Die Töchter der Ärztin - Helene Sommerfeld - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Töchter der Ärztin E-Book

Helene Sommerfeld

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei junge Ärztinnen, zwei Kontinente und eine große Liebe Berlin und Afrika, 1928. Henny und Antonia sind die Töchter der berühmten Ärztin Ricarda Thomasius. Obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten, verbindet sie die Liebe zur Medizin. Während Henny sich in Berlin eine Praxis für Onkologie aufbaut und für Furore sorgt, träumt die jüngere Toni davon, an den Ort ihrer Kindheit, Ostafrika, zurückzukehren. Nun, mit 27, ist sie auf dem Schiff, das sie diesem Traum näher bringt – gegen den Willen ihrer Mutter, die lange in Afrika gelebt hat. In Daressalam angekommen, fühlt Toni sich sofort zu Hause. Doch die Liebe zu einem geheimnisvollen Mann und ihre unkonventionelle Hilfe für Einheimische bringen sie in große Gefahr. Als Nachricht aus Afrika kommt, dass Toni verschollen ist, muss Familie Thomasius eine Entscheidung treffen …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 614

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Helene Sommerfeld

DIETÖCHTERDERÄRZTIN

Zeit der Sehnsucht

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

»Ich bin ein Mensch, der ein viel zu schweres Gewicht stemmen muss, immerfort, das ganze Leben lang.«

»Lassen Sie das, bitte, niemanden merken, Elisaweta, sprechen Sie nicht von Schwere. Die ganze Welt ist schwer geworden. Ihre Mission ist es, das Leichte zu sein. Verändern Sie sich gütigst nicht, es wäre ein Weltunglück.«

 

aus: Menschen im Hotel

von Vicki Baum (1888–1960)

Die wichtigsten Personen

RICARDA THOMASIUS »RICA« *1863, Ärztin

HENRIETTE VANDENBERG »HENNY« *1890, ihre älteste Tochter

ANTONIA THOMASIUS »TONI« *1900, ihre jüngste Tochter

 

In Berlin und Freystetten

SIEGFRIED THOMASIUS *1860, Pensionär, Ricardas Mann

VICTORIA VANDENBERG »VICKY« *1918, Hennys Tochter

ROSAMUNDE VON FREYSTETTEN »ROSEL« *1865, Ricardas Schwester

KARLA PETERSEN *1842, Ricardas und Rosels Mutter

FRIEDEMANN VON FREYSTETTEN *1864, Rosels Mann

FRIEDA VON FREYSTETTEN *1907, Friedemanns und Rosels Tochter

FRANZ VON FREYSTETTEN *1888, Friedemanns und Rosels Sohn

FLORENTINE VON FREYSTETTEN »FLORA« *1862, Friedemanns Schwester

VICTOR VANDENBERG *1892, Hennys Ex-Mann, Florentines Sohn

JOSEFINE DALDRUPP *1896, Ricardas Sprechstundenhilfe

CORNELIA HERZ »NELLY« *1890, Hennys Freundin

CELIA FAHRLAND *1898, Tonis Freundin

GUNTRAM HARRICH *1901, angehender Arzt

 

Auf der Wangoni und in Afrika

BENJAMIN JACKSON »BEN« *1899, Agraringenieur

IRIS WHATLEY GEB. SCHNEIDER,26, Auswanderin

JAMES JACKSON *1870, Gutsverwalter, Bens Vater

ANDREA JACKSON *1878, Bens Mutter

SIR RODERICK FINTERTON *1867, Plantagenbesitzer

DR. DAMIAN LANCASTER *1884, Klinikdirektor

MATHILDE BITTERLI »MATTI« *1891, Diakonisse

Wenn Träume wahr werden

— ◆ —

Berlin, im Spätherbst 1927

 

Warum nur musste die Sonne jetzt schon aufgehen? Viel zu kurz war die Nacht gewesen und viel zu schön, um vorbei zu sein. Guntram schlief noch, einen Arm über dem Kopf, den anderen auf der Brust, sein Gesicht ihr zugewandt. Er wirkte so entspannt, wie Antonia ihn kaum kannte. Sein sinnlicher Mund konnte zwar zärtlich küssen, aber auch Dinge sagen, die sie am liebsten überhörte. Seine dunklen Haare, durch die ihre Finger gern glitten, auch wenn sie es nur selten durften, waren in wilder Unordnung. Er war ein schöner Mann. Sie wagte kaum zu atmen, um den Moment nicht zu verlieren.

Da schlug er die Augen auf, stutzte, blickte auf seine Armbanduhr, die das Einzige war, was er am Leibe trug, und sagte: »Oh mein Gott, du musst gehen.«

Die Nähe, die diese Nacht zwischen ihnen geschaffen hatte, verflog schlagartig. Entsetzt sah er sich um, als würde ihm in diesem Moment erst bewusst, was sie beide getan hatten.

»Hast du …? Ich meine, werde ich …? Ist es möglich, dass ich dich geschwängert habe?«

War das alles, was ihm zu dieser Nacht einfiel? »Wir haben gestern unser zweites Physikum gefeiert«, sagte sie. »Du kannst davon ausgehen, dass ich über die Vorgänge im männlichen wie im weiblichen Körper Bescheid weiß.«

»Na ja, nur weil du jetzt fast Ärztin bist …«

Ihr empörter Blick ließ ihn verstummen. Guntram stieg aus dem Bett, bemerkte offenbar, dass er nackt war, und wandte sich verschämt ab. Sie musste lächeln und setzte sich auf. Ihr Oberkörper war nun ebenfalls entblößt. Mit einer leichten Kopfbewegung ließ sie ihre langen Locken über die Schultern fallen.

»Komm wieder her«, sagte sie sanft. »Es war schön mit uns. Fandest du nicht?«

»Wir haben den Verstand verloren, Toni.«

»Es war an der Zeit, ihn zu verlieren. Wir haben viel zu lange damit gewartet, uns einzugestehen, was wir fühlen.«

»Vielleicht sollte man nicht alles tun, wovon man träumt.«

»Was ist das Leben wert, wenn Träume nicht wahr werden dürfen?« Antonia streckte die Hand nach ihm aus. Ihr war, als zuckte er zurück.

Er zog sich an, hektisch, geriet ins Straucheln, als es ihm nicht sofort gelang, in die Hosenbeine zu steigen. Es war fast schon komisch, wie er zu fliehen versuchte. Sie bedeckte sich mit dem Leintuch. Erst jetzt bemerkte sie, wie kalt es in dem karg möblierten Raum war.

»Ich warte nebenan, bis du dich angekleidet hast«, sagte Guntram. »Bitte sei leise. Es könnte sein, dass mein Onkel nach Hause gekommen ist.«

Nur Hemd und Hose trug er, als er hinaushuschte.

Diese Nacht, von der sie sich erhofft hatte, ihm beweisen zu können, dass sie wie füreinander geschaffen waren, hatte nichts verändert.

Sie fischte nach ihren Sachen, steckte ihr Haar mit einem Kamm lose hoch und fand nicht einmal einen Spiegel, in dem sie ihre Frisur hätte überprüfen können.

 

Antonia wusste, dass man ihr an diesem frühen Morgen ansah, dass sie die Nacht nicht im eigenen Bett verbracht hatte. Unter ihrem Mantel lugte das Abendkleid hervor, ihre Locken quollen unter dem Hut hervor. Sie ignorierte die Blicke der Männer in der Ringbahn, die auf dem Weg zur Arbeit oder ins Büro waren. Je länger die Fahrt dauerte, umso mehr Frauen fielen ihr auf, die in ähnlicher Aufmachung unterwegs waren.

Eine zwinkerte ihr verschwörerisch zu, als wollte sie sagen: Es ist vorbei, aber es war gut.

Antonia hatte mit dem höchstmöglichen Einsatz um Guntram gekämpft. Allerdings ließ seine Reaktion nicht darauf schließen, ihn für sich gewonnen zu haben. Im Moment wusste sie nicht, was sie von diesem Abschied halten sollte. Sie konnte nicht richtig denken, weil es sich eher so anfühlte, als hätte Guntrams Kälte ihr Herz gebrochen.

An der um diese Uhrzeit überfüllten Station Friedrichstraße stieg Antonia aus und ging mit raschen Schritten zur Luisenstraße. Schräg gegenüber vom Haupteingang der Charité befand sich in einem schlichten Gründerzeitbau die elterliche Wohnung. Hier war ihr Zuhause, seit ihre Mutter und sie vor mehr als zwanzig Jahren aus Afrika zurückgekehrt waren. Schmerzhaft wurde Antonia bewusst, dass sie immer noch bei den Eltern wohnte wie ein Mauerblümchen, das keiner wollte.

Im selben Moment, in dem sie die Wohnungstür aufsperrte, wurde sie von innen geöffnet. Ihre Mutter Ricarda stand ausgehfertig vor ihr.

Ausgerechnet Guntram hatte Ricarda Thomasius vor Jahren den Adel der Charité genannt. Und das nicht ohne Grund: Antonias Mutter hatte nicht nur als erste Frau die dortige Gynäkologie geleitet, sondern war auch eine der ersten Berliner Ärztinnen überhaupt gewesen. Sie war eine elegante Dame und für Antonia schon immer ein Vorbild.

»Guten Morgen«, sagte Ricarda überrascht. »Ich dachte, du schläfst noch, und wollte dich nicht stören.« Sie stutzte, als sie bemerkte, dass ihre jüngste Tochter kurz vor einem Zusammenbruch stand. »Ach, du meine Güte, Toni! Wie siehst du denn aus? Woher kommst du überhaupt?«

»Von Guntram.«

Ricarda zog ihre Tochter in den Wohnungsflur hinein und schloss die Tür. »Ich dachte, du hast mit Celia Fahrland und den anderen weitergefeiert, als Vater und ich gegangen sind?«

»Ich bin so dumm!«, platzte Antonia statt einer Antwort heraus.

Das entsetzte Gesicht ihrer Mutter machte ihr bewusst, dass sie versucht hatte, etwas zu erzwingen, das man nicht erzwingen konnte.

»Dumm wird wohl eher das falsche Wort sein. Du handelst doch sonst sehr intelligent.«

»Was nützt einem Intelligenz, wenn einen niemand will!«

Die Mutter seufzte. »Du wolltest also unbedingt Guntram Harrich von dir überzeugen.«

Wider besseren Wissens sagte Antonia: »Ich weiß, dass er mich liebt.«

»Das hat er zumindest heute Nacht getan. So, wie du aussiehst.«

»Mutter! Wie redest du denn!«

»Stimmt es denn nicht?«

Sie grinste schief. »Doch. Es war schön.«

»Dann nimm es für das, was es war, Toni.«

»So flexibel waren deine moralischen Prinzipien auch nicht immer.«

»Meine Güte, Toni, man geht mit der Zeit. Was meinst du, was ich jeden Tag zu hören und zu sehen bekomme.«

Die einstige Oberärztin der Charité führte seit einigen Jahren eine Praxis in Charlottenburg, die sie von der damaligen Polizeiärztin Berlins, Magda Mehring, übernommen hatte. Damit war Ricarda für die Damen des horizontalen Gewerbes eine wichtige Anlaufstelle. Eine Untersuchung bei Dr. Thomasius gestattete ihnen die Ausübung ihres Berufs.

»Mach dich frisch. Und dann fahr bitte zu deiner Schwester. Sie braucht deine Hilfe. Heute wird der Röntgenapparat geliefert. Ich komme später nach. Du bist doch bestimmt auch gespannt, was Henny sich da angeschafft hat.«

Toni nickte stumm. In dieser Familie drehte sich alles um Medizin. Mutter und Schwester waren Ärztinnen, und es war der Beruf des Vaters.

Ricarda Thomasius gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange. »Sieh nach vorn und nicht zurück. Oder hast du dir etwa in den Kopf gesetzt, Guntram zu heiraten?«

»Nein!«

»Am Ende müsstest du womöglich Herrn Guntram Harrich um die Erlaubnis bitten, arbeiten zu dürfen.«

»Darum geht’s doch gar nicht.«

»Es gibt schon genügend Frauen mit abgeschlossenem Studium, die dasselbe gesagt haben.« Ihre Mutter lächelte müde. »Schreib deine Dissertation. Da drüben warten sie auf dich.«

Sie deutete zum Fenster des Wohnzimmers, das zur Luisenstraße hinausging. Durch die leichten weißen Vorhänge waren die Umrisse der Charité zu erkennen.

Das soll also meine Zukunft sein, dachte Antonia. Jeden Tag derselbe Trott. Und wo bleibe ich dabei?

Doch das sagte sie ihrer Mutter nicht – sie hatte einen anderen Plan, einen größeren.

 

Das Küchenfenster stand offen, aus dem engen Innenhof drangen die fröhlichen Stimmen spielender Kinder zu ihr herauf. Antonia starrte gedankenverloren ins Nichts und umklammerte die heiße Kaffeetasse. Guntrams Geruch haftete noch an ihr, hing in ihren Kleidern, oder sie bildete es sich ein.

Die schlurfenden Schritte ihres Vaters und das Klopfen seines Stocks auf dem Teppich, der im Flur über dem Dielenboden lag, rissen sie aus ihrer Zerstreutheit. Wenn er den Stock brauchte, hatte er Schmerzen. Die hatte er eigentlich immer, aber manche Tage waren schlechter als andere. Anmerken lassen wollte er sich das nie. Früher hatte Antonias Vater stets die Uniform eines Stabsarztes getragen. Mit der gleichen Würde kleidete er sich nun sogar zu Hause in einen streng geschnittenen grauen Anzug mit Weste, Hemd und Krawatte. In zwei Jahren würde er siebzig werden, und er verbarg seine Zerbrechlichkeit nach Kräften.

Sobald er Antonia in der Küche stehen sah, erwachten seine müden Gesichtszüge. »Das war wohl eine lange Nacht, Toni.«

»Sie ist noch nicht ganz vorbei. Ich habe den Kaffee für dich gleich mitgemacht. Magst du Spiegeleier?«

»In dem teuren Abendkleid solltest du dich vielleicht nicht an den Herd stellen.«

Sie blickte an sich herunter; das hatte sie ganz vergessen. »Ich zieh mich schnell um.«

»Lass nur. Das hier ist wichtiger. Es kam gestern mit der Post.«

Siegfried Thomasius griff in die Innentasche seines Sakkos und holte einen Brief hervor.

Antonia war, als setzte ihr Herz für einen Moment aus. Dann raste es wie wild. »Sie haben geschrieben?«

»Ja, Toni, das haben sie. Ich habe den Brief einkassiert. Ich wollte nicht, dass Mutter ihn sieht, bevor du ihn gelesen hast.«

»Oh, Vater!« Toni stürzte auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. »Ich danke dir.«

»In meinem eigenen Interesse handle ich damit gewiss nicht.«

»Umso mehr liebe ich dich.«

»Ich fürchte, ich habe mich vor vielen Jahren mit einem Bakterium namens Fernweh infiziert«, sagte Siegfried Thomasius und lächelte zerknirscht. »Nun habe ich dich damit angesteckt: Du willst in die weite Welt hinaus.«

Er gab ihr den Brief, sie riss ihn hastig auf.

 

Die vier Männer waren frühmorgens gekommen, als es noch nicht einmal richtig hell war. Dennoch war die Behrenstraße bereits voller Fahrzeuge gewesen: Taxis, Lieferwagen, Handkarren, überall Geschrei und lautes Hupen. Und so hatte der große Lieferwagen der Firma General Electric den Verkehr nahe dem Brandenburger Tor und dem Pariser Platz nahezu lahmgelegt. Schließlich war hier immer viel los, da sich nicht weit entfernt das »Hotel Adlon«, die Verwaltungssitze der großen Banken und Versicherungen, einige Botschaften und der Reichstag befanden.

Noch immer waren die Monteure von General Electric nicht fertig. Henriette Vandenberg war etwas schockiert darüber, wie groß das Gerät war, das sie geliefert hatten. Nicht, dass sie nicht schon etliche Röntgenapparate gesehen hätte. Im Gegenteil, die Arbeit damit war ihr seit Jahren vertraut. Es in ihrer eigenen Praxis stehen zu sehen, war jedoch etwas ganz anderes. Die Behandlungsräume im Erdgeschoss des Hauses waren von Hennys Patentante Henriette von Freystetten geplant worden. Damals, als Deutschland noch von einem Kaiser regiert worden war, hatte Tante Jette nicht ahnen können, dass eine Ärztin derart große Gerätschaften benötigte. Was waren das für Zeiten gewesen, als eine Ärztin mit Stethoskop und Blutdruckmesser bestens ausgestattet gewesen war!

Doch seit heute war Henny die erste Berliner Ärztin, die die Körper ihrer Patientinnen durchleuchten konnte. Das flößte ihr ein wenig Ehrfurcht vor dem eigenen Mut ein. Denn der Apparat war irrsinnig teuer. Das Geld dafür musste erst einmal verdient werden. Henny verbot sich, in diesem Moment daran zu denken, und versuchte einfach nur, sich zu freuen.

Leider war sie nie ein Mensch gewesen, der sich einfach nur freuen konnte. Sie musste immer alle möglichen Konsequenzen bedenken. Wie denn auch nicht!

»Werden Sie heute noch fertig?«, fragte sie den leitenden Ingenieur. Hier zu stehen und nur zuzusehen, das kostete sie kostbare Zeit. Die Erkenntnis, dass der technische Fortschritt sie auch zur Sklavin der eigenen Praxis machen könnte, verdrängte sie lieber.

»Noch ein, zwei Stunden, Frau Doktor.«

Das hatte er vor ein, zwei Stunden auch schon gesagt.

Henny machte sich auf den Weg zurück in das helle, große Sprechzimmer. Sie ging kurz ins Bad, um sich vor dem Spiegel frisch zu machen. Sie war achtunddreißig, mit blassem Teint, hoher Stirn, offenem Blick, das gelockte schwarze Haar stets streng zurückgenommen. Dass sie attraktiv war, interessierte sie nur insofern, als sie auf ihre Patientinnen den Eindruck machen wollte, jede Situation zu beherrschen. Allerdings war es nützlich, dass ihre perfekte Aufmachung innere Wunden gut kaschierte.

Es war fast Mittag, und noch immer warteten Patientinnen, die allesamt einen Termin hatten. Ohne ging es gar nicht mehr. Zahllose Frauen setzten ihre Hoffnung auf Henriette Vandenberg, seit sie bei einer Dame der Gesellschaft – der einflussreichen Gattin eines Bankiers – rechtzeitig Brustkrebs diagnostiziert hatte. In diesen Kreisen verbreiteten sich schlechte wie gute Gerüchte mit der gleichen Schnelligkeit, wie der Krebs im Körper wachsen konnte.

Wie Röntgenstrahlen Krebs zerstören konnten, hatte Henny in einem New Yorker Krankenhaus gelernt. Eine ihrer Patientinnen war dort sogar die eigene Mutter gewesen; es war Henny gelungen, Ricardas Brustkrebs zu behandeln. Seitdem war sie restlos überzeugt von der Therapie.

Der Behandlungsraum war nur mit wenig Mobiliar ausgestattet. Das gab ihm eine weltläufige Eleganz, auf die sie Wert legte.

»Frau Doktor Vandenberg, darf ich mich als Erste von Ihrem Röntgenapparat durchleuchten lassen? Bitte!«

Die Dame auf der anderen Seite von Hennys Schreibtisch litt an Unterleibsschmerzen. Henny vermutete, dass die Ursache dafür in ihrem Dickdarm lag. Das neue Gerät kam für diese Dame zum richtigen Zeitpunkt. Henny erklärte ihr, dass der erste Termin frühestens in zwei Wochen möglich wäre.

»Erst so spät, Frau Doktor? Der neue Apparat ist doch schon da.«

»Lassen Sie mich erst Erfahrung in der Bedienung des Geräts sammeln«, erwiderte Henny freundlich.

Die neueste Ausführung wies deutliche Unterschiede zum Vorgängermodell auf, mit dem Henny durch ihre frühere Arbeit in der Charité bereits vertraut war.

»Als Ärztin ist es mir wichtig, jeden Fehler auszuschließen.«

»Sie werden doch nicht etwa zuerst Ihre eigene Hand röntgen, Frau Doktor?«, fragte die Patientin schmunzelnd.

Der alte Scherz! Der eigentlich keiner war, sondern eine Legende deutschen Erfindergeists des vergangenen Jahrhunderts. Wilhelm Carl Röntgen, der Entdecker dieser segensreichen Erfindung, hatte in der Tat seine eigene Hand zum ersten Testobjekt erwählt.

Sobald die Dame draußen war, blickte Henny auf die Standuhr, die den Takt für die Dauer ihrer Patientengespräche vorgab.

Ihre jüngere Schwester Antonia hätte längst hier sein müssen.

 

Als Toni vor ihr stand, sah Henny ihr an, dass etwas Wichtiges geschehen sein musste. Henny, die ebenfalls am Vorabend an der Feier zu Antonias bestandenem zweiten Physikum teilgenommen hatte, brachte es mit dieser Veranstaltung in Verbindung. Und vor allem mit einem entscheidenden Tanz.

Nur die Crème de la Crème von Berlin war im Ballsaal des »Hotel Esplanade« am Potsdamer Platz anwesend gewesen, also wer Geld, Ansehen oder beides hatte. Vor allem jedoch Söhne, die Medizin studiert hatten. Und nur ganz wenige angehende Ärztinnen, die daran zu erkennen waren, dass sie allenfalls zu Pflichttänzen aufgefordert wurden. Denn die Herren Kommilitonen hatten ihre Herzensdamen fast ausnahmslos mitgebracht. Junge Frauen, die ihrem Gatten niemals beruflich Konkurrenz machen würden, weil sie das alte Ideal von Hausfrau und Mutter hochhielten.

An genau dieser Herausforderung war Hennys eigene Ehe gescheitert. Es gab noch andere Gründe, aber ihr Wunsch nach Selbstverwirklichung hatte den Ausschlag gegeben.

Dennoch hatte sie ihrer Schwester Toni zuliebe versucht, den Abend zu überstehen. Dann dieser Tanz. Damenwahl. Die Kleine hatte sofort gewusst, was sie wollte. Nämlich den hübschen Kerl mit der verwegenen Locke in der Stirn, der sie zuvor nicht ein einziges Mal aufgefordert hatte. Stattdessen hatte er kaum einen Tanz mit Tonis bester Freundin Celia Fahrland ausgelassen, dieser energischen blonden Person mit bewegter Vergangenheit, einmal verwitwet, einmal geschieden, sehr vermögend und doch von dem Ehrgeiz getrieben, eine Karriere als Ärztin einzuschlagen. Eine Person, die ganz so war, wie Henny sich eine selbstbewusste Frau vorstellte.

Dem jungenhaft wirkenden Guntram war Henny schon ein paarmal begegnet. Er erinnerte sie ein bisschen an Victor, die einzig wahre Liebe ihres Lebens und gleichzeitig die größte Enttäuschung. Vielleicht war sie deshalb voreingenommen.

Guntram hatte auf Tonis Aufforderung prompt mit einem schnellen Blick zu Celia reagiert. Es schien, als erbitte er deren Zustimmung. Oftmals verrieten solche Bruchteile einer vollkommen subjektiven Wahrnehmung alles über die Beziehung zweier Menschen. Die äußerlich ätherisch wirkende Celia war optisch das Gegenteil der kräftigeren Toni, die schon als Mädchen sehr viel Sport gemacht und auf dem Gut des Onkels mitgeholfen hatte. Celia hatte etwas verwundert, aber fröhlich lachend zugestimmt, als Toni Guntram aufforderte. Auf der Tanzfläche schmiegte Toni sich eng an Guntram, und auch später gelang es ihr zwar, seine Aufmerksamkeit weiter in Anspruch zu nehmen. Aber Henny war überzeugt, dass Toni keine Chance bei Guntram hatte. Er war eindeutig verschossen in ihre blonde Freundin.

Daran dachte Henny, als sie die kleine Schwester nun fragte: »Seid ihr ein Paar geworden?«

»Wie meinst du das?«, fragte Antonia zurück. Eine Sekunde später hatte sie die Anspielung richtig eingeordnet. »Guntram und ich? Nein, ich habe ihn mir aus dem Kopf geschlagen.«

»Das ging ja fix.« Erleichtert nahm Henny ihre Schwester bei der Hand. Gott sei Dank hatte die Kleine eingesehen, dass Guntram der Falsche war. Kurz fragte Henny sich, ob Toni dem verlorenen Flirt nachtrauerte. Aber, mein Gott, so viel wird in der einen Nacht schon nicht geschehen sein, beruhigte sie sich und wandte sich dem Anlass von Tonis Besuch zu. »Du kommst gerade richtig. Der Röntgenapparat ist fertig aufgebaut. Der Ingenieur wird uns eine Einführung geben.«

»Uns?«

»Ich dachte, das wäre vielleicht interessant für dich.« Henny hatte geahnt, dass Toni sich nicht für die neue Errungenschaft interessieren würde, und war entschlossen, sie umzustimmen.

Besonders eng war das Verhältnis zur zehn Jahre jüngeren Toni, die einen anderen Vater als sie selbst hatte, noch nie gewesen. Doch die Erinnerung daran, ihre kleine Schwester gleich nach deren Geburt auf dem Arm gehalten zu haben und für immer um die Zerbrechlichkeit ihres Lebens zu wissen, hatte Henny geprägt. Sie spürte so etwas wie eine Verpflichtung, für sie mitzudenken.

»Henny, ich muss dir etwas sehr Wichtiges sagen«, brachte Toni hervor.

»Das kann gewiss warten. Guck dir erst einmal den Apparat an.«

 

Der Ingenieur, ein bebrillter Techniker von höchstens Ende zwanzig, führte den beiden Frauen den neuen Röntgen-apparat mit einer Mischung aus Stolz und Lehrerhaftigkeit vor. Abwechselnd beugten sich die Schwestern über die Untersuchungsfläche und schoben die Platten darunter.

»Dies ist nur eine einführende Demonstration«, sagte der Ingenieur. »Sie werden selbstverständlich geschult, bevor Sie täglichen Umgang mit dem Gerät haben. Eines ist besonders wichtig: Verändern Sie nie die Einstellung des Geräts, wenn es einmal eingeschaltet ist. Eine Röntgen-dermatitis gilt es unbedingt zu vermeiden.«

»Was ist das?«, fragte Antonia.

»Einigen Ihrer Kollegen mussten wegen der fehlgeleiteten Strahlung Fingerglieder oder sogar die Hände amputiert werden«, erklärte der Techniker emotionslos.

»Dann dürfte der Begriff Dermatitis wohl arg beschönigend sein«, erwiderte Antonia knapp.

»Die Firma General Electric hat dieses Gerät nach neuesten physikalischen Erkenntnissen konstruiert. Wir werden Sie so instruieren, dass Ihre kostbare Gesundheit keinen Schaden nimmt, Fräulein Thomasius.«

Obwohl Henny in Tonis Gesicht Widerwillen erkannte, war sie weiter fest entschlossen, sie zur Mitarbeit zu gewinnen.

 

 

Ricarda Thomasius mochte ihre jetzige Praxis, weil sie ganz anders war als die ihrer Tochter Henny. Hier in Charlottenburg, am gutbürgerlichen Savignyplatz, strahlten die deckenhohen dunklen Regale mit medizinischer Literatur, die schweren Vorhänge und die Sessel, die dringend aufgepolstert werden mussten, eine leicht gestrige Gemütlichkeit aus, die Ricardas Hausarztpraxis charakterisierte. In einem Nebenraum des Sprechzimmers gab es einen Untersuchungsraum samt Liege und darüber hinaus ein Labor mit Grundausstattung. Das alles stammte noch vom Vater ihrer Vermieterin. Ricardas Vorgängerin, Polizeiärztin Magda Mehring, hatte bis auf die hellen Vorhänge und die weiße Wandfarbe kaum etwas verändert. Ricarda war also die Dritte, die in diesen Räumen praktizierte.

Vor knapp drei Jahren war sie als Schwangerschaftsvertretung in die Praxis eingetreten, ehe Frau Mehring entschieden hatte, Berlin den Rücken zu kehren. Seitdem war es Ricardas eigenes Reich. Im Vorzimmer war Platz für sechs Stühle, aber man konnte bis zu zehn hineinstellen, oft warteten weitere Patientinnen im Stehen. Das war auch das Dilemma: Die Praxis war zu erfolgreich für eine Ärztin von vierundsechzig Jahren, die sich vorgenommen hatte, demnächst kürzer zu treten. Daran versuchte sich Ricarda jeden Tag zu erinnern – und verwarf es gleich wieder.

Sie ging in ihrer Arbeit auf, sie wollte den Menschen helfen und fühlte sich in ihrem Beruf noch immer als Pionierin. Ricarda behandelte die Kranken nach alter Schule. Die neue Technik, für die Henny schwärmte, sah sie mit gemischten Gefühlen. Würde das altmodische Arztgespräch noch Bestand haben, wenn eine Ärztin in ihre Patientinnen ohnehin hineinsehen konnte? Wie auch immer: Für sie selbst kamen diese Neuerungen zu spät. So verließ sie sich wie in diesem Moment auf das diagnostische Gespräch.

»Dieses Kopfweh, Frau Doktor! Helfen Sie mir, dass das aufhört.«

Die Dame, die gerade vor Ricardas Schreibtisch saß, war Mitte vierzig und wog siebenundachtzig Kilo bei einer Größe von einem Meter sechzig. Die Überprüfung von Puls und Blutdruck bestätigte die anfängliche Vermutung der Ärztin. Eigentlich brauchte die Patientin keine Medikamente, sondern eine ganz andere Art von Behandlung.

»Womit verbringen Sie Ihre Tage?«, fragte Ricarda im Plauderton.

»Meine Tochter ist frisch verheiratet, mein Sohn studiert in Heidelberg. Ich treffe mich mit meinen Freundinnen regelmäßig zu Kaffee und Kuchen beim ›Kranzler‹. Und ich schlafe ja auch so schlecht.«

»Das macht Ihr Blutdruck, der ist zu hoch. Als ich ein junges Mädchen war, hat man in einem solchen Fall einen Aderlass vorgenommen. Ich schlage Ihnen etwas Besseres vor. Mögen Sie Hunde?«

»Hunde? Ja, schon …«

»Kaufen Sie sich einen, den Sie gern haben. Gehen Sie jeden Tag viel mit ihm im herrlichen Charlottenburger Schlosspark spazieren und dafür seltener ins Kaffeehaus.«

»Keine Medikamente?« Die Frau klang enttäuscht.

»Jeder Mensch braucht etwas, wofür er lebt. Vielleicht kommen Ihre Freundinnen ja mit, wenn Sie mit dem Hund unterwegs sind. Das ist sehr gesellig und gesund.«

Nachdem die Patientin fort war, blickte Ricarda auf ihre Wanduhr. Ihre Töchter erwarteten sie in einer Viertelstunde in der Behrenstraße. Die Zeit würde für die fünf Stationen mit der Ringbahn gerade noch reichen. Sie hängte den Arztkittel in den Schrank und trat in dem kleinen Bad, das zur Praxis gehörte, vor den Spiegel.

Ihr einst pechschwarzes Haar war eisgrau geworden, aber sie trug es immer noch lang und bändigte es mit einem Nackenknoten. Ihre Haut sah müde aus, die Jahre machten sich bemerkbar. Wieso hatte sie der Patientin zu etwas geraten, an das sie sich selbst nicht hielt? Sie kämpfte aber nicht mit Bluthochdruck und Übergewicht. Stattdessen war sie schlank, hatte aber längst nicht ihr altes Gewicht zurück, das sie vor den Brustkrebs-Operationen gehabt hatte.

Die Sprechstundenhilfe meldete eine Patientin, die unangemeldet eingetroffen war. »Tut mir leid, Frau Doktor. Ein Notfall.«

»Was ist es denn, Frau Daldrupp?«

»Den Symptomen nach der Blinddarm.«

Auch Josefine Daldrupp hatte Ricarda von ihrer Vorgängerin übernommen. Sie konnte sich blind auf die junge Frau verlassen, die ihr Medizinstudium wegen einer Schwangerschaft abgebrochen hatte.

Ricarda schlüpfte erneut in den Arztkittel. Sie würde zu spät kommen. Ausgerechnet heute. Obwohl sie sich so sehr vorgenommen hatte, Henny nicht zu enttäuschen.

 

 

Die Schwestern saßen sich in Hennys Wohnzimmer gegenüber. Ihre Privatwohnung befand sich in der Etage über der Praxis in der Behrenstraße. In dem weitläufigen Salon war die bewegte Vergangenheit der Familie allgegenwärtig. Teure Teppiche bedeckten das Eichenparkett, die Wände waren mit kostbaren Gemälden geschmückt, in Vitrinen standen Mitbringsel aus Afrika, Amerika, China und südeuropäischen Ländern. Toni war selten hier, aber sie mochte die Andenken; sie erinnerten daran, dass es mehr gab als Sprechzimmer, Arbeit und Pflichten.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Henny!«, ereiferte sich Antonia nun. »Nur weil du jetzt einen General in deiner Praxis stehen hast, soll ich nach deiner Pfeife tanzen? Ist dir nie der Gedanke gekommen, mich zu fragen, ob ich das überhaupt will?«

Henny lächelte schmallippig. »General? Das gefällt mir. Bei diesem Namen sollten wir bleiben.«

»Nimm mich nicht auf den Arm!«

»Keineswegs, Toni. Du wirst promovieren und in dieser Zeit schon hier arbeiten. Damit verdienst du endlich dein eigenes Geld. Du willst doch unabhängig von unseren Eltern werden. Als Röntgenärztin wirst du eine gesuchte Spezialistin sein. Die meisten Kollegen sind nach wie vor nicht in der Lage, ein Röntgenbild richtig zu lesen.«

»Ich auch nicht. Das war nicht Teil meines Studiums.«

»Die Lehrpläne sind mir bekannt. Die Charité hat noch immer nicht aufgeholt …«

»… was sich dein Mount Sinai Krankenhaus in New York während des Krieges an Vorsprung erarbeitet hat«, beendete Toni den Satz. »Die ganze Stadt weiß, was du darüber denkst, Frau Doktor Vandenberg.«

Fast hätte sie hinzugefügt: Damit hast du dir in der Charité so viele Feinde gemacht, dass man dir deine Stelle als Dozentin für Onkologie weggenommen hat. Aber diese Bemerkung verkniff sie sich. Sie bewunderte Henny für ihr Können und Wissen, ärgerte sich jedoch über die ständige Bevormundung durch sie.

»Nur geht es jetzt nicht um die weltweite Krebsforschung«, fuhr Toni fort, »sondern ausnahmsweise einmal um mich. Du willst über mein Leben bestimmen. Das Recht hast du nicht.«

»Bestimmen? Nein, Toni. Ich weiß, was gut für dich ist.«

»Weshalb glaubst du das? Weil du zehn Jahre älter bist?« Sie holte tief Luft, und dann ließ sie heraus, was sie schon sagen wollte, als sie die Praxis betreten hatte: »Ich breche in ein paar Wochen nach Daressalam auf.«

Richtig stolz war sie, Henny das geradewegs ins Gesicht gesagt zu haben.

Mit dieser Reaktion hatte sie allerdings nicht gerechnet: »Du spinnst.« Das war alles, was ihre Schwester erwiderte.

»Warum sagst du das?«

»Kind, du kennst Afrika nicht.«

»Ich bin definitiv kein Kind, Henny.«

»Verzeih. So meinte ich das nicht.«

Die große Schwester stand vom Sofa auf und begann unruhig durch den Raum zu wandern. »Du warst ein Kind«, versuchte sie sich zu rechtfertigen. »Ein kleines Kind, als du dort gelebt hast. Du hast nichts von den Grausamkeiten mitbekommen.«

»Welche meinst du? Etwa die Geschichte, als ein Python deinen Hund verschlungen hat? Das war gewiss schrecklich. Henny, in Freystetten ist ein Wolf wie aus dem Nichts aufgetaucht. Er sprang auf den Leiterwagen und riss vor meinen Augen unseren Badili.«

»Und du hast den Wolf erschossen. Auch so eine Familienlegende«, ergänzte Henny trocken.

»Es liegt in der Natur, dass der Stärkere gewinnt. Das kannst du Afrika nicht vorwerfen.«

»Du glaubst also, mit Afrika zurechtzukommen?«

»Ja«, erwiderte Antonia.

»Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt. Und wozu? Was willst du dort?«

»Ich habe eine schriftliche Zusage erhalten: Ich werde als Assistenzärztin im Gouvernements-Krankenhaus von Daressalam arbeiten.«

»Ach, du meine Güte. Das hat Vater damals geleitet. Wir haben dort gewohnt.«

»Das weiß ich, auch wenn ich mich zugegebenermaßen nicht an Einzelheiten erinnere. Genau darum geht es: Ich habe zu wenige Erinnerungen an diese Zeit.«

Henny setzte sich neben ihrer Schwester auf das Sofa und nahm ihre Hand. »Sei vernünftig, Toni. Du kannst die Uhr nicht zurückdrehen. Das alles ist Vergangenheit. Es wird niemand von damals noch dort sein. Ein Jahrzehnt ist vergangen, seit die Deutschen aus dem Land gejagt wurden. Jetzt sind die Engländer in Tanganjika. Ich weiß nicht, was sie dort verändert haben, aber sie haben keinen guten Ruf. Die Briten pressen ihre Kolonien wie Zitronen aus.«

»Haben wir Deutschen das nicht genauso gemacht?«

»Du wirst ganz auf dich gestellt sein, Toni.«

»Genau das ist mir so wichtig«, betonte die Jüngere der beiden Thomasius-Schwestern. Ihre Augen funkelten abenteuerlustig.

 

 

Ricarda besaß einen Schlüssel für die Wohnung in der Behrenstraße, in der Henny seit einigen Jahren mit ihrer Tochter Victoria wohnte. Schon als Ricarda aufsperrte, hörte sie das Klavierspiel ihrer Enkelin. Das Musikzimmer befand sich gleich neben dem Eingang. Ricarda streckte den Kopf zur Tür hinein. Die neun Jahre alte Victoria war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten und hatte das gleiche dunkel gelockte Haar. Sie bewegte sich so geschmeidig wie Henny. Ihre schlanken Finger flogen über die Tasten.

Ricarda verstand nicht viel von Musik, sie konnte nur sagen, ob ihr etwas gefiel oder nicht. Doch sie erfreute sich immer wieder aufs Neue daran, dass ihre Enkelin in der Geborgenheit dieses Heims aufwachsen konnte und dass Vicky kerngesund war. Dieser Gedanke überkam sie jedes Mal voller Dankbarkeit, wenn sie das Mädchen sah.

»Großmutter!« Nun hatte ihre Enkelin sie bemerkt und das Spiel abgebrochen, um sie zu umarmen.

»Ich wollte dich nicht stören, Vicky.«

»Ich übe nur und mache schrecklich viele Fehler.«

»Es hörte sich sehr gut an.«

»Mutter sagt immer, wirklich gut ist man erst, wenn man kein Lob mehr braucht.«

Das sah Henny ähnlich!

Ricarda beugte sich zu ihrer Enkelin hinunter und blickte ihr tief in die Augen. »Lob ist wie der Regen, der eine Pflanze wachsen lässt. Jeder Mensch braucht Lob, sogar deine Mutter.« Sie lächelte müde. »Als sie ein Mädchen war, wie du es jetzt bist, hat sie zu wenig davon bekommen.«

Gerade eben hatte sie unten in Hennys Praxis den Röntgenapparat bestaunt und nahm sich vor, ihre Älteste für ihre weitsichtige Anschaffung zu loben.

Aus der großen Tasche, die sie bei sich trug, holte sie eine Rebe Weintrauben. »Die habe ich gerade am Savignyplatz gekauft. Es sind die ersten in diesem Jahr. Der Händler sagt, sie kommen aus Sardinien, einer Insel im Mittelmeer.«

»Danke! Ich übe noch ein wenig, dann nasche ich davon.«

Welch einen Ehrgeiz dieses Kind hatte! Es war derselbe, der sie selbst einst angetrieben hatte, Medizinerin zu werden, obwohl sie aus einem Elternhaus stammte, das ihr nie die Chance zum Studium hätte geben können.

Ricarda zog die Tür hinter sich zu und lauschte noch einen Augenblick Vickys Fingerübungen. Mit einem Seufzer machte sie sich auf den Weg zu ihren Töchtern, die sie diskutieren hörte.

 

Als sie das Wohnzimmer betrat, meinte Ricarda die Spannung zwischen ihren beiden Töchtern geradezu körperlich zu spüren. Sie ahnte noch nicht einmal, weshalb die beiden in Streit geraten waren, doch es ging selten gut aus, wenn sie aufeinandertrafen. Sie waren eben sehr unterschiedlich.

Entgegen ihrer Neigung, Konflikte direkt anzusprechen, sagte sie: »Ich hatte früher hier sein wollen. Verzeih, Henny. Ich habe noch rasch deinen Röntgenapparat bestaunt. Ohne die Funktionsweise wirklich zu verstehen. Gratuliere. Eine gute Entscheidung.«

»Findest du wirklich?« Henny schenkte Ricarda das unsichere Lächeln und den misstrauischen Blick einer Tochter, die von ihrer Mutter viel zu oft Ablehnung erfahren hatte.

»Sonst würde ich es nicht sagen.« Im Grunde war es Ricarda in dem kurzen Dialog mit Vicky nicht ums Lob gegangen, sondern um Liebe. Von ihr als Mutter hatte Henny davon viel zu wenig bekommen. Sie hatte sich immer Mühe gegeben, doch irgendwann musste sie sich eingestehen, wie sinnlos es war, eine Mutterliebe in sich zu suchen, die nie die Möglichkeit hatte zu entstehen. Denn von dem Moment an, als sie realisiert hatte, dass sie nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war, hatte sie das in ihr heranwachsende Leben als etwas Fremdes empfunden. Als etwas, das ihr aufgezwungen worden war.

»Hast du sie auch für ihren Weitblick gelobt?«, wandte sie sich an Toni.

»Auf mein Lob gibt Henny nicht so viel wie auf deines, Mutter.«

»Nun, ihr beiden, worüber seid ihr so uneins?«

»Du stimmst mir doch zu, dass Tonis Vorhaben unsinnig ist, Mutter, nicht wahr?«, erwiderte Henny sogleich.

Ricarda sah ihre Töchter ratlos an. »Hast du etwas gegen den Röntgenapparat, Toni? Der ist wichtig. Das ist die Zukunft.«

»Toni, hast du Mutter etwa nicht eingeweiht?«

Die Kleine, die sie auch für ihre Mutter für immer bleiben würde, schlug die Augen nieder und schüttelte schuldbewusst den Kopf, was ihr überhaupt nicht ähnlich sah. Antonia war eine Draufgängerin, die selten bereute, was sie getan hatte.

»Oh mein Gott! Du, Vater und Toni, ihr drei wohnt unter einem Dach. Redet ihr denn nicht miteinander?«, fragte Henny.

»Mutter, ich reise nach Tanganjika und werde in dem Krankenhaus arbeiten, wo Vater Chefarzt war. Ich habe eine Stelle als Assistenzärztin in Daressalam bekommen.«

Ricarda setzte sich in den Sessel, der neben dem Sofa stand, und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Vor allem ein Gedanke kam ihr in den Sinn: Es war ihre Schuld. Sie hatte Toni so oft von den schönen Zeiten in Daressalam erzählt. Von den Afrikanern, die so aufgeschlossen waren, der Wärme, den Farben, der klaren Luft, der üppigen Pflanzenwelt. Wie ein Paradies musste es Toni erschienen sein. Von den schlechten Tagen hatte sie kaum berichtet.

»Es wäre klüger, du würdest zuerst deine Dissertation schreiben«, sagte Ricarda, nachdem sie sich gefasst hatte.

»Was heißt klüger, Mutter? Sie hat dort nichts verloren. Afrika ist viel zu gefährlich!«

»So schlimm wird es nicht gleich werden, Henny.«

»Mutter, ich habe zweimal erlebt, wie du an der Malaria fast gestorben bist.«

»Du warst nur einmal dabei. Und du hast mir sehr geholfen. Beim zweiten Mal warst du schon abgereist.«

»Geflohen bin ich! Weil ich es nicht ertragen konnte. Und die Schwarzen haben Vater Siegfried fast umgebracht. Deswegen kann er heute kaum mehr laufen.«

»Es war Krieg, Henny. Kriege gibt es überall.«

»Was soll das, Mutter? Du willst Toni sehenden Auges in ihr Unglück rennen lassen?«

Ricarda richtete sich auf. Sie musste wieder die Oberhand über dieses Gespräch gewinnen. Henny hasste Afrika. Sie hatte sich dort nie eingelebt und war vor Heimweh fast eingegangen.

Vor allem verlor ihre von gewissen Kindheitserlebnissen traumatisierte Tochter das Wesentliche aus dem Blick. Das musste sie klarstellen: »Wir haben uns hier in Deutschland von den Wirren des Krieges erholt. Es geht uns wieder ganz gut. In Afrika ist das nicht so. Die Menschen brauchen unsere Hilfe.«

»Das stimmt gewiss, aber nicht deshalb will ich dort hin«, meldete sich Toni zu Wort. »Wenn es mir nur ums Helfen ginge, könnte ich hierbleiben. Ich will diese Reise für mich selbst machen.«

Ricarda sah das leidenschaftliche Funkeln in den Augen ihrer Jüngsten.

»Ich will wissen, woher ich komme, und den Ort meiner Geburt sehen. Ich habe Bilder vor meinem inneren Auge, die ich nicht zuordnen kann. Sie tauchen in meinen Träumen auf. Mutter, du hast von einem Brunnen im Hof und von Palmen erzählt. Und von Affen, die überall herumsprangen. Auch die sehe ich in meinen Träumen. Ihr wart dort und könnt euch daran erinnern, wie es wirklich war. Auch wenn du, Henny, heute behauptest, du hättest es gehasst. Ich hatte nie die Möglichkeit, Afrika kennenzulernen und vielleicht ins Herz zu schließen. Oder meinetwegen auch zu hassen. Das muss ich herausfinden. Deshalb muss ich dorthin.« Toni blickte zu ihrer Mutter. »Du weißt, wovon ich spreche, nicht wahr? Vater hat heute gesagt, er hätte mich mit Fernweh infiziert. Das habt ihr beide, Mutter.«

»Wir haben von Afrika geträumt, als ich dich schon unter meinem Herzen trug, Toni«, sagte ihre Mutter. »Wir wollten der Enge Deutschlands entkommen. Und nicht nur wir. Unzählige Menschen träumten damals von einem Platz an der Sonne. Es waren die Zeiten, als nicht die Zugspitze, sondern der Kilimandscharo der höchste Berg Deutschlands war. Wir wollten bei diesem Abenteuer dabei sein.«

Sie erschrak über ihre eigenen Worte. Hatte sie sich nicht vorgenommen, das Schwärmen zu unterlassen? Aber die Begeisterung ließ sich nicht verleugnen.

»Ihr wart zu zweit. Toni, wer steht dir bei, wenn dir etwas zustößt?«, fragte Ricardas Älteste.

»Damit hat Henny recht«, räumte Ricarda ein. »Eine Frau sollte nicht allein ein derartiges Wagnis eingehen.«

»Als Frau?« Antonia sah ihre Mutter verwundert an. »Auch wenn ich ein Mann wäre, müsste ich die Augen offenhalten, dass mir niemand zu nahe kommt. Ich kann auf mich aufpassen!«

Antonia hatte schon immer das Abenteuer gesucht. Aber noch nie ein solches wie dieses. Ricarda kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass sie nichts mehr aufhalten konnte.

 

 

Die Warnung ihrer Mutter beschäftigte Toni noch Tage später.

»Wie sonst hätte sie reagieren sollen?«, fragte ihre Freundin Celia Fahrland, als sie ihr jetzt von dem Gespräch erzählte. »Sie liebt dich und will dich festhalten.«

Antonia wusste, dass Celia wenig Glück mit allen Formen der Liebe hatte – weder was Männer betraf noch ihre Familie.

Während sie sich unterhielten, packten die beiden Freundinnen auf dem Flughafen Staaken Celias kleines Flugzeug an den kurzen Heckflügeln und drehten es einmal um seine Längsachse in die Startrichtung. Der kleine Doppeldecker war komplett aus Holz gefertigt, ein Leichtgewicht für zwei Personen.

»Und wenn ich nun doch einen Fehler mache?«, fragte Antonia.

»Es ist kein Fehler, wenn du in die Tat umsetzt, was du dir vorgenommen hast«, stellte Celia fest.

Dann warf sie mit aller Kraft den Propeller an, sodass der Motor ansprang. Celia war wie ein Mann in eine Ledermontur aus Jacke und Hose gekleidet. Das zum Bob geschnittene blonde Haar war unter einer Kappe verborgen.

Kurz bevor sie nacheinander in die Kinner kletterten, rief Antonia gegen das Lärmen des Motors an: »Danke für deine Ermutigung. Die habe ich gebraucht!«

Der Flughafen lag weit draußen im Westen von Berlin, nur Kleinflugzeuge durften ihn nutzen. Das Ziel der beiden Freundinnen befand sich auf der anderen Seite der Stadt, die als eine der größten der ganzen Welt galt. Sie wollten zu Schloss Freystetten fliegen, wo Antonias Mutter aufgewachsen war. Für Antonia war es immer ein Ort der Zuflucht gewesen, während sie die Großstadt nie so richtig gemocht hatte.

Jetzt streckte sie die Arme in die Luft und stieß einen übermütigen Jubelschrei aus, als das Flugzeug abhob. Wenig später lag Berlin unter ihnen, und bald war nur noch das Grün der Wälder und Wiesen zu sehen. Eine Lokomotive zog ihre Waggons Richtung Osten. Hier verlief die Bahnstrecke nach Königsberg. Eine Station auf ihrem Weg dorthin war der kleine Bahnhof des Weilers Gusow. Ganz in der Nähe, eine halbe Stunde zu Fuß entfernt, lag Schloss Freystetten. Wann immer es möglich gewesen war, war Antonia hierhergekommen.

Für Pilotin Celia Fahrland war es der erste Anflug auf das herrschaftliche Anwesen mit seinen weitläufigen Ländereien. Antonia lenkte ihre Freundin mit der Ortskenntnis der Einheimischen zu einem Feldweg, auf dem sie landen konnten. Celia flog die Strecke zunächst ab und zog die Maschine dann wieder hoch. Nach einer weiten Schleife setzte sie die Kinner schließlich behutsam auf dem Feldweg auf.

»Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt«, sagte Antonia, als sie beide aus dem Flugzeug geklettert waren.

»Das mache ich immer so, wenn ich auf unbekanntem Terrain landen will«, erwiderte Celia. »Das ist sicherer. Ich muss vorher überprüfen, ob der Boden eben ist. Das Flugzeug ist so leicht, dass es sich bei einem Hindernis schnell überschlagen könnte.«

Wenig später stieg die kleine Maschine wieder auf. Toni hätte ihre abenteuerlustige Freundin gern auf eine Tasse Tee ins Schloss eingeladen, doch Celias Zeit war stets knapp bemessen. Gewiss wäre sie auch die ideale Reisegefährtin für das Abenteuer Afrika gewesen. Allerdings war Celias kleine Tochter Frieda erst drei Jahre alt und brauchte die Mutter.

Während Antonia zum Schloss ging, dachte sie über das Gespräch nach, das sie mit ihrer Freundin geführt hatte, bevor sie ins Flugzeug gestiegen waren. Toni hatte Celia offen gesagt, dass sie mit Guntram die Nacht verbracht hatte.

»Hast du dich verliebt?«, hatte Celia ebenso unverblümt gefragt.

»Guntram liebt doch dich, Lia.«

»Ich fürchte, du hast recht.«

»Das fürchtest du?«

»Weil er jedes Mädchen, das ihn liebt, unglücklich machen wird. Du weißt, was ich Guntram gesagt habe: Er und ich können bestenfalls Freunde sein. Er glaubt es einfach nicht.«

»Warum willst du Guntram eigentlich nicht, Lia?«

»Ich will überhaupt keinen Mann. Ich habe festgestellt, dass die Liebe unfrei macht.«

Mit lautem Knattern flog das kleine Flugzeug nun über Antonia hinweg, zurück nach Berlin.

 

In schnellem Galopp näherte sich vom Schloss her ein Reiter. Schon aus der Ferne konnte Antonia Graf Friedemann von Freystetten erkennen, dem das Anwesen und die Ländereien gehörten. Obwohl der Feldweg, den sie für ihre Landung gewählt hatten, mehrere hundert Meter vom Herrenhaus entfernt war, hatte der Lärm des Flugzeugs sicherlich nicht nur ihn aufgeschreckt.

»Antonia! Ich war in Sorge: Ein Flugzeug, das bei uns landet … Ich vermutete einen Notfall.«

Der Graf war Mitte sechzig und hatte eine sportliche Figur, er hielt sich kerzengerade im Sattel. Nun sprang er geschmeidig herunter.

Toni schüttelte den Kopf: »Das war meine Freundin Celia von Fahrland. Sie musste zu ihrem Kind zurück.«

»Sie scheint die Fliegerei wirklich zu beherrschen – und noch dazu eine junge Mutter. Das muss eine erstaunliche Frau sein!«

»Celia versucht, jede Woche mindestens zwei Flugstunden zu absolvieren.«

»Lass dich umarmen, Antonia. Was für eine erfreuliche Überraschung! Bitte Celia doch das nächste Mal herein.«

»Es wird wohl viel Zeit vergehen, bis ich wieder zu euch komme«, sagte Toni. »Ich bin hier, um mich zu verabschieden, Onkel.«

Erst an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag hatte der Graf sie gebeten, ihn nicht mehr mit Durchlauchtanzureden. »Du bist mir wie eine Tochter«, hatte er gesagt, auch wenn sie nicht blutsverwandt waren. Seine Gattin war die Schwester von Antonias Mutter.

Der Graf nahm das Pferd am Zügel. Nebeneinander gingen sie in Richtung des Marstalls, wie die Pferdestallungen genannt wurden.

»Was meinst du mit Verabschieden?«, fragte er.

»Ich reise nach Afrika.«

»Ja, deine große Sehnsucht.« Er sagte es in einem verständnisvollen und gleichzeitig melancholischen Tonfall. »Was sagt deine Familie dazu?«

»Eigentlich unterstützt mich nur Vater. Was denkst du darüber?«

»Ich war immer hier oder in Berlin. Ein typisches Landgrafen-Leben. Ich versuche, dich zu verstehen, muss aber zugeben, dass es mir schwerfällt.«

Friedemann von Freystetten war nach einer der vielen Wahlen, die in diesen Zeiten abgehalten wurden, Abgeordneter im Berliner Reichstag geworden. Er hatte Antonia erklärt, dass er in die Politik gegangen war, um seine Interessen als Großgrundbesitzer zu vertreten.

»Du hast immer an mich geglaubt.«

»Weil du mir so oft bewiesen hast, dass ich dir vertrauen kann. Damals, als alle Knechte an die Front geschickt wurden und ich nur noch den alten Gaul hatte, hast du gesagt: ›Ich helfe Ihnen, Durchlaucht.‹ Wie ein junger Bursche hast du mir beigestanden mit der Landwirtschaft und den Tieren. Und dann die Sache mit dem Wolf …« Er blieb stehen und sah sie bewegt an. »Du bist eine tapfere junge Frau. Wie deine Mutter und deine Großmutter. Doch versprich mir etwas, Antonia.«

»Ja?«

»Afrika ist weit weg. Aber ich würde hier alles liegen und stehen lassen, wenn du mich brauchst. Versprich mir, dass du mich dann zu Hilfe rufst«, sagte der Graf.

 

»Großmutter! Hier ist Toni!«

Antonia öffnete die leicht verwitterte Holztür. Am oberen Rahmen war der im protestantischen Brandenburg seltene, mit Kreide geschriebene Sternsinger-Segen 19+C+M+B+27der Heiligen Drei Könige gut zu lesen, denn Karla Petersen war eine tiefgläubige Frau. Das einstöckige Haus, in dem sie wohnte, lag schräg gegenüber der breiten Auffahrt des Schlosses. Es war das einstige Gesindehaus. Großmutter Karla war Köchin gewesen, ihr Mann der Gärtner.

Von ihrer Profession hatte die Großmutter bis zum heutigen Tag nicht gelassen. Als Toni die Küche betrat, wehte ihr der Duft von frischen Küchenkräutern entgegen, die zu kleinen Sträußen gebunden kopfüber zum Trocknen aufgehängt waren. Die Decke war niedrig, der Holzboden wie immer geschrubbt und gebohnert. Auf dem Herd schmorte in einem großen Topf eindeutig Schweinefleisch, daneben kochten Kartoffeln.

Die Großmutter bevorzugte seit je ihre kleine Küche, obwohl sie die im Schloss hätte benutzen dürfen. Nun kam sie durch die rückwärtige Tür vom Garten herein, ein Tuch um den Kopf gewickelt, ein Bund frisch gerupfter Möhren und ein Bund Petersilie in der Hand. Ein glückliches Lächeln belebte die vielen Altersfurchen ihres Gesichts.

»Ach, wie schön, dass du da bist, Toni! Hilfst du mir, die Möhren zu putzen? Es gibt gekochten Schweinebauch. Ist gleich fertig. Du hast sicher ordentlich Hunger mitgebracht.«

Die alte Frau hatte nicht wissen können, dass ihre Enkelin sie besuchen würde. Und doch war sie immer willkommen – und so selbstverständlich fühlte es sich auch an, hier zu sein. Deshalb dachte Antonia mit schlechtem Gewissen an den Grund ihres Besuchs. Während die Großmutter aus Butter und Mehl eine helle Mehlschwitze anrührte, durfte Antonia die frisch geschnittene Petersilie hacken.

»Du bist so still, Toni. Bedrückt dich etwas? Bist du unglücklich verliebt?«

»Nein und ja, Großmutter. Ich gehe fort. Nach Afrika.«

Karla, die in diesem Jahr ihren fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert hatte, hörte auf zu rühren und sah sie verständnislos an. »Du hast alles hier. Warum willst du fort?«

»Weil ich in Afrika geboren bin.«

»Meine Mutter hat mich irgendwo in einem Dorf in Spanien zur Welt gebracht. Trotzdem war ich nie dort. Und mir fehlt nichts.« Sie tippte sanft gegen Antonias Brust. »Da drin musst du zu Hause sein, Toni, bei dir selbst. Woanders wirst du es nie sein.«

»Ich weiß. Aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll.«

»Die Liebe, meine kleine Toni, was ist mit der? Liebe kann ein Zuhause sein. Gibt es keinen Mann, der dein Herz erobert hat?«

Antonia schüttelte den Kopf.

Großmutter Karla musterte ihre Enkelin mit zärtlichem Blick. »Du läufst doch nicht etwa vor der Liebe davon?«

»Andersherum, Großmutter: Die Liebe läuft vor mir davon.«

Die alte Frau nahm den Schweinebauch aus dem Sud und schnitt ihn in kleine Stücke, die sie mit den Karotten wieder in den Topf legte. »Weiß der Mann, den du liebst, dass du fortgehst?«

»Nein.« Antonia hielt ihre Tränen zurück.

»Dann sag es ihm.«

»Er hat mich fortgeschickt.«

»Er wird es sich überlegen, wenn er weiß, dass er im Begriff ist, dich für immer zu verlieren.«

»Ich kann doch nicht einfach zu ihm gehen, Großmutter. So etwas macht man nicht.«

»Gott kann zwei Menschen nur aufeinander zuführen. Was danach kommt, darum müssen diese beiden Menschen sich selbst bemühen.«

Später, nachdem sie zusammen gegessen hatten und Antonia sich von ihrer Großmutter verabschiedete, nahm die alte Frau einen Anhänger aus einer Porzellandose. »Das ist der Heilige Christophorus, der Schutzheilige der Reisenden.« Sie zeichnete Antonia mit dem Finger ein Kreuz auf die Stirn. »Möge Gott dich schützen.« Dabei lächelte sie mit Tränen in den Augen.

 

Der Wecker zeigte kurz nach fünf, draußen war es noch dunkel, denn es ging auf Ende November zu. Antonia hatte kaum geschlafen. Heute war der Tag ihrer Abreise, in drei Stunden würde der Zug abfahren. Ihr großer Rucksack aus Segeltuch wartete gepackt neben der Zimmertür. Antonia hatte das Gefühl, ihr Herz würde jeden Moment zerspringen.

Sie stieg aus dem Bett. Das Zimmer war kalt, die Öfen mussten eingeheizt werden, was an jedem Morgen ihre Aufgabe war. Während sie die Kohlen einlegte, die sie am Vorabend aus dem Keller heraufgeholt hatte, fragte sie sich, ob die Nächte in Afrika wohl kalt werden würden. Es gab so vieles, was sie bislang nicht bedacht hatte!

Als die Familie ein letztes gemeinsames Frühstück eingenommen hatte und Antonia reisefertig war, schloss ihre Mutter sie in die Arme.

»Ich begleite dich zum Bahnhof«, sagte sie.

»Lieber nicht. Lass uns hier Lebewohl sagen. Ich muss allein gehen.« Zum Lehrter Bahnhof waren es nur ein paar Minuten Fußweg.

»Toni hat recht, Rica«, sagte ihr Vater. »Ich bin zwar immer gern in die Fremde gereist, aber den Blick zurück auf die Lieben am Bahnsteig habe ich verabscheut.« Er küsste Toni auf die Stirn. »Halt die Augen offen. Die Welt ist wunderschön, wenn man genau hinschaut. Komm gesund wieder zurück.«

Toni spürte, wie viel Kraft es ihn kostete, sich seinen Abschiedsschmerz nicht anmerken zu lassen. Er hatte für sie das Beste gewollt – auch um den Preis, sie loszulassen. Für diese Selbstlosigkeit liebte sie ihn.

Am Vorabend hatte sie Henny Lebewohl gesagt. Die große Schwester war sehr beherrscht gewesen: »Schade, dass du so einen großen Umweg machen musst, um zu dir selbst zu finden. Aber ich wünsche dir viel Glück. Pass auf dich auf, Toni.«

Es hatte geklungen, als wollte sie sagen: Ich bezweifle, dass du das kannst.

Nun meinte ihre Mutter bei der letzten Umarmung: »Ich hoffe, du entdeckst, wovon du träumst. Doch wenn ich mir als Mutter etwas wünschen darf, Toni, dann würde ich sagen: Bleib so lange, bis du weißt, wer du bist oder ob du die werden kannst, die du sein möchtest. Das hier möge dich daran erinnern, woher du kommst, und deine treue Begleiterin sein.«

Toni sah ihre Mutter ungläubig an. »Deine Arzttasche!«

»Es ist meine erste. Ich habe sie damals von Komtess Henriette bekommen. Das gute Stück ist viel älter als du. Ich habe alles hineingetan, das nützlich sein könnte.«

Antonia wusste, wie schwer die Erinnerungen wogen, die an diesem Gegenstand hingen, der für den Beruf ihrer Mutter so wichtig war. »Du hattest sie in Zürich dabei, als du studiert hast, nicht wahr?«

»Ich habe sie überallhin mitgenommen. Selbstverständlich war sie auch in Afrika dabei.« Ricarda lächelte versonnen. »Möge sie dir Glück bringen.«

Den schweren Rucksack auf den Schultern, die Ledertasche in der Hand, ging Antonia durch die vollen, so vertrauten Straßen der Berliner Friedrichstadt. Ihr fiel ein, was niemand sie gefragt und was sie selbst auch nie gedacht hatte: Was wäre, wenn ihr Afrika so gut gefiel, dass sie dort bleiben wollte?

 

Der Bahnsteig, an dem der Zug nach Hamburg abfuhr, war voller Menschen. Als Antonia deren umfangreiches Gepäck und die teils aufgeregten, teils angespannten Mienen sah, beschlich sie der Gedanke, die Reisenden könnten dasselbe Ziel haben wie sie: den Überseehafen. Mit einem Mal schöpfte sie Kraft aus dem Gefühl, nicht allein unterwegs zu sein. Sie war sich sicher, das Richtige zu tun, indem sie aus dem Leben ausbrach, das für sie vorbestimmt zu sein schien. Plötzlich fiel ihr die Last des Abschiedsschmerzes von den Schultern.

Inmitten des Gedränges stellte sie überrascht fest, dass Guntram auf sie zu kam. Verlegen lächelnd, eine weiße Rose in der Hand.

»Ach.« Dieser Ausruf war alles, wozu sie fähig war.

Seit ihrer einzigen gemeinsamen und so schroff beendeten Nacht hatten sie sich nur wenige Male und stets in Beisein anderer Studenten gesehen, mal im Café in der Ziegelstraße nahe dem Hörsaal, mal auf dem Uni-Campus. Kein privates Wort war gefallen. Toni hatte sich immer schnellstens aus dem Staub gemacht. Guntrams Reaktion nach der Liebesnacht war eine Zurückweisung zu viel für sie gewesen. Da half auch kein großmütterlicher Rat.

»Ich habe über uns nachgedacht, Toni. Ich war ein Trottel«, sagte Guntram jetzt.

»Es fällt mir schwer, dir zu widersprechen.«

»Ich glaube, ich liebe dich, Toni.«

In diesem Augenblick rempelte jemand Toni an, was Guntrams Worten ihre Unwirklichkeit nahm.

»Achtung an Gleis 3! Der Zug nach Hamburg fährt in fünf Minuten ab«, ertönte eine Durchsage.

»Du glaubst, dass du mich liebst?«, fragte Antonia.

»Ich … ich weiß es.«

»Warum weißt du es erst jetzt?«

»Lia meint, ich wäre ein wenig verstockt, was Liebesdinge betrifft.«

»So? Hat Lia dir auch gesagt, dass ich jetzt wegfahre?«

»Ja.«

»Wann hat sie dir das gesagt, Guntram?«

Celia wusste es seit Wochen.

»Ich musste über uns nachdenken«, fuhr er fort. »Schließlich ist es eine wichtige Entscheidung, wenn man einen anderen Menschen für sich wählt.«

»Nach Hamburg bitte einsteigen!«, wurde durchgesagt.

»Denk weiter nach, Guntram. Ich muss jetzt los.«

»Bitte, Toni, geh nicht so.«

»Doch, genauso gehe ich«, sagte sie mit einer Verärgerung, die sie sich noch nicht ganz eingestehen wollte. Immerhin hatte er ihr gerade eine Liebeserklärung gemacht.

»Nimm wenigstens die Rose.«

Wie hätte sie auf seine Liebeserklärung reagiert, wenn Guntram sie früher ausgesprochen hätte? Hätte sie die Stelle in Daressalam dann überhaupt angenommen? Wäre es so gekommen, wie Großmutter Karla gesagt hatte: Wäre sie dann in ihrem Herzen zu Hause gewesen? Oder hätte sie Guntram gefragt, ob er mitkommt? In ihm wohnte dasselbe Fernweh, das wusste sie. Es war eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die sie teilten.

Wie auch immer – jetzt stand er da, wie vom Himmel gefallen. Und zu spät.

Antonia nahm ihm die Rose aus der Hand, hauchte einen Kuss auf die weißen Blätter und gab sie zurück. Sie dachte an Großmutters Küchenkräuter, die im Herbst geerntet wurden, um sie im Winter zu genießen, wenn der Schnee im Garten meterhoch lag. Vielleicht war es mit der Liebe auch so. Sie kannte sich mit der Liebe nicht aus.

»Hier, für dich. Mach ein Bändchen ans Ende des Stiels und häng sie kopfüber auf, damit sie trocknet.«

»Und dann?«

»Wenn die Rose für uns steht, dann wirst du dich in Geduld üben. Und wirst irgendwann wissen, ob wir eine Zukunft haben.«

Antonia warf Guntram eine Kusshand zu, nahm die Arzttasche und stieg in den Zug. Als er losfuhr, verbot sie sich einen Blick zurück nach draußen.

Unter Sternen tanzen

— ◆ —

Auf dem Roten Meer, Dezember 1927

 

Die Delfine schienen auf den Wellen zu reiten, die der Rumpf der Wangoni in das ruhige Wasser des Roten Meers schnitt. Morgens, mittags und abends begleitete eine Schule dieser eleganten Tiere den Passagierdampfer der Deutsch Ost-Afrika Linie. Sie tauchten auf, sobald der Küchenjunge Fritz seine Abfälle über Bord kippte. Die eleganten grauen Delfine waren dann so nah, dass Antonia das Lächeln der Tiere zu sehen glaubte und sie fast berühren konnte. Der Anblick ließ ihr das Herz leichter werden; er erinnerte sie daran, wie unbeschwert das Leben sein konnte.

Antonias Alltag auf der Wangoni war härter, als sie es sich vorgestellt hatte. Umso kostbarer waren diese Minuten, wenn die letzten Sonnenstrahlen des Tages ihr Gesicht wärmten. Seit der Passagierdampfer vor drei Tagen in den Suezkanal eingefahren war, hatten die weiten Wüsten zu beiden Seiten der Wasserstraße das Licht unwirklich hell werden lassen. Die Luft war nicht mehr salzig wie im Mittelmeer, sondern in der drückenden Hitze schwerer und weicher.

Nachdem Fritz seinen Blecheimer geleert hatte, riskierte er noch einen scheuen Blick in Antonias Richtung. Mit seinen höchstens vierzehn Jahren wagte er es nicht, das Wort an sie zu richten. Sie nickte ihm mit einem angedeuteten Lächeln zu.

Seit sie in Hamburg zur Crew des Dampfers gestoßen war, trug Antonia die schmucklose graue Uniform einer Krankenschwester. Das weiße Häubchen setzte sie nur ab, wenn sie aus privaten Gründen die Station verließ. Lediglich drei viertelstündige Pausen standen ihr zu. Es war bekannt, dass die Reedereien nur schwer Frauen fanden, die bereit waren, auf den Passagen als Krankenschwestern zu arbeiten. Denn die Arbeit führte einen lange von zu Hause fort, und der Ton an Bord war rau. Antonia hatte sich dennoch darauf eingelassen, weil es die einzige Möglichkeit war, die teure Überfahrt ohne fremde Hilfe zu finanzieren. Was ihr wichtig war.

Als die Delfine abtauchten, ging sie zurück in die Krankenstation des Schiffes auf Deck 1. Seit der Einfahrt in den Suezkanal war dort nicht mehr so viel los wie in den Wochen zuvor. Während der Fahrt durch den Atlantik und das Mittelmeer hatte teilweise schwerer Wellengang das Schiff schaukeln lassen. Den Passagieren war übel geworden, einer hatte einen Herzanfall erlitten, zwei Passagiere waren aus ihren Betten gefallen, eine Dame war ausgerutscht und unglücklich gestürzt. Ihre gebrochene Elle hatte Antonia selbst geschient. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon daran gewöhnt gewesen, auf die Hilfe des Schiffsarztes verzichten zu müssen. Dr. Olafsen war selbst krank, woran er litt, wusste sie nicht, nur dass er seine ständigen Schmerzen mit großen Mengen Morphium betäubte. Ihn nach der Ursache zu fragen, hatte sie sich bislang nicht getraut, denn ihr Vorgesetzter war ein stolzer Mann, der sich seine Gebrechlichkeit nicht anmerken lassen wollte.

Während ihrer Pause hatte eine zarte junge Frau um Hilfe nachgesucht. Sie saß neben der Krankenliege auf einem Stuhl, während der Schiffsarzt mit der Nadel in ein Fläschchen stach und versuchte, den Kolben hochzuziehen. Seine Hände zitterten. Aber das hier war Dr. Olafsens Station, und Antonia war nur die Krankenschwester.

»Am besten, Sie übernehmen diese Spritze«, knurrte Olafsen, ein früh gealterter Mann von Mitte fünfzig.

Die Patientin, die etwas jünger als Antonia zu sein schien, sah zu ihr auf und fragte: »Kommen Sie aus Deutschland?«

Die Mehrzahl der Passagiere stammte aus England und reiste in die benachbarten britischen Kolonien Kenia und Tanganjika an der afrikanischen Ostküste.

»Ich bin aus Berlin. Und Sie?«

»Ich war bei meiner Familie im Schwarzwald und muss jetzt zurück.« In der Stimme der jungen Frau schwang Wehmut. »Mein Mann besitzt eine Farm bei Nairobi.«

»Das muss wundervoll sein.« Antonia bemühte sich, fröhlich zu klingen, obwohl die Patientin, der sie Morphium spritzen sollte, nicht so aussah, als wäre sie glücklich. Ihre Haut war bleich, und unter den Augen lagen bläulich-graue Schatten, was auf eine Krankheit schließen ließ.

»Jeder sagt, dass es wundervoll sein müsse.«

Erst jetzt sah Antonia, was ihr wegen des weiten Kleides der Patientin nicht aufgefallen war. Obwohl sie nicht nur schlank, sondern geradezu mager war, zeichnete sich unter ihrem leichten Sommerkleid ein Bäuchlein ab.

»Sind Sie in anderen Umständen?«, fragte Antonia.

Die junge Frau nickte mit zusammengepressten Lippen.

»Um Ihren Fötus nicht zu gefährden, darf ich Ihnen kein Morphium geben«, erklärte Antonia.

»Sie sind Krankenschwester«, ging Dr. Olafsen dazwischen. »Tun Sie, was Ihnen aufgetragen wurde.«

Antonia verkniff sich eine Erwiderung. Natürlich wusste Dr. Olafsen, dass sie ein Medizinstudium abgeschlossen hatte, es fehlten ihr nur die Praxis und der Titel. Eine Konfrontation würde ihr jedoch das Leben an Bord nur erschweren. Sie drehte sich also mit dem Rücken zu Olafsen, sodass er nicht mitbekam, dass sie den Großteil des Spritzeninhalts nicht verwendete.

Sie beschloss, bei Gelegenheit nach der Unbekannten Ausschau zu halten. Die junge schwangere Frau brauchte dringend Beistand.

 

Als Crewmitglied durfte Antonia grundsätzlich nicht auf das Promenadendeck der Wangoni. Der vermutlich schönste Platz auf dem Dampfer war den rund einhundertsechzig Passagieren der ersten und zweiten Klasse vorbehalten. Den etwa einhundert in der dritten Klasse Reisenden war es nicht erlaubt, das Unterdeck zu verlassen. Das galt auch für Krankenschwester Antonia, die sich mit einer Wäscherin, einer Näherin und einer Küchenhilfe eine Vierbett-Kabine teilte. Wegen der Nähe zur Wasserlinie ließ sich nicht einmal das Bullauge öffnen. Deswegen entkam sie, wenn das Wetter es zuließ, dieser Enge so oft wie möglich.

Wie an den meisten Abenden spielten auch heute die feinen Damen Bridge und Rommee in den Salons, die Herren rauchten Zigarren und genossen teure Drinks. Durch die Fenster, an denen sich Toni vorbeimogelte, sah Antonia, dass alle festlich gekleidet waren. Niemand von ihnen wollte riskieren, dass die Frisur von einer plötzlichen Windböe zerzaust wurde. Das war auch der Grund, wieso Antonia es wagte, das in aller Regel verwaiste Promenadendeck aufzusuchen – und sei es nur für ein paar Minuten.

Auf der obersten Plattform des Schiffs brannten nachts so wenige Lampen, dass Toni von künstlichem Licht ungestört die Unendlichkeit des Sternenhimmels bewundern und die Schönheit der lauwarmen Tropennächte genießen konnte. Sie trug ein leichtes geblümtes Kleid und das Haar offen, um das graue Äußere einer Krankenschwester zumindest für eine Weile abzustreifen. Sie spürte das sanfte Vibrieren des Schiffs und wusste, dass sie sich ihrem Ziel, dem Ort ihrer wahren Herkunft, langsam näherte.

Das weckte allerdings auch Fragen: Wie lange würde sie in Daressalam bleiben? Wer würde sie dort erwarten? Und was? Die Position jeder Assistenzärztin hing von der Laune des Stations- oder Oberarztes ab. Würde man sie überhaupt arbeiten lassen oder ebenfalls wie eine bessere Krankenschwester behandeln? So vieles war ungeklärt, weil Tonis letzter Brief an das Ocean Road Hospital, demeinstigen deutschen Gouvernements-Krankenhaus von Daressalam,in dem sie diese Details erfragt hatte, unbeantwortet geblieben war. Schließlich hatte sie die Entscheidung zu fahren dennoch getroffen. Übereilt, wie sowohl ihre Schwester Henny als auch die Mutter gemeint hatten. »Immer muss bei dir alles sofort geschehen«, hatten sie getadelt. Seitdem sie von Guntrams innerem Ringen wusste, hatte Antonia ihnen widerwillig recht gegeben. Zumindest während der kalten Stürme auf dem Atlantik. Aber nicht jetzt, jetzt war es gut, dass sie hier war. Endlich hatte sie das ersehnte Gefühl von innerer Freiheit.

»Haben Sie über mein Angebot nachgedacht, gnädiges Fräulein?«

In ihre Gedanken versunken erschrak Antonia. Dann erkannte sie den Mann wieder, der neben sie an die Reling getreten war.