch. «Warum?»

«Damit er dich in Ruhe lässt.»

«Mich?», fragte sie zurück. Sie hatte sich also doch nicht geirrt. Georg wusste, wer Cossata war. Oder hatte zumindest eine Vermutung, was zwischen ihm und ihr vorgefallen war. Doch sein Taktgefühl verbot es ihm, es direkt anzusprechen.

«Er wird mich in Ruhe lassen, Georg», sagte Ricarda, um ihm deutlich zu verstehen zu geben, dass sie seine Anspielung verstanden hatte. Ganz bewusst setzte sie hinzu: «Darum lass mich das regeln. Ich finde eine andere Lösung.» Den ganzen Tag hatte sie darüber nachgedacht.

Er strich über ihr dichtes dunkles Haar. «Nein, Rica. Ich will nicht, dass du irgendwas unternimmst. Ich bin dein Mann. Ich beschütze dich.»

«Das kannst du nur, solang du am Leben bleibst, Georg.» Sie beugte sich über ihn und küsste ihn leidenschaftlich. Und in ihrem Kopf nahm ein Plan Gestalt an.

 

Ricarda betrat zielstrebig die Empfangshalle des Hotels Vier Jahreszeiten, fragte nach Komtess Florentine von Freystetten und klopfte kurz darauf an der Tür ihrer Suite.

«Dottoressa! Treten Sie ein.»

Giacomo Cossata d’Aperi trug zu dieser frühen Stunde des Tages – es war gerade halb zehn – einen seidenen Tagesmantel, den er sich offensichtlich nur übergeworfen, jedoch zugebunden hatte.

«Danke nein», sagte sie gefasst. «Sagen Sie Florentine, ich erwarte sie im Foyer. Guten Tag.»

«Immer sind Sie so uncharmant!»

Mit rasend klopfendem Herzen eilte sie zurück zur majestätisch geschwungenen Freitreppe nach unten. Während sie sich darauf konzentrierte, nicht über den Saum ihres kostbaren Kleids zu stolpern, tobten ihre Gefühle.

Florentine und Cossata d’Aperi waren ein Paar. Das stand nun wohl endgültig fest. Sie fragte sich, ob das ihrem Plan dienlich sein konnte, auf Florentine einzuwirken, Cossata d’Aperi von seinem Vorhaben abzubringen. Sollte sie wirklich darum betteln, dass der Verbrecher, der sie vergewaltigt hatte, nicht den Mann erschoss, der sie und das Kind unter ihrem Herzen beschützte?

Rica nippte an dem Kaffee, als Florentine die Freitreppe hinabrauschte. Gekleidet in die Farben des Frühlings – leichtes Orange, Hellgrün, eine Wolke aus Stoff. Im rotgoldenen Haar eine weiße Rose, denn eine Blume trug sie fast immer im Haar.

«Wir hatten keine Zeit zu sprechen, Rica. Danke, dass du gekommen bist.»

«Lass uns spazieren gehen.»

Als sie kurz darauf im nahen Hofgarten der Residenz unter Kastanienbäumen flanierten, kam Ricarda zur Sache: «Du bist eingeweiht in Herrn Cossata d’Aperis Plan?»

Die beiden hatten eine abgelegene Ecke des Hofgartens erreicht, wo Ricarda einigermaßen sicher war, keine ungebetenen Zuhörer zu haben. Denn sie ahnte, dass es sich nicht schickte, wenn Frauen eine sogenannte Ehrensache unter Männern besprachen.

«Welche Pläne meinst du?»

«Dass er meinen Mann erschießen will.»

Florentine blieb wie angewurzelt stehen, dann lachte sie. «Du scherzt!»

«Überhaupt nicht. Ich bin gekommen, um dich zu bitten, ihn davon abzuhalten.»

«Du meinst es also ernst, Ricarda. Was ist zwischen den beiden?»

«Er hat dir wirklich nichts gesagt?» Und als sie verneinte, erzählte Ricarda Florentine von dem Streit, zu dem es auf der Hochzeitsfeier gekommen war.

«Ich bin es dir schuldig, zumindest zu versuchen, Giacomo von seinem Vorhaben abzubringen», antwortete Florentine. Sie lächelte. «Natürlich auch im eigenen Interesse.»

Ein wenig überrascht war Ricarda schon über dieses schnelle Zugeständnis. Allerdings war es durchaus zutreffend, dass Florentine in Ricardas Schuld stand. Denn immerhin verdankte sie ihr den Umstand, am Leben zu sein. Die kleine Narbe über Floras linkem Auge erinnerte Ricarda stets an den Moment, als sie Florentine aus dem Teich von Schloss Freystetten gezogen hatte, in dem Flora im winterlichen Eis eingebrochen war. Und in dem Ricas Schwester Antonia bei dem Versuch ertrunken war, Florentine zu retten.

«Giacomo reagiert immer so stark auf dich, Rica», sagte Florentine und hakte sich bei ihr ein, als wären sie wirklich gute Freundinnen. «Das ist schon seltsam.»

Konnte es wirklich sein, dass sie so unwissend war? Ricarda wurde aus Florentine nicht schlau. «Hast du eigentlich vor, diesen Mann zu heiraten?», fragte sie.

«Würde dir das etwas ausmachen?», fragte Flora schnippisch zurück.

 

Am Nachmittag brachte die Haushälterin Frau Zeilinger Ricarda einen Brief. «Jemand hat dies hier für Sie abgegeben. Scheint eilig zu sein.»

Ricarda erkannte sofort Cossata d’Aperis verspieltes Wappen. Hastig riss sie den Umschlag auf. Er zieht seine Forderung zurück, dachte sie mit klopfendem Herzen und wollte schon innerlich Florentine danken, doch dann stockte ihr Atem, als sie las.

Verehrte Dottoressa, Sie lieben Ihren Mann und wollen nicht, dass er in ein Duell verwickelt wird. Als Mann von Ehre kann ich mich auf solch eine Bitte nicht einlassen. Da wir so etwas wie Freunde sind, will ich Ihnen helfen. Gegen eine Spende von zehntausend Mark vergessen wir die Angelegenheit. Ihre Antwort erwarte ich morgen Mittag. Ergebenst, Giacomo Cossata d’Aperi

«Was für ein Mistkerl», zischte Ricarda.

Da Zahlen ihr Steckenpferd waren und sie wusste, dass eine Lehrerin zweihundert Mark im Monat verdiente, hieß das, dass dieser Mann mehr als vier Jahresgehälter einer Lehrerin dafür haben wollte, um zu vergessen, dass Georg ihn angeblich einen Lügner genannt hatte.

Sie suchte Käthe in ihrem Zimmer in der Villa Kögler auf, das sie wegen Ricardas Hochzeit mit Komtess Henriette teilte. Da die Komtess am nächsten Tag nach Berlin zurückreisen musste, hatten die Freundinnen an diesem Tag einen letzten Museumsbesuch unternommen und waren noch in eleganter Robe.

«Was soll ich machen?», fragte Ricarda, nachdem sie den beiden Damen berichtet hatte. «So viel Geld habe ich nicht.»

«Das kommt auch nicht in Frage. Ich werde das bezahlen», sagte Käthe entschlossen. «Das ist Georgs Leben mir allemal wert. Das hast du gut gemacht, Rica.»

«Moralisch ist das nicht richtig, Käthe», protestierte Ricarda.

Komtess Henriette lachte bitter auf. «Was zählt Moral, wenn dein Mann am Leben bleibt. Ich denke, Cossata hat das genauso geplant. Er ist ein Erpresser.»

«Ich glaube, Florentine will ihn heiraten, Komtess», verriet Ricarda.

Henriette von Freystetten erhob sich abrupt. «Hat sie dir das gesagt?»

«Indirekt.»

«Das habe ich befürchtet. Ich hatte schon lange vor, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Das werde ich jetzt endlich tun.» Die Komtess schäumte vor Wut. «Käthe, fällt dir jemand ein, der ein wenig in der Vergangenheit dieses elenden Subjekts graben könnte?»

Käthe dachte einen Moment nach, dann sagte sie: «Bernhard. Den werde ich fragen. Georg halten wir da raus.»

«Aus was wollt ihr mich raushalten?» Georg stand bereits in der Tür. In der Eile hatte Ricarda vergessen, sie zu schließen. Von seinen beiden Hunden gefolgt, trat er ein und sah den Brief mit dem auffälligen Wappen in Käthes Hand, nahm ihn ihr wortlos ab, überflog den Text und lachte.

«So ein Gauner, so ein hinterhältiger. Na, der hat sich sauber verrechnet. Ich hätte nicht übel Lust, den zu erschießen.» Er bemerkte die entsetzten Gesichter der drei Frauen. «Käthe, du weißt, dass ich einer der besten Schützen im Verein bin. Und Rica, du hast mein selbst erlegtes Wildbret gegessen.» Dabei klopfte er den Hals des Deutsch Kurzhaars Max, und sein Jagdhund sah ihn aufmerksam an. «Der Kerl kann mir nicht das Wasser reichen.»

Die Komtess räusperte sich. «Das mag sein, Georg. Andererseits wissen Sie nicht, ob dieser Mann nicht auch ein guter Schütze ist. Manche Duelle enden tödlich, obwohl es niemand so wollte. Und Ihre Frau trägt ein Kind unter dem Herzen.»

«Ihre Bedenken in Ehren, Komtess. Ich weiß, was ich tue.» Er küsste Rica auf die Wange. «Danke, du hast es gut gemeint, und dafür liebe ich dich.» Er ging zur Tür. «Das Abendessen wird serviert, deswegen kam ich überhaupt. Da sehen wir uns gleich.» Er wartete, bis seine beiden Hunde draußen waren, und schloss die Tür hinter sich.

Die Komtess sank auf einen Sessel. «Welch ein Albtraum», flüsterte sie.

«Wer sich mit Georg anlegt, muss sich warm anziehen. Jetzt will er diesen Verbrecher endgültig zur Strecke bringen», sagte Käthe.

Ricarda ging leise aus dem Raum, wobei sie den Brief in viele kleine Schnipsel zerriss. Sie hatte einen Fehler gemacht, auch wenn ihr das niemand offen sagte. Unabsichtlich hatte sie Georg förmlich in dieses Duell hineingetrieben.

Das Duell

Juni 1890

Irgendetwas stimmte nicht. Ricarda streckte verschlafen den Arm aus und tastete die Bettseite neben sich ab. Schlagartig war sie hellwach. Draußen war es noch dunkel. Sie machte Licht, sah auf die Uhr. Kurz nach vier.

«Georg?»

Die Hunde waren auch nicht da. Sonst lagen Max und Moritz immer vor der Schlafzimmertür. Im Morgenrock eilte sie hinunter ins Erdgeschoss. Alles still. Auch das Arbeitszimmer verwaist. Aber im Dämmerlicht erkannte sie zwei Briefe, die so auf dem Schreibtisch platziert waren, dass sie auffielen. Mit klopfendem Herzen machte sie sich daran, die hübsche altmodische Petroleumlampe zu entzünden. Georg hatte sie einst von seinem Vater geschenkt bekommen, jenem von der Familie liebevoll Großvater Rupert genannten Prinzipal, der den Köglerbräu vor knapp fünfzig Jahren gegründet hatte.

Kaum dass das Licht aufflackerte, betrachtete Ricarda die beiden Briefumschläge genauer. Auf dem einen stand Für Ricarda, auf dem anderen Mein Testament. Dieser Umschlag war im Gegensatz zu dem anderen mit rotem Siegellack verschlossen. Im ersten Moment war Ricarda derart schockiert, dass sie sich nicht rühren konnte.

Drei Wochen waren vergangen seit Cossata d’Aperis unverschämter Forderung. Immer hatte Georg es geschafft, das Thema zu wechseln, wenn sie ihn auf das Duell angesprochen hatte. So hatte sie irgendwann angenommen, die Sache würde sich irgendwie von selbst erledigen. Wie sehr sie sich geirrt hatte, begann sie in diesem Moment zu verstehen.

An Ricarda, an dich, meine liebe Frau! Dieser Brief wurde geschrieben, damit du ihn nicht liest. Fürwahr, denn ich werde ihn selbst in ein paar Stunden zerstören, wenn ich von der Begegnung zurückkehre. Sollte ich mich irren, steht alles Weitere in meinem Testament. Ich suche dies Duell, weil Cossata d’Aperi deinen guten Ruf mir gegenüber mit Füßen getreten hat. In unvergänglicher Liebe, dein Mann Georg

Ihren guten Ruf beschädigt? Cossata log und betrog! Was mochte er Georg gesagt haben? Warum hatte Georg sie denn nicht darauf angesprochen! Oder waren das die ihr unbekannten Regeln, nach denen Männer sich in Duelle stürzten? Doch da war auch noch Georgs Ausruf, dass er Cossata am liebsten erschießen würde …

Nach dem ersten Schock, der von wilden Tritten des Ungeborenen begleitet wurde, zwang Ricarda sich zur Besonnenheit. Es war inzwischen Viertel nach vier und noch immer zu dunkel, als dass zwei Männer im Duell aufeinandertreffen konnten. Also war noch nicht alles zu spät. Sie musste etwas unternehmen. Nur was?

Da fiel ihr Blick auf die alte Lampe. Großvater Rupert! Natürlich. Der alte Herr war mit Sicherheit dagegen, dass sein Zweitgeborener und fraglos der intelligentere der beiden Söhne sich auf ein Duell einließ. Aber einen Mann von zweiundsiebzig Jahren um diese Zeit aus dem Bett scheuchen?

Welche Möglichkeit hatte sie noch? Georgs Bruder Rupert? Wahrscheinlich war er mitgegangen. Magdalena? Auf keinen Fall. Obwohl ihre, Ruperts und die Zimmer ihrer Kinder auf der gleichen Etage wie Ricardas und Georgs im ersten Stock lagen, ging man sich eher aus dem Weg.

Käthe war bereits mit der Komtess zurück nach Berlin gereist. Sie war davon ausgegangen, dass es kein Duell geben würde. Weil sie überzeugt war, dass sich letztlich Georgs Kanzleipartner Bernhard durchsetzen würde, der davon ausging, mit einer juristischen Lösung die Forderung nach einem Duell abweisen zu können.

Ricarda eilte aus dem Arbeitszimmer, als ihr Frau Zeilinger im Morgenrock begegnete. «Frau Justizrätin, kann ich helfen?»

«Haben Sie mitbekommen, wann mein Mann das Haus verlassen hat?»