Polizeiärztin Magda Fuchs – Das Leben, ein ewiger Traum - Helene Sommerfeld - E-Book
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Polizeiärztin Magda Fuchs – Das Leben, ein ewiger Traum E-Book

Helene Sommerfeld

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Beschreibung

Stadt des Glanzes, Stadt des Elends Berlin, 1920: Nach den dunklen Kriegsjahren zieht der Glanz der Metropole Menschen aus aller Welt an. Auch Magda Fuchs hofft nach einem schweren Schicksalsschlag hier auf einen Neubeginn. Doch als Polizeiärztin lernt sie schon bald die Schattenseiten der schillernden Großstadt kennen. Vor allem die Schicksale der zahllosen verwahrlosten Kinder halten sie nachts wach. Sie werden skrupellos verkauft, aber die Polizei unternimmt nichts dagegen. Unerwartete Unterstützung erhält Magda von der sich zunächst ruppig gebenden Fürsorgerin Ina und dem etwas fahrigen, aber engagierten jungen Kommissar Kuno Mehring. Mutig bewegt sich Magda in einer Welt aus Korruption und Verbrechen. Doch dann bietet sich ihr die Chance ihres Lebens, von der sie nicht einmal zu träumen gewagt hatte …     Polizeiärztinnen gab es ab 1900 in Berlin. Diese standen zwar im Dienst der Polizei, führten jedoch keine polizeilichen Arbeiten aus, sondern waren zuständig für die medizinische Betreuung der Opfer von Gewaltverbrechen, insbesondere an Frauen und Kindern. Zusätzlich kümmerten sie sich um die gesundheitliche Versorgung der zahlreichen Prostituierten in den Zwanzigerjahren. Das Amt einer Polizeiärztin wurde für eine geringe Entlohnung nur nebenberuflich bekleidet.

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Helene Sommerfeld

Polizeiärztin Magda Fuchs

Das Leben, ein ewiger Traum

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Inhaltsverzeichnis

PersonenverzeichnisMottoDie längste NachtStulle für den KommissarHunger nach LebenDas ÜblichePanzer auf der SeeleDas Herz des VatersSeine kleine FrauHeimkehrCelias FreiheitAuf wen das Himmelreich wartetFrauen, die sichtbar werdenZuerst stirbt die LiebeEine ehrbare PersonEin neuer TraumRevuebesuch mit FolgenDie Quelle des GeldesWind unter den FlügelnVerlorene SeelenDas Kribbeln von etwas NeuemAlles ist erlaubtNachwortLeseprobe aus: Sommerfeld, Polizeiärztin Magda Fuchs Band 2KapitelSchöne Aussichten

Die wichtigsten Personen

MAGDA FUCHS, geb. RUNGE *1890, Polizeiärztin

CELIA VON LIEBENAU, geb. FAHRLAND *1898

In der Pension Bleibtreu:

AGNES FAHRLAND, geb. VON BORNIM *1877, Pensionsbesitzerin

LUISE MEIER, »LIESL« *1859, Köchin

GERTI *1892, Dienstmädchen

BABETTE GRUSINSKI *1857, Concierge

DORIS KAUFMANN *1901, Verkäuferin

ERIKA HAUSNER *1892, Journalistin

 

Die Polizei:

KUNO MEHRING *1888, Kriminalkommissar

ERNST WAGNER *1878, Kriminalkommissar

ADOLF LAMOUR, *1885, Kriminalassistent

TRUDE KRAWINSKI *1879, Wagners Sekretärin

DARIUS WENZEL *1862, Gerichtsarzt

Weitere Personen in Berlin:

 

INA DIETRICH *1882, Fürsorgerin

JOSEFINE WEBER , geb. KRONSTATT *1896 Celias Freundin

ADELHEID WEBER, »HEIDI« *1916, Josefines Tochter

ADELE KRONSTATT *1873, Josefines Mutter

ALBERT VON LIEBENAU *1875, Celias Mann

WALTER DALDRUPP *1894, Celias Jugendliebe

RUTH JESSEN *1885, Rechtsanwältin

OTTMAR JESSEN *1880, ihr Mann

EDGAR HINNES *1897, Student

WILLI SCHMITTKE *1890, Mordverdächtiger

ELKE SCHMITTKE *1913, Willis Tochter

GUNDULA SCHMITTKE *1882, Willis Schwester

CAROLA WICHMANN *1889, Willis Schwester

KUNIGUNDE SCHNELL, »KULLE« *1914, Straßenkind

 

Personen in Hildesheim:

CHRISTA TRÜMPER, geb. RUNGE *1882, Magdas Schwester

JOHANNES TRÜMPER *1872, Christas Mann

BERTRAM FUCHS *1889 †1919, Magdas Mann

CONRAD BECKER *1889, Kriminalkommissar

ANNELIESE BECKER *1892, Conrads Frau

Das heißt, Glück zu haben –

nämlich einem Menschen zu begegnen

in den drei Minuten am Tage,

wo er gut ist.

 

Irmgard Keun, Das kunstseidene Mädchen

1919

Die längste Nacht

Kein Laut, keine Schritte, keine Stimmen. Es war so ruhig, dass es wehtat. Als Magda in dieser verhängnisvollen Novembernacht das Fenster des Wohnzimmers schließen wollte, zog leichter Bodennebel durch die Gasse. Ein Hauch von Feuchtigkeit lag auf dem Kopfsteinpflaster, das im schwachen Licht der Gaslaternen schimmerte. In dem Fachwerkhaus, in dem sie wohnte, öffneten sich die Flügel nach außen. Sie musste sich deshalb hinausbeugen. Gerade jetzt rumpelte ein Kraftwagen durch die schmale Straße. Doch das Auto hielt nicht, es fuhr einfach vorbei. Das Tuckern seines Motors klang in der Stille der Nacht nach, und der Geruch des verbrannten Benzins schwebte wie eine vergebliche Hoffnung zwischen den sich eng gegenüberstehenden Häusern.

Viermal hell, elfmal dunkel schlugen die Glocken der St. Godehard-Basilika. Eine Stunde vor Mitternacht. Hildesheim schlief. Doch irgendwo da draußen war Bertram. Etwas hatte ihn aufgehalten. Oder jemand. Aber sie kannte ihn als einen Mann, der sich nicht aufhalten ließ.

Noch einmal sah Magda die Straße hinauf und hinunter. Keine Menschenseele war zu sehen. Mit einem schweren Seufzen ließ sie sich auf dem Sofa nieder.

Wenn sie doch nur ein Telefon hätten! Irgendwann im nächsten Jahr sollte es wohl so weit sein. Aber in Hildesheim hatte schließlich kaum jemand eines. Allenfalls Leute vom Rang des Bürgermeisters. Im Krankenhaus gab es immerhin schon zwei und auch eines auf Bertrams Dienststelle. Magdas Gedanken schweiften ab. Ein einziges Mal hatten Bertram und sie sogar ein Telefonat mit diesen Fernsprechern geführt. Sie als Ärztin und er als Staatsanwalt. Ganz dienstlich, sogar gesiezt hatten sie sich. Auch wenn sie schon längst verheiratet gewesen waren.

»Frau Stationsärztin«, hatte Bertram sie genannt.

Und sie hatte erwidert: »Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Staatsanwalt?«

Die Erinnerung an diese unsinnige Förmlichkeit ließ sie lächeln. Wie lange mochte das her sein? Nicht lange, etwa kurz bevor sie festgestellt hatte, dass sie in anderen Umständen war. Also vor vier Wochen. Keinen weiteren Tag hatte sie gearbeitet, um jede Möglichkeit einer Infektion auszuschließen. Obwohl sie doch so hart gekämpft hatte, damit sie studieren und schließlich in dem Beruf arbeiten konnte, der ihr Lebensinhalt war. Seitdem war sie zuhause und es fühlte sich an wie eine lange Sommerfrische. Kochen für Bertram. Stricken und Häkeln für das Kind, das in ihr heranwuchs.

Die innere Unruhe trieb Magda hoch, sie legte noch zwei Briketts in den Ofen. Bertram würde mit Sicherheit vollkommen durchgefroren sein, wenn er endlich käme.

In dem einen Jahr, das sie nun verheiratet waren, war es noch nie vorgekommen, dass die Arbeit ihn die ganze Nacht über davon abgehalten hätte heimzukommen. Spät wurde es manches Mal, doch nie war es nach neun Uhr geworden. Schließlich war er ehrgeizig, klug und vor allem neugierig, wichtige Voraussetzungen in seinem Beruf. Soweit Magda wusste, beschäftigte ihn gerade der Mord an einem Landstreicher, der auf der Baustelle des Hildesheimer Stadthafens gefunden worden war.

Das Läuten der Haustürglocke ließ Magda zusammenzucken, als hätte man ihr einen Schlag versetzt. Sie war wohl kurz eingenickt, hatte kein Auto kommen hören.

Bertram hat einen Schlüssel, das war ihr erster Gedanke. Er würde niemals läuten – schon gar nicht um diese Uhrzeit. Aber vielleicht hatte er ihn verlegt.

Mit der Petroleumlampe in der Hand ging sie die schmale Treppe von ihrer im ersten Stockwerk gelegenen Wohnung nach unten. Die Stufen knarrten unwirklich laut. Sie umfasste den Türgriff, kam nicht einmal auf die Idee, dass draußen jemand stehen könnte, den sie besser nicht einließe.

»Ich habe mir solche Sorgen ge…«

Es war nicht Bertram.

Magda kannte den Besucher. Seit ihrer Kindheit waren Conrad und Bertram Freunde und hatten gemeinsam Jura studiert. Allerdings hatte Conrad nach dem ersten Staatsexamen aufgehört und war in den Polizeidienst eingetreten und Kommissar geworden, während Bertram abgeschlossen hatte. Vor einigen Wochen, als ihr Mann hier seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert hatte, war natürlich auch Conrad mit seiner Frau Anneliese unter den Gästen gewesen. Auch am letzten Sonntag waren sie zum Mittagessen gekommen. Dabei hatten die beiden Männer kurz über den Toten vom Stadthafen gesprochen. Als Magda hinzugekommen war, hatten sie das Thema gewechselt. Denn zuhause redete Bertram grundsätzlich nicht über seine Arbeit.

»Conrad«, sagte sie und stutzte. »Was machst du denn hier? Bertram hat gesagt, du hast die Grippe und liegst im Bett. Wo ist er überhaupt? Ich warte schon die halbe Nacht.«

»Magda …« Dem Kommissar – stämmig wie ein Baum, stark wie ein Bär – traten Tränen in die Augen. »… wir haben ihn gefunden.«

Die wahre Bedeutung der Worte hatte Magda noch nicht begriffen, aber sie legte beide Hände schützend vor ihren Bauch, der sich noch kaum rundete.

Die Augen des Freundes ihres Mannes folgten der instinktiven Bewegung, mit der Magda das Ungeborene in ihrem Leib vergeblich vor einem Schicksal bewahren wollte, das in dieser schier endlosen Nacht festgelegt worden war. »Es ist furchtbar. Bertram ist tot.«

»Warum?«, fragte sie kaum hörbar. Es war das einzige Wort, das ihr einfiel. Es umschrieb alles. Warum wird mir der Mann genommen, den ich gerade erst geheiratet habe? Warum darf unser Kind seinen Vater nie kennenlernen? An die Frage, woran er gestorben war, dachte sie in diesem Augenblick noch gar nicht.

»Wir wissen es nicht.«

»Ja, natürlich«, antwortete sie. Die Antwort des Kommissars, so unvollständig sie auch war, erschien ihr logisch, gerade weil ein derart hinterhältiges Unglück keinen Sinn ergab. Sie strich über ihren Bauch. Als wollte sie fühlen, dass sie nicht allein war. Obwohl sie es von einer Minute zur anderen war.

»Also, ich meine«, korrigierte sich der stämmige Mann vorsichtig selbst, »wir wissen schon, wie Bertram starb, aber …«

»Wie? War es ein Unfall mit dem Kraftwagen?«, unterbrach Magda ihn voller Ungeduld.

»Nein. Kein Unfall, Magda.« Der Polizist konnte nicht weitersprechen. Das Erlebte setzte ihm offenkundig sehr zu.

»Nein? Wie dann?« Sie sah zu ihm auf, in sein Gesicht, das seinen inneren Kampf und seine Verzweiflung offenbarte. »Musste Bertram leiden? Oder blieb ihm das erspart?«

»Bertram saß …« Die Worte auf den Lippen des hünenhaften Mannes versiegten kurz. »Er war verabredet. Eine Zeugenaussage, ein Treffen am Bahnhof, das ich vereinbart hatte. Aber meine Grippe …«

Magda sah ihm an, dass er wirklich krank war.

»›Ich übernehme das für dich. Wird nur eine Sache von ein paar Minuten sein. Um halb neun bin ich zuhause bei Magda‹, hat er gesagt.« Wieder suchte der Freund nach Worten. »›Es geht doch nur um den ermordeten Landstreicher‹, höre ich Bertram noch sagen.« Er wischte sich fast wütend die Tränen aus den Augen. »Und dann finden wir ihn erschossen in seinem Wagen. Man ermordet doch keinen Staatsanwalt. Himmelherrje noch mal!«

1920

Stulle für den Kommissar

Dieser Lärm! Diese vielen Menschen!

Berlin brüllte und boxte, hetzte und drängelte, schubste und stank. Dennoch bemühte Magda sich, einen Weg durch das mittägliche Gewühl auf dem viel zu schmalen Bahnsteig des Lehrter Bahnhofs zu finden. Wo kamen diese Menschenmassen her? Nie zuvor hatte sie so viele Leute auf einem Haufen gesehen. Sie hob den Arm, um dem Dienstmann, der geradewegs auf sie zukam, zu zeigen, dass sie ihn brauchte, damit er ihr den schweren Koffer abnahm. Ein eleganter Herr mit Bowler-Hut blickte sie kurz abschätzig an – und drückte dem Dienstmann sein eigenes Gepäck in die Hand. Weg waren beide. Magda war so verblüfft, dass sie stehen blieb. Prompt wurde sie angerempelt.

Dass jemand an ihrem Mantel zog, bemerkte sie zunächst kaum, und als sie sich umdrehte, sah sie niemanden, der sich für sie interessieren könnte.

»Kofen Se n Appel!«

Der Arm des kleinen Mädchens schien Magda vom Bahnsteig aus entgegenzuwachsen. Immer weiter näherte sich die Hand mit dem rotbackigen Apfel ihrem Gesicht.

»Du siehst doch: Ich habe keine Zeit.«

Sie war in der Tat spät dran. Kurz vor Berlin hatte der Novembersturm einen Baum auf das Gleis gestürzt, was den D-Zug eine halbe Stunde aufgehalten hatte. Wahrscheinlich würde sie es deshalb nicht rechtzeitig zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz schaffen.

Magda eilte mit einem unbehaglichen Gefühl weiter. Nichts hätte sie lieber getan, als dem Kind etwas abzukaufen, aber dies war der denkbar ungünstigste Moment. Obendrein hätte sie mitten im Gedränge entweder den Koffer mit ihrer Kleidung oder die Arzttasche abstellen müssen. Wie konnte das Kind nur auf die Idee kommen, hier seine Äpfel verkaufen zu wollen?

»N Groschen det Stück!«

Widerwillig verlangsamte Magda ihre Schritte, blickte hinab zu dem Mädchen, das neben ihr herrannte. Der Korb war noch voller Früchte, sein Gewicht zog den kleinen Körper schief. Wer bürdete einem Kind eine derart schwere Arbeit auf? Das war ein Verbrechen. Die Kleine würde davon krank werden! Dort, wo Magda gerade herkam, in Hildesheim, hatte der Krieg natürlich auch Armut gebracht. Aber sie sprang nicht derart ins Auge, weil die Menschen in der kleinen Stadt füreinander einstanden.

»Wie alt bist du?«, fragte Magda. Sie war jetzt doch stehen geblieben.

»Na jut: fünf Fennje«, sagte die Kleine.

Magda hörte nur: fünf. Das konnte nicht stimmen. Das Kind mochte höchstens vier sein. »Schickt dich dein Vater mit den Äpfeln los? Bist du nicht viel zu jung für eine solche Arbeit?«

»Wenn Se drei nehmen, kriegen Se die für zwee Groschen!«, rief das Mädchen.

Magda musste lachen. »Na, das ist ja mal eine lustige Rechnung. Ich kaufe dir einen ab.« Sie setzte den Koffer ab, griff in die Tasche ihres Mantels, holte ihre Geldbörse hervor, tauschte Münze gegen Frucht und sah dabei der Kleinen ins Gesicht.

Ihre Haut war schneeweiß, die Augen lagen in schattigen Höhlen, nur auf die Wangen hatte die Anstrengung rote Tupfen gezeichnet. Obwohl es empfindlich kalt war, trug die Kleine weder Mantel noch Kopftuch oder Mütze. Ihr kurzes struppiges Haar leuchtete ungewöhnlich, gelb wie Wachs war es. Ihre Augen waren kristallblau. Nicht der Anflug eines Lächelns lag darin. Es sind alte Augen, dachte Magda und erschrak bei dem Gedanken.

»Wie heißt du?«, fragte Magda. Aber da war die Kleine mitsamt ihrer schweren Fracht schon im Gewühl verschwunden.

Als sie sich nach ihrem Koffer bückte, war er weg.

Ringsum brodelte das geschäftige Treiben, doch Magda stand einfach nur da und ließ sich von allen Seiten knuffen und schubsen. Ihre gesamte Wechselkleidung war verloren. Nur das, was sie am Körper trug, war ihr geblieben.

Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, als ich diese Arbeit angenommen habe?, schoss es ihr durch den Kopf. Wie soll ich in dieser Stadt zurechtkommen?

Die Menschen um sie herum hasteten vorbei. Krumme Rücken. Müde Gesichter. Blass. Ausgemergelt. Aber sie gingen festen Schrittes weiter. Einfach weiter. Immer weiter.

Ja, was denn auch sonst, dachte sie und umfasste den Griff ihrer Arzttasche fester. Sie durfte nicht aufgeben. Ein gestohlener Koffer war eine Kleinigkeit. Verglichen mit ihrer Vergangenheit, der sie entkommen wollte. Hier, in dieser Riesenstadt, hatte sie vor zu vergessen, was geschehen war. Weil sie niemanden und nichts kannte. Während sie in Hildesheim jede Straße, jedes Haus, jeder Baum an Bertram erinnerte. Ein Neuanfang. Nun ja, zumindest der Versuch, ihn zu wagen. Denn sie hatte ihrer Schwester versprechen müssen zurückzukehren, wenn sie spüren sollte, dass sie es nicht schaffte. Aber der Gedanke an Christa und ihre übergroße Fürsorglichkeit gehörte nicht hierher.

Schließlich war sie jetzt in Berlin und fest entschlossen, sich von so einem dummen Diebstahl nicht unterkriegen zu lassen. Das bisschen Witwenkleidung! Magda atmete durch und trat aus dem Bahnhofsgebäude. Die fremde Stadt empfing sie mit Nieselregen, der ihr mit einem Windstoß ins Gesicht geweht wurde.

 

»Zu wem wollen Se?« Der Beamte in der viel zu oft gewaschenen Polizeiuniform blickte Magda wie ein schlecht gelaunter und übermüdeter Wachhund an. Er saß in einer dunklen Ecke im Eingang hinter einer Glasscheibe mit der Aufschrift Polizeipräsidium Anmeldung.

Von der Stadtbahnstation Alexanderplatz kommend hatte Magda sich darüber gefreut, wie einfach das Polizeipräsidium zu finden gewesen war. Nicht nur, dass der Bau aus rotem Backstein mit seinen vier Stockwerken und den plumpen Türmchen an den Ecken – den die Berliner die Rote Burg nannten – kaum zu übersehen war. Der Eingang lag, praktisch für alle Ankommenden, in der schmalen Dircksenstraße, die parallel zu der auf einem Hochgleis fahrenden Bahn verlief.

»Ich möchte zu Kommissar Wagner. Ich bin …«

Den Satz zu vollenden gelang Magda nicht, denn der so schläfrig wirkende Beamte schnitt ihr das Wort ab: »Name.«

»Magda Fuchs. Ich bin …«

»Wollen Se nen Mord melden?«

»Nein. Ich bin die neue Polizeiärztin. Aber ich …«

»Sind Se neu? Hätten Se gleich sagen sollen. Hier sind Se falsch. Det is der Eingang fürs Publikum. Jibt zwee für Leute wie Sie.«

Magda war so verblüfft, dass sie nichts erwiderte.

»Kommen Se.« Damit schob der Mann seinen spindeldürren Leib aus dem Verschlag heraus. Da ihm ein Bein fehlte, stützte er sich auf zwei Holzkrücken, die er sich unter die Achseln klemmte. Er öffnete eine Glastür und deutete mit einer Krücke in einen langen Gang. »Immer jeradeaus. Dritter Quergang rechts, zweiter links, erster Stock, fünfte Tür links. Allet Jute, Frau Dokta.« Damit ließ er sie stehen.

Nach dem zweiten Quergang begann Magda den Aufbau des Präsidiums zu verstehen: Um möglichst viele Büros auf wenig Raum unterzubringen, hatte man sie um winzige Innenhöfe gruppiert. Auf den verbindenden Gängen begegneten ihr unzählige streng blickende Herren in Anzügen und mit Hüten auf dem Kopf, aber kaum eine Frau. Und obwohl Magda so spät dran war, hatte sie das Gefühl, sich vor dem ersten Gespräch mit dem Kommissar zumindest ein wenig herrichten zu müssen. Doch die Toiletten, an denen sie vorbeikam, waren allesamt mit einem breitbeinigen H beschriftet. Kein einziges weiches D.

Als sie den vermutlich einzigen Rückzugsraum für Damen endlich gefunden hatte, blickte sie ihr müdes, abgekämpftes Gesicht aus dem Spiegel an. Ihr volles kastanienbraunes, leicht gelocktes Haar hatte schon immer vieler Haarnadeln bedurft, um im Zaun gehalten zu werden. Gerade wehrte es sich mit aller Macht gegen den schwarzen Hut, der es niederdrückte. Die Schatten unter ihren hellblauen Augen, die sich dort seit Bertrams Tod wie Trauergäste niedergelassen hatten, die nicht heimgehen wollten, waren noch dunkler. Rasch puderte sie ihr Gesicht, nötigte das widerspenstige Haar in einen strengen Knoten am Hinterkopf und stülpte den Hut über.

»Frau Polizeiärztin«, sagte sie halblaut in das sie kritisch aus dem trüben Spiegel ansehende Gesicht. Und hörte die vorwurfsvollen, aber lieb gemeinten Abschiedsworte ihrer Schwester heute in aller Früh auf dem Hildesheimer Bahnhof: »Du bist doch nicht bei Trost, dir das anzutun, Magda.«

»Ich will nicht länger in meiner Trauer ertrinken, Christa«, hatte sie entgegnet. Jetzt reckte sie das Kinn, packte die Arzttasche und machte sich auf die Suche nach dem irgendwo in den Tiefen dieses riesigen Gebäudes verborgenen Herrn Wagner.

 

Die Flure schienen eng und verwinkelt wie Maulwurfsgänge. Dann wieder tat sich plötzlich eine lange Flucht auf, die auf Magda wirkte, als würden die Wände sich am Ende des Flurs berühren. Auf dem Boden aus grauem Linoleum, der scharf nach Bohnerwachs roch, quietschten Magdas schnelle Schritte. Alle Türen waren geschlossen.

Sollte das etwa ihr täglicher Arbeitsplatz werden? Das hatte sie sich anders vorgestellt. Wenngleich sie sich eingestand, dass sie sich eigentlich gar keine konkrete Vorstellung vom Inneren des weit über die Berliner Stadtgrenzen hinaus bekannten Polizeipräsidiums der Hauptstadt gemacht hatte.

Über die Annonce in der Medizinischen Wochenschrift war sie nur deshalb gestolpert, weil es geheißen hatte: Polizeiarzt (weibl.) gesucht. Stellen, die gezielt für Ärztinnen ausgelobt wurden, waren eine Seltenheit. Aufgegeben hatte das Inserat das Berliner Gesundheitsamt, das künftig für sie zuständig war. Doch in ihrem Vertrag hieß es, sie würde bis auf Weiteres dem Polizeipräsidium zugeordnet sein. Sie solle sich dort mit einem Kommissar Wagner in Verbindung setzen, hatte im Anschreiben gestanden, und Magda rief ihn an. Das Telefonat war kurz gewesen: »Dann kommen Se Mittwoch um halb zwölf vorbei.« Ein Sprung ins kalte Wasser.

Während sie die langen Gänge entlanghastete, blieb ihr Blick immer kurz an den Namensschildern haften. Und da stand es endlich: Ernst Wagner. Kommissar. Sie klopfte. Niemand antwortete.

Es war inzwischen fast halb eins. Vorsichtig öffnete sie die Tür und lugte in den Raum. »Guten Tag!« Es klang mehr wie eine Frage.

Immer noch keine Reaktion.

Sie öffnete die Tür ein bisschen weiter und trat langsam ein.

Der große Schreibtisch stand quer vor dem für den Raum viel zu kleinen Fenster – auch hier drinnen also: eine Burg. Mitten auf dem Tisch ein Teller mit einem halb aufgegessenen Stück Sahnetorte. Darum verteilt Aktenordner, Fotografien, Papiere und Zettel mit einer Handschrift, die einen eigenwilligen Geist verriet. Ein Sofa aus ausgebleichtem grünem Stoff und zwei Sessel verströmten eine für einen solchen Raum etwas befremdliche Gemütlichkeit. Gleich neben dem Schreibtisch befand sich eine Tür, grau wie offenbar alle Türen hier und nur angelehnt. Von dort erklang das Stakkatogewitter einer Schreibmaschine. Und im selben Moment dröhnte draußen die Stadtbahn auf ihrem Hochgleis vorbei, das parallel zur Dircksenstraße auf Höhe des ersten Stockwerks verlief. Es war so laut, dass es durch die geschlossenen Fenster drang.

Magda klopfte. Wiederholte ihr leicht fragendes »Guten Tag«.

»Immer nur rinn in die jute Stube!«, kam es zurück, und die Maschine verstummte.

 

Hinter einem fast ebenso wuchtigen Tisch wie im Nebenzimmer lugte eine Frau über ihre Schreibmaschine. Sie schob sich die Brille mit den dicken Gläsern auf die Nasenspitze und sah Magda darüber hinweg an. Ihr Blick fiel auf die Arzttasche. »Na, sind Se nu endlich da?«

Das Haar der Sekretärin war zu einem runden Knoten gebunden, was ihr volles weiches Gesicht noch mütterlicher erscheinen ließ.

»Der Herr Kommissar is schon wech.«

»Das tut mir leid. Mein Zug hatte Verspätung. Sonst wäre ich schon vor einer Stunde hier gewesen.«

»Is ja ein Mistwetter. Eben November. Waren Se schon in Ihrer Pension?«

»Ich habe noch keine.«

»Und Ihr Jepäck lassen Se hier in die Burg schicken?«

»Ich habe nur die Tasche.« Es erschien Magda unpassend jetzt zu erwähnen, dass der Koffer gestohlen worden war. Was machte denn das für einen Eindruck, wenn sie, die künftige Polizeiärztin, sich beklauen ließ, kaum, dass sie in Berlin angekommen war?

»Wollen Se denn nich länger bleiben?«

Das grelle Läuten des Telefons verhinderte zum Glück Magdas Antwort. Sie hätte ihre gedrückte Stimmung in diesem Moment wohl kaum verbergen können.

Das Gesicht der Sekretärin wurde förmlich, während sie den schweren Hörer von der Gabel eines Telefons nahm. Ein modernes Gerät, wie Magda es noch nicht kannte. »Polizeipräsidium. Vorzimmer Kommissar Wagner. Sie sprechen mit Frau Krawinski. Ich höre.«

Aus dem schwer in der schmalen Hand der Sekretärin liegenden Hörer drang eine kräftige Männerstimme. Bei deren ersten Worten zeigte sich erneut eine Veränderung auf dem Gesicht der Frau, die Magda auf Mitte vierzig schätzte. Sie lächelte kaum merklich, wurde sogleich wieder ernst und blickte im selben Moment Magda an, wobei sie nickte: »Ja, Frau Fuchs steht neben mir. Das Wetter hat se aufgehalten. Is ja ne weite Reise.« Sie lauschte wieder. »Ja, sag ich ihr, Herr Kommissar. Ich schick se zu Ihnen.« Sie legte auf. »Sie sollen gleich zum Herrn Kommissar fahren. Wieder ’n Mord.«

Wenn Tote gefunden wurden, war dafür die Gerichtsmedizin zuständig. So kannte Magda es zumindest aus Hildesheim, wo es keine Polizeiärzte gab. »Mord? Wieso Mord?«, fragte sie. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie als Polizeiärztin mit schweren Verbrechen zu tun haben könnte.

Frau Krawinski sah sie irritiert an. »Das hier is der Mordbereitschaftsdienst. Jeden Tag haben wir mindestens zwei Morde. Der arme Herr Kommissar, nie kommt er zur Ruhe.« Frau Krawinski klang, als sorgte allein ihr Vorgesetzter in der Stadt für Ordnung.

»Ich bin keine Pathologin«, sagte Magda. Hatte sie sich etwa falsche Vorstellungen von der Stelle gemacht?

Frau Krawinski überhörte die Bemerkung. »Muskauer Straße. Das is in der Luisenstadt. Da erwartet der Herr Kommissar Sie.« Sie drehte sich um und Magda rechnete damit, einen Stadtplan in die Hand gedrückt zu bekommen. Stattdessen streckte ihr die Frau ein Päckchen entgegen. »Bringen Se doch bitte dem Herrn Kommissar seine Stulle mit. Er hat ja nich mal Mittagspause jehabt wegen der vielen Toten.«

»Selbstverständlich, mache ich.« Aus dem Butterbrotpapier stieg der köstliche Duft von Cervelatwurst in Magdas Nase. Sie hatte den Eindruck, das Überbringen des Brots war für Frau Krawinski viel wichtiger als ihre Anwesenheit am Ort des Geschehens. »Wie komme ich denn in die Moskauer Straße?«

»Muskauer«, verbesserte die Sekretärin. »Na, da nehmen Se die Fahrbereitschaft. Sagen Se, Sie müssen zum Herrn Kommissar. Die wissen dann schon.« Frau Krawinski schob sich ihre Brille vor die Augen und begann mit sehr flinken Fingern auf ihrer Schreibmaschine zu tippen.

 

Nur zehn Minuten später hielt der dunkelblaue Wagen der Polizeifahrbereitschaft. »Irgendwo da drinnen is er«, sagte der Fahrer. »Übersehen können Se den nich.«

Magda ersparte sich die Nachfrage, wie der grau uniformierte Fahrer, der sie in halsbrecherischem Tempo kutschiert hatte, das meinte. Nach dieser Fahrt war ihr ohnehin nicht mehr nach Reden zumute. Noch nie hatte sie einen Mann so ohne Punkt und Komma schwadronieren hören. Dabei hätte er seine Erkenntnisse in zwei Sätzen zusammenfassen können: »Et wird imma schlimma mit Balin.« Und: »Fahren Se lieba zurück von wo Se kommen.«

Das Haus, vor dem Magda stand, war recht neu, vielleicht dreißig Jahre alt, aus den Glanzzeiten des Kaiserreichs, vier Etagen, Stuck an allen Fenstern. Sie drehte sich kurz um, sah die Straße hinauf und hinunter. Das war ihr schon während der Fahrt aufgefallen: Wie großzügig die Berliner Straßen waren. Chausseen mit hohen kahlen Bäumen, sogar breiter als die Landstraßen rund um Hildesheim. Und selbst hier, wo die hohen Mietshäuser mit den fast gleichförmigen Fassaden Schulter an Schulter standen, war die Straße breit und schnurgerade.

Das gesuchte Haus hatte einen Haupteingang und eine Tordurchfahrt. Zwar war auf der Straße niemand zu sehen, doch aus dem Durchgang waren Kinderstimmen zu hören. Sie würde den Kommissar im zweiten Hinterhof finden, hatte der Fahrer gesagt.

Zahllose Kinder suchten im Durchgang vor dem Regen Schutz. Keines älter als sieben, acht Jahre, alle zu dünn angezogen, die meisten barfuß, einige in löchrigen Strümpfen. Obwohl es so kalt und feucht war. Nur ein älterer Junge in zu kurzer Hose hatte ein komplettes Paar viel zu großer Schuhe an den Füßen. Die Kinder beobachteten jeden von Magdas Schritten mit hungrigen Augen. Sie schienen ihre Unsicherheit zu spüren und sich untereinander mit Blicken zu verständigen. Dann trat der mit den Schuhen vor. Wortlos streckte er Magda seine Kinderhand entgegen. Als wollte er sie begrüßen. Doch die schmutzig graue Innenseite war wie eine kleine Schale nach oben geöffnet, die gefüllt werden wollte. Nun folgten andere seinem Beispiel.

Diese unverhohlene Bettelei, die zugleich so nachvollziehbar war, weil die Kinder vollkommen heruntergekommen waren, erschreckte Magda. Sie kam sich hilflos vor. Allen hätte sie Geld in die kleinen Hände drücken mögen und ahnte, dass der Junge mit den Schuhen alles einstecken würde. Fast meinte sie, er könnte wie ein ausgehungerter Hund das Brot mit der Cervelatwurst in ihrer Manteltasche riechen.

Es war kein Durchkommen.

»Wo ist der Kommissar?« Magda legte alle Strenge in ihre Stimme, die sie in diesem Moment aufbringen konnte.

Der Junge hob die Hand, die ein Almosen einforderte, etwas höher, in Richtung ihres Gesichts. Und verlor kein Wort. Die anderen Kinder umschlossen sie jetzt in einem engen Kreis. Der Apfel in ihrer Manteltasche, der vom Bahnhof! Sie holte ihn hervor, und er wurde ihr prompt von einem kleinen Jungen entrissen. Sofort stürzten sich die anderen auf den Knirps. Eine wilde Rangelei begann. Doch zumindest ließen sie Magda in Ruhe.

Eine zweite Tordurchfahrt führte in einen weiteren Hinterhof, der von schmucklosen grauen, von Fenstern durchbrochenen Mauern umzingelt war. Auch hier Kinder, die sie voller Argwohn beäugten. Hinten in der Ecke stand ein Uniformierter vor einem Eingang, der offensichtlich in den Keller des Hauses führte.

»Ich suche Kommissar Wagner«, sagte Magda, während sie sich fragte, weshalb der Polizist eine Kellertür bewachte.

Der Mann musterte sie. »Wat wolln Se von dem?«

»Ich bin Magda …« Sie brach ab und setzte nach einem kurzen Räuspern neu an. Entschlossener. »Fuchs. Polizeiärztin.« Es klang selbst in ihren eigenen Ohren fremd.

»Strobel, lassen Se die Frau Doktor rein!« Eine tiefe, satt klingende Männerstimme kam aus dem Dunkel hinter der Kellertür.

 

Das Novemberlicht, in dem die Stadt lag, war ohnehin grau. Viel zu wenig davon fiel in den Hinterhof. Kaum noch etwas drang bis in das Verlies vor, in das Magda ein paar Stufen hinunterging. Zum Dämmerlicht gesellte sich der Geruch von Feuchtigkeit. Beides zusammen gab Magda das Gefühl, eher ein Grab als eine Wohnung zu betreten. Sie rief sich zur Ordnung; schließlich lag ein solcher Vergleich nahe, wenn man den Schauplatz eines Mordes betrat.

Doch es handelte sich zweifellos um eine Wohnung, so klein sie auch war. Allmählich konnte Magda zwei Betten mit dicken Decken – offensichtlich aus Stroh –, einen Tisch, zwei Stühle, Pappkoffer und Kisten ausmachen, hinten an der Wand befand sich ein Wasserauslass mit Blechbecken. Ein kleiner Ofen, dessen Abgasrohr durch das Kellerfenster in den Hof führte. Es war kaum zu glauben, dass hier Menschen wohnten.

In der Enge der Wohnung wirkte der massige Mann mit Hut und Mantel, der ihr die Hand entgegenstreckte, wie ein Eindringling. »Kommissar Wagner«, sagte er. »Willkommen. Sie sind also Frau Doktor Fuchs.« In seiner sonoren Männerstimme lag Autorität.

Wagner musste den Kopf einziehen, um in der niedrigen Kellerwohnung überhaupt aufrecht stehen zu können. Seinen Hut wollte er offensichtlich dennoch nicht abnehmen.

»Nur Fuchs«, erwiderte Magda. »Ich habe keinen Titel.«

»Ich sage Frau Doktor zu Ihnen. Klingt besser in so einer Umgebung. Man muss hier für Respekt sorgen.«

Wagners Gesicht konnte sie eher erahnen als sehen, er mochte etwa vierzig sein.

»Was ist hier geschehen?«, fragte sie. Die feuchte Luft machte das Atmen schwer.

Wagner machte eine Geste in Richtung der Betten. »Ehegattenmord.«

Wegen der schlechten Lichtverhältnisse sah es aus, als würde der Körper des Mannes mit dem Bett verschmelzen, auf dem er bäuchlings lag. Der Schatten neben dem Ofen verschluckte die zweite Leiche und Magda nahm sie nur deshalb wahr, weil ein Mann daneben kniete, der sich nun erhob.

»Doktor Wenzel vom gerichtsmedizinischen Bereitschaftsdienst«, stellte Kommissar Wagner ihn vor.

Wenzel nickte einen flüchtigen Gruß. »Für Sie die Lebenden, für mich die Toten«, sagte er und wandte sich an Wagner: »Die Frau hat erst ihren Gemahl hinterrücks erstochen und sich dann die Adern aufgeschnitten. Nur ein Kind hat überlebt.« Er trat zur Seite. »Wenn Sie sich bemühen möchten, Frau Kollegin.«

Von dem in Decken gewickelten Säugling war kaum mehr als das Gesicht zu sehen; er schien trotz des Wirbels um ihn herum fest zu schlafen. Angesichts der schlechten Lichtverhältnisse war auf den ersten Blick nicht einmal sicher zu sagen, ob das Kind lebte. Doch die Merkmale der Mangelernährung im Gesicht des Kindes waren unübersehbar: blutig eingerissene Mundwinkel und Wassereinlagerungen, sogenannte Hungerödeme. Magda öffnete ihre Arzttasche, nahm das Stethoskop heraus und schob die Lumpen, in die das Kind gewickelt war, behutsam beiseite. Das winzige entkräftete Lebewesen öffnete die Augen einen kleinen Spalt und schloss sie sogleich wieder.

»Darf ich kurz um Ruhe bitten?«, sagte Magda, um die Herztöne hören zu können.

Die Kontraktionen eines gesunden Lebensmuskels hatten etwas Kraftvolles, Beruhigendes. Obwohl Magda es schon so oft gehört hatte, mutete der Rhythmus, den ein Mensch aus sich selbst hervorbrachte, wie ein Wunder an. Doch dieses kleine Herz kämpfte um jedes Pulsieren, es kam aus dem Takt, stolperte, versuchte es erneut. Lange würde es nicht mehr die Kraft haben durchzuhalten. Im Gesicht waren die Wassereinlagerungen offensichtlich. Doch Herz und Lunge eines derart unterernährten Säuglings waren in aller Regel ebenso geschädigt.

Vorsichtig drehte Magda den winzigen Körper herum und horchte die Lunge ab. Das Organ, das dem Herzen zuarbeitete, bekam kaum noch Luft. Es klang wie ein leises Gurgeln. Sie wickelte das Kind wieder ein, nahm es hoch. Vor allem in den Augen des Kollegen Wenzel las sie, was auch ohne Stethoskop offenbar war.

»Die Folgen des Hungers sind unser tägliches Brot, Frau Doktor«, sagte Kommissar Wagner. Seine Stimme war nun deutlich leiser.

 

Im Hof hatte sich inzwischen eine Handvoll Erwachsener eingefunden. Sie reckten die Köpfe, wirkten aber nicht übermäßig neugierig. Eher so, als wären sie nicht überrascht davon, welche Tragödie in ihrer Nachbarschaft geschehen war.

»Kennt jemand das Ehepaar Lebert?« Wagners voluminöse Stimme füllte den Hof, als sie die Kellerwohnung verließen.

»Amalie is meene Schwester«, sagte eine junge Frau in grober schwarzer Kleidung mit Schürze. »Wat is mit ihr?«

»Tot ist sie, gute Frau«, antwortete Kommissar Wagner. »Hat ihren Mann umgebracht.«

»Det war n Schwein. Hat nich jegloobt, dat Grete von ihm is. Jesoffen und jestritten hat er«, sagte die Schwester der Toten.

Die Umstehenden nickten.

»Lebt Gretchen?«, fragte die Frau.

Wagners Blick gab Magda das Wort.

»Sie ist sehr schwach. Sie muss ins Krankenhaus.«

»Strobel, bring die Tante und das Kind in die Charité«, sagte Wagner. »Ich darf, Frau Doktor?« Damit nahm er ihr das Kind aus dem Arm und reichte es der Schwester der Toten.

Das ging so schnell, dass die überraschte Magda ihre Sprache noch nicht wiedergefunden hatte, als der Schupo bereits mit den beiden verschwand.

Anstatt sein rücksichtsloses Verhalten zu rechtfertigen, fragte Wagner übergangslos: »Hat Frau Krawinski Ihnen was für mich mitgegeben?«

Magda war von diesem abrupten Themenwechsel kurz überfordert. Dann begriff sie und reichte ihm das Wurstbrot. Wagner wickelte es aus, biss hinein. Wo er war, wer anwesend war und was hier geschehen war, schien ihm einerlei zu sein.

Jetzt endlich sah sie sein Gesicht deutlich. Es war vollkommen glattrasiert, rund, mit einem Doppelkinn. Bei seinem Alter hatte sie wohl richtiggelegen.

»Ich muss los. Wir sehen uns im Präsidium. Schönen Tag noch, Frau Doktor«, sagte er mit halbvollem Mund und marschierte durch den Hof, quer durch die Kinderschar. Wie zufällig ließ er das Brot fallen. Es landete nur deshalb nicht auf dem Boden, weil sofort ein Junge herbeisprang, um es aufzufangen.

 

Kommissar Wagners Schreibtisch in der Roten Burg war noch verwaist. Im Vorbeigehen fiel Magdas Blick auf eine Wand mit Fotos. Ausschließlich Männerköpfe, die aus drei Perspektiven fotografiert worden waren. Eins von jeder Seite, das mittlere frontal, daneben das Maßband für die Körpergröße. Die Männer starrten den Betrachter direkt an und sahen dennoch aus, als blickten sie ins Nichts. Gepflegte, verwahrloste, kahlköpfige, vollbärtige Gesichter. Da sie dem Schreibtisch gegenüber mit Stecknadeln an der Tapete festgemacht worden waren, konnte Wagner den Augen der Festgenommenen nicht entgehen, wenn er arbeitete. Verbrecheraugen, die ihn nie losließen. Magda mochte sich nicht vorstellen, so arbeiten zu müssen.

Frau Krawinskis Finger flogen über die Tasten ihrer Schreibmaschine. Als sie Magda eintreten sah, hielt sie inne, schob die Brille auf die Nasenspitze und lächelte vorsichtig. »War et schlimm?«, fragte sie.

Magda hatte sich diese Frage noch gar nicht gestellt. Am treffendsten wäre wohl gewesen zu antworten: Die ganze Stadt ist schlimm. Stattdessen sagte sie: »Ein Menschenleben scheint hier nicht viel wert zu sein.«.

Frau Krawinski stutzte. »Det trifft et wohl janz jut«, sagte sie. »Der Herr Kommissar is nich mitjekommen?«

Magda schüttelte den Kopf.

»Werden Se nun bleiben? Oder nich?«, fragte Frau Krawinski.

»Wie meinen Sie das?«

»Mit so wenig Jepäck wie Se reisen …« Die Sekretärin deutete auf Magdas Tasche. »Da können Se ja heute noch zurück nach Hildesheim. Da isses bestimmt schöner als hier.« Sie lächelte liebenswürdig. Als wollte sie sagen: Noch können Sie es sich anders überlegen.

»Ich mache das hier«, stieß Magda hervor.

»Gut«, erwiderte Frau Krawinski.

Einfach nur: gut. Für eine Ermutigung war das ein wenig dürftig.

»Sie brauchen ne Pension, nich wahr?« Die Sekretärin schob Magda eine Zeitung hin und deutete mit dem Bleistift auf die zahllosen Anzeigen unter der Rubrik Pensionen und möblierte Zimmer. »Sie haben freie Auswahl.«

Das Papier war übersät mit den eng unter- und nebeneinander platzierten Inseraten. Magdas Blick irrte ratlos über die Seite. Woran sollte sie sich orientieren?

»Alleinstehende Damen nimmt kaum eine Zimmerwirtin«, sagte Frau Krawinski und hielt über der Tastatur ihrer Maschine kurz inne. »Die wollen nur Herren.«

»Wieso das denn?«

Mit ihrer Antwort wusste Magda nichts anzufangen: »Jibt solche und solche Damen. Die andere Sorte will keener. Aber die werden Se schon bald kennenlernen, wenn Se Polizeiärztin sind.«

Magdas Aufmerksamkeit blieb an einem Inserat hängen. Neu! Pension Bleibtreu. Fußläufig Kurfürstendamm. Gepflegte Zimmer. Nur an Damen von tadellosem Ruf.

»Wissen Sie, wo die Bleibtreustraße ist?«, fragte sie Frau Krawinski.

»Mit der Stadtbahn fahrn Se durch bis Savignyplatz. Da können Se nich verloren gehen.«

Wie zur Bekräftigung ihrer Worte brauste wieder die Bahn auf ihrem Hochgleis vorbei.

»Pension Bleibtreu«, das klang nach einem Ort, der den Heimatlosen in der Großstadt Geborgenheit versprach.

Hunger nach Leben

»Pension Bleibtreu«. Kein schlechter Name, den sich ihre Mutter ausgedacht hatte. Das musste Celia zugeben. Damit erschöpfte sich ihre Begeisterung aber auch schon. Ganz langsam und mit spitzen Fingern schob sie die Berliner Morgenpost von sich, die zwischen ihr und ihrer Mutter auf dem Tisch im kleinen Salon lag. Auf dem polierten leicht rötlichen, mit Intarsien verzierten Kirschholz wirkte die Anzeigenseite der Tageszeitung wie ein Eindringling.

»Das hältst du für eine gute Idee, Mutter«, stellte sie mehr fest, als dass sie fragte. Innerlich kochte sie vor Empörung. Allerdings kannte Celia ihre Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie gegen sie nicht ankam. Nicht einmal ansatzweise. Darin lag ja das Problem. Gewissermaßen das Problem ihres Lebens, das ihr gerade wieder vor Augen geführt wurde.

»Es geht nicht darum, ob es eine gute Idee ist, Celia. Ich muss vielmehr dafür sorgen, dass Geld ins Haus kommt.« Agnes Fahrland reckte ihr Kinn noch ein wenig höher.

Ihre Tochter kannte diese Geste zur Genüge und sah darin nur Stolz und Rechthaberei. Und nicht das, was ihre Mutter damit auszudrücken gedachte: die Überlegenheit alten ostpreußischen Adels, dem sie entstammte und der ihr anzusehen war. Mit ihren bald fünfzig Jahren war sie immer noch gertenschlank, das weizenblonde Haar zu einem strengen Knoten gebunden. Heute trug sie ein türkisblaues Korsagenkleid. Celia fand die Farbe überaus passend; sie spiegelte die Gefühlskälte ihrer Mutter wider.

»Diese Wohnung ist unser Zuhause«, sagte Celia.

»Es war deines. Diese Zeiten sind vorbei. Du hast ein eigenes Heim. Dass du es scheust, ist eine Schmach, die du auch mir fortwährend bereitest.«

»Eine Schmach ist, dass du mir vorschreibst, wie ich mein Leben zu führen habe, Mutter. Wenn du nicht hintertrieben hättest, dass ich Medizin studiere, hätte ich schon bald als Ärztin mein eigenes Geld verdient«, schnappte Celia.

»Nicht schon wieder dieses unerquickliche Thema«, sagte Agnes Fahrland. »Zurück zum eigentlichen Grund unseres Gesprächs. Ich habe Liesl angewiesen, die wenigen persönlichen Sachen aus deinem früheren Jugendzimmer zu entfernen.«

»Das heißt, auch mein Zimmer wird an Gäste vermietet?«

»Wozu solltest du hier noch ein Zimmer haben?«

Nicht um dir, sondern um Vater nah zu sein. Um einen Zufluchtsort zu haben. Um … Ach, es hat keinen Sinn, sich an die Vergangenheit zu klammern, dachte Celia resigniert.

Sie hielt es auf dem mit goldgelbem Samt bezogenen Stuhl kaum mehr aus. Auf diesem Möbelstück konnte man ohnehin nicht sitzen, ohne dass nach einer Viertelstunde der Rücken schmerzte. Es zwang jeden am Tisch in eine aufrecht steife Haltung. Obwohl der kleine Salon ausdrücklich für den Nachmittagstee eingerichtet war, bei dem eigentlich entspannt geplaudert wurde. Celia konnte sich an keine solche Runde erinnern. Und gelöst hatte sie ihre Mutter noch nie erlebt.

»Ich musste alle Räume zur Disposition stellen«, sagte Agnes Fahrland.

»Findest du es nicht selbst eigentümlich, hier mit fremden Menschen zu wohnen?«

Ihre Mutter schnipste einen nicht vorhandenen Fussel von ihrem türkisblauen Kleid. »Celia, die Haushälterin habe ich schon entlassen. Soll ich deinen Vater ohne Köchin und die beiden Dienstmädchen versorgen?«

Das waren nachvollziehbare Argumente, doch Celia hätte sich gewünscht, von ihrer Mutter in solche Entscheidungen einbezogen zu werden. Vielleicht hätte es ja andere Möglichkeiten gegeben. Immerhin war Celia mit einem vermögenden Bankier verheiratet. Wenngleich auch wider Willen. Derart übergangen zu werden zeigte ihr erneut, dass ihre Mutter sie nach wie vor für ein Kind hielt. Trotz ihrer zweiundzwanzig Jahre.

»Wann sollen die ersten Logiergäste hier eintreffen?«, fragte Celia.

»Ich denke, dies wird heute der Fall sein. Ich behalte mir natürlich eine eingehende Prüfung der betreffenden Damen vor.«

»Welchen Kriterien müssen sie denn entsprechen, die Damen, damit sie deinem scharfen Blick standhalten?«

»Dieselben, die ich an jeden anlege, der die Füße bislang unter unseren Tisch gestreckt hat.«

Celia lachte laut auf. »Es wird jeder der Damen ein Genuss sein, dies zu tun.« Sie wusste, wie fruchtlos ihre Ironie war. »Du entschuldigst mich bitte, Mutter.« Sie ging hinaus und schloss die Tür leise hinter sich. Obwohl sie sich schon so oft gewünscht hatte, sie mit lautem Krachen ins Schloss zu werfen, hatte sie es noch nie getan.

 

Während sie gedankenschwer durch die Räume der Wohnung streifte, hielt Celia plötzlich inne. Mit verbundenen Augen hätte sie sagen können, dass sie sich vor dem Musikzimmer befand. An dieser Stelle kippelte das Holz der Eichenriemen im Dielenboden, wenn sie darauftrat. Sie erinnerte sich haargenau, dass es kurz vor ihrem zehnten Geburtstag gewesen war, als das neue Klavier geliefert worden war. Das vordere Rädchen des schweren Instruments war beim Absetzen genau an dieser Stelle aufgeschlagen.

Jetzt klappte Celia den Deckel auf. Sie sah ihren Vater, der ihrem Spiel mit geschlossenen Augen lauschte. Ihre Finger verkrampften sich; sie konnte nicht mehr spielen. Seit Jahren nicht. Sie schloss das Instrument und wischte mit ihrem seidenen Halstuch die Fingerspuren vom schwarz glänzenden Klavierlack. Sie wandte sich ab und verließ den Raum.

Die Wohnung war schon immer riesig gewesen. Celia war das früher nie aufgefallen, weil die vielen Räume und langen Korridore voller Leben gewesen waren. Seit jenem schmerzlichen Tag vor drei Jahren, dem Tag, an dem die Nachricht vom Tod ihres Bruders Gottfried kam, war das anders. Es war eine Wunde, die nicht heilen wollte. Keine sechs Monate später hatte dann das Unglück mit ihrem Vater begonnen. Der erste von mehreren Schlaganfällen.

Sie stand vor der Tür seines Zimmers, die schmale Hand bereits erhoben, um zu klopfen, doch sie zögerte. Es schmerzte so unendlich, ihn in diesem Zustand zu sehen. Aber es musste sein, denn er freute sich immer so, dass er weinen musste, wenn sie ihn besuchen kam. Und dann konnte auch sie die Tränen nicht zurückhalten.

Ich werde dieses Mal nicht weinen, schwor sie sich und klopfte. Ein undeutliches Brummen bedeutete ihr einzutreten.

 

Hermann Fahrland kauerte in einem Rollstuhl vor dem Fenster, sein Oberkörper war leicht zur Seite gefallen. Er hob den Kopf und lächelte, wobei nur der linken Gesichtshälfte etwas Kraft geblieben war, Freude zum Ausdruck zu bringen. Die andere war gelähmt.

»Du sitzt ja da wie ein Schluck Wasser in der Kurve«, scherzte Celia. Wenn sie ihn besuchte, bemühte sie sich immer um eine aufgesetzte Fröhlichkeit. Sie wusste, wie angestrengt das wirkte.

Das Kissen, das ihn seitlich stützen sollte, war zu Boden gefallen. Sie hob es auf und stopfte es unter den gelähmten rechten Arm des Vaters. Nun saß er wieder einigermaßen aufrecht. Der letzte Schlaganfall hatte ihm nicht nur die Fähigkeit zu sprechen, sondern auch die Kontrolle über seine komplette rechte Körperhälfte genommen. Er, der früher so aktiv am Leben teilgenommen hatte, war nun hilflos wie ein Säugling.

Sie strich mit den Fingerspitzen sanft durch das immer noch volle Haar des Vaters. Früher war es pechschwarz gewesen, mit Brillantine zurückgekämmt. Jetzt hatte es einen kaum definierbaren Farbton. Die Krankheit schien nicht nur die Farbe aus dem Leben, sondern auch aus dem Haar zu ziehen.

»Hast du Schmerzen?«, fragte sie.

Die nicht gelähmte Hand winkte ab. Dem einst so beredten Mann hatte der sogenannte Schlagfluss die Sprache genommen. Nur die linke Hand beherrschte noch ein paar Gesten. Allerdings schien er sie nicht immer kontrollieren zu können. Deshalb war er zur Verrichtung aller täglichen Dinge des Lebens auf Hilfe angewiesen.

»Mutter hat mich einbestellt«, sagte sie. »Sie wandelt die Wohnung in eine Pension um.«

Ein tiefes Seufzen war die Antwort.

»Weißt du, ich glaube, sie hat letzten Endes recht. Das habe ich ihr aber nicht gesagt. Würde ich nie tun!« Sie lachte so, wie sie es schon als Kind getan hatte. Denn sie beide hatten sich oft heimlich gegen die strenge Herrin des Hauses verschworen. »Hat sie mit dir zuvor über die Pension gesprochen?«, fragte Celia.

Hermann Fahrland machte eine wegwerfende Handbewegung. Das konnte auch bedeuten, dass es ihn nicht interessierte. Wahrscheinlicher war, dass seine Frau nicht mit ihm gesprochen hatte. Weil er ohnehin nichts an der Situation hätte ändern können. Der letzte Schlaganfall gegen Ende des Sommers hatte auch Celia die Hoffnung genommen, dass der Vater sich vollständig erholen könnte. Dabei war er erst fünfundfünfzig.

»Mutter wird ganz bestimmt nur wohlerzogene Damen hier wohnen lassen, Vater. Du musst dir keine Sorgen machen. Und ich bin ja auch da. Ich komme dich besuchen.«

Mit diesem unüberlegt ausgesprochenen Satz hatte sie den Punkt erreicht, an dem sie nicht mehr weiterkonnte. Die Tränen traten ihr in die Augen, die Stimme brach. Und ihr Vater sah sie mit dem gleichen liebevollen Blick an, mit dem er früher immer gesagt hatte: Ich bin so stolz auf dich, Lia.

Leider gab es im Moment nichts, worauf sie beide hätten stolz sein können.

 

Die einstigen Kinderzimmer lagen in der Wohnung nach hinten hinaus. Im Sommer war der Hinterhof grün. Einer der vielen kleinen Ruhepole im Häusermeer des jungen, mondänen, quirligen Charlottenburg. Als Celia ein Kind gewesen war, hatten hier sieben Ahornbäume gestanden. Während des Krieges waren vier verheizt worden.

Unter diesen Bäumen hatte ihr großer Bruder ihr beigebracht, Fahrrad zu fahren. Heimlich, natürlich. Denn die Mutter hatte es für unschicklich befunden, wenn Mädchen so etwas taten. Vergangenheit – eine behütete Zeit, die mit dem Beginn des Krieges geendet hatte und der keine bessere Gegenwart gefolgt war.

Celia drehte sich vom Fenster fort, ließ den Blick durch den Raum gleiten. Da es schon dunkelte, wirkte das Zimmer fast wie ein Scherenschnitt. Ihr Schreibtisch fehlte, stellte sie fest. Er war das Schmuckstück ihres Zimmers gewesen, an dem sie jeden Tag stundenlang gelernt hatte. Auch die Bücher über Medizin, die sie dem Vater abspenstig gemacht hatte, waren fort. Eigentlich alles, was von ihrem großen Traum, in seine Fußstapfen zu treten, übriggeblieben war.

Sie würde kein Licht machen, entschied sie, um sich zu verabschieden. In diesem Raum würde sie nie mehr arbeiten, schlafen und träumen. Erwachen und hoffen. Ein eigenartiges Gefühl. Fremd. Schmerzlich.

 

In der Wohnung konnte es leicht geschehen, dass man sich den ganzen Tag nicht begegnete. Sie verfügte über acht Zimmer für die Familie und vier weitere, in denen der Vater seine Praxis betrieben hatte. Damit nahm sie die gesamte erste Etage des Hauses ein und umschloss einen großen Lichthof. Wohnung und Praxis hatten separate Eingänge, sodass beide Bereiche formell getrennt waren. Zusätzlich gab es einen Dienstbotenaufgang, der durch ein rückwärtiges Treppenhaus zu erreichen war.

Links von Celias Zimmer war eigentlich immer jemand zu finden. Dort schloss sich der kleine Küchentrakt an, das Reich von Köchin Liesl. Die kleine, stämmige Frau stand am Küchentisch und hob gerade frische Rohrnudeln auf Teller, wobei sie Celia ihr breites Kreuz und den vermutlich schon immer weißen Haardutt zuwandte. Der köstliche Duft von Butter, Zucker und Hefe empfing sie zusammen mit der Wärme des Backofens.

»Magst auch eine?«, fragte Liesl mit dem leicht bayerischen Zungenschlag, den sie auch nach vielen Berliner Jahrzehnten beibehalten hatte. Sie blickte Celia mit schelmischem Grinsen an.

Beide wussten, dass diese Frage nie und nimmer ernst gemeint sein konnte. Die süddeutsche Süßspeise war eines der Leibgerichte von Celia und ihrem Vater.

»Mit Pflaumen?«, fragte Celia. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen.

»Ja, freilich. Des werden wohl die letzten in diesem Jahr sein.« Damit streute sie etwas Puderzucker auf die Rohrnudel und reichte sie der jungen Frau. »Iss, solang s’ noch warm sind, Lia. Deinem Vater kannst sie hernach bringen.«

Seitdem sich Hermann Fahrlands Verfassung durch den erneuten Schlag stark verschlechtert hatte, musste er gefüttert werden. Was für gewöhnlich Liesl übernahm, die im Hause Fahrland für das leibliche Wohl zuständig war. Die Portion für Celias Vater übergoss Liesl mit reichlich Vanillesoße.

»Der Herr Doktor mag nimmer so warm essen. Und a bisserl weicher derf’s a sein, gell?«

Der Herr Doktor – so war Celias Vater in diesem Haus von jeher angesprochen worden. Die Praxis war seit seinem Unglück verwaist.

»Mutter hat mit dir über die künftigen Logiergäste gesprochen, nicht wahr? Wirst du sie bekochen?«, fragte Celia.

Über das Gesicht der Köchin ging ein Strahlen. »Na, freilich, Lia! Endlich wieder was zu tun!« Sie schlug sich kurz an die Stirn. »Mei, wo hab ich meine Gedanken! Deine alten Sachen hab ich in die Kammer am hinteren Dienstboteneingang gräumt.« Sie zwinkerte ihr zu. »Hast so hübsche Puppen. Die wirst für deine eigenen Töchter noch brauchen.«

Celia lächelte tapfer und schwieg. So gern sie Liesl auch hatte, über den Zustand ihrer Ehe würde sie ihr gegenüber kein Wort verlieren.

»Und meine Bücher?«

»Die hat Frau Doktor in die Praxis gebracht, Lia. Sie meint, jetzt, wo du verheirat bist, brauchst die nimmer.«

Liesls unkompliziertes Lachen schmerzte Celia. Die Köchin wusste zwar von ihren geplatzten Träumen, doch sie gehörte wie die Mutter einer Generation an, in der eine Ehefrau nur den Traum leben durfte, den der Gatte für angemessen hielt.

Mit dem Teller in der Hand verließ Celia gerade die Küche, als die elektrische Glocke der Wohnungstür läutete. »Das werden die ersten Pensionsgäste sein«, vermeldete da auch schon Liesl.

 

Das Hausportal wurde von zwei großen Steinfiguren getragen. Daneben ein weißes Schild aus Emaille. Dr. Hermann Fahrland, Arzt für Frauenheilkunde. Darunter, wesentlich kleiner, die Messingtafel: Pension Bleibtreu. Auch den übrigen Namensschildern mehrerer Parteien in den weiteren drei Etagen war nur eine einzige Türglocke zugeordnet. Sie war mit dem Hinweis Grusinski, Concierge versehen. Ein vornehmes Haus, dachte Magda. In Hildesheim kannte sie keine Hausgemeinschaft, die eine eigene Empfangsdame beschäftigte. Sie drückte die Türklinke nieder und trat ein.

»Sie wünschen?« In der rechten Ecke des pompösen, mit Stuck und Vergoldungen verzierten Parterres war ein Fensterchen geöffnet worden. Dahinter hob eine ältere Dame den Kopf, in deren runden Augen die Neugier einer erfahrenen Portiersfrau stand.

»Ich bin Gast der Pension. Mein Name ist Frau Fuchs«, stellte sie sich vor.

»Grusinski. Meine Aufgabe ist, darauf zu achten, dass dies ein ehrenwertes Haus bleibt«, schnarrte die kleine Dame aus ihrer Portiersloge heraus.

»Ich werde Ihnen dabei nicht im Wege stehen«, sagte Magda freundlich.

Frau Grusinski verzog keine Miene. »Pension, erste Etage.«

Vom Straßenniveau aus führte eine breite Treppe zwischen goldgerahmten Spiegeln hinauf in die Beletage. Magda überprüfte den Sitz ihres Huts und blickte noch einmal hinab zur Concierge, die sie argwöhnisch beäugte. So, als gehöre Magda nicht in dieses elegante Haus.

 

Das erste Stockwerk war mit dunklem Holz und hellem Marmor überaus edel gestaltet. Offenbar teilten es sich die Praxis von Dr. Fahrland und die Pension, stellte Magda fest. Aber hatte sie nicht mit einer Frau Fahrland telefoniert? Die Gattin, die Tochter, eine Cousine vielleicht? Magda läutete.

Eine junge blonde Frau, einen halben Kopf kleiner als sie selbst, öffnete. Sie blickte Magda misstrauisch an, wobei sie gleichzeitig einen Teller balancierte. Der Duft, der von der Speise ausging, war verlockend und erinnerte Magda daran, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.

»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen«, sagte sie. »Ich hatte mit einer Dame telefoniert. Wegen eines Zimmers, das zu vermieten ist.«

Die zarte Blonde, die höchstens Anfang zwanzig war, ließ ihren Blick an Magda herabgleiten. Als überlegte sie, ob die Besucherin überhaupt würdig war, diese fraglos teure Wohnung zu betreten.

»Habe ich mit Ihnen telefoniert?«, fragte Magda. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht.

»Gewiss nicht«, sagte die blonde Person.

Ein bildhübsches Mädchen. Blaue Augen, ein herzförmiges Gesicht mit breiter Stirn und schmalem Kinn. Aber entsetzlich eingebildet. Vielleicht half es, sich eines schärferen Tons zu bedienen, dachte Magda. Anders schien man in dieser Stadt wohl nicht weiterzukommen. »Melden Sie Frau Fahrland bitte, dass Polizeiärztin Fuchs eingetroffen ist.«

»So, so.« Das Lächeln der jungen Frau wirkte spöttisch. »Na, dann werde ich das mal tun, Frau Polizeiärztin. Bitte einzutreten.«

Mit diesen Worten gab sie den Weg frei und griff gleichzeitig nach einer Klingel. Deren heller Ton rief ein Dienstmädchen in schwarzem Kleid, weißer Schürze und Häubchen herbei.

»Gerti, Polizeiärztin Fuchs wünscht meine Frau Mutter zu sprechen«, sagte die schnippische Blonde.

Die verwöhnte Tochter des Hauses – da hätte ich von allein draufkommen können, dachte Magda. »Ich konnte nicht wissen, dass Sie die junge Frau Fahrland sind. Verzeihung«, sagte Magda zuvorkommend. Schließlich war es gut möglich, dass sie mit dem Persönchen unter einem Dach leben würde.

»Verehelichte Freifrau von Liebenau«, verbesserte die Blonde. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen.« Damit verschwand sie mit der duftenden Speise hinter einer der Türen.

»Die gnädige Frau erwartet Sie«, sagte das Dienstmädchen mit einem angedeuteten Knicks.

 

Die Dame in Türkisblau, deren elegante Erscheinung schon auf den ersten Blick nicht zu einer Pensionswirtin passte, kam mit leichtem, schnellem Schritt auf Magda zu und streckte ihr die Hand entgegen.

»Ich freue mich, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben«, sagte die Gastgeberin. »Ich bin Agnes Fahrland.«

Das Lächeln der Dame wirkte warm und ehrlich. Wenngleich die Farbe des Kleides sie unnahbar erscheinen ließ. Sie trug Korsett, was sogar in Hildesheim, wo die Damen nicht unbedingt mit der Zeit gingen, bereits während des Krieges weitgehend aus der Mode gekommen war.

Die Ähnlichkeit mit der schnippischen Tochter ist unverkennbar, dachte Magda. Das mädchenhaft hell leuchtende Blond der Jüngeren hatte bei der Mutter die Farbe reifen Getreides angenommen. Ihr Gesicht war fast faltenlos. Nur um die Mundpartie hatten sich kleine Furchen gebildet, die einen dominanten Charakter verrieten. Sie mochte höchstens Mitte bis Ende vierzig sein.

Magda war sich nicht ganz darüber im Klaren, was sie von dieser Frau halten sollte. Sie schien nicht unsympathisch zu sein, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass Frau Fahrland nur ihren eigenen Regeln folgte. So musste man wohl sein, wenn man Fremden die eigene Wohnung als Pension anbieten will, vermutete sie.

Mit freundlichstem Lächeln sagte sie: »Guten Abend. Ich bin Frau Magda Fuchs.«

Es war selbstverständlich, die Anrede zu erwähnen, um klarzustellen, dass sie kein unverheiratetes Fräulein war.

»Sie erwähnten am Telefon, Sie wären Polizeiärztin?« Der skeptische Unterton war unüberhörbar. Es klang wie: Wenn Sie Ärztin sind, wieso haben Sie dann keinen Titel?

»Für eine Dissertation hat immer die Zeit gefehlt«, sagte Magda, um diesem Einwand vorzugreifen.

»So? Hm. Sie sind mein erster Gast, Frau Fuchs. Ich habe heute erst eröffnet. Es versteht sich, dass Sie allein einziehen. Dies ist eine Pension ausschließlich für Damen.«

»Ich bin verwitwet.«

»Oh. Dieser schreckliche Krieg! Ein Glück, dass das vorüber ist.«

In dem einen Jahr, das seit Bertrams Tod vergangen war, war es ein paar Mal vorgekommen, dass Menschen so reagiert hatten. Sie hatte eingesehen, dass es leichter war, das so stehen zu lassen, als zu einer unnötig komplizierten Erklärung anzusetzen. Die ja doch nichts nützte.

»Sie werden verstehen, dass ich für die ›Pension Bleibtreu‹ einige Regeln aufgestellt habe. Dazu gehört, dass Herrenbesuch nicht gestattet ist. Auch nicht bei Tage.« Während sie sprach, legte Agnes Fahrland ein Meldeformular vor Magda auf einen Tisch aus verziertem Kirschholz.

»Wenn Sie bitte Platz nehmen möchten.« Frau Fahrland deutete auf einen Stuhl mit gelbem Seidenpolster, der sehr unbequem aussah. Überhaupt empfand sie sowohl Frau Fahrland als auch die Pension als gewollt vornehm. Andererseits: wozu etwas anderes suchen? War es nicht wichtiger, zunächst einmal in dieser Stadt anzukommen? Ihre Unterkunft konnte sie immer noch wechseln.

In diesem Moment erklang die Glocke der Wohnungstür.

»Es geht gerade zu wie in einem Taubenschlag«, sagte Frau Fahrland mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Wir verschieben die Formalitäten auf später.« Womit sie nach einer kleinen Glocke griff, die ein durchdringendes helles Läuten aussandte.

 

Es war unglaublich, wie groß diese Wohnung war! Eine Tür reihte sich an die nächste. Wie viele Menschen mochten hier gelebt haben, bevor man sich entschlossen hatte, eine Pension daraus zu machen? Zumindest wusste Magda schon, dass die kleine Frau, der sie in diesem Moment folgte, die Köchin Liesl war, die nach eigener Auskunft »schon immer« hier arbeitete. Sie schien ein Mensch zu sein, der das Herz am rechten Fleck hatte. War das nicht wichtiger als die steife Vermieterin?

»Den ganzen Tag haben S’ noch nix gessen?«, sagte Liesl gerade. »Jetzt schauen S’ erst mal Ihr Zimmer an und dann bekommen S’ was zum Essen. Frühstück und Abendbrot ist eh inkludiert.«

Damit schaltete Liesl die elektrische Beleuchtung eines großen Zimmers ein. Der Raum war eindeutig für eine junge Frau eingerichtet. Die Seidentapete war rosa, mit einem Stich ins Lachsfarbene. Die Bilder an den Wänden zeigten Naturmotive, Blumen, Landschaften, Tiere. Alles etwas zu plastisch, um echte Kunst zu sein, aber nett anzusehen.

Sie entdeckte ihr Bild in einem hohen Spiegel neben dem Schminktisch. In diesem Zimmer, das von Jungmädchenträumen erzählte, wirkte sie in ihrem schwarzen Mantel und dem ins Gesicht gezogenen dunklen Hut wie ein Fremdkörper. Sie nahm ihn ab.

Das Deckenlicht ließ den leichten Stich ins Rötliche in ihrem kastanienbraunen Haar erkennen, das sie zu einem strengen Knoten gebunden trug. Die Winterblässe ihrer Haut deutete die Sommersprossen nur an, die für gewöhnlich von den ersten Sonnenstrahlen des Sommers hervorgelockt wurden. Ihre hellblauen Augen über den hohen Wangenknochen blickten sie im Spiegel direkt an.

»Meinen Sie, ich könnte einen Schreibtisch bekommen?«, fragte sie.

»Da müssen S’ die Frau Doktor fragen.« Der mit diesem Satz verbundene Blick der Köchin verriet deren Enttäuschung über Magdas Reaktion. Vermutlich galt dies als das schönste aller Zimmer.

Und da begriff sie: »War das etwa bislang das Zimmer der Tochter des Hauses?«

Die Köchin nickte. »Ihnen gefällt’s nicht, gell?«

Magda hob die Schultern. »Vielleicht ist es nicht falsch, in einem Raum zu leben, der Optimismus verströmt.«

»Das glaub’ ich auch, Frau Doktor. Sie haben keine gute Zeit hinter sich, gell?«

»Nein.« Zu mehr als dieser einen Silbe war Magda nicht fähig. Nach diesem entsetzlichen Tag auf jemanden zu treffen, der einfach nur so reagierte, wie Menschen miteinander umgehen sollten, überforderte sie. Sie kämpfte mit den Tränen.

»Wo ist denn Ihr Gepäck, Frau Doktor?«

Erneut hob Magda ratlos die Schultern. »Es wurde gestohlen. Es war sowieso nur schwarze Kleidung drin.«

»Wann ist Ihr Mann gestorben?«

»Gerade vor einem Jahr.«

»Dann ist er nicht gefallen?«

»Nein.«

Die Köchin fragte zu Magdas Erleichterung nicht nach. Sie strich zart über den doppelten Ehering, den Magda als Witwe am rechten Ringfinger trug, und fasste sanft nach ihrer Hand. »Kommen S’, Frau Doktor. Ich hab’ was Gutes für Sie. Direkt aus dem Ofen. Das brauchen S’ jetzt: süß und buttrig.«

 

Celia stellte den Teller neben das Spülbecken in der Küche. Ihr Vater hatte nicht einmal ein Drittel der Rohrnudel gegessen. Die Unruhe, die vom andauernden Klingeln der Haustürglocke verursacht worden war, hatte dem Kranken den Appetit verdorben. Er hatte wohl auch Celias Ungeduld gespürt. Denn sie brannte darauf zu wissen, wer künftig hier leben würde.

»Das ist köstlich. Wie nennt sich dieses Gericht?«, fragte gerade eine dunkle weibliche Stimme. Sie kam aus dem Eckzimmer, welches sich auf der anderen Seite dem Küchentrakt anschloss.

Celia lugte um die Ecke.

Die Dame, die sie selbst eingelassen hatte, verspeiste gerade eine Rohrnudel. Liesl, die Hände vor dem Schoß verschränkt, ein mildes Lächeln im Gesicht, sah zufrieden zu.

»Ein gutes Mahl hält Leib und Seele zamm«, sagte Liesl.

Es gab Celia einen leichten Stich. Auf jeden Kummer fand Liesl im unendlichen Repertoire ihrer Kochkunst eine Antwort. Damit hatte sie Celia so manches Mal vor trüben Gedanken bewahrt. Nun schenkte sie diese Zuwendung fremden Menschen. Einfach so. Weil sie dafür zahlten.

»Liesl!«

Die aufgesetzte Fröhlichkeit ihrer Mutter ließ Celia auf ihrem Beobachterposten am Durchgang zum Esszimmer zusammenzucken.

»Neue Gäste!«, rief ihre Mutter mehr, als dass sie es sagte. »Dies ist Frau Kaufmann mit ihrer Tochter Doris. Fräulein Doris ist soeben in der ›Pension Bleibtreu‹ aufgenommen worden.«

Frau Kaufmann wirkte auf Celia wie eine Matrone, die sich für die große Stadt herausgeputzt hatte. Ihre Kleidung – vor allem der wagenradgroße Hut mit dem blau gefärbten Straußenbusch – stammte wohl aus Kaisers Zeiten. Die Tochter wirkte ganz wie ein braves Hascherl. Ein Begriff, den Celia von Liesl übernommen hatte. Alle Mädchen, die so unscheinbar farblos daherkamen wie jene Doris, waren eben Hascherl. Das Wort sprach für sich.

»Wir werden auf Fräulein Doris achten wie auf unsere leibliche Tochter, gnädige Frau«, sagte Celias Mutter. »Es wird ihr an nichts fehlen.«

»Frau Doktor, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, mein Kind wohlbehütet in Ihren Händen zu wissen!«, erwiderte Frau Kaufmann mit einem seligen Lächeln. Und an ihre Tochter gewandt fügte sie hinzu: »Doris, gehab dich wohl. Ich lasse dich jetzt zurück. Mach dem Namen unserer Familie Ehre. Frau Doktor, verzeihen Sie meinen übereilten Rückzug. Leider geht mein Zug nach Hause in einer Dreiviertelstunde. Adieu! Adieu!« Ein Spitzentuch mehrfach an Augen und Nase gehalten – vermutlich, um den Tränenfluss zu stoppen – eilte die gute Frau aus dem Raum. Frau Fahrland begleitete sie.

Celia nahm Doris in Augenschein. Was für ein junges Ding! Höchstens achtzehn, gertenschlank, braune Locken, die vermutlich dem Brennstab zu verdanken waren. Das Kleid brav mit rundem Spitzenkragen, in Moorbraun. Schrecklich. Und artig niedergeschlagene Augenlider, die nur mühsam vertuschten, was ein freches Aufblitzen im nächsten Moment verriet: Fräulein Doris hatte das Joch der mütterlichen Kontrolle gerade eben abgeschüttelt.

 

Auch Magda, die hinzugekommen war, sah diesen Blick in den graublauen Augen des Mädchens. Diesen Hunger nach Leben, die ungestillte Lust auf Abenteuer las sie darin. War die Mutter dieses halben Kindes nicht sehr leichtsinnig, ihre Tochter allein in der großen Stadt zu lassen? Sie konnte doch nicht ernsthaft erwarten, dass Frau Fahrland auf sie aufpasste! Wie naiv war diese Frau?

»Wo sind S’ denn zuhause, Fräulein Kaufmann?«, fragte gerade die Köchin und servierte dabei eine ihrer Rohrnudeln.

»Elberfeld«, antwortete das Mädchen. »Das werden Sie nicht kennen.« Kurz strahlten ihre Augen. »Wir haben eine Schwebebahn. Die ist genau ein Jahr älter als ich. Wenn man damit fährt, schwebt man über der Wupper dahin.«

Davon hatte Magda schon gehört. Die Schwebebahn sei eine technische Sensation, hieß es.

»Und da wollten S’ nimmer bleiben?«, fragte Liesl.

Fräulein Kaufmann schüttelte den Kopf. »Meine Mutter weiß es nicht. Aber ich möchte zum Film.«

»Und wie wollen Sie das anstellen?«, fragte Magda verwundert.

Jetzt legte sich ein schelmisches Grinsen auf Doris’ Gesicht. »Ich habe in Elberfeld Verkäuferin gelernt. Im Kaufhaus Tietz.«

»Des gibt’s bei uns in Berlin auch. Am Alexanderplatz«, meldete sich Liesl zu Wort.