Die Ärztin: Die Wege der Liebe - Helene Sommerfeld - E-Book
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Die Ärztin: Die Wege der Liebe E-Book

Helene Sommerfeld

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Beschreibung

Eine neue Generation. Eine Welt im Umbruch. Berlin, 1915: Die Millionenstadt ist gezeichnet von den Wirren des Krieges. Während tausende Männer auf dem «Feld der Ehre» ihr Leben verlieren, behandelt die Ärztin Ricarda Thomasius an der Charité junge Arbeiterinnen, die sich unter unmenschlichen Bedingungen in den Munitionsfabriken verletzen. Gleichzeitig droht Ricardas Familienglück zu zerbrechen. Sohn Georg wird an der Front vermisst, das Verhältnis zu Tochter Henny liegt in Scherben, und Nesthäkchen Antonia testet ihre Grenzen aus. Die Ärztin will um ihre Kinder kämpfen, koste es, was es wolle. Doch es gibt Verletzungen, die selbst die Liebe nicht so einfach heilen kann. Als das Schicksal erneut zuschlägt, muss Ricarda sich ihrer Vergangenheit stellen. Dort, wo alles begann…

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Seitenzahl: 687

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Helene Sommerfeld

Die Ärztin: Die Wege der Liebe

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Eine neue Generation.

Eine Welt im Umbruch.

 

Berlin, 1915: Die Millionenstadt ist gezeichnet von den Wirren des Krieges. Während Tausende Männer auf dem «Feld der Ehre» ihr Leben verlieren, behandelt die Ärztin Ricarda Thomasius an der Charité junge Arbeiterinnen, die sich unter unmenschlichen Bedingungen in den Munitionsfabriken verletzen. Gleichzeitig droht Ricardas Familienglück zu zerbrechen. Sohn Georg wird an der Front vermisst, das Verhältnis zu Tochter Henny liegt in Scherben, und Nesthäkchen Antonia testet ihre Grenzen aus. Die Ärztin will um ihre Kinder kämpfen, koste es, was es wolle. Doch es gibt Verletzungen, die selbst die Liebe nicht so einfach heilen kann. Als das Schicksal erneut zuschlägt, muss Ricarda sich ihrer Vergangenheit stellen. Dort, wo alles begann …

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung DHM/Kaiserpanorama/ullstein bild; Ildiko Neer/Arcangel

Karte von Berlin: Peter Palm

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-40652-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Zerreiß deine Pläne. Sei klug

Und halte dich an Wunder.

Sie sind lang schon verzeichnet

Im großen Plan.

Jage die Ängste fort

Und die Angst vor den Ängsten.

 

Aus: Rezept, Mascha Kaléko

(1907–75)

Die wichtigsten Personen

Ricarda Thomasius, geb. Petersen, verw. Kögler *1863, Ärztin

Siegfried Thomasius *1860, Arzt, ihr 2. Ehemann

Katharina Henriette «Henny» *1890, Ricardas Tochter

Georg Kögler *1893, Ricardas Sohn aus 1. Ehe

Antonia «Toni» *1900, Ricardas und Siegfrieds Tochter

 

Karla Petersen *1842, Ricardas Mutter

Rosamunde von Freystetten «Rosel» *1865, Ricardas Schwester

Friedemann von Freystetten *1864, Rosels Ehemann

Franz *1888, Friedemanns und Rosels Erstgeborener

Florian *1895, Sohn von Friedemann und Rosel

Frieda *1907, Tochter von Friedemann und Rosel

Henriette von Freystetten «Jette» *1842, Friedemanns Tante

Florentine von Freystetten *1862, Friedemanns Schwester

Victor Vandenberg *1892, Florentines Sohn

 

Käthe Hausmann *1842, Ricardas mütterliche Ratgeberin

Kumari Kallstadt *1864, Ricardas Freundin

Rupert Kögler *1848, Bruder von Ricardas erstem Mann

Sophie Kögler *1892, Ricardas Schwiegertochter

Marianne Kögler *1873, Sophies Mutter

Annemarie Meister *1900, Bäckertochter

Johannes Meister *1898, ihr Bruder

Otto Stier *1889, Prothesenbauer

Anselm Philippi *1888, Privatsekretär

Hedda Holden *1885, Schauspielerin

Auf dünnem Eis

Weihnachten 1914

Die sanft hügelige Weite der östlichen Mark Brandenburg schlief unter einer dünnen Decke aus Schnee. Vereinzelte Gruppen mächtiger Eichen und Buchen trotzten dem Winterwind wie einsame Wächter. Auf Ricarda ging die unerschütterlich erscheinende Ruhe, die ihre Heimat ausstrahlte, nicht über. Sie war innerlich so aufgewühlt, dass sie nicht einmal den Apfel essen mochte, den Siegfried ihr anbot. Ihr Mann hatte noch kurz vor der Abfahrt des Zugs an einem Stand am Schlesischen Bahnhof etwas Obst gekauft. Nach der wochenlangen Schiffsreise, die hinter ihnen lag, hungerten sie nach Vitaminen. Dennoch stand Ricarda nicht der Sinn danach, denn das Rumpeln des Zugs brachte sie unweigerlich Freystetten näher.

In Gedanken sah Ricarda ihre Töchter Henny und Toni vor sich, die sie dort erwarteten. Seit einem Dreivierteljahr hatte sie die beiden nicht gesehen. Neun Monate, in denen viel geschehen war. Mit der ganzen Welt, mit den Mädchen, mit Siegfried, mit ihr. Übermorgen war Weihnachten. Ja, sie hatten den langen Weg von China bis hierher rechtzeitig geschafft. Und dennoch fürchtete Ricarda, zu spät zu kommen. Wenn die Wahrheit schneller als sie selbst gereist wäre.

An dem kleinen Bahnhof in Gusow erwartete niemand von den Freystettenern Ricarda und Siegfried, denn niemand wusste von ihrem Kommen. So musste das Ehepaar zu Fuß dem eisigen Wind trotzen. Zum Glück las sie der alte Pfarrer Gutschmid auf der Landstraße auf. Er setzte sie im Rondell vor dem Schloss ab, Ricarda nahm ihren Koffer und entstieg seiner Kutsche.

«Wir sehen uns am Heiligen Abend», sagte der greise Gottesmann, der nur in seiner aus Feldsteinen erbauten Kirche ein großer Redner war.

Obwohl Ricarda es nicht so sehr mit dem Glauben hatte, freute sie sich auf die feierliche Stimmung in dem kleinen Gotteshaus, das sich schräg gegenüber vom Schloss befand. Sie war dort getauft, konfirmiert und getraut worden. Freystetten war ihr Zuhause, auch wenn sie von den bald zweiundfünfzig Jahren ihres Lebens nur die ersten vierzehn hier verbracht hatte. Und fast immer, wenn sie seitdem nach Hause gekommen war, war ihr Herz in zwei Gefühlshälften gespalten. Liebe und Abneigung kämpften wieder einmal miteinander. Doch wie immer wollte sie nicht zuerst ins Schloss gehen, sondern zu dem seitlich gelegenen Gesindehaus, in dem sie geboren worden war und in dem ihre Mutter Karla heute noch lebte.

Alles schien wie sonst zu sein. Nur die beiden teuren Autos direkt in der Auffahrt zum Schloss wirkten wie Eindringlinge aus einer Zukunft, die nach Ricardas Gefühl nicht hierher gehörte. Bei dem kleineren Wagen, einem Cabriolet mit geschlossenem Verdeck, standen die Türen offen, in Geschenkpapier gewickelte Päckchen lagen wie verloren im Schnee.

«Was ist denn hier los?», murmelte Ricarda.

Siegfried betrachtete das andere Auto: «Der silberne Wagen kommt aus der Schweiz. Ist das nicht der, der auf der Landstraße an uns vorbeigerast ist?»

In diesem Augenblick durchbrach ein Schuss die Stille.

Vielleicht wird gejagt, dachte Ricarda. Zu Weihnachten würde es gewiss Wild geben.

Doch dann gellte der Schrei. Ein zutiefst verzweifeltes «Nein!» fuhr Ricarda wie ein Dolchstoß ins Herz.

Als Ärztin hatte sie so viele Menschen dieses eine Wort in höchster Not rufen hören. Mit dem hilflosen «Nein» flehten Kranke das Schicksal um Gnade an und Sterbende baten den Tod innezuhalten. Doch die Bitte an den Allmächtigen, die Zeit um jene alles verändernde Sekunde zurückzudrehen, war meist vergeblich.

Das Entsetzliche an diesem «Nein» war jedoch, dass Ricarda die Stimme der Ruferin sofort erkannt hatte. All ihre Sorgen und Ängste bündelten sich in dieser einen Silbe zu der Erkenntnis, tatsächlich zu spät gekommen zu sein. Atemlos rannte sie los. Die Weite des Parks dehnte sich in frischem Weiß unter dem tiefhängenden Himmel des Spätnachmittags. In der Mitte des leicht hügeligen herrschaftlichen Anwesens ruhte der See, zugefroren. So wie damals, als sich hier das andere furchtbare Unglück ereignet hatte.

Zwei Menschen kauerten am Boden, ineinander wie verschlungen. Wieder zerriss das ohnmächtige «Nein!» die gespenstische Stille des heraufziehenden Abends.

«Henny!», rief Ricarda im Laufen. Und noch einmal: «Henny!»

 

Antonia hätte vor Freude laut jauchzen und jubeln mögen, als sie den jungen Wolf über die verschneite Wiese neben dem Schlosssee rennen sah. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Was Graf Freystetten natürlich niemals erfahren durfte, hielt er sie doch für seine Verbündete im Kampf gegen die Wölfe. Aber dieses struppige, magere Tier hatte doch auch nur Hunger wie jedes andere Lebewesen! Ganz kurz nur hatten sie einander im Hirschgehege Auge in Auge gegenübergestanden, und dann hatte Antonia dafür gesorgt, dass der Wolf unter dem Zaun hindurch entkommen konnte. Nun saß Antonia wieder auf dem leeren Heuwagen, der von den letzten beiden verbliebenen Rössern des Grafen gezogen wurde.

Im Sommer – einen Monat, bevor Deutschland der Welt den Krieg erklärt hatte – war Antonia vierzehn Jahre alt geworden. In dieser kurzen Spanne hatte sie ganz schnell erwachsen werden müssen. Zwar nannte sie noch jeder Toni. Bis auf Graf Friedemann von Freystetten, der Antonia gerade nicht nur das letzte Gespann anvertraut hatte, welches das Kriegsministerium ihm gelassen hatte. Der Graf hatte auch eingesehen, dass sie in diesen Zeiten mit vierzehn nicht mehr Kind sein durfte. Doch an einem Tag im Jahr wollte Toni unbedingt Kind sein dürfen – jetzt, zu Weihnachten. Für sie gab es keine schönere Zeit. Ausgerechnet heute einem ohnehin geschwächten Lebewesen helfen zu können, hatte ihre Vorfreude vollkommen gemacht.

Das Gespann der beiden alten Gäule trabte gemächlich auf das Schloss zu, als Antonia zwei Menschen in den Schlosspark rennen sah. Wegen der großen Entfernung erkannte sie ihre Schwester Henny und deren Verlobten Victor nicht sofort. Es sah so aus, als liefe Henny vor Victor davon. Ein übermütiges Spiel, vermutete Antonia und dachte, dass es wunderschön sein müsse, von jemandem so geliebt zu werden wie Henny von Victor.

Für sich selbst wünschte sich Antonia noch nicht solch ein Liebesglück. In ein paar Jahren vielleicht. Ihre Schwester war schließlich zehn Jahre älter als sie, schon vierundzwanzig. Und dann sollte es nicht gerade so ein verrückter junger Mann wie Victor sein. Der hatte Henny doch schon glatt nach einem der ersten Treffen gesagt, dass er sie einmal heiraten würde! Dennoch, sie mochte Victor, obwohl er so ganz anders war als andere junge Männer. Schließlich war er ja auch Amerikaner. Noch dazu arbeitete er am Theater oder seit neuestem beim Film. Was auch immer er da machte, Antonia hatte davon keine Ahnung.

Als der Schuss die Stille dieses noch friedlichen Augenblicks zerriss, wandte Antonia in einem Reflex den Kopf, um nach dem Wolf zu sehen. Das Wildtier erreichte gerade wohlbehalten eine Baumgruppe auf der anderen Parkseite. Als Antonia wieder zu Henny und Victor blickte, lagen beide am Boden. Etwas wurde gerufen. Antonia verstand es nicht, aber sie spürte, dass ihre Hilfe gebraucht wurde.

«Lauft schneller!», befahl Antonia den alten Rössern.

 

«Wer hat da geschossen?», fragte die Komtess. Die betagte Dame versuchte, sich in ihrem Rollstuhl aufzurichten. Ihre Kräfte reichten nicht.

«Ich weiß es nicht», erwiderte ihre Freundin Käthe.

«Das war ganz nah! Sieh bitte nach!», drängte die Komtess unwirsch, obwohl sie sehr wohl sah, dass Käthe bereits zum Fenster eilte, um es zu öffnen.

Komtess Henriette von Freystetten verabscheute die Einschränkungen, die ihr die Krankheit aufzwang. Ganz besonders in solchen Momenten. Sie spürte genau, dass etwas vor sich ging, das in seiner dramatischen Konsequenz verheerend war.

Vor wenigen Minuten erst war Henny aus diesen Räumen gestürzt, nachdem die Komtess ihr die Wahrheit hatte sagen müssen. Schließlich war sie die Patentante des Mädchens. Sie hielt es für ihre Pflicht, das junge Ding vor dem schlimmsten Fehler seines Lebens zu bewahren. Was hätte sie denn sonst tun sollen? Zusehen, wie Henny in Blutschande mit ihrem eigenen Bruder lebte? Halbbruder, ja, gewiss. Aber das verschob den Akzent nur ein wenig, es blieb Blutschande. Schon längst hätte jemand Henny darüber aufklären müssen, wer Victor Vandenberg wirklich war. Jener kleine Junge nämlich, zwei Jahre jünger als Henny selbst, den sie vor zwei Jahrzehnten vor den Schneebällen der älteren Grafensöhne beschützt hatte! Allerdings trug er damals einen anderen Namen.

«Mein Gott!», rief Käthe vom Fenster aus.

«Was ist geschehen, Käthe?» Komtess Henriette von Freystetten versuchte die Fäuste zu ballen, doch es überfiel sie nur ein schweres Zittern.

«Ich glaube, Henny hat auf Victor geschossen», sagte Käthe fassungslos. Die Freundin war leichenblass, als sie sich dem Raum zuwandte. «Meine Arztasche. Schnell!»

«Neben meinem Schreibtisch. Da hast du sie vorhin hingestellt, nachdem du mich untersucht hast», erwiderte Komtess Henriette und deutete fahrig darauf. Sie verstand nicht, was Käthes Worte bedeuten sollten. Warum, um Himmels Willen, sollte Henny Victor erschossen haben? Und mit welcher Waffe?

Käthe ergriff ihre Tasche und stürzte aus dem Raum. Mit aller Kraft und ihrem eisernen Willen zwang Henriette ihre Hände dazu, den Rollstuhl, in dem sie saß, Zentimeter um Zentimeter zum Fenster zu bewegen. Es stand noch offen, die kalte Winterluft strömte hinein. Henriette stellte die Beine auf das Parkett des Zimmers und umklammerte das Holz des Fensterrahmens.

Eigentlich ließ das gegenwärtige Stadium ihrer Parkinson-Erkrankung nicht mehr zu, was sie vorhatte. Aber sie war eine von Freystetten und sie hatte in ihrem Leben schon unzählige Male Dinge zuwege gebracht, die ihr niemand zugetraut hatte. Jetzt, im Alter von zweiundsiebzig Jahren, stellte sich ihr niemand mehr entgegen – außer der eigene Körper. Sie würde ihn bezwingen, mit eisernem Willen.

Mit zusammengebissenen Zähnen zog die Komtess sich so weit in die Höhe, dass sie hinausspähen konnte. Von allen Seiten stürzten Menschen zu einem jungen Mann, der blutend im Schnee lag. Sie konnte nur vermuten, dass es Victor war. Persönlich begegnet war sie ihm zuletzt, als er ein kleiner Junge war.

Obwohl sie mit aller Kraft, über die sie noch gebot, versuchte, sich aufrecht zu halten, spürte Henriette, dass sie sich übernommen hatte. Ihre Beine gaben gegen ihren Willen nach, die Hände mussten den Fensterrahmen loslassen. Gleichzeitig wich der Rollstuhl zurück und wurde unerreichbar.

 

Es war alles so wahnsinnig schnell gegangen! Die furchtbaren Worte der Komtess und von Käthe, die alles zerstörten. Die Erkenntnis, dass die Liebe zu Victor keine Zukunft hatte. Aus dem Schloss war Henny geradezu kopflos gestürzt, war in Victor hineingerannt, der gerade die Weihnachtspakete aus dem Auto geholt hatte. Aus seiner Manteltasche ragte der Griff des Revolvers. Es war eine Art von Reflex gewesen, sich der Waffe zu bemächtigen. Plötzlich schien der Revolver alle Probleme lösen zu können, die Worte nicht mehr aus der Welt schaffen konnten. Natürlich begriff Victor nicht, was in ihr vorging. Er lief ihr nach, holte sie ein, sie wandte sich um, richtete den Lauf auf den Geliebten.

Sie schrie ihm entgegen: «Wir dürfen uns nicht lieben!»

Ein solches Verbot ließ Victor nicht gelten.

Und da schleuderte sie ihm entgegen, was die Komtess ihr kurz zuvor enthüllt hatte: «Wir sind Geschwister!»

Die Liebe in Victors Augen machte alles so unerträglich. Er ignorierte, dass sie die Waffe auf ihn richtete. Weil er sie mehr als sein eigenes Leben liebte. «Das muss ein Irrtum sein.» Seine Stimme klang ganz sanft.

Doch Henny wusste, dass ihre Patentanten nicht mit der Wahrheit spielten. Wozu weiterleben, wenn das Leben auf Lügen und Betrug aufgebaut war? Blitzschnell richtete sie den Lauf gegen den eigenen Kopf und drückte den Abzug.

Nichts geschah. Es machte nicht einmal klack.

In Victors Gesicht las Henny Entsetzen. «Gib mir das, bitte», sagte er ruhig und streckte den Arm aus, um ihr die Waffe abzunehmen. Sie wehrte sich, wollte ihm den Revolver, den letzten Ausweg aus der Sackgasse, in die sich ihr Leben verwandelt hatte, nicht überlassen. Sie drehte sich weg, Victor folgte ihrer Bewegung. Eine kurze Rangelei, bei der keiner von beiden nachgeben wollte.

«Lass mich! Wir haben keine Chance, Victor», sagte sie gepresst.

«Ich liebe dich», sagte er, und dann fiel der Schuss.

Henny hatte nie zuvor das Geräusch gehört, das entsteht, wenn eine Kugel aus dem Lauf eines Revolvers gefeuert wird. Es war unwirklich laut. Der folgende Moment war umso stiller. Als zöge man sich ein dickes Kissen über den Kopf. Doch es umgab sie keine Dunkelheit. Stattdessen taumelte Victor vor ihren Augen ein paar Schritte seitwärts, starrte sie ungläubig an, ein seltsam gelöstes Lächeln im Gesicht. Als wollte er sagen: Besser, es trifft mich als dich. Er ließ den Revolver fallen, griff sich an den Kopf, starrte auf seine blutige Hand und sank in sich zusammen.

Henny stürzte zu ihm, kniete sich in den Schnee, bettete seinen blutenden Kopf in ihren Schoß. Mit schnellen, leichten Küssen bedeckte sie sein blutverschmiertes Gesicht, als könnte ihre Liebe seine Verletzung heilen. Doch Victor schien sie nicht zu spüren.

«Was habe ich getan?», flüsterte sie, und dann kam das Wort zum ersten Mal über ihre Lippen. «Nein.» Erst ganz leise, und dann schrie sie es hinaus, denn es war alles, was ihr noch blieb: «Nein!»

 

Als Ärztin war Ricarda an den Anblick von Blut gewöhnt. Vor allem in diesem Jahr hatte sie schon mehr als genug davon gesehen. Die eigene Tochter mit Blut besudelt zu sehen, das fühlte sich jedoch an, als wäre sie selbst verwundet. Es war überall, in ihrem Gesicht, auf ihrem hellen Kleid, das sie heute Morgen wohl gewählt hatte, um besonders hübsch zu sein. Viel zu dünn, um bei diesem Wetter im Park zu sein, dachte die Mutter in ihr und schalt sich gleichzeitig, dass das angesichts der Situation wohl Hennys geringstes Problem war.

Henny hob die Augen und sah sie an, der Blick völlig verstört, als wäre sie nicht mehr bei Sinnen. Ricarda konnte sich nicht einmal sicher sein, ob sie von ihrer Tochter erkannt wurde. Der Schock eines solchen Moments war wie ein Trauma, eine Verletzung, die Geist und Gemüt verwirren konnte, das war ihr hinlänglich bekannt.

Von Kindheit an war es Ricardas wahre Stärke gewesen, in solchen schicksalhaften Momenten einen klaren Kopf zu bewahren. Trotz der Liebe und des Mitgefühls, das sie durchströmte. Mit diesem inneren Abstand zu den Vorgängen sah sie zwei Dinge: den Revolver und das Blut am Kopf des jungen Mannes, den ihre Tochter verzweifelt liebkoste. Wer das war, das spielte in diesem Moment keine Rolle. Obwohl nicht viel Phantasie dazugehörte, sich diese Frage zu beantworten. Lebte der junge Mann? Darum ging es.

Die Routine einer Ärztin ergriff sie, die im Donner der Kriegsgeschütze dutzende Soldaten untersuchen und in Minuten über deren Weiterleben hatte befinden müssen.

Das Lid heben, den Puls fühlen, die Wunde sichten.

«Beschleunigter, stabiler Puls», hörte sie sich sagen.

Ihre Tochter war ebenfalls Ärztin, Henny hätte das also ohne weiteres selbst herausfinden können. Der Schock, die Liebe, das Blut hatten es ihr unmöglich gemacht.

In Hennys Augen sammelten sich Tränen, durch die sie ihre Mutter mit einem eigenartigen Lächeln ansah. «Er wird leben?»

«Ja, Henny. Was ist geschehen?»

Doch statt einer Antwort fragte Henny mit schwacher Stimme: «Wieso bist du plötzlich hier, Mutter?»

«Du brauchst mich doch», erwiderte Ricarda. Es war eine absolut logische Antwort, obwohl sie in diesem Moment absurd klang. Denn Henny musste davon ausgehen, dass ihre Mutter noch in China war.

Als gehörte es nicht wirklich zu diesem entsetzlichen Augenblick, nahm Ricarda wahr, dass nun auch Siegfried eintraf. Gleichzeitig kam auch Käthe angelaufen, die rettende Arzttasche in der Hand. Ricarda und sie tauschten einen kurzen, innigen Blick, ein angedeutetes Lächeln. Es brauchte keine Worte, um sich zu sagen: Ich bin so glücklich, dich zu sehen.

Siegfried, obwohl ebenso Arzt, war keine große Hilfe. Sein linker Arm war wegen der in China erlittenen Schussverletzung immer noch leicht gelähmt. Aber er half Käthe dabei, den Verletzten abzuhorchen, während Ricarda die Blutung mit Mull stillte. Es war ein Streifschuss, der entlang des rechten Unterkiefers zum Ohr verlief und dabei das Ohrläppchen zerstört hatte. Ob der Kiefer in Mitleidenschaft gezogen war, konnte Ricarda hier und jetzt nicht beurteilen.

Käthe sah in die Runde, während sie auf das Pochen des Herzens lauschte. Niemand sprach. Drei Ärztinnen, ein Arzt, ein Verletzter.

Das Klappern von Pferdehufen ließ Ricarda den Kopf wenden. Ein von zwei Pferden gezogener Heuwagen stoppte ein paar Schritte entfernt, die Feststellbremse quietschte. Leichtfüßig sprang jemand vom Kutschbock.

«Henny! Um Himmels Willen! Was ist mit Victor!», rief Antonia. Dann erst nahm sie wahr, wer sich sonst noch um den am Boden Liegenden versammelt hatte. «Mutter!» Sie stürzte auf Ricarda zu, um sie in die Arme zu schließen. Dann wurde ihr bewusst, dass auch ihr Vater nach so langer Zeit wieder zurück war. «Ihr seid hier! Ich bin so froh!» Schon kontrollierte sie ihren jugendlichen Überschwang. «Besteht Lebensgefahr?», fragte die Tochter zweier Ärzte.

Käthe und Ricarda hatten begonnen, Victors Kopf zu bandagieren. «Gott sei Dank nicht», sagte Käthe. «Ich glaube, er hat großes Glück gehabt.»

«Sollen wir ihn auf den Heuwagen legen?», schlug Antonia vor.

Alle fassten mit an, um den Bewusstlosen vorsichtig auf die Ladefläche zu heben. Henny bettete seinen Kopf auf ihren blutgetränkten Schoß. Siegfried reichte seiner Frau die Hand, um ihr dabei zu helfen, ebenfalls auf den Wagen zu klettern.

«Nein, Mutter!» Henny starrte Ricarda mit einem Blick voller Feindseligkeit an. «Bleib uns fern!»

Von Henny Gefühlsausbruch überrascht, prallte Ricarda zurück, als wäre sie geohrfeigt worden.

 

«Ganz reizend von dir, dass du mir so unkompliziert Unterkunft gewährst», sagte Florentine von Freystetten.

Zwei Dienstmädchen richteten gerade die beiden Zimmer her, in denen Florentine schon ihre Jugendjahre verbracht hatte. Die Räume schienen vertraut und fremd zugleich.

«Wir haben doch Weihnachten», erwiderte Rosel von Freystetten mit liebenswürdigem Lächeln.

«Du sagst es, Schwägerin.»

Nur für einen Moment hatte Rosels Antwort Florentine aus dem Konzept gebracht. Sie hatte gehofft, mit ihrer ironischen Bemerkung die Frau ihres Bruders zu verunsichern. Stattdessen war die Jüngere ihr auf Augenhöhe begegnet.

Nun ja, das einstige Dienstmädchen Rosel hatte Zeit genug gehabt, eine selbstbewusste Schlossherrin zu werden, dachte Florentine.

Sie wusste nicht genau, wie alt ihr Gegenüber war. Auf die Fünfzig geht sie mittlerweile wohl auch zu, wenngleich sie gut und gerne zehn Jahre jünger aussieht, fand sie.

Ein wenig neidisch war Florentine auf Rosels jugendliche Frische. Für sich selbst machte sie sich keine Hoffnung, dass man sie für einen Tag jünger hielt, als sie war. Die Erfahrungen jedes einzelnen Tages waren es wert gewesen …

«Du warst lange nicht hier», sagte Rosel. «Ich denke, dein Bruder wird sich freuen, dass du gekommen bist. Friedemann ist gerade bei den Tieren im Park. Wegen des Krieges hat sich hier einiges verändert. Unser Schloss gleicht eher einem Bauernhof.»

Rosels Lächeln wirkte versöhnlich, fand Florentine. Doch ob der Einfluss ihrer Schwägerin reichte, um den Graben zwischen ihr selbst und ihrem Bruder zuzuschütten? Florentine hatte größte Zweifel. Die letzten Besuche hier hatten stets im Streit mit Friedemann geendet. Im Grunde hatte der Bruder ihr eine Art Hausverbot erteilt, was ihr nicht sonderlich viel ausmachte. Es gab auf der ganzen Welt keinen Ort, den Florentine von Freystetten mehr verabscheute als das Schloss, in dem sie vor fast dreiundfünfzig Jahren geboren wurde.

«Hattest du eine weite Reise?» Offenkundig bemühte sich Rosel, ein oberflächliches Gespräch in Gang zu halten.

«Ich komme geradewegs aus Zürich», erwiderte Florentine. «Drei Tagesetappen mit dem Auto. Sehr abwechslungsreich.»

Dass Florentine eine Villa am Zürichsee besaß, wusste ihre Schwägerin. Schließlich hatte Rosels Schwester Ricarda vor vielen Jahren dort gewohnt, während sie in Zürich Medizin studiert hatte.

«Wie lebt man denn so in Zürich?», erkundigte sich Rosel mit ehrlichem Interesse.

«Du meinst jetzt im Krieg? Davon spürt man nichts, die Schweizer sind ja neutral. Aber die Menschen sprechen dennoch von nichts anderem, weil drum herum die Säbel rasseln.» Sie lachte affektiert. «In den vier Wochen, die ich in Zürich war, hat man mir nicht weniger als fünf Kaufangebote für mein Haus gemacht. Vor allem Briten und Franzosen. Wobei der letzte Bieter das Doppelte vom ersten zahlen wollte.»

«Aber du hast nicht verkauft?»

«Natürlich nicht. Obwohl ich dort so gut wie nie bin.» Dass sie das Haus nicht besonders mochte, erwähnte sie nicht. Sie hatte es vor Jahrzehnten auf Drängen ihrer Tante Henriette erworben. Seitdem hatte sich sein Wert verzehnfacht. Was sie fragen ließ: «Wie geht es Komtess Henriette? Meinst du, ich kann sie einfach überfallen?»

Rosel zögerte einen Moment, in dem Florentine ihr ansah, dass sie nach der richtigen Formulierung suchte. Die Tante war manchmal schwierig, gelinde gesagt.

«Sie ist sehr krank», sagte Rosel. «Es gab Tage, da waren wir in größter Sorge um sie.»

Stand es so schlimm um Tante Jette? Käthe hatte in ihrem Brief, mit dem sie um Florentines Kommen bat, etwas in der Richtung angedeutet. Deswegen war Florentine ja hier. Und wegen Victor natürlich, der sich unbedingt verloben wollte. Dieser romantische Kindskopf.

An der Tür wurde geklopft, eines der Dienstmädchen kam herein, mit hektischen Flecken auf den Wangen. «Durchlaucht …» Sie knickste. «Sie mögen bitte kommen. Der junge Herr Victor wurde angeschossen.»

Rosel und Florentine tauschten einen entsetzten Blick.

«Spricht sie etwa von meinem Sohn?», fragte Florentine.

Rosel hob ratlos die Schultern und eilte dem Dienstmädchen nach.

Florentine riss sich zusammen, um nicht laut aufzustöhnen. Familie bedeutete Stress. Sonst nichts.

 

Man hatte Victor in eines der eher schlichten Gästezimmer im Erdgeschoss des Seitenflügels gebracht, in dem Ricarda nie zuvor gewesen war. Weil es davon so viele gab, über dreißig, soweit Ricarda wusste.

Ricarda hielt sich bei der Versorgung des verwundeten Victor bewusst zurück und ließ Käthe und Siegfried gewähren. Und natürlich Toni und Henny. Die brüske Ablehnung, mit der Henny ihre Hilfe zurückgewiesen hatte, machte ihr deutlich, wie vorsichtig sie vorgehen musste.

Hatte Henny bereits erfahren, dass sie und Victor blutsverwandt waren? Allenfalls die Komtess konnte es ihr gesagt haben. Oder Käthe, was Ricarda für eher unwahrscheinlich hielt. Nur diese beiden einstigen mütterlichen Ratgeberinnen waren eingeweiht in das, was sich im Januar 1890 in Zürich zugetragen hatte.

Und die Waffe, der Schuss? Eine verzweifelte Kurzschlussreaktion? Wollten Henny und Victor sterben, weil sie gemeinsam nicht leben konnten? Aber dann war die Gefahr keineswegs gebannt!

Offenbar verfügte Käthe in ihrer Arzttasche über alles Notwendige. Gerade säuberte sie vorsichtig die Wunde großflächig mit Jod, während die blutverschmierte Henny Victors Kopf hielt.

Ihre Tochter tat Ricarda in diesem Moment fast mehr leid als der junge Mann, der noch immer bewusstlos war. Einzusehen, dass man den Menschen, den man liebt, nicht lieben darf. Das musste sich anfühlen wie eine Strafe, ohne dass man etwas verbrochen hätte. Wie gern hätte sie Henny jetzt getröstet. Nur wie? Es gab keinen Trost für eine Liebe, die das eigene Blut unmöglich machte.

«Wo ist mein Sohn?» Florentine riss die Tür auf, und alle Köpfe wandten sich ihr zu. «Oh mein Gott! My darling!» Sie rauschte ein paar Schritte in den Raum hinein. Blieb abrupt stehen. «Er verblutet!» Sie riss den Arm hoch, wandte den Kopf ab.

Ricarda hatte den Eindruck, einer schlechten Komödie zuzusehen. «Das ist Jod an seinem Kopf, Flora», sagte sie. «Es war nur ein Streifschuss.»

«Rica! Du bist ja auch hier. Welch ein Glück!»

Unversehens fühlte sich Ricarda umarmt. Florentines Parfüm duftete wie stets etwas zu süßlich. Früher hatte Ricarda das nicht so sehr gestört. Inzwischen fand sie es unpassend, wenn eine Frau ihres Alters sich bemühte, nicht nur wie eine junge Frau aufzutreten, sondern auch so verführerisch zu riechen. Offensichtlich gelang es Flora ebenso wenig wie ihr selbst, im Kampf gegen die äußeren Nebenwirkungen des Älterwerdens siegreich zu bleiben. Das wundervolle einstige Rotgold von Floras Haar verbarg sich hinter einem Schleier von Grau, der allerdings noch nicht so ausgeprägt war wie bei Ricarda selbst.

«Er kommt zu sich», sagte Käthe. «Halt seine Hand fest, Henny, dass er sich nicht an den Kopf fasst.»

Gemeinsam mit Florentine trat Ricarda an das Bett. Es fühlte sich seltsam an, neben ihr zu stehen. So viel verband sie und Flora. Und so vieles trennte sie. Doch jetzt einte sie die Sorge um ihre Kinder, die schon lange keine Kinder mehr waren.

Victor blickte sich um. Verwundert musterte er die eigentümliche Versammlung, die sich um ihn geschart hatte. «Was ist denn hier los? Mutter? Du bist hier?», fragte er erstaunt.

«Victor-darling. Du machst ja Sachen. Wer hat denn auf dich geschossen?»

«Der Revolver.» Victor wagte ein schiefes Lächeln, das er sofort wieder verschwinden ließ.

«Dummer Junge!» Florentine wandte sich ab. «Ich brauche erst mal eine Zigarette.»

Damit ging sie hinaus. Alle sahen ihr verblüfft nach.

Victor wollte den Kopf wenden, um Henny anzusehen. Der Verband behinderte ihn. «Das war meine Mutter. Hätte sie gern vorgestellt dir.»

«Wie geht es dir, Victor? Hast du Schmerzen?», fragte Henny besorgt.

«Nur wenn ich lache.»

«Ihren Humor scheinen Sie nicht verloren zu haben», sagte Siegfried. «Jetzt mal im Ernst: Was ist vorgefallen?»

«Sind Sie Polizist?» Victor blickte den grauhaarigen Mann an seinem Bett verwundert an.

«Das ist mein Adoptivvater. Siegfried Thomasius. Vater, das ist Victor», sagte Henny. «Wir werden heiraten», setzte sie trotzig hinzu.

«Herr Professor, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Auch wenn die Umstände sind ungünstig.»

Victors Aussprache klang wegen der Schmerzen etwas schleppend. Seinen teilweise ungelenken Satzbau schob Ricarda jedoch auf den Umstand, dass er in den USA aufgewachsen war.

Den Tag, an dem seine Mutter ihn aus Freystetten abgeholt hatte, wo er bis dahin aufgewachsen war, hatte Ricarda nie vergessen. Mit seinen damals vier Jahren hatte sie den Jungen in eine fremde Welt verfrachtet, wo er in der Nähe von Boston heranwuchs. Viel mehr als das wusste Ricarda nicht über ihn.

«Also: Vorgefallen ist, dass ich habe hantiert unvorsichtig mit dem Revolver. Es ist allein meine Schuld», sagte Victor.

«Dann sollten Sie lernen, damit umzugehen.» Siegfried machte eine kurze Pause. «Besser, Sie schmeißen das Ding weg. Der Lauf ist verzogen, und die Trommel klemmt.»

Ansonsten wäre alles wohl nicht so glimpflich ausgegangen, ergänzte Ricarda in Gedanken.

«Sie brauchen Ruhe, Victor», sagte Käthe.

Es war für alle das Signal hinauszugehen. Nur Henny blieb bei ihm. Für ihre Mutter hatte sie keinen Blick übrig.

 

Vor der Tür begrüßte Ricarda endlich ihre Schwester, wofür im Zimmer keine Gelegenheit gewesen war. «Was für ein Wiedersehen, Rosel!»

«Ich wusste doch: Ihr müsst alle nur wiederkommen, und dann ist uns garantiert nicht mehr langweilig.» Rosel lachte und nahm ihre Schwester in den Arm. «Du siehst erschöpft aus, Rica.»

«Erschöpft? Das ist nett gesagt, Rosel. Ich habe zusehen können, wie ich in den letzten Monaten grau geworden bin.»

«Eines der Mädchen kann sehr gut mit Schere, Farbe und Brenneisen umgehen.» Rosel strich ihrer Schwester über deren ungepflegte Frisur. «Ich lasse dir und Siegfried bereits das Graf-Franz-Zimmer herrichten. Ich glaube, ihr beide braucht erst mal Ruhe. Kommt ihr etwa direkt aus Tsingtau?»

Ricarda nickte. «Wir konnten das letzte deutsche Schiff nehmen, das unsere einstige Kolonie verlassen hat.»

«Ist Tsingtau verloren?»

«Wir hatten keine Chance gegen die Übermacht der Japaner. So viele Tote, Tausende, ein Gemetzel über Wochen hinweg. Soldaten, die völlig sinnlose Tode starben.» Die Bilder des Grauens lebten vor ihren Augen fort. Sie riss sich zusammen. «Aber jetzt sind wir hier. Und ich glaube, ich muss dringend mit der Komtess sprechen.»

«Willst du nicht erst mal ankommen?»

«Ich bin schon viel zu sehr angekommen!» Sie hatte versucht zu scherzen, aber Rosels Frage machte Ricarda im Grunde klar, dass ihre Schwester von nichts wusste. Unverzüglich machte sie sich auf zu den Gemächern der alten Komtess. Es würde auf ein unerfreuliches Wiedersehen hinauslaufen, befürchtete sie.

 

Steinstufen, ausgetreten von Generationen, führten in den ersten Stock hinauf. Obwohl Ricarda schon lange nicht mehr diesen Weg genommen hatte, schienen ihre Füße sich an jede Unebenheit des Bodens zu erinnern.

Als knapp Vierzehnjährige war sie zum ersten Mal hier hinaufgegangen. Die Komtess hatte ihr ein Mikroskop zeigen wollen, das sie in ihren Zimmern aufbewahrte. Den Anlass wusste Ricarda, als wäre es gestern erst gewesen: Sie hatte die Komtess zu Hilfe gerufen, weil ihre eigene Mutter mit dem Tod kämpfte. Welche unglaubliche Bedeutung es damals, vor bald vierzig Jahren, hatte, dass die Komtess eine Ärztin war – davon hatte sich das Mädchen Ricarda Petersen, Tochter des Gärtners und der Köchin, keine Vorstellung machen können. Nur verschüchtert war sie gewesen, als die Komtess sie umstandslos mit in ihre Gemächer im Schloss mitgenommen hatte. Heute wusste Ricarda, dass dieser Moment alles verändert hatte. Für die Komtess, für sie selbst. In den Jahren danach war die Komtess ihre Mentorin geworden, ihr Vorbild, ihre Ratgeberin und leider auch manches Mal ihre Gegnerin.

«Komtess?» Ricarda klopfte an der schweren Eichentür.

Keine Antwort.

«Komtess, ich bin es, Ricarda. Darf ich eintreten?»

Nichts.

Ricarda drückte die Klinke nach unten und schob die schwere Tür auf. Kühle Luft wehte ihr entgegen. Die Komtess mochte es, wenn es in den Räumen eher kalt als warm war. Das belebt das Gehirn, pflegte sie zu sagen. Aber das war zu kalt. Es brannten kaum Lampen. Ein ungutes Gefühl beschlich die Besucherin.

Der vordere Raum diente der Komtess als Empfangszimmer, daran schlossen sich ihre Privatgemächer an, das Studier- und das Schlafzimmer. Dort standen beide Fensterflügel weit geöffnet. Davor zeichnete sich im Licht einer einzigen Lampe, die viel zu wenig Helligkeit spendete, ein Rollstuhl ab. Leer. Ricarda eilte darauf zu.

Die Komtess lag seltsam verkrümmt zwischen Fenster und Rollstuhl. «Ich fürchte, ich brauche Hilfe», sagte sie leise, keine Emotion in der Stimme.

«Komtess!» Ricarda erschrak, als sie jene Frau, die immer versucht hatte, sie zu beherrschen, derart hilflos am Boden liegen sah. Fragen zu stellen, war nicht angebracht, und die Situation war eindeutig. Beherzt packte sie die Komtess von hinten unter den Armen, hob sie in den Rollstuhl.

Wie leicht sie ist, dachte Ricarda, schloss das Fenster und schob die Komtess zu ihrem Bett.

«Sie müssen sich hinlegen, Komtess. Erlauben Sie?»

«Ruf die Mädchen. Die machen das», sagte die Komtess.

Für den Bruchteil einer Sekunde stand Ricarda an einer entscheidenden Schwelle. Wollte sie weiter die Rolle spielen, die ihr die Komtess vor so langer Zeit zugewiesen hatte?

«Ich lege Sie jetzt ins Bett.»

Ricarda packte beherzt zu. Tatsächlich ließ die Komtess es geschehen, half sogar mit, soweit sie konnte. Ricarda deckte sie sorgfältig mit einer dicken Daunendecke zu.

«Sie sind vollkommen ausgekühlt. Wie lange haben Sie denn am Boden gelegen?» Ricarda läutete nach dem Dienstmädchen, das auch sogleich kam. «Bringen Sie mehrere Wärmflaschen für Durchlaucht», sagte Ricarda. «Und das muss sehr schnell gehen!»

«Gewiss, Frau Doktor.» Das Dienstmädchen knickste und eilte hinaus.

«Ist jemand verletzt worden?», fragte die Komtess.

Die alte Dame hatte also vom Fenster aus noch etwas von dem Vorfall im Park mitbekommen, bevor ihre Kräfte sie verließen.

«Victor hat zum Glück nur einen Streifschuss abbekommen.»

«Hat Henny …?»

«Ich weiß es nicht. Mich interessiert auch mehr, wie es so weit kommen konnte. Haben Sie …» Ricarda suchte nach den richtigen Worten. Es war offensichtlich, dass die Komtess in einem kritischen Zustand war. Sie jetzt mit Vorwürfen zu konfrontieren, empfand Ricarda als taktlos.

«Was habe ich, Rica?» Die Komtess klang herrisch.

«Mit Henny geredet, bevor es passiert ist? Ihr etwas über ihren Vater gesagt? Dass die beiden Halb …»

Ricarda brach ab, denn zwei Dienstmädchen brachten mehrere blank polierte Blech-Wärmflaschen. Sie halfen Ricarda, sie unter der Decke der Komtess zu verteilen.

«Durchlaucht braucht mehr Decken», sagte Ricarda. «Und bitte holen Sie Doktor Käthe Hausmann.»

«Sofort, Frau Doktor.»

«Warum siezt du das Personal, Ricarda?», erkundigte sich die Komtess.

Ricarda überhörte die Frage. Sie blickte auf ihre einstige Mentorin herab, die nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Ihre Wangen waren bleich und eingefallen, die Augen jedoch funkelten wach und kampfeslustig.

«Henny ist mir sehr feindselig begegnet. Ich wüsste gern, weshalb», sagte Ricarda.

«Und da fragst du mich? Anstatt sie?»

Die Mädchen kamen mit den Decken zurück und häuften sie über die kranke Matriarchin. «Doktor Hausmann ist schon unterwegs», sagte eines der Mädchen.

Im nächsten Moment eilte Käthe in den Raum. «Jette, was machst du denn?»

«Die Komtess lag vor dem Fenster. Sie war vollkommen ausgekühlt», sagte Ricarda.

«Sprich nicht für mich, Rica. Das schaffe ich schon noch selbst», knurrte die alte Dame.

Käthe zwinkerte Ricarda in der alten Vertrautheit zu. «Ich übernehme. Danke, dass du dich um Jette gekümmert hast. Ruh dich erst mal aus, Rica.»

Ricarda verließ die Zimmerflucht mit dem eindeutigen Gefühl, dass die Komtess etwas vor ihr zu verbergen versuchte. Oder sie hatte einfach nur ein schlechtes Gewissen, weil sie wusste, dass sie zu weit gegangen war.

 

Das Licht, das die vier Kerzen auf dem Adventskranz spendeten, reichte aus, um die Wohnstube zu erhellen. Im Kaminofen loderte ein Holzfeuer, dessen Helligkeit durch die offenstehende Tür vom Holzfußboden gespiegelt wurde. Großmutter Karla legte einen weiteren Scheit hinein und schloss die Tür. Aus Erfahrung wusste Ricarda, dass es nun in dem niedrigen Raum bis zum nächsten Morgen warm bleiben würde.

«Sie waren alle beide hier, heute Vormittag», sagte Ricardas Mutter, «gleich nachdem sie angekommen waren. Victor saß da, wo du jetzt sitzt, Rica. Er erzählte davon, wie er in Amerika Weihnachten gefeiert hatte. Dass er ein einsames Kind war und von seiner Mutter verlassen wurde, als er elf war. Er tat mir so leid. Gleichzeitig war ich froh, dass er Henny hat.»

Karla Petersen nahm wieder am Tisch Platz, auf dem ein Marmorkuchen stand, von dem einige Scheiben abgeschnitten worden waren.

«Und du weißt nicht, wer von beiden geschossen hat?», fragte Großmutter Karla, wie sie schon lange im Schloss genannt wurde, «oder warum?»

«Ich hoffte, du wüsstest mehr, Mutter.»

«Henny war zuvor bei der Komtess.» Großmutter Karla lächelte tiefgründig. «Hennys Verhältnis zur Komtess ist nicht einfach. Während du in China warst, hat sie mehrfach nach ihr gesehen. Als Ärztin. Aber die Komtess behandelte sie wie ein Kind. Das hat Henny sehr verletzt.»

«Sie ist eigensinnig, die Komtess.»

«Genau das hat Henny auch gemeint, als ich ihr ausrichtete, die Komtess wünsche, sie und Victor zu sehen.»

Ricarda stutzte. «Sie hat ausdrücklich nach beiden verlangt?»

«Nur Henny ist dann zu ihren Patentanten hinauf. Victor blieb hier. Er hat sich über den Kuchen hergemacht.» Sie lachte. «Ich habe den Jungen so gern.»

Für dich ist er wie ein weiterer Enkel und kein künftiger Schwiegersohn, dachte Ricarda. «Sorge dich nicht, Mutter», sagte sie. «Er wird wieder gesund.» Vermutlich wird eine Narbe bleiben, dachte sie und schnitt sich eine Scheibe Kuchen ab.

Ihre Mutter sah Ricarda fest in die Augen. «Henny war vorhin kurz hier. Sie ist völlig verzweifelt. Sie weint nur noch. Rica, was ist mit deinem Kind? Rede mit ihr. Mein Gefühl sagt mir: Das im Park war kein Unfall.» Sie schüttelte den Kopf. «Ich weiß noch, wie du mich besucht hast, als Henny ein Säugling war. Immer hast du von deiner Arbeit gesprochen. Böse bist du mit mir geworden, als ich fragte: Und Henny? Was ist mit ihr?» Sie nahm Ricardas Hand. «Ich hatte immer den Eindruck, als würdest du Henny nicht liebhaben. Was ist damals geschehen, Rica?»

«Das ist lange her, Mutter.»

«Manchmal sind die Bande, die heute mit gestern verbinden, sehr stark. Henny hat gesagt, dass sie dich hasst. Wie kann eine Tochter so etwas sagen?» Der Großmutter traten Tränen in die Augen. «Ich möchte, dass ihr euch aussprecht. Morgen. Damit ihr gemeinsam unter dem Christbaum sitzen könnt.»

Ricarda schob den Teller sanft von sich. Sie hatte kaum von dem leckeren Kuchen genascht. «Du hast völlig recht.» Sie beugte sich zu ihr und küsste ihre Wange. Es würde alles gut werden mit ihr und Henny.

Es musste gut werden. Auch wenn die Wahrheit wehtat.

 

Die Nacht über hatte es geschneit, jetzt jedoch schien die Sonne aus einem klaren Himmel und ließ die weiße Pracht kalt funkeln. In den Ställen gackerten Hühner, Schweine grunzten. Eine Mischung aus Gehöft und Schloss, dachte Ricarda. Sie hatte Badili, eine Mischlingshündin mit fuchsfarbenem Fell, mitgenommen. Die Hündin gehörte eigentlich Henny, aber in deren Leben war schon lange kein Platz mehr für sie, sodass Badili zumeist bei Antonia war. Nun genoss sie die Freiheit, durch den Park zu tollen.

Als Treffpunkt hatte Ricarda die ehemalige Orangerie gewählt, die ihr Vater einst angelegt hatte und die nun ein Treibhaus für Gemüse war. Die verbliebenen Palmen und Oleander, die darin überwinterten, wirkten, als hätten sie sich verirrt.

«Warum wolltest du dich hier mit mir treffen?», fragte Henny, als sie eintraf. Sie trug einen dicken Mantel und zwei breite Schals, ihre Augen waren verweint. Ricarda hätte sie umarmen mögen, aber aus Hennys Körperhaltung sprach nach wie vor Feindseligkeit.

«Weil nur du hören sollst, was ich sagen muss.»

«Victor und ich sind Geschwister. Das weiß ich schon. Haben die Komtess und Käthe mir gestern an den Kopf geknallt. Victor meint, sie wollten uns wohl ein Weihnachtsgeschenk damit machen.»

Sie gingen ein Stück, Henny blieb abrupt stehen.

«Wie heißt mein Vater? Mein wahrer Erzeuger?»

Ricarda atmete tief durch. Es war Hennys Recht, diese Frage zu stellen. Keine Lügen mehr, keine Geheimnisse, beschloss sie. «Cossata d’Aperi. Giacomo mit Vornamen. Glaube ich. Ich habe versucht, die Erinnerung an ihn zu löschen.»

«Die Tanten sagen, du wurdest vergewaltigt.» Henny klang schroff.

«Ja.»

«Wo und wann?»

«Was sollen diese Fragen, Henny?»

«Ich will das wissen.»

Ricarda seufzte. «In Zürich. Im Januar. Exakt neun Monate vor deiner Geburt.»

«Woher weißt du, dass dieser Mann mein Vater ist?»

«Henny! Wie redest du mit mir! Aber wenn du es wissen willst: Ich war Jungfrau!» Nicht nur die Befragung durch die eigene Tochter, auch die dadurch heraufbeschworene Erinnerung war demütigend. Tränen schossen ihr in die Augen. «Er fiel auf der Treppe über mich her. Hätte ich dir das vielleicht jemals erzählen sollen? Henny, ich habe mein Leben lang dafür gekämpft, dass du das nie erfährst.» Sie wischte sich die Tränen wütend aus dem Gesicht. «Du hättest es auch nie erfahren. Glaube mir. Ich hätte das Geheimnis in mein Grab genommen. Du solltest das nicht wissen. Du solltest nicht mit dieser Hypothek durchs Leben gehen.»

«Da waren die Tanten anderer Meinung.»

«Die Komtess …», setzte Ricarda an. «Ach, was bringt das jetzt noch.» Sie seufzte. «Es konnte doch niemand ahnen, dass du dich ausgerechnet in deinen Halbbruder verliebst!»

Henny starrte ihre Mutter herausfordernd an. «Wie ist das eigentlich möglich, dass Victors Mutter und du euch einen Mann geteilt habt?»

«Wir haben ihn uns nicht geteilt! Donnerwetter noch mal! Wie redest du denn! Flora wusste nichts von der Vergewaltigung, niemand wusste es. Du kamst ehelich zur Welt, weil Georg mich geheiratet hat.»

«Wusste Georg Bescheid?» Henny klang ein wenig versöhnlicher.

«Er war der großherzigste Mensch, der mir je begegnet ist. Heute bin ich überzeugt, dass er es wusste. Damals war ich unsicher. Er hat mich geliebt. Seine Liebe wurde unser Zuhause.» Sie umfasste die Oberarme ihrer Tochter. «Henny, ich habe die ganze Nacht gegrübelt, wann ich dir die Wahrheit über deinen Vater hätte sagen sollen. Es gab diesen Zeitpunkt nicht, glaube mir.»

Henny schüttelte ihre Mutter ab. «Du machst es dir zu einfach. Weißt du eigentlich, was das bedeutet? Victor und ich, wir lieben uns. Da könnt ihr alle machen, was ihr wollt.» Sie lächelte bitter. «Nur der Tod wird uns trennen.»

Sie drehte sich trotzig weg. Ricarda sah ihrer Tochter nach, wie sie mit schnellen Schritten durch den Park davonging. Das alles war zu viel für das Mädchen. Sie musste sie jetzt in Ruhe lassen. Henny brauchte Zeit, um alles zu verarbeiten.

Jetzt erkannte Ricarda, wohin ihre Tochter lief. Sie ging geradewegs auf den zugefrorenen See zu. Nur der Tod wird uns trennen. Plötzlich begriff Ricarda. Deshalb der Revolver! Ricarda rannte los.

«Henny! Bleib stehen!»

Die furchtbaren Bilder der Erinnerung schoben sich vor den Augenblick. Der Weihnachtstag 1876. Zwei Mädchen laufen auf diesem See Schlittschuh, die erste bricht ein, die zweite versucht, sie herauszuholen, beide verschwinden.

«Henny, das Eis! Es trägt nicht! Es ist zu dünn!»

Ihre Tochter hatte die Fläche längst betreten, als Ricarda das Ufer erreichte. Plötzlich ein Knacken, ganz leicht nur.

«Komm zurück! Bitte, Henny, sei vernünftig.»

Jetzt schien auch Henny das Knacken wahrzunehmen, denn sie blickte sich um. Und dann rannte sie los. Fort von ihrer Mutter, das andere Seeufer schien ihr wohl inzwischen näher zu sein. Das Eis knackte unaufhörlich weiter. Wie eine Uhr, die die Sekunden zählt.

Ricarda hielt den Atem an. Erst als sie sah, dass Henny wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, atmete sie aus.

 

Der Geruch. Florentine hielt ihn kaum aus. Es war der Geruch, den ein kranker alter Mensch verströmt. Am liebsten wäre sie wieder gegangen. Das war natürlich unmöglich. Schließlich war sie ja in erster Linie wegen ihrer Tante nach Freystetten gekommen. Dass es so schlimm um sie stand, hatte sie sich allerdings nicht ausgemalt.

Die Komtess saß in ihrem Bett, den Rücken von zwei dicken Kissen gestützt. Die Haare waren perfekt frisiert, aber ihre Haut war wie Pergament. Unvermittelt begann sie zu husten. Florentine stand von dem Stuhl auf, auf dem sie neben dem Bett saß, um der Tante zu helfen. Doch die alte Dame bezwang den Husten, tupfte sich die spröden, bleichen Lippen mit einem Tuch.

«Ich fürchte, wir beide werden uns nicht mehr sehr oft treffen, Flora», sagte die Komtess schließlich mit brüchiger Stimme.

Florentine setzte zum nun angebrachten Widerspruch an, aber ihre Tante winkte müde ab.

«Ich entwickle eine Lungenentzündung», stellte die Komtess fest. «Und ich habe die Parkinson-Erkrankung. Daraus kannst du selbst Schlüsse ziehen.» Wieder hustete sie.

Florentine war in der Tat ebenfalls Ärztin, pro forma jedenfalls. Zu praktizieren war nie ihr Ehrgeiz gewesen. Dass sie überhaupt in Zürich fast zeitgleich mit Ricarda studiert hatte, lag vor allem an ihrer Tante, der Komtess. Mehr oder weniger hineingezwungen hatte die sie in die medizinische Laufbahn. Florentine hatte sich nie etwas vorgemacht: Der Grund dafür war einzig Ricarda gewesen, die mit brennendem Ehrgeiz in die Fußstapfen ihrer Gönnerin getreten war. Und die wollte, dass ihre Nichte es der Gärtnertochter gleich tat.

«Dein Sohn will Ricas Tochter heiraten», sagte die Komtess. «Ich erwarte, dass du ihm das ausredest.»

«Ach?» Florentine zuckte erstaunt zurück. «Denkst du nicht, dass ich das selbst entscheiden sollte? Und was lässt dich überhaupt zu diesem Urteil kommen?»

Die Komtess legte ihr Gesicht in Zornesfalten. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, hustete sie. «Die Kinder haben denselben Vater!»

Gespielt amüsiert schüttelte Florentine den Kopf. «Warst du bei der Zeugung dabei?» Sobald sie sich beruhigt hatte, fragte sie: «Wie kommst du darauf, Tante? Hennys Vater ist Georg Kögler. Der Brauer.»

«Ricas erster Mann war kein Brauer, sondern Anwalt, Flora. Das nur, um dir zu zeigen, dass ich keineswegs senil bin. Und Georg war nicht der Vater. Er sprang nur ein, um Verantwortung zu übernehmen. Ein grundanständiger Mann, obwohl er Jurist war. Hennys Vater ist Cossata d’Aperi.»

«Wie bitte? Unsinn!», rief Florentine. «Rica konnte ihn nicht ausstehen!»

«Weil er sie in deiner Villa am Zürichsee vergewaltigt hat.»

«Er hat … Was? Wann?» Sie sah ihrer Tante an, dass sie die Wahrheit sagte. Tante Jette stand an der Schwelle zum Jenseits. Da schwindelte man nicht mehr. Obwohl ihre Tante nie einen Hehl daraus gemacht hatte, dass sie Giacomo verabscheute. «Das … das tut mir leid», brachte Florentine hervor. «Die arme Rica. Sie hat nie einen Ton gesagt. Oh mein Gott, welch eine Bürde!»

Florentine sah Giacomo vor sich. Die Polizisten, die ihn aus ihrer Villa abführten. Bigamist. Er war ein Betrüger, ein Aufschneider und Hochstapler. Ein Vergewaltiger? Florentine erinnerte sich an Szenen, die sie selbst mit ihm erlebt hatte. Er neigte zur Gewalt. Auch beim Geschlechtsverkehr. Sie hatte das sehr gemocht. Damals. Die wilden Zeiten, als das Blut noch heiß war. Eine amour fou wie aus dem Bilderbuch. Wäre es dabei nur geblieben …

Florentine stand auf. «Ich werde die Angelegenheit klären, Tante Jette.»

«Wie willst du das machen?»

«Lass das meine Sorge sein, Tante», erwiderte Florentine selbstbewusst. «Du werde gesund. Morgen ist schließlich Weihnachten.» Sie warf ihr eine Kusshand zu und ging hinaus.

 

Einfach nur durch den Park spazieren, so ganz ohne Ziel. Ricarda erinnerte sich nicht, wann sie das je gemacht hatte. Nach dem unerfreulichen Gespräch mit Henny schlug sie zwar den Rückweg zum Schloss ein, doch dann trugen ihre Füße sie in den Park zurück. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken.

Ja, ihre Mutter hatte sie wohl durchschaut. Ricarda hatte lange gebraucht, um in Henny nicht das Ergebnis einer Vergewaltigung zu sehen, sondern sie um ihrer selbst willen zu lieben. Es war ihr nie richtig gelungen, gestand sie sich ein.

Gründe gab es mehrere. Sie hatte ein schlechtes Gewissen dem Mann gegenüber gehabt, der sie wegen Henny – und nicht, obwohl sie eine ledige werdende Mutter war – geheiratet hatte. Das hatte sie versucht, gutzumachen, indem sie Georg Kögler möglichst bald ein eigenes Kind schenkte – Georg junior. Natürlich spielte das neue Kind die erste Geige. Und als die Familie Kögler ihr nach Georgs Unfalltod den kleinen Jungen wegnahm, stahl der Schmerz dieses Verlustes ihr die Kraft, sich ausreichend um Henny zu kümmern. Immer hatte die Frage, wie geht es jetzt wohl dem kleinen Georg, alles dominiert.

Und dann war Siegfried wieder aufgetaucht. Die große Liebe ihres Lebens. Der Mann, dem sie nicht zugetraut hatte, dass er ihr beistehen würde. Dem sie deshalb die kalte Schulter gezeigt hatte, um Georg Kögler zu heiraten. Das Schicksal gab Siegfried und ihr jedoch eine zweite Chance. Das Ehepaar nutzte sie, um seinen Traum wahr werden zu lassen vom Platz an der Sonne in Deutsch-Ostafrika. Schon bei der Überfahrt war Ricarda schwanger gewesen. Und Henny hatte ihre Mutter spüren lassen, dass sie erkannte: Ich werde immer nur am Rande stehen. Manchmal hatte Henny das mit Schroffheit gezeigt, meistens jedoch, indem sie ihre eigenen Wege ging. Und schließlich heimlich Käthe schrieb, damit die ins ferne Afrika reiste, um ihr erst dreizehn Jahre altes Patenkind heim nach Berlin zu holen. In der Folge waren Mutter und Kind in der entscheidenden Phase des Erwachsenwerdens über Jahre hinweg getrennt …

«Ach, Henny, ich liebe dich doch trotzdem», sagte Ricarda in die Weite des Parks hinein.

Doch welche Möglichkeiten hatte sie nun noch, ihr das zu zeigen? Ausgerechnet jetzt, wo Henny nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Und vor allem: Wie konnte sie Henny beistehen? Die Situation war völlig verfahren.

 

Atemlos stürzte Henny in das Gästezimmer, in dem Victor auf dem Bett lag. Sein Kopf war dick bandagiert. Er stierte auf eine Weise vor sich hin, die Henny nicht an ihm kannte. Er sprühte stets vor Esprit und Lebenslust. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz krampfe sich zusammen.

In dem Augenblick, als Victor sie sah, hellte sich seine Miene schlagartig auf. «Und? Was sagt deine Mutter? Es ist alles ein Irrtum, nicht wahr?»

Henny warf den Mantel und die beiden Schals achtlos zu Boden und schmiegte sich auf dem Bett an ihn. Sie hatten die Nacht nicht zusammen verbringen dürfen. Der leidige Kuppelparagraph bedrohte Tante Rosel mit Strafe, wenn sie ihre Nichte und deren Fast-Verlobten in einem Zimmer nächtigen ließ.

«Unser Vater hat meine Mutter vergewaltigt, sagt meine Mutter.» Die Worte platzten aus Henny hervor.

«Glaubst du ihr?»

Henny zögerte keine Sekunde: «Ja.»

«Was für ein Scheusal muss unser Vater sein», sagte Victor. «Mir wird ganz schlecht.»

«Vergiss ihn, Victor. Wir haben uns.» Henny bettete den Kopf auf seine Schulter und strich eine seiner dunklen Locken aus seiner Stirn. «Und wir lieben uns. Dann werden wir eben keine Kinder haben.»

«Baby schreit und stinkt nur.» Victor bemühte sich zu grinsen.

«Brauchen wir nicht», sagte Henny mit angestrengtem Lachen.

In Wahrheit liebte sie Kinder. Als Mädchen hatte sie mitgeholfen, ihre kleine Schwester Toni aufzuziehen.

«Liebling, hast du Schmerzen?», fragte sie.

«Doktor Käthe war bei mir. Sie hat mir gegeben Laudanum. Ich glaube, sie mag mich.»

«Käthe ist eine großartige Frau», sagte Henny. So viele tiefe Erinnerungen und ein Gefühl ewiger Dankbarkeit verband sie mit ihrer Patentante. Das machte ja alles umso schlimmer. Käthe hätte nie und nimmer zugelassen, dass die Komtess etwas sagte, das nicht stimmte.

Henny suchte Victors Mund und küsste ihn ganz sanft, weil sie befürchtete, ihm wehzutun.

«Das können wir besser», flüsterte er und bewies es.

Genau in diesem Moment klopfte es. «Darling? Ich bin es, deine Mutter.»

Henny wollte sofort vom Bett herunter springen, doch Victor legte den Arm umso fester um sie. «Come in», sagte er.

«Oh, ich störe.» Florentine von Freystetten machte gleichwohl keine Anstalten, sich zurückzuziehen. Im Gegenteil: Sie schloss die Tür hinter sich, trat ein und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um.

Bei ihrer ersten, kurzen Begegnung hatte Henny keinen guten Eindruck von Victors Mutter bekommen. Da Victor ohnehin nie ein freundliches Wort über sie verloren hatte, war es ihr leichtgefallen, Komtess Florentine nicht zu mögen.

«Es gibt hier große Verwirrungen, hörte ich», begann Victors Mutter und entschied sich, nicht auf dem einzigen verfügbaren Stuhl Platz zu nehmen. Sie blieb am Fußende des Bettes stehen. «Ihr beide seid ein hübsches Paar», sagte sie. «Du ähnelst deiner Mutter, Henny. Du erlaubst doch, dass ich Du sage?»

«Ja, Durchlaucht.»

Victors Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung. «Nenn mich Florentine, Kleines. Und sag Du zu mir. Um es kurz zu machen: Ihr dürft heiraten und so viele Kinder machen, wie ihr wollt.» Sie lachte gekünstelt. «Solange ich nicht gebeten werde, Windeln zu wechseln.»

Henny meinte, ihr Herz würde aussetzen.

«Aber …», wandte Victor ein und wurde sofort von seiner Mutter unterbrochen.

«Darling, ich bin noch nicht fertig mit meiner Ansprache.» Sie nahm den einzigen, unkomfortabel aussehenden Stuhl erneut in Augenschein und entschied, sich darauf niederzulassen. «Wir haben nie darüber gesprochen, wer dein Vater ist, Victor. Dafür hatte ich Gründe. Wichtig ist nur: Es ist nicht derselbe Mann, der dein Vater ist, Henny.»

Florentine machte eine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen, und Henny wusste nicht mehr, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie wusste nur eines: Victors Mutter war die ungewöhnlichste Person, die sie kannte. Ihr Herz sagte Henny, dass das eine positive Erkenntnis war. Doch sie brachte kein Wort heraus.

Auch Victor brauchte lange, bis er endlich etwas sagen konnte. «Okay, mom. Wer ist mein Vater?»

Henny spürte, wie sich sein ganzer Körper anspannte.

Es war Florentine anzusehen, wie sie mit sich kämpfte, ob sie ihrem Sohn die ganze Wahrheit enthüllen sollte. Schließlich sagte sie: «Er war Arzt. Ein Franzose. Ich lernte ihn in Monte Carlo kennen. Ich war dort früher oft, um im Casino zu spielen. Ich gewann viel Geld. In diesen Dingen war das Glück immer auf meiner Seite.»

Sie schwieg, richtete fahrig ihr Haar.

«Ich hoffte, mit ihm eine Familie gründen zu können.» Ein trauriges Lächeln umspielte Florentines Lippen. «Aber dann sagte er mir, dass er schon verheiratet ist.» Sie stand ruckartig auf und strich ihrem Sohn kurz durchs Haar. «In der Liebe hatte ich nie Glück. Mach es besser als deine Mutter, darling.» Sie wandte sich Henny zu: «Ich mag dich, Kleines. Im Prinzip habe ich auch deine Mutter immer gemocht, trotz allem.»

Florentine richtete sich auf, als wollte sie noch etwas hinzufügen, dann wandte sie sich zum Gehen.

«Mom.» Victors Stimme hielt sie zurück. «Wie heißt mein Vater? Ich will ihn kennenlernen.»

Florentines Miene veränderte sich auf eine Weise, als würde sich ein Vorhang auf ihr Gesicht legen. «Sorry, darling», sagte sie kühl. «Er ist schon lange tot.» Um ihre harten Worte zu mildern, schickte Florentine ihnen ein gekünsteltes Lächeln hinterher und verließ endgültig das Zimmer.

Die beiden Liebenden sprachen lange kein einziges Wort, hielten einander nur ganz fest im Arm. Während Henny auf den Herzschlag ihres Liebsten horchte, überkam sie ein seltsames Gefühl. Sie fühlte sich plötzlich ganz leicht, als könnte sie fliegen wie ein Vogel.

«Wir sind frei, Victor», sagte sie und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.

 

Durchgefroren betrat Ricarda die Eingangshalle des Schlosses. Der Spaziergang hatte sie zu keinem wirklichen Ergebnis geführt. Sie lief gerade die Treppe hinauf, als ihr Florentine entgegenkam, eine Zigarette in der Hand.

«Rica! Ich wollte mir gerade die Beine vertreten. Schließt du dich mir an? Ich glaub, wir haben etwas zu besprechen.»

«Wie wahr! Aber ich komme gerade von draußen. Setzen wir uns nach drinnen?»

«In den kleinen Salon?», schlug Florentine vor.

Der extravaganteste Raum im Schloss, mit roter Seidentapete und weißem Mobiliar, passte zu Florentine. Es war der liebste Raum ihres Vaters Raimund gewesen. Nur in diesem Zimmer hatte sein ausgefallener Stil überlebt.

«Wer hätte das gedacht? Unsere Kinder ein Paar!» Florentine lachte. «Wusstest du davon?» Sie musterte Ricarda und steckte sich dabei die Zigarette an.

Ricarda schnappte nach Luft. Die Frage war eine Frechheit. Als hätte sie es darauf ankommen lassen, dass die beiden in ihr Unglück rennen! Sie riss sich zusammen, blieb sachlich: «Ich war seit Jahresanfang in China.»

«Und ich in New York. Wir sind ganz schön rumgekommen, wir beide.» Sie verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. «Da war es natürlich klar, dass wir nicht miteinander sprechen konnten über Dinge, die bald ein Vierteljahrhundert zurückliegen. Meine Tante hat mich über das ins Bild gesetzt, was du durchleiden musstest. Ich bedaure es natürlich sehr. Aber ich bin auch verärgert.»

Sie schnippte Asche von der Zigarette und zog energisch an der Klingel, um ein Dienstmädchen herbeizuordern. Sie bestellte sich Cognac.

«Warum hast du mir nicht gesagt, was Giacomo dir angetan hat, Rica? Meinst du, das wäre mir egal gewesen? Ich habe diesen Mann geheiratet. Warum hast du das nicht zu verhindern versucht?»

Gelegenheit dazu gab es wirklich, dachte Ricarda. Sie erinnerte sich genau an eine Begegnung mit der Komtess in deren damaligem Palais Unter den Linden. An deren eindringliche Bitte, Cossata wegen der Vergewaltigung anzuzeigen, um auf diesem Weg Floras Hochzeit mit ihm zu verhindern. So eindringlich hatte die Komtess Ricarda darum gebeten! Selbst Käthe hatte sich deshalb eingeschaltet. Doch Ricarda hatte sich geweigert, um nicht die tatsächliche Vaterschaft preiszugeben. Was nun umso schmerzlicher geschehen war.

«Wie sollte ich damals wissen, wie sich alles entwickelt?», fragte Ricarda, nachdem die Mädchen für Florentine ein Glas Cognac gebracht hatten. «Ich wollte nur Henny beschützen.»

Florentine nahm einen Schluck. «Ja, so kenne ich dich. Du willst immer das Richtige tun. Wer wüsste das besser als ich?» Sie blickte kurz zum zugefrorenen See hinter den Fenstern. «Ich verdanke dir schließlich mein Leben.»

Das klang in Ricardas Ohren wie eine pflichtschuldige Feststellung.

Florentine saß so, dass das einfallende Licht auf die kleine Narbe über ihrem Auge fiel. Nachdem Ricarda Flora aus dem eiskalten See gezogen hatte, hatte sie in Floras totenbleiches Gesicht gesehen: Auf der schneeweißen Stirn hatte eine blutende Wunde geklafft, die sie ihr bei der Rettung unabsichtlich zugefügt hatte.

Florentine leerte ihr Glas. «Es ist schön, dass sich unsere Kinder lieben. Dadurch schließt sich ein Kreis.»

«Aber …», hob Ricarda verblüfft an.

«Unter uns: Cossata war ein Schwein. Vielleicht ist er es immer noch. Ich habe keine Ahnung, ob er noch lebt. Du?»

Ricarda schüttelte den Kopf. Sie begriff nichts.

«Ich hatte nie ein schlechtes Gewissen, ihm ein Kind unterzuschieben, das ich von einem anderen erwartete.» Sie lächelte zynisch. «Er sah ja auch tatsächlich schon das viele Geld, das er zur Verfügung haben würde, wenn er mich heiratet. Und dann hat Tante Jette meinen Kopf aus der Schlinge gezogen, indem sie herausfinden ließ, dass Giacomo bereits verheiratet war. Und ausgerechnet du rietest mir dazu, ihn dennoch zu heiraten und mich erst nach Victors Geburt scheiden zu lassen. Das war perfekt. Giacomo hat von mir keinen Pfennig bekommen und Victor hatte dennoch einen offiziellen Vater.»

Ricarda war sprachlos. Solch eine Durchtriebenheit! Aber Cossata geschah es recht. Der betrogene Betrüger. Wahrscheinlich hat er sich deshalb an mir schadlos gehalten und mich jahrelang mit seinem Wissen erpresst, Hennys Vater zu sein, dachte sie.

Das jedoch war Schnee von gestern. Es ging um etwas viel Wichtigeres: «Du meinst also, er ist gar nicht Victors Vater?»

«Richtig. Henny und Victor sind keine Geschwister.» Florentine stand auf. «Lass dich umarmen, Rica. Ist es nicht wundervoll, wie sich nun alles zum Guten fügt?»

Florentines Umarmung fühlte sich seltsam an. Als wollte sie Ricarda überrumpeln. «Bist du dir sicher, dass Cossata es nicht war?», hakte sie nach.

«So etwas weiß eine Frau doch!»

Du hast damals wohl ein ziemlich promiskuitives Leben geführt, warst mit vielen Männern intim, dachte Ricarda und kämpfte mit sich, ob sie diese Bedenken nicht aussprechen sollte. Aber irgendwie ging das auch zu weit. Oder nicht?

 

Noch lange, nachdem Flora gegangen war, saß Ricarda im roten Salon. Ihre Gedanken kreisten um die immer gleiche Erkenntnis: Henny hätte sich um ein Haar selbst getötet, oder vielleicht wären beide gemeinsam in den Tod gegangen. Wegen eines Missverständnisses, eines Irrtums, eines Schweigens, wie auch immer. Und plötzlich löste sich alles in nichts auf, wie eine Seifenblase, die platzte.

Da stimmt etwas nicht, dachte Ricarda. Flora zaubert einen Mann hervor wie einen Trumpf, den sie aus dem Ärmel zieht, und alles ist gut. Sie steht als Gewinnerin da und ich als die Schuldige, deren Eigenbrötlerei sogar das Leben ihres Kindes gefährdet. Aber es gibt sie doch, diese Ähnlichkeit der beiden. Schon als Kinder hatten sie das gleiche Grübchen am Kinn gehabt, die dunklen Locken, sogar ihr Lachen ähnelte sich. War das alles meine Einbildung gewesen? Hatte ich bewusst nach gemeinsamen Merkmalen gesucht, weil ich befürchtete, jeder würde es sehen können?

Aber warum sollte Flora lügen, fragte sie sich. Und sah nur eine Erklärung: Um ihr schlechtes Gewissen zu verbergen, das sie hatte, weil sie den Verbrecher Cossata in ihr Leben gelassen und zum Vater ihres Sohnes gemacht hatte. Und dafür nahm sie alle Konsequenzen in Kauf? War sie so skrupellos?

Ricarda starrte auf den zugefrorenen See auf der anderen Fensterseite. Das Eis sah aus, als würde es tragen. Doch trat man darauf, brach es. So würde es auch mit Florentines Behauptung sein, falls es eine Lüge war. Und ein unschuldiger kleiner Mensch müsste irgendwann einmal mit den fatalen Folgen leben.

Von seinen unglücklichen Eltern ganz abgesehen …

 

Im großen Kamin des Salons prasselte das Feuer. Zwei Männer saßen davor an einem niedrigen Tisch, die Köpfe über ein Schachbrett gebeugt. Ricarda hatte nie Schach spielen gelernt, es reizte sie auch nicht. Denn wenn sie schon mal Zeit zu zweit mit ihrem Mann hatte, wollte sie nicht das Ergebnis seiner logischen Überlegungen sehen. Sondern teilhaben an seinen Gedanken, sich mit ihm austauschen.

Schweigend bewegte Siegfried eine Figur, irgendeine war im Weg und wurde von Friedemann beiseite geräumt. Der Schlossbesitzer – in diesem Jahr fünfzig geworden – hatte wie seine zwei Jahre ältere Schwester Florentine rötliches Haar; es war inzwischen fast weiß, der Bart voll und gepflegt. Ihm zu Füßen lagen seine beiden Weimaraner Hunde.