Polizeiärztin Magda Fuchs – Das Leben, ein großer Rausch - Helene Sommerfeld - E-Book
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Polizeiärztin Magda Fuchs – Das Leben, ein großer Rausch E-Book

Helene Sommerfeld

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Beschreibung

Starke Frauen in harten Zeiten Berlin 1922. Polizeiärztin Magda Fuchs wird zu einem grausamen Verbrechen gerufen: Die junge Mutter hat sich zu ihrem Kind geschleppt und ist kurz darauf ihren Stichverletzungen erlegen. Magda und Kommissar Kuno Mehring stellt sich die Frage, ob dieser sinnlos erscheinende Mord zu einer Serie brutaler Überfälle auf junge Frauen gehört. Sie alle haben auf der Straße ihre Gunst verkauft. Denn die Zeiten sind schwer: Die unvorstellbar rasch voranschreitende Inflation frisst das Geld für das tägliche Leben auf. Magda braucht ebenfalls eine Arbeit, von der sie leben kann. In Charlottenburg eröffnet sie ihre eigene Praxis. Frisch verheiratet stellt sie sich ebenso wie ihre Patientinnen die große Frage: Kann man ausgerechnet jetzt an eine Zukunft mit Kind glauben? Auch Medizinstudentin Celia liebt ihren Edgar. Aber will sie für ihn die Freiheit aufgeben, die sie so hart erkämpft hat? Ist Anwältin Ruth dafür die richtige Ratgeberin? Schauspielerin Doris genießt die Liebe wie im Rausch. Plötzlich wird daraus bitterer Ernst …   Polizeiärztinnen gab es ab 1900 in Berlin. Diese standen zwar im Dienst der Polizei, führten jedoch keine polizeilichen Arbeiten aus, sondern waren zuständig für die medizinische Betreuung der Opfer von Gewaltverbrechen, insbesondere an Frauen und Kindern. Zusätzlich kümmerten sie sich um die gesundheitliche Versorgung der zahlreichen Prostituierten in den Zwanzigerjahren. Das Amt einer Polizeiärztin wurde für eine geringe Entlohnung nur nebenberuflich bekleidet.

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Helene Sommerfeld

Polizeiärztin Magda Fuchs

Das Leben, ein großer Rausch

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Inhaltsverzeichnis

Die wichtigsten PersonenMottoSchöne AussichtenNicht bis zum HerzenMit den Augen einer ÄrztinEin Mord zum SommeranfangSich mit dem Leben versöhnenSündigen ist ihre NaturJa oder NeinDas Kostbarste, das sie hatDie lieben VerwandtenEine schwere EntscheidungDie TrennungFrau Magda MehringIhr letzter KampfVerlorenes VertrauenDie schönsten Waden von BerlinDas GeständnisDu hast mich nie geküsstFür immer und ewigLeseprobe aus: Sommerfeld, Polizeiärztin Magda Fuchs Band 3KapitelEin Funken Hoffnung

Die wichtigsten Personen

MAGDA FUCHS *1890, Polizeiärztin

CELIA FAHRLAND *1898, Studentin der Medizin

 

In der »Pension Bleibtreu«:

AGNES FAHRLAND *1877, Pensionsbesitzerin

DORIS KAUFMANN *1901, Schauspielerin

ERIKAHAUSNER *1892, Journalistin

LUISE MEIER »LIESL« *1859, Köchin

GERTI *1892, Dienstmädchen

BABETTE GRUSINSKI *1857, Concierge

 

Die Polizei:

KUNO MEHRING *1888, Kriminalkommissar

ERNST WAGNER *1878, Kriminalkommissar

ADOLF LAMOUR *1885, Kriminalassistent

TRUDE KRAWINSKI *1879, Wagners Sekretärin

DARIUS WENZEL *1862, Gerichtsarzt

 

Weitere Personen in Berlin:

INA DIETRICH *1882, Fürsorgerin

JOSEFINE WEBER *1896, geb. Kronstatt, Celias Freundin

ADELHEID WEBER »HEIDI« *1916, Josefines Tochter

ADELE KRONSTATT *1873, Josefines Mutter

WALTER DALDRUPP *1894, Josefines Verlobter

RUTH JESSEN *1885, Rechtsanwältin

OTTMAR JESSEN *1880, ihr Mann

EDGAR HINNES *1897, Ingenieur

CLÄRE HINNES *1901, Edgars Schwester

RAINER BERGMANN *1885, Edgars Butler

GUNTRAM HARRICH *1901, Student der Medizin

 

Personen in Hildesheim:

CHRISTA TRÜMPER *1882, Magdas Schwester

JOHANNES TRÜMPER *1872, Christas Mann

ELKE SCHMITTKE *1913, beider Mündel

Man machte Bekanntschaften, wie man eine Zigarette anzündete. Man tat ein paar Züge, gerade so viele wie schmeckten, dann trat man den kleinen Funken aus.

 

Vicki Baum, Menschen im Hotel

 

 

Vielleicht gehört sie zu den wenigen jungen Frauen, die wirklich allein für sich leben können. Ich meine nicht ohne Männer, aber so, dass sie nicht ihr Zentrum in den Männern haben. Die meisten Frauen empfangen eigentlich erst ihr Leben durch die Männer, bilden es sich wenigstens ein.

 

Käthe Kollwitz, Die Tagebücher, Mai 1922

1922

Schöne Aussichten

Gerade hatte Magda noch den verrückten neuen Tanz ausprobiert, den Tango, bei dem sie Kuno von einer ihr noch unbekannten Seite erlebt hatte. Der Rhythmus war noch in ihrem Blut, die ungewohnten Bewegungen, bei denen sie dem Mann mal ganz nah und dann wieder von ihm entfernt war. Diese unglaubliche Spannung, die sich daraus ergab. Ein ganz neues Gefühl, in das sie sich so gern hätte weiterhin fallen lassen.

»Ein Messerangriff? Auf unsere Doris?« Es war, als hätte jemand in die Hände geklatscht und einen schönen Traum abrupt beendet. Schlagartig war sie wieder Ärztin, zwar im Abendkleid, aber von ihrem Beruf eingeholt.

An Kunos Seite schob sie sich gemeinsam mit der Reporterin Erika Hausner, die ihr die Hiobsbotschaft überbracht hatte, durch die Masse der Feiernden. Das neue Jahr war erst wenige Minuten alt. Der Silvesterball im »Admiralspalast« war bislang so prunkvoll, so einzigartig gewesen! In diesem Moment erschien Magda alles unwirklich. Frauen mit tiefrot angemalten Lippen lachten ausgelassen, Schmuck glitzerte im Licht der Kristalllüster. Herren im Frack schwenkten Champagnergläser. Küsse wurden auf eine Weise getauscht, wie man es sonst nie und nimmer vor aller Augen tat. Es duftete nach teuren und billigen Parfüms, Stimmen schwirrten und die Kapelle setzte ausgerechnet jetzt zur Tritsch-Tratsch-Polka an. Geigen, Saxofon und Flöten schufen Klangwellen, die abrupt abebbten und wieder aufbrandeten. Die Menschenmenge wogte; es war kaum ein Durchkommen.

»Polizei! Machen Sie Platz!« Kuno legte die Autorität eines Kommissars in seine Stimme, um den beiden Frauen den Weg zu bahnen.

Ein Stück von der belebten Tanzfläche entfernt, nahe den Séparées, in die Paare sich diskret zurückziehen konnten, ging das Parkett über in schwarz und weiß gefliesten Boden, ein dezentes Muster durchzog den Stein. Und jetzt, wo sich die Menge vor ihr teilte, sah Magda das Blut. Es trat auf Hüfthöhe aus dem weißen Ballkleid, in dem seine Besitzerin auf den kalten Fliesen lag. Magda dachte noch: Woher hat Fräulein Doris denn so plötzlich dieses wundervolle Kleid? Gerade eben war sie noch eine heißblütige Tangotänzerin in leuchtendem Rot gewesen.

Dann sah sie den Blick des Mädchens voller Verzweiflung und Angst, der bereits ein wenig irrlichterte. Wie es bei Verletzten der Fall war, die in Panik um ihr Leben rangen. Und Magda kämpfte gegen die Angst an, die sie urplötzlich selbst empfand. Ein Gefühl, das sich einer Ärztin nie bemächtigen durfte, denn eine Medizinerin brauchte einen klaren Kopf, um zielgerichtet zu handeln. Und so war sie doch auch sonst!

Stattdessen sah sie Fräulein Doris, die ihr in der »Pension Bleibtreu«, in der sie beide wohnten, ein Kleid zeigte: »Sehe ich darin nicht aus wie ein Glanz?« Ein Glanz zu werden, jemand, der alles und alle überstrahlte. Für diesen großen Traum war das Mädchen vor einem Jahr nach Berlin gekommen.

»Frau Doktor, Sie sind da. Dann wird alles gut.« Die Stimme der Verletzten war schwach, aber ihr Lächeln wie immer voll großer Zuversicht. Auch dieser entsetzliche Augenblick konnte ihr den unerschütterlichen Glauben an eine Wende zum Positiven nicht rauben.

»Ich sterbe doch nicht, Frau Doktor?« Doris schloss die Augen, als hätte sie beschlossen, dass dies der richtige Zeitpunkt war, um die Bühne zu verlassen.

»Lassen Sie mich durch! Ich bin Arzt!« Ein stattlicher Mann im Frack drängte durch die Umstehenden nach vorn.

 

Das neue Jahr war gleich zwei Stunden jung, wie die Uhr vor dem Operationssaal anzeigte. Eine Diakonisse hatte Magda einen Stuhl gegeben, damit sie sich setzen konnte, was eine keineswegs selbstverständliche Liebenswürdigkeit war. Gebrauch hatte sie davon kaum gemacht. Sie lief in dem schmucklosen Gang hin und her. Warten, was sonst konnte sie tun? Sie war Ärztin für Frauen- und Kinderheilkunde, keine Chirurgin.

Zum Glück hatte sich der so entschlossen einschreitende Herr im Frack als solcher erwiesen. Der hatte nach einem kurzen Blick auf Doris’ Zustand mit offenbar befehlsgewohnter Stimme gedonnert: »Bringen Sie die junge Frau unverzüglich in meinen OP!«

Dies war sein Reich, die Chirurgie der Charité in der Ziegelstraße. Und er war der weltberühmte Chirurg Professor August Bier. Von dem Magda zwar vor langen Jahren während des Studiums gehört hatte, weil er der Miterfinder einer bestimmten Methode zur Narkose war. Erkannt hatte sie ihn natürlich nicht. Und wer konnte damit rechnen, dass der berühmte Chirurg ausgerechnet diesen Silvesterball im »Admiralspalast« besuchte? Seine Wirkungsstätte lag obendrein nur ein paar Gehminuten entfernt auf der anderen Seite der Spree!

Während Magda den langen, dunkelgelb gefliesten Gang auf und ab ging, hoffte sie, dass all dies nicht nur unglaubliche Zufälle waren. Doris brauchte einen Schutzengel, der ihr beistand. Offenbar hatte jemand mit einem Messer auf sie eingestochen. Und zwar in etwa dort, wo die Bauchschlagader verlief. War die durchtrennt, gab es keine Rettung. Es hing alles davon ab, wie tief der Einstich war.

Bevor er im OP verschwunden war, hatte Professor Bier in der Hektik des Abtransports kein Wort mit Magda gewechselt. Er wusste nicht einmal, wer sie war, hielt sie mit Sicherheit für eine Angehörige seiner Patientin.

Doch wie war es zu dem Unglück gekommen? Ein Angriff, wie Erika gemeint hatte? Warum sollte das jemand tun? Kuno war im »Admiralspalast« geblieben, um als Kommissar sofort mit den Ermittlungen zu beginnen. Ihr hatte er nur zugelächelt. Mehr zur Verständigung brauchte es nicht. Früher oder später wäre er bei ihr.

Erika hingegen war für sie eine Reporterin, von der sie wusste, dass sie über den Instinkt einer Jägerin verfügte. Jemand, der keine Skrupel kannte, weshalb die beiden Frauen schon aneinandergeraten waren. Zum Beispiel über den Umstand, dass Erika sich in derselben Pension einquartiert hatte, in der Magda bereits wohnte. Vermutlich, um durch sie an aufregende Geschichten zu kommen. Bislang mit mäßigem Erfolg, was sich in dieser Nacht womöglich gerade änderte. Von Journalismus verstand Magda zwar nichts, doch ihre Fantasie reichte aus, um sich vorzustellen, dass der Messerangriff auf Doris für eine Schlagzeile taugte. Folglich würde auch Erika sich hier blicken lassen. Schon um nachzusehen, ob das Opfer die Attacke überlebte.

War es zynisch, so zu denken? Magda war seit etwas mehr als einem Jahr in Berlin. Keine lange Zeit, wenn alle Tage so wohltuend gleichförmig verliefen wie in ihrer Heimatstadt Hildesheim. In Berlin hingegen war immerzu so viel Aufregendes passiert, dass Magda meinte, sie wäre schon seit einem Jahrzehnt hier. Was die Nacht dieses Jahreswechsels bewies!

Schnelle Schritte näherten sich, und im nächsten Moment eilten Erika und Kuno gleichzeitig den Flur entlang. Kuno so, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte, im Smoking, darüber der offene, wehende Mantel, den Hut etwas verwegen im Gesicht. Einen halben Schritt hinter ihm, wie ein eigenwilliger Schatten, Reporterin Erika im schlichten Wollmantel über dem dezenten Abendkleid, den schmalkrempigen Hut so tief ins Gesicht gezogen, dass er ihre eisblauen, dunkel umrandeten Augen verschattete.

»Wie geht es Fräulein Kaufmann? Wird sie es schaffen?«, fragte Kuno bereits, als er noch einige Schritte entfernt war. Er hob seinen Hut kurz zum Gruß.

Magda hätte ihn jetzt gern an sich gezogen und seine Nähe gespürt. Aber Erikas Argusaugen bekamen alles mit; wie nah sie und Kuno sich standen, konnte sie zwar nur vermuten. Allerdings hatte sie gesehen, wie eng sie gerade erst auf dem Ball miteinander getanzt hatten.

Gerade musste die sensationslüsterne Reporterin selbst Neuigkeiten loswerden: »Er wollte Doris ermorden! Ich habe mit vier Zeugen gesprochen. Die sagten es alle: Er hat ihr das Messer absichtlich in den Bauch gestoßen. Aber beschreiben konnte ihn keiner. Nicht wahr, Herr Kommissar?«

Kuno Mehring überging die Frage. Magda spürte, dass er mit ihr allein sprechen wollte. Für ihn war Erika bis zu diesem Abend eine Unbekannte gewesen. Magda hatte nicht einmal die Zeit gefunden, ihm mitzuteilen, dass sie drei sich aus der Pension kannten.

»Entschuldigen Sie uns bitte einen Moment, Erika.«

»Ich will das junge Glück nicht stören.« Die Journalistin lächelte süffisant.

 

Während sie sich mit Kuno ein paar Schritte den Krankenhausflur entlang von Erika entfernte, spürte Magda, wie sie ruhiger wurde. Allein schon seine Nähe gab ihr Zuversicht. »Was hast du herausgefunden, Kuno? Wer hat das getan?«

Der Kommissar seufzte. »Du hast es von Frau Hausner gehört. Es waren viele Zeugen ganz in der Nähe, die mal einen großen Mann sahen, mal einen kleinen … einen dicken, einen dünnen … Jemand meinte gar, es wäre eine Frau gewesen. Anders ausgedrückt: In dem Gedränge hat niemand eine zuverlässige Beobachtung gemacht. Und niemand war nüchtern.« Kuno sah sie fragend an. »Wie schwer sind ihre Verletzungen?«

»Ich weiß nur, dass Fräulein Kaufmann erschreckend viel Blut verloren hat.«

Magdas schwarzes Ballkleid, eigens für diese Nacht erstanden, war damit durchtränkt.

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Operationssaal. Professor Bier, ein Herr von Anfang fünfzig mit dichtem Schnauzbart, trat so heraus, wie er hineingegangen war – im Frack. Müde rieb er sich die Augen. Seiner angespannten Miene war der Kampf um Doris’ Leben abzulesen.

»Professor …«, setzte Magda an.

Bier hob abwehrend die Hand. »Jemand wird Ihnen alles erklären«, knurrte er unwirsch und eilte an ihr und Kuno vorbei.

Erika Hausner verstellte dem Arzt mit der Unverfrorenheit den Weg, mit der sie das früher schon bei Magda getan hatte: »Berliner Morgen-Zeitung. Professor, konnten Sie das Leben der jungen Frau retten?«

Der Chirurg blieb stehen, seine Miene hellte sich auf. »Gnädige Frau, so spät noch bei der Arbeit? Das soll belohnt werden!« Er holte tief Luft. »Schreiben Sie: Professor Doktor August Bier gelang es in einer mehrstündigen Operation an der Charité das Leben der argentinischen Tänzerin Conchita zu retten. Eines hoffnungsvollen Geschöpfs, dessen Tanz er selbst im »Admiralspalast« bewundernd zugesehen hatte. Fräulein Conchita wird einer langen Bettruhe bedürfen, bis sie wieder bei Kräften sein wird.« Er deutete eine Verbeugung an. »Gute Nacht.«

Damit ließ er die Reporterin, Magda und Kuno stehen.

Erika fing sich schnell: »Ich muss los. In einer Dreiviertelstunde ist Andruck.« Sie war schon fast am Ende des Flurs, als sie rief: »Heute kommt Doris auf Seite eins!«

Das Blatt wurde in aller Früh von Zeitungsjungen in der ganzen Stadt verteilt. Verließen die Ballbesucher in ein paar Stunden den »Admiralspalast«, würden sie lesen können, was ihnen im Gewühl Tausender Feiernder entgangen war. Erika würde eine große Geschichte und damit ihren ersten Kampf in dem jungen Jahr gewonnen haben.

Magda und Kuno blieben auf dem leeren Flur zurück. Erneut wurde die Tür zum OP geöffnet. Ein Bett wurde von einer Diakonisse herausgefahren. Unter dem Laken lag Doris, das Gesicht schneeweiß, in tiefer Bewusstlosigkeit.

»Sind Sie die Angehörigen?«, fragte die Schwester.

Magda nickte. »Wie schwer sind ihre Verletzungen?«

»Beten Sie für die junge Frau.«

 

Nebeneinander liefen Magda und Kuno durch die langen, ruhigen Gänge der Charité, in ihre schweren Gedanken versunken.

»Unser erstes gemeinsames Silvester hatten wir uns anders vorgestellt, nicht wahr?«, sagte er.

Magda strich ihm sanft mit den Fingerspitzen über die Wange, auf der sich ein frühmorgendlicher Bartansatz gebildet hatte. »Du hast mich beim Tanzen etwas gefragt. Ich war nicht dazu gekommen, dir zu antworten.«

»Was wird aus uns beiden? Meinst du das?«

»Ja, Herr Kommissar. Offensichtlich hast du trotz allem nicht den Faden verloren.« Sie lächelte ihn an. Er hatte auch gesagt: Ich habe mich in dich verliebt.

»Gerade bei den komplizierten Fragen passiert mir das nie.«

Sein Blick war so sanft, dass sie ihn auf seine stachlige Wange küsste. »Dies ist zwar nicht der richtige Ort dafür. Aber du hast dir deine Antwort redlich verdient.« Sie grinste frech. »Ich möchte, dass wir beide uns den Rest dieses …«, sie sah zur Uhr, »… erst zweieinviertel Stunden jungen Jahres schenken, Kuno. Es soll uns beiden gehören. In einem Jahr um diese Zeit fragen wir uns erneut, wie es mit uns weitergehen soll. Was hältst du davon?«

»Das ist eine sehr ernste Frage, Frau Fuchs. Gestatten Sie, dass ich Sie in die Arme schließe, bevor ich antworte?«

»Wenn das Ihrer Entscheidungsfindung dient: mit dem größten Vergnügen, Herr Mehring.«

Magda schloss die Augen und spürte ganz deutlich, dass dieser Mann nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken war.

 

Draußen überfiel sie das pralle Leben der Silvester feiernden Metropole. Schließlich war man hier in Mitte, wo die ersten Feiernden die großen Bälle verließen. Weintrunkene Frauen, deren Kleidung und Frisur nach dem langen Abend in Unordnung geraten waren, und bierselige Männer in derangierten Fracks und Smokings sangen die Schlager aus den Festsälen mehr schlecht als recht und vor allem laut weiter. Dazu wurde mit Papiertrompeten und Rasseln, die einen schwirrenden Ton erzeugten, Krach gemacht. Ein Chaos, das so gar nicht zu der nachdenklichen Stimmung passte, in der Magda und Kuno gerade waren. Die Stadtbahnstation Friedrichstraße war voller Menschen. Um im Gedränge nicht von ihm getrennt zu werden, hielt sie Kunos Hand.

»Das vor uns liegende Jahr …«, begann Kuno gegen den Lärm, »… was wird das mit uns anstellen? Wird es uns verändern?«

Würde diese Unwägbarkeit den entscheidenden Unterschied zwischen Verliebtheit und Liebe ausmachen? Sich gegenseitig zu erkunden – war das nicht das Reizvolle an diesem Abenteuer, das ein Leben lang dauern sollte, dachte sie und fasste seine Hand fester.

Bislang hatten sie noch nicht darüber gesprochen, wie dieser Abend enden sollte. Dass er eigentlich gar nicht enden sollte. Wäre dies Hildesheim, würde sie wohl darüber nachdenken, wann der richtige Zeitpunkt war, ihn mit nach Hause zu nehmen. Nicht, um mit ihm zu schlafen, dafür war es zu früh. Aber um das Erlebte mit sanfter Zärtlichkeit ausklingen zu lassen. Wobei ihr einfiel, dass sie ihre Wohnung in Hildesheim ausgeräumt und verlassen hatte.

Hier in Berlin in der »Pension Bleibtreu« hatten Männer generell keinen Zutritt. Sie war jetzt eine Frau von einunddreißig, Kuno ein Jahr älter. Doch der sogenannte Kuppelparagraf bestrafte jeden Hotelbetreiber oder Wohnungsbesitzer, der einem unverheirateten Paar eine gemeinsame Nacht gewährte.

Sie blickte zu ihm auf; Kuno war einen halben Kopf größer. »Ich habe dich noch nie gefragt, wo du wohnst.« Das war eine elegante Möglichkeit, um das Thema in dieser Phase ihres Kennenlernens schicklich anzudeuten.

Sie hatten nun die Station Savignyplatz erreicht. Hier war die Stadt bereits ruhiger, nur aus den wenigen kleinen Nachtclubs und Bars drangen Musik und der Gesang glücklich das neue Jahr Feiernder. Von der Bahn aus überquerte Magda gewöhnlich den von Bäumen umstandenen Platz nach Norden, um dann ein kurzes Stück die Kantstraße entlangzugehen und anschließend in die Bleibtreustraße einzubiegen. Nun dirigierte Kuno sie sanft in die Carmerstraße, die von der anderen Seite des Platzes abzweigte. Er blieb vor dem kleinen, jetzt allerdings geschlossenen Restaurant »Gute Stube« stehen. Hier hatten sie beide im letzten Herbst bei einem Glas Wein die Festnahme einer Kinderhändlerin gefeiert.

Kuno deutete auf die mehrstöckige Fassade des mit Stuck verzierten Gründerzeitbaus. »Dritter Stock«, sagte er und setzte hinzu: »Vorderhaus«, weil das einen erheblichen Unterschied in der Wohnqualität ausmachte.

Sie hörte den leicht übermütigen, triumphierenden Unterton in seiner Stimme. »Und was ist dort im dritten Stock, Vorderhaus?«, fragte sie mit einem Kribbeln im Bauch, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.

»Das erfährst du in ein paar Stunden. Dann bekomme ich von der Vermieterin meine Wohnungsschlüssel.« Kuno zog sie sanft an sich. »Oder ist zehn Uhr zu früh für dich?«

Jetzt wäre mir lieber gewesen, dachte sie.

 

»Lia, du bist die unermüdlichste Tänzerin, die ich kenne!«

Auf Edgars Stirn standen Schweißperlen, aber die Fliege an seinem Hemdkragen saß nach wie vor perfekt. Was nicht allen Herren gelang, wie Celia bemerkte.

»Ich habe viel nachzuholen!«, rief sie übermütig.

Sie genoss gerade ihren Schwips, schwebte wie auf Wolken und konnte gar nicht genug bekommen von diesem Tanz in das neue Jahr. »Willst du mir sagen, du brauchst eine Pause?«, fragte sie.

»Liebend gern«, sagte er, und sie spürte seine Erleichterung, als er den Walzer direkt nach der nächsten Drehung abbrach, um mit ihr an der Hand das Parkett zu verlassen.

Der üppig dimensionierte Wintergarten der schlossartigen Villa Hinnes, draußen im piekfeinen Dahlem, war als Ballsaal der Mittelpunkt eines rauschenden Silvesterfests. Einem Ball incognito, bei dem die Gäste die Augenpartie hinter Masken verbargen. Inzwischen hielt sich kaum jemand mehr an dieses Motto, auch nicht Celia und Edgar. Nur geladene Gäste hatten zu diesem privaten Fest Zutritt. Freunde der Familie, Vermögende und unermesslich Reiche, die sich mit Schönheiten und Schmeichlern schmückten. Celia kannte keinen Menschen außer Edgar und seiner vier Jahre jüngeren Schwester Cläre, die die Party mit Tanzkapelle und Auftritten von Unterhaltungskünstlern organisiert hatte.

Die große Standuhr im Salon, den sie nun betraten, behauptete zu Celias Überraschung, dass es halb drei war. Denn sie fühlte sich, als wäre die Zeit stehen geblieben. In dem großen Raum, wo man sich auf weichen Fauteuils und in behaglichen Chaiselongues vom ausgiebigen Tanzen erholte, reichten elegant gekleidete Ober Häppchen mit Kaviar und schenkten Champagner nach. Celia verzichtete dankend und sank auf eines der breiten Sofas. Jetzt spürte sie ihre vom vielen Tanzen ermüdeten Füße und lehnte sich sanft an Edgar.

Feste wie dieses kannte sie gar nicht. Ihr Leben war geprägt durch die bürgerliche Korrektheit ihrer Herkunft als Arzttochter. Dann war sie von ihrer Mutter in die Ehe mit dem dreiundzwanzig Jahre älteren Bankier Albert gezwungen worden. Allein schon, wenn sie das Silvester von vor einem Jahr mit diesem verglich!

Um halb eins hatte sie im Bett gelegen, neben Albert, der nach reichlichem Alkoholgenuss selig schnarchend schlief. Sie hatte lange wach gelegen, war wieder aufgestanden und auf den Balkon getreten. Es war eisig kalt gewesen, aber der Himmel mit einer unvergleichlichen Sternenpracht übersät. In dieser Nacht hatte sie beschlossen, sich scheiden zu lassen. Das hatte sie sich zwar schon in etlichen anderen Nächten vorgenommen. Aber die Silvesternacht war der wahre Wendepunkt gewesen. Einen Monat später war Albert tot.

So viel war seitdem geschehen! Vor allem aber hatte sie in dieser Zeit jemanden wiedergefunden, der ihr abhandengekommen war – sich selbst. Mit dem Beginn dieses Wintersemesters hatte sie das Medizinstudium begonnen, von dem sie so lange geträumt hatte. Albert hatte es ihr verboten, wozu er als Ehemann das Recht hatte. Doch nach seinem Tod war alles erst richtig kompliziert geworden …

»Du bist doch nicht etwa schon müde, Lia?«, fragte Edgars Schwester.

»Nur nachdenklich. Silvester ist ein guter Zeitpunkt dafür.«

»Du hast ein furchtbares Jahr hinter dir, Süße!«

Cläre legte ein derart übertriebenes Maß an Empathie in ihre Stimme, dass ihre etwa gleichaltrigen Freundinnen Mitgefühl bekundend aufstöhnten. Edgars Schwester, einundzwanzig und von kräftiger Statur, umgab sich gern mit ätherisch wirkenden Mädchen. Es schien, als sei der Kontrast ein Teil ihrer persönlichen Inszenierung.

Da fragte eines der Mädchen mit heller Stimme und großem Augenaufschlag: »Warum war letztes Jahr denn so schrecklich für dich, Celia?«

»Dummchen!« Cläre lachte derb. »Die Zeitungen waren voll davon.«

»Und liegen genau da, wo sie hingehören – im Müll«, ergänzte Celia.

»Du hast dich hervorragend geschlagen, Süße! Sie wollten dich in den Dreck ziehen. Aber du bist aus der Asche auferstanden.« Cläre blickte in die verständnislosen Gesichter ihrer Freundinnen und machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Lasst uns nach vorn blicken. 1922 wird fantastisch«, lautete Edgars Kommentar dazu.

Celia atmete erleichtert auf, dass den unerfreulichen Begebenheiten um Alberts Suizid, für den sie fälschlich wegen Mordes angeklagt worden war, keine weitere Beachtung geschenkt wurde.

Cläre beugte sich zu ihrem Bruder herüber und reichte ihm ein silbernes Etui. »Nimmst du noch ein Näschen?« Womit sie die schmale Schatulle aufschnappen ließ.

Als er ablehnte, gab sie die flache Dose an ihre Nachbarin weiter.

»Celia, du nachdenkliche Süße! Du musst das endlich auch probieren«, entschied Cläre. »Du wirst sehen, Kokain macht den Kopf frei von schweren Gedanken.«

»Ich mag meine schweren Gedanken«, widersprach Celia.

»Du solltest dir auch hin und wieder welche machen, Cläre. Sie machen das Leben gehaltvoller«, lästerte Edgar. Seine Schwester schniefte das Pulver mit einem Löffelchen. Dann blickte sie ihn an.

»Meines widme ich dem Vergnügen, wie du weißt, lieber Bruder. Denn in euren Firmen habe ich ja nichts zu suchen. Als Frau.«

Statt einer Erwiderung setzte Edgar ein säuerliches Lächeln auf, zu dem er die Mundwinkel leicht nach unten zog, was durch die Spitzen seines schwarzen Oberlippenbarts betont wurde. Überhaupt war sein gesamtes Auftreten von einer eleganten Distanziertheit geprägt. Was Celia schon attraktiv gefunden hatte, als sie beide sich hier auf der Terrasse seines Elternhauses, in dem er allerdings nicht wohnte, das erste Mal begegnet waren. Das war vor gut drei Monaten gewesen. Seitdem hatten sie erst ein paar Mal miteinander geschlafen. Wobei Edgar in diesen Nächten in ihr eine Hingabe erweckt hatte, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie dazu fähig war.

»Nun, ihr beiden Hübschen, was wird euch das neue Jahr bringen? Noch viele tiefgründige gemeinsame Gedanken?«, fragte Cläre spitz und tauchte das in der Schatulle befindliche Löffelchen in das weiße Pulver, um es blitzschnell in beide Nasenlöcher zu schniefen.

Celia nahm Edgars Hand, während sie aufstand. »Ich fürchte, für mich ist es an der Zeit, zuhause über die Antwort nachzudenken. Danke für das wundervolle Fest, Cläre.«

Seine Schwester stand auf und verabschiedete sich von Celia mit einer innigen Umarmung. Edgar schob sie das silberne Etui mit einem Grinsen und einem »Schönen Abend, großer Bruder« in die Tasche seines Smokings, wie Celia verwundert bemerkte.

 

Das Erdgeschoss der Villa von Edgars Eltern war so weitläufig und verfügte über eine solche Vielzahl von Salons, dass sich Celia noch immer keinen Überblick verschafft hatte. Sie mochte das Haus nicht. Es erinnerte sie entfernt an jenes in Lankwitz, das sie mit Albert bewohnt hatte. Zwar war hier alles um etliche Nummern großspuriger, aber Marmorsäulen und goldgerahmte Spiegel gab es ebenfalls mehr als genug. Gerade sah sie sich und ihn in einem davon. Auch Edgar bemerkte es, lächelte, jedoch anders als zuvor, weicher, verliebt. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Du bist wunderschön.« Edgars Hand strich zart über ihren weiten Halsausschnitt. Ein wohliger Schauer überlief sie.

Sie hatte sich für schlichtes Schwarz entschieden und war zufrieden mit ihrer Wahl. Obwohl sie damit unterging neben den anderen Damen dieses Fests, die fröhliche Farben, Glitzer und Goldlamé gewählt hatten. Schwarz ließ jedoch ihr blondes Haar intensiver leuchten. Auf Schmuck hatte sie völlig verzichtet, auch im Gegensatz zu allen anderen Damen.

Celia hätte Edgar auch gern ein Kompliment gemacht. In seinem Smoking, den er unvergleichlich ungezwungen trug, mit seinem vollen dunklen Haar und dem Schnauzbart wirkte er nicht nur südländisch, sondern auch älter als die vierundzwanzig, die er tatsächlich erst war. Sie verkniff sich die Schmeichelei, denn er wusste, wie blendend er aussah, und trat entsprechend selbstsicher auf. Weshalb Celia ihrem Herzen befohlen hatte, die Ruhe zu bewahren, wenn sie in seine Nähe kam. Der Mann war klug, gut aussehend – und sein Vater unermesslich reich. Letzteres allerdings beeindruckte sie am wenigsten. Ihr verstorbener Mann hatte ebenfalls viel Geld gehabt, glücklicher hatte das weder Albert noch sie selbst gemacht. Es beeindruckte jedoch andere junge Damen in einem Maße, dass Edgar als begehrtester Junggeselle von Berlin galt.

»Ein glückliches neues Jahr, mein Sohn!«, rief eine tiefe Männerstimme, als Edgar gerade Celias Arm nahm, um durch das großzügige Vestibül zum Hauseingang zu gehen. Sie trugen bereits beide ihre Mäntel, jener von Edgar mit Pelzbesatz, ihrer ein schlichtes Modell aus Wolle.

Edgar wandte sich um. »Vater! Man hat dich den ganzen Abend nicht gesehen. Ich wusste nicht einmal, dass du hier bist. Auch dir ein gutes neues Jahr!«

Bislang hatte Edgar wenig über seine Familie gesprochen und wenn, dann eher übellaunig: »Sie ist eher so etwas wie die Vereinigung von Interessen zur Erlangung eines gemeinsamen Ziels.« Cläres heutiges Auftreten hatte ihr die Schwierigkeiten innerhalb der Familie vor Augen geführt.

Der Herr, der nun mit festem Schritt auf Celia und Edgar zukam, war etwas kleiner als sein ältester Sohn. Er trug weder Smoking noch Frack, sondern einen Straßenanzug mit Weste und Krawatte. Sein Bürstenhaarschnitt in Verbindung mit einem etwas ungepflegt wirkenden Vollbart gab ihm etwas Burschikoses, das im Gegensatz zum lässigen, aber elitären Auftreten seines Sohnes stand.

An Alberts Seite war Celia zahlreichen erfolgreichen Männern begegnet. Keiner von ihnen hatte in ihr mehr als die hübsche Gattin des Bankiers von Liebenau gesehen. Ihr eigenes Desinteresse an diesen Herren war eine Art von stiller Rache an ihnen. Woher der Reichtum von Alfred Hinnes rührte, damit hatte sie sich auch während ihrer noch recht kurzen Bekanntschaft mit seinem Sohn nicht beschäftigt. Sie wusste darüber gerade so viel wie wohl alle Deutschen: Ihm gehörten unzählige Firmen.

Jetzt jedoch dachte sie, dass seine Unauffälligkeit so gar nicht zu seinem pompösen Haus passte. Seine Körperhaltung strahlte Energie aus, sein Lächeln war zurückhaltend, sein Blick musterte sie mit unverhohlenem Interesse.

Edgar bemerkte das sehr wohl. »Celia von Liebenau«, stellte er sie vor. Was insofern bemerkenswert war, als er die Anrede wegließ, wie man es für gewöhnlich tat.

»Gemeinsam in das neue Jahr hineinfeiern … Das ist ein schöner Brauch«, sagte Alfred Hinnes. »Manche Leute versprechen sich von einer solchen Nacht einen Ausblick in die Zukunft.«

Im ersten Augenblick war Celia überfordert. Was sollte diese gewundene Redewendung bedeuten? Ihr Gefühl sagte ihr, dass die Worte nicht das warmherzige Willkommen waren, mit denen der freundlich lächelnde Mund sie aussprach.

»Ich wünsche Ihnen ebenfalls ein gutes neues Jahr, Herr Hinnes«, erwiderte sie.

»Vielen Dank, gnädige Frau.«

Celia hatte so viele Eindrücke zu verarbeiten nach dieser Nacht und so viele Menschen gesehen und auch zu viel getrunken. Deshalb stutzte sie kurz, weil sie spürte, dass an diesem Satz etwas nicht stimmte.

 

Celia fror, sie war übermüdet. Das leichte Zittern ließ sich nicht verbergen, trotz der beiden Decken, in die sie gehüllt war. Ab und an sah Edgar zu ihr hinüber, lenkte den Wagen ansonsten schweigend durch die verschneite Neujahrsnacht. Auch er hatte zu viel getrunken und musste sich sehr konzentrieren, sodass ihm offenkundig die Kraft fehlte, sie in ein ablenkendes Gespräch zu verwickeln. Edgar hatte sie in gewisser Weise vor seiner Familie gewarnt. Sandte der Auftritt seines Vaters genau dieses Signal: Dass sie nicht willkommen war?

Genau genommen gab es für sie keinen Grund, sich darüber zu ärgern. Sie hatte mit Edgar wunderbare Stunden verbracht und manchmal sogar einen ganzen Tag. Mehr sollte daraus nicht werden. Darauf hatten sie beide sich von Anfang an geeinigt. Edgar hatte dafür an dem Abend, als sie einander kennengelernt hatten, einen seltsamen Begriff gebraucht. Der Ingenieur hatte von einer Schnittmenge gesprochen, die sie beide doch entdecken sollten. Sie hatte sich darüber amüsiert, weil sie es ungewöhnlich fand, eine mögliche Liebesbeziehung mit einem Begriff aus der Mathematik einzuleiten.

Dass ausgerechnet dieser Mann sie umwarb, hatte ihrem Selbstbewusstsein geschmeichelt. Wochenlang hatte sie sich geziert, bis sie zugelassen hatte, diese Schnittmenge zu entdecken – in den Laken von Edgars Bett. Sich mit ihm öffentlich zu zeigen, war undenkbar, wenn sie keinen Skandal provozieren wollte. Die Silvesternacht war der erste gemeinsame gesellschaftliche Auftritt. Die dumme Frage einer von Cläres Freundinnen war der Beweis für die Richtigkeit ihres bisherigen Vorgehens.

Je länger sie grübelte, desto klarer wurde ihr, warum sie die Äußerung von Edgars Vater so irritierte. Er hätte sie Fräulein nennen müssen. Die Anrede gnädige Frau wurde für eine Gattin verwendet. Als Alberts Ehefrau hatte man sie so angesprochen. Sie hatte es gehasst. Es machte alt. Aber warum sprach Herr Hinnes sie so an? Wusste er, wer sie war? Wer hatte ihm das verraten? Edgar? Unwahrscheinlich.

Cläre? Einerseits war sie Celia heute Nacht beigesprungen. Aber sie hatte wohl ein enges Verhältnis zu ihrem Vater. Alfred Hinnes mochte seine Tochter vielleicht nicht als Mitarbeiterin haben wollen. Aber hatte er ihr deshalb als Geste der Versöhnung eine ganze Rennstrecke entlang des Grunewalds geschenkt, die sogenannte AVUS? Sie nutzte sie weidlich, wie Celia seit dem Tag ihres Kennenlernens mit Edgar wusste. Damals war sie mit ihrem Auto dort entlanggerast. Eine komplizierte Familie. Und ein seltsames Mädchen. Celia wurde aus beidem nicht schlau.

 

Schließlich stoppte Edgar den Wagen direkt vor seiner Wohnung am Bayerischen Platz in Schöneberg. Hier besaßen viele vermögende Menschen Stadtwohnungen, die auch über das Geld verfügten, sich ein Automobil leisten zu können. Am Neujahrsmorgen jedoch war kaum ein Fahrzeug hier.

Während sie die breite Treppe in die Beletage zu Edgars Wohnung nach oben stiegen, griff er bereits nach ihrer Hand und küsste sie.

»Mir ist kalt«, sagte sie.

»Ich habe den Butler von der Villa aus angerufen. Er hat ein heißes Bad vorbereitet, mein Liebling.«

Obwohl sie sich in elitären Kreisen bewegte, kannte sie niemanden, der sich statt einer Haushälterin einen Butler leistete. Was allerdings zu Edgar passte; er gab sich ein klein wenig exaltiert.

»Gutes neues Jahr, Bergmann«, sagte Edgar und drückte einen Geldschein in die Hand seines Dieners. Er war nur etwa zehn Jahre älter als sein Chef.

»Von mir auch, Herr Bergmann«, ergänzte Celia.

»Sehr liebenswürdig, gnädige Frau.«

Da war sie wieder, die ungeliebte Formel! Aber sollte der Butler ihres Liebhabers sie Fräulein nennen? Es war kindisch, was sie sich da zusammenreimte!

Edgars Hund Emil drängte heran, um sein Herrchen zu begrüßen. Celia ließ die Finger durch das weiche cremefarbene Fell des Schafpudels gleiten. Gemeinsam gingen sie über den langen Flur. Galant öffnete Edgar die Tür zum Bad. »Bis gleich.« Er küsste sie auf die Wange.

Im Badezimmer streifte sie ihre Kleidung ab. Dabei fiel ihr Blick in den Spiegel schräg gegenüber der Badewanne. »Gnädige Frau, welche Vorsätze fassen Sie für dieses Jahr?«, fragte sie ihr Spiegelbild und blickte ernst. »Sie haben sich Ihren großen Traum erfüllt: Sie sind Studentin der Medizin, meine Liebe. Also studieren Sie brav. Das reicht als Vorsatz.« Mit wohligem Grinsen tauchte sie ins heiße Wasser ein. Das neue Jahr begann wirklich gut. Und was ging sie Edgars Vater schon an?

Die Tür öffnete sich. Edgar kam im Morgenmantel herein, zwei Gläser mit Champagner in der Hand. Er reichte ihr eines, legte das Kleidungsstück ab und stieg zu ihr in die Wanne.

»Was wird denn das?«, fragte sie scherzend. Ein gemeinsames Bad? Das gehörte sich doch nicht! So etwas geschah allenfalls in dem erotischen Roman, den sie in den freudlosen Jahren ihrer Ehe gelesen hatte.

»Lass uns das neue Jahr so beginnen, dass es uns beiden im Gedächtnis bleibt.«

»Du bist verrückt!«

»… nach dir!«

 

Das Abendkleid färbte das Wasser in der Badewanne nicht mit dem Blut von Doris rot, wie Magda erwartet hatte, sondern schwarz. Wieder und wieder drückte sie es vorsichtig aus und hängte es zum Trocknen auf einen Bügel. Ihre Verliebtheit hatte sie das Schicksal des Mädchens kurzzeitig vergessen lassen. Die unvermeidliche Rückkehr in die Pension, weil auch Kuno noch ein paar Tage zur Untermiete wohnte, ließ sie wieder an das Geschehen während des Balls denken.

In der Pension war am Neujahrsmorgen alles ruhig. Nur aus der Küche hörte Magda Arbeitsgeräusche. Köchin Liesl, wie an jedem anderen Morgen in weißer, akkurat gebügelter Schürze über dem heute geblümten Kittelkleid, schlug gerade Eier in eine Kasserolle. Es duftete nach Kaffee. Die Küchenuhr zeigte neun Uhr.

»Ein gutes Neues! Na, Frau Doktor, Sie ham ja was erlebt heut Nacht!«, platzte Liesl los. »Fräulein Hausner hat scho alles in die Zeitung g’schrieben. Sie kommen auch drin vor.«

Seit Jahrzehnten wirkte Liesl als das gute Herz der Pension, doch ihren leicht bayerischen Zungenschlag hatte sie sich bewahrt.

Im noch menschenleeren Frühstücksraum, der sich neben der Küche befand, lag die Berliner Morgen-Zeitung bereits auf Magdas üblichem Platz. Der Aufmacher war es nicht geworden, sondern nur die zweitgrößte Geschichte auf Seite eins: Hinterhältiges Attentat beim Silvesterball. Kuno wurde zitiert, allerdings nur ganz vage: »Die Polizei Berlin ermittelt in jede Richtung.« Die »zufällig anwesende Polizeiärztin Magda Fuchs leistete bei der jungen Tänzerin beherzt Erste Hilfe« und Professor Bier wurde wörtlich zitiert. Der Artikel war kurz und ohne Fotos, was Magda freute. Erikas normaler Sensationsstil war wohl in der Hektik auf der Strecke geblieben. Was völlig fehlte, war der wahre Name des Opfers, der von Doris Kaufmann. Sie war nur Conchita.

Liesl schob das Rührei auf Magdas Teller. »Wohl bekomm’s, Frau Doktor.« Sie deutete auf die Zeitung. »Wird das Maderl wieder g’sund?«

»Gegen Mittag werde ich sie besuchen.« Sie zögerte einen Moment. »Es ist unsere Doris, der das angetan wurde.«

»Jessas, na!« Liesl rückte sich den Stuhl an Magdas Tisch zurecht und ließ sich darauf fallen; es war der, auf dem Doris sich oft zum Frühstück niedergelassen hatte. »A bisserl unvernünftig is es ja, das Fräulein Doris. Aber so was! Wer war denn des? Des wissen S’ doch gewiss scho.«

Bevor Magda zu einer Antwort ansetzen konnte, sagte Liesl: »Is a Geheimnis, gell?« Sie stand abrupt auf. Als wollte sie lieber keine Details aus Doris’ Leben erfahren. Sie ahnte wohl, dass es davon zu viele gab. »I mach a Rohrnudel für ’s Fräulein Doris. Die mag s’ so gern! Des wird sie freu’n.«

Als Magda später ihr Zimmer verließ, um sich mit Kuno zu treffen, begegnete ihr Erika im Flur. Ihr langes dunkelblondes, gewelltes Haar ließ sie viel weicher erscheinen als ihre übliche harte Aufmachung als Reporterin. Sie wirkte übernächtigt.

»Danke, Erika«, sagte Magda. »Das haben Sie wirklich sehr dezent gemacht.«

Das unerwartete Lob ließ deren müdes Gesicht aufleuchten. »Das ist erst der Anfang! Als ich vom Krankenhaus zur Redaktion gehetzt bin, habe ich mir etwas überlegt. Ich werde unsere kleine Doris berühmt machen.«

»Wie denn das?«

»Sie wollte doch immer ein Glanz werden. Oder etwa nicht? Das ist die Gelegenheit. Sie werden es erleben.«

 

Schon als Magda in die Carmerstraße einbog, sah sie Kuno. Die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben, stand er vor dem Haus, in dem sich im Erdgeschoss das nette Weinlokal befand. Er hatte Magda noch nicht bemerkt, doch die Tatsache, dass er ihretwegen hier war, um ihr seine neue Wohnung zu zeigen, gab ihr das unvergleichliche Gefühl, erwartet zu werden. Da war ein Mann, dessen Gedanken und Empfinden in diesem Moment genauso auf sie gerichtet waren wie ihre auf ihn. Die Vorfreude auf den anderen wärmte bereits so, wie es eigentlich nur seine Nähe konnte. Es war wohl kein Zufall, dass er sich eine neue Wohnung einen Katzensprung von der Pension und ihrer Praxis entfernt genommen hatte. Dabei fiel ihr ein, dass er noch nie in ihrer künftigen Wirkungsstätte gewesen war. Eins nach dem anderen, dachte sie und lächelte glücklich vor sich hin.

Er ging auf sie zu, die Arme ausgebreitet. Der sanft niedergehende Schnee schmückte die breite Krempe von Kunos Hut mit einem weißen Schleier, der sie kitzelte, als die Flocken bei seiner Umarmung in ihr Gesicht rieselten.

»Wartest du schon lange?«, fragte sie.

»Ich habe so lange auf dich gewartet.«

Im ersten Moment erschrak sie; sie war schließlich wegen des Gesprächs mit Erika ein paar Minuten zu spät dran. Dann begriff sie die doppelte Bedeutung seiner Worte. »Wirklich?«

»Obwohl ich nicht wusste, dass es dich gibt, hast du mir gefehlt.« Er nahm ihren Arm und blickte ihr tief in die Augen. »Ich bin alt genug, um zu wissen, wenn ich den richtigen Menschen gefunden habe.«

»Und das sagst du mir einfach so auf der Straße?« Sie lachte.

Kuno nickte ernsthaft. »Für die Wahrheit findet sich immer der richtige Ort.«

Das Haus verfügte bereits über eine moderne elektrische Klingelanlage, auf der er einen Knopf drückte. Es summte.

Eine füllige kleine Dame in ihren späten Fünfzigern erwartete sie auf dem Treppenabsatz zur Beletage.

»Herr Kommissar, ein gutes neues Jahr!« Auf ihrem Gesicht lag ein Strahlen, das erlosch, sobald sie Magda wahrnahm. »Guten Tag?«, fragte sie, als meinte sie: Was wollen Sie denn hier?

»Frau Vogel, darf ich Ihnen bei der Gelegenheit Frau Fuchs vorstellen?« Übergangslos fügte er hinzu: »Frau Fuchs hat gleich um die Ecke in der Bleibtreustraße eine gynäkologische Praxis eröffnet.«

Die Miene der Vermieterin änderte sich erneut. »Ach, Sie sind die Nachfolgerin des seligen Doktor Fahrland? Dann seien Sie mir herzlich willkommen, Frau Doktor! Da wird man sich gewiss öfter sehen.« Sie reichte Kuno einen Schlüsselbund. »Sie kennen sich ja bereits aus, Herr Kommissar. Dann muss ich mich nicht bemühen. Einen schönen Tag noch.«

Sie machte kehrt und bereits beim Betreten ihrer eigenen Wohnung rief sie: »Ilse, denk dir nur: Die Frau Doktor, die Doktor Fahrlands Praxis übernimmt …« Die ins Schloss fallende Tür schnitt den Satz ab.

»Gefällt mir, wie du für mich Werbung machst«, sagte Magda mit breitem Lächeln.

»Frau Vogels Tochter ist die gerade erwähnte Ilse«, erklärte Kuno diskret beim Treppensteigen. »Anfang zwanzig, schätze ich. Frau Vogels Gatte ist gefallen. Sie hat’s wohl nicht einfach mit ihrer Ilse.«

Er sperrte im dritten Stock auf. Dass die Wohnung so groß sein würde, hatte Magda nicht erwartet. Von einem zentralen Flur gingen drei große Zimmer, Küche und Bad ab. Es lag ihr auf der Zunge zu sagen, dass das für einen Junggesellen eindeutig zu üppig dimensioniert war. Gerade rechtzeitig kombinierte sie, dass Kuno wohl ein Mann war, der schon für eine Zukunft vorausplante, die eigentlich noch sehr weit entfernt war. Als täte man den vierten Schritt vor dem ersten. Gleichzeitig überkam sie wieder dieses wohlig warme Gefühl von Vertrautheit.

Kuno lief schon herum, drehte das elektrische Licht in allen Räumen an, die Wasserhähne in Küche und Bad auf und zu, machte sie auf die verzierten Kachelöfen in jedem Raum aufmerksam, die fast bis zur stuckverzierten Decke reichten, und pries den Blick vom Eckzimmer – dem künftigen Wohnzimmer – auf den Savignyplatz, von dem noch ein kleines Stück zu sehen war. »Wir sind zwar im dritten Stock, aber umso besser ist die Sicht und umso heller die Wohnung. Was meinst du?« Er sah sie erwartungsvoll an.

»Ist es nicht etwas zu groß für einen alleinstehenden Herren?«, fragte sie schmunzelnd.

»Du hast vollkommen recht. Daran hatte ich gar nicht gedacht.« Er blickte zur Decke, als erwarte er eine himmlische Eingebung, um sein Problem zu lösen. »Ich hab’s: Ich werde überhaupt nicht einziehen. Einverstanden?«

»Keinesfalls!« Sie nahm ihn in die Arme und gab ihm einen langen Kuss. »Ich mag die Wohnung.« Sie grinste. »Fast so sehr wie ihren Mieter.«

»Heißt das, du könntest dir vorstellen, mich gelegentlich hier zu besuchen?«, fragte er und führte sie in die bis auf eine Spüle noch leere Küche.

»Könnte ich mir in der Tat vorstellen.« Sie blickte ihn herausfordernd an. »Und wer wird hier kochen?«

»Keine Sorge. Es gibt Personal.« Er zwinkerte ihr zu. »Der Wirt im Erdgeschoss hat versprochen, uns mit seinen pfälzischen Leckereien zu verköstigen.«

»Das sind ja schöne Aussichten!« Sie küsste ihn noch einmal.

 

»Ja, ja, ich erinnere mich. Sie waren heut Nacht schon hier«, sagte die schmächtige Diakonisse. »Wegen der Tänzerin.«

Die in der Charité beschäftigten evangelischen Krankenschwestern trugen graue Kleidung mit Schwesternbrosche – einem roten Kreuz im dunklen Kreis. In ihrer Heimatstadt Hildesheim hatte Magda ein paar Jahre lang in einem katholischen Krankenhaus gearbeitet und es während des Kriegs bis zur Stationsärztin in der Frauenabteilung geschafft. Das Verhältnis zu den von ihrem Glauben geleiteten Schwestern war nicht immer einfach gewesen, denn die vertraten in aller Regel die Ansicht, dass es die Aufgabe einer Frau war, nicht Ärztin, sondern Mutter zu sein. Diese Schwester wusste nicht, dass sie Medizinerin war; sie hielt sie nach wie vor für eine Angehörige.

»Wie geht es meiner Freundin?«, fragte sie, obwohl diese Bezeichnung nur den Umständen geschuldet war.

»Unverändert. Sie schläft. Aber sagen Sie mal …« Die Diakonisse blickte Magda misstrauisch an. »Eine Argentinierin ist das nicht, oder? Die redet wie wir. Wenn es träumt, das Frollein.«

»Sie heißt Doris Kaufmann und kommt aus Elberfeld«, sagte Magda. »Ein ehrgeiziges Mädchen, das viel vorhat.«

Magda wusste selbst nicht genau, weshalb sie diese Worte wählte. Vielleicht, weil Doris’ Pflege in den Händen der gottesfürchtigen Frau lag. Die nie und nimmer all ihre Menschenliebe aufwenden würde für die Doris, die Magda erlebt hatte. Jenes leichtlebige Mädchen, das vor aller Augen im Kabarett »Die weiße Maus« in der Friedrichstraße barbusig auf den Schoß eines dicklichen Herren gesprungen war, um sich später über die rasch verdienten vierzig Mark zu freuen.

Eines von Tausenden junger Mädchen in dieser Stadt, das hoffte, etwas vom Glitzer der Metropole Berlin möge auf sie abfärben. Moral, das hatte Magda einsehen müssen, konnte sich ein voller Magen eher leisten als ein leerer. Aber das war nicht die ganze Doris, davon war sie auch überzeugt. Das Mädchen hatte im »Admiralspalast« ihr Talent als Tänzerin bewiesen. Vielleicht taugte sie auch als Schauspielerin, damit kannte sich Magda nicht aus. Doch sie fand, Doris verfügte über ein inneres Leuchten, mit dem sie andere Menschen für sich gewinnen konnte. Leider ging sie damit gelegentlich so verschwenderisch um, dass Magda fürchtete, das Mädchen könnte für sich selbst zur Gefahr werden.

Im Moment lag Doris leichenblass in weißen Kissen. Magda rückte einen Stuhl an ihr Bett. Nicht zum ersten Mal war sie Menschen in tiefster Bewusstlosigkeit so nah. Einige Frauen waren nach schweren Operationen nie wieder aufgetaucht aus dem unergründlichen Zwischenreich von Leben und Tod. Bislang wusste sie nicht einmal, was Professor Bier überhaupt operiert hatte.

»Schlafen Sie sich gesund, Doris«, sagte Magda. »Träumen Sie von dem, was Sie erwartet. Die Scheinwerfer, die …« Sie hatte keine Ahnung, wovon eine künftige Schauspielerin träumen mochte! »… die Kameras, die Sie filmen.« Sie seufzte. »Sie sind jung und stark. Leben Sie weiter, Doris. Denken Sie daran, was Sie erreichen wollen – ein Glanz werden.«

Das blutleere Gesicht blieb ohne Regung. Magda kam sich dumm vor, dass sie, eine Ärztin, mit einer Bewusstlosen sprach. Gleichzeitig ließ sie der Gedanke, wie schnell große Träume platzen konnten, mit den Tränen kämpfen. Sie gab Doris’ Hand frei. »Ich sehe morgen wieder nach Ihnen.«

»Frau Doktor«, sagte Doris plötzlich mit vom Betäubungsmittel schwerer Zunge und blickte sich um. »Wo bin ich? Ist das ein … Bin ich im Krankenhaus?«

»Ja, Fräulein Doris, das sind Sie.« Jetzt ließen sich die Tränen der Erleichterung nicht mehr zurückhalten. Sie suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.

»Sie dürfen nicht weinen, Frau Doktor.«

»Ich weine nicht, Fräulein Doris. Ich freue mich nur, dass Sie wieder wach sind. Wie geht es Ihnen? Haben Sie Schmerzen?«

»Mein Bauch tut weh. Das zieht so.« Sie schlug die Decke zurück.

»Nicht! Sie sind frisch operiert. Sie müssen ganz still liegen.«

»Was ist denn passiert? Warum bin ich hier?«

»Im ›Admiralspalast‹ … Sie erinnern sich nicht?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Plötzlich wurde sie lebhafter. »Mein Kleid! Das neue Ballkleid, das weiße! Wo ist das?«

Magda nahm Doris’ Hände in ihre, während sie sich fragte, ob es sein konnte, dass das Mädchen tatsächlich nichts mehr von dem Angriff auf sie wusste. Wenn dem so war, würde sie behutsam vorgehen müssen. Sonst würde die Patientin sich so erschrecken, dass ihr das schlecht bekäme. »Sie werden hier gut versorgt. Alles andere wird sich später noch regeln lassen. Hauptsache, Sie werden gesund«, sagte sie.

Ob es so kommen würde, musste sich allerdings erst noch zeigen.

 

Celia streckte den Arm aus; das Bett neben ihr war kalt. Die schweren dunklen Vorhänge waren noch geschlossen, nur dort, wo die beiden Hälften sich trafen, blinzelte ein Lichtstrahl herein. Die Helligkeit reichte, um die Uhr am Handgelenk zu erkennen: fast elf.

»Edgar?«, fragte sie und bekam keine Antwort. Da auch der Hund nicht da war, der sich für gewöhnlich am Ende des Betts zusammenrollte, wusste sie, dass sie allein war.

Sie richtete sich auf und die Erinnerung an die Nacht kehrte zurück. Neben dem Bett lag das schlichte silberne Etui wie der Verräter eines Geheimnisses. Das Kokain hatte Edgar stimuliert, wie ein Verrückter über sie herzufallen. Seine hungrige Leidenschaft hatte sie regelrecht aufgefressen. Es hatte ihr gefallen, lebendig hatte sie sich gefühlt, ihr Körper geglüht. Doch der Blick auf das kalte Silber des Behältnisses verbunden mit ihrem Alleinsein verursachte Unwohlsein. Sie meinte an einem Ort zu sein, an den sie eigentlich nicht gehörte. Das Gefühl der Fremdheit wurde verstärkt durch die Zweifel, wie echt seine Liebe für sie war. Oder ob das Rauschgift sie überhaupt erst so überwältigend machte.

Sie wickelte sich in einen mit Seide gefütterten dicken Morgenmantel und zog die Vorhänge zur Seite. Der Blick ging über den ganzen Bayerischen Platz, dessen junge Bäume winterkahl waren. Edgars Auto parkte nicht mehr vor dem Haus, wo er es abgestellt hatte. Er war nicht Gassi gegangen mit Emil, sondern wirklich fort. Auf dem Nachttisch ihrer Seite des Bettes hatte er auf einem Blatt Papier mit seinem Briefkopf eine Nachricht mit akkurater Handschrift hinterlassen.

Ich bin um 19 Uhr zurück. Mach es dir gemütlich. Bergmann bringt dir, was immer du möchtest. Ich küsse dich, E.

Ein Neujahrsmorgen mit dem Butler, das ist eine neue Erfahrung. Nicht mal Albert hat das hinbekommen, dachte sie bitter, ließ das Blatt los und sah zu, wie es auf den Boden trudelte. Im Bad machte sie sich frisch, fand aber ihre Kleidung nicht. Als sie herauskam, reichte Bergmann ihr alles.

»Ich habe mir erlaubt, Ihre Garderobe aufzubügeln, gnädige Frau.«

»Danke, Herr Bergmann, das ist ganz reizend. Wann ist er denn fort?«

»Der gnädige Herr? So gegen halb acht, denke ich.«

»Heute? An Neujahr?« Obendrein war Sonntag. »Wissen Sie, wohin?«

»Leider nicht, gnädige Frau. Der gnädige Herr schläft nicht viel, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

Sie zog sich rasch an, traf den Butler beim Hinausgehen und sagte nur: »Wiedersehen, Herr Bergmann.«

»Sie gehen?« Er blickte verblüfft. »Darf ich Ihnen denn gar nichts …«

»Vielen Dank.«

Sie war fast zur Tür hinaus, als er ihr beinahe nachrief: »Für wann darf der gnädige Herr Sie zurückerwarten?«

Celia eilte die Treppe hinab, aber sie antwortete nichts mehr. Sie und Edgar wollten nur eine Schnittmenge bilden. Darauf hatte sie sich eingelassen. Doch das Gefühl, das es bei ihr hinterließ, war erschreckende, ungeahnte Kälte.

 

Der Himmel des Neujahrsmorgens war grau, Schneeflocken rieselten, es war niemand unterwegs. Celias Ziel lag einen ausgiebigen Spaziergang entfernt an der Ecke Uhlandstraße und Kurfürstendamm. Die Gegend hier war bis 1920 eine eigene, stolze Großstadt gewesen, Charlottenburg. Seitdem die Ansammlung verschiedener Städte und Dörfer zu Groß-Berlin verschmolzen worden war, war eine gebürtige Charlottenburgerin wie Celia darauf bedacht, nicht aus dem Millionen-Menschen-Moloch zu stammen. Sondern aus Berlin West. Die Gegend mit dem Auguste-Viktoria-Platz und der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Zentrum galt weltweit als mondänes Ausgehviertel, als Herz der Weltstadt.

Ecke Uhland, wie man sagte, befand sich das Haus Kronstatt. Es verkörperte das Selbstbewusstsein der Gegend und seines Besitzers: Zwei gigantische Steinskulpturen in Form nahezu unbekleideter Frauen, trugen das Eingangsportal, über dem in großen Lettern der Name des Erbauers stand. Auch, wenn Josef Kronstatt so gut wie nie zuhause war.

Nach dem Freitod ihres Mannes und der anschließenden Hexenjagd auf sie hatte Celia bei der Familie ihrer ältesten Freundin Unterschlupf gefunden. Ihre eigene Mutter – die Vermittlerin dieser Ehe – hatte ihr Alberts Tod angelastet und sie verstoßen.

»Ich wünsche Ihnen ein glückliches neues Jahr, gnädige Frau«, begrüßte sie der einarmige Portier Norbert. Am liebsten hätte sie ihn gebeten, zu der Anrede von vor vier Jahren zurückzukehren, als sie noch Fräulein Celia gewesen war. Und mit einem Schlag wusste sie, welches Vorhaben sie in diesem Jahr unbedingt umsetzen würde: Sie musste Alberts Namen loswerden und den ihres Vaters zurückbekommen.

In der Beletage, in der die Familie von Celias Freundin seit Kindheitstagen wohnte, trugen die Dienstmädchen Speisen die langen Flure entlang. Punkt zwölf wurde sonntags zu Mittag gegessen. Hastig wechselte Celia ihre Kleidung. Im Spiegel entdeckte sie nun kleine blaue Flecken am Bauch und an den Oberschenkeln und einen weiteren am Hals. So brutal hatte er sie nie zuvor geliebt. War das überhaupt noch Liebe? Aber was wusste sie schon von Liebe? Schließlich hatte sie vor Edgar Liebe als Besitzdenken erlebt.

Sie bürstete ihr schulterlanges blondes Haar aus und kaschierte den Fleck am Hals mit einer Stola. Sie war eigentlich nicht in der Verfassung, sich dem Neujahrsessen zu stellen, aber das wäre unhöflich gewesen. Schließlich verdankte sie Kronstatts nicht zuletzt den Umstand, dass sie studieren konnte. Ohne deren Hilfe war sie mittellos, solange sie nicht …

Das Klopfen an der Tür unterbrach ihre düsteren Gedanken. Mit glücklichem Lächeln kam Josefine herein, das herrliche dunkle Haar zum strengen Dutt gebunden und ein weiches Lächeln im Gesicht. »Hast du etwa einen Kater?«, fragte sie und nahm Celia in die Arme. »Ich wünsche dir ein wunderbares Jahr mit ganz viel Glück bei allem, was du tust.«

»Danke! Und wie war dein Silvester? Du hast mit Walter gefeiert? Ist alles gut mit euch?«

Josefine, zwei Jahre älter als Celia, hob lächelnd ihre linke Hand, an der ein schmaler goldener Reif auf dem Ringfinger saß. »Null Uhr eins war es, da hat er gefragt, ob ich seine Frau werden will.«

»Ich freue mich so für dich, nein: Ich freu mich für euch. Ihr passt so gut zusammen.«

»Du bist einverstanden?«

»Aber wie kannst du nur so einen Unsinn fragen! Walter und ich, das war ein Irrtum. Wir meinten, die Zeit zurückdrehen zu können, du weißt das. Du kennst ihn länger als ich. Du hast dieses Glück verdient. Und er auch. Nein, bitte, das darf nie wieder ein Thema zwischen uns sein.«

Sie meinte jedes Wort, das sie sagte. Ihre noch aus der Backfischzeit herrührenden Gefühle für Walter waren längst erloschen. Ob Finis Entscheidung richtig war, stand auf einem anderen Blatt. Walter war mit schweren seelischen Wunden aus dem Krieg heimgekehrt. Sie hoffte, dass die Freundin sich nicht zu viel zumutete, mit ihm eine Familie aufzubauen, zu der schließlich auch Finis Tochter Adelheid gehören würde.

»Und du, Lia, wo hast du gefeiert?«

Als Celia ein paar Andeutungen machte, spürte sie, wie Josefines Interesse nachließ. Obschon selbst mit allem Luxus aufgewachsen, war Fini ein bodenständiger Mensch geblieben. Deshalb passte Walter durchaus zu ihr. Es erschien Celia angebracht, das Thema zu wechseln. Verliebte wollten ihr Glück genießen und sich nicht darüber den Kopf zerbrechen, wie haltbar es war.

»Ich habe Hunger. Gehen wir?«

Wie bestellt kam den beiden Frauen Walter im Korridor entgegen, strahlte seine Verlobte Josefine an und begrüßte Celia mit einem zurückhaltend vornehmen Handkuss. Er war groß, sehr schlank mit breiten Schultern. Ein Mann, das wurde Celia durch die wenige Stunden zurückliegende Nacht mit Edgar klar, der nicht attraktiv war, sondern mit seinem Grübchen im Kinn und den hohen Wangenknochen hübsch. Ein Attribut, das man Frauen zuordnete. Vielleicht war sie voreingenommen, aber Edgar sah man seine verborgene Aggressivität an, Walter seine Sanftheit. Er spürte, dass sie ihn wohl mit anderen Augen musterte, und blickte verlegen fort.

 

Josef Kronstatt klopfte zwei Mal sanft mit einem Dessertlöffel gegen sein geschliffenes Weißweinglas, das zu einem Viertel gefüllt war.

»Eine Tischrede zu halten, ist nicht meine Stärke. Ich bin ein Mann, dem Taten lieber sind als Worte. Aber gut, heute ist schließlich Neujahr und …« Er machte eine Pause und blickte in die Runde.

Obwohl sie schon eine Weile bei der Familie wohnte, war Celia dem Hausherrn kaum begegnet. Er war Mitte fünfzig, von gedrungener Gestalt und trug einen sorgsam gestutzten dunklen Vollbart, wie er bei wichtigen Männern in Mode war. Celia mochte den Vater ihrer Freundin vor allem wegen des Schalks in seinen Augen. Er nahm sich selbst nicht zu wichtig.

»Zum Glück geht es nicht um mich. Deshalb halte ich jetzt gern eine kleine Rede. Josefine, du stehst im Mittelpunkt. Ich freue mich, dass du und Walter einen großen Schritt aufeinander zu tun. Adele …« Josef Kronstatt wandte sich an seine neben ihm sitzende Frau. »Meine liebe Gattin, deren großes Steckenpferd die Handarbeiten sind, hat an eurer Verbindung fleißig gestrickt. So heiße auch ich dich, Walter, hier von ganzem Herzen willkommen. Auf dass diese Familie wachse und gedeihe.«

Josefine war anzusehen, wie gut es ihr tat, dass Walter willkommen war. Sie saß zwischen ihrem Verlobten und Heidi. Die Fünfjährige war ohne ihren Vater aufgewachsen; Reinhard war im Krieg gefallen.

»Ich werde es wie gewohnt Adele überlassen, an der weiteren Zukunft zu stricken – an eurer Hochzeit.« Er räusperte sich. »Ich hoffe, nein: gestattet, wenn ich dramatisch werde, ich bete, dass deine Brüder zu diesem Tag aus New York anreisen werden, Josefine. Es ist lange Jahre her, dass Wolfgang und Heinrich hier waren. Dabei ist Familie das, was uns Halt bietet, wenn die Erde bebt.«

Als Mädchen hatte Celia zu den Zwillingen, vier Jahre älter als sie selbst, nur eine oberflächliche Freundschaft entwickelt. Kurz vor Ausbruch des Krieges hatten sie dann in Zürich zu studieren begonnen und waren anschließend in die Vereinigten Staaten gegangen, um dort zu bleiben.

»Ich möchte euch für das neue Jahr noch etwas mitgeben. Unsere Zeiten sind unruhig, das wisst ihr. Leider werden sie nicht ruhiger. Große Stürme rollen auf uns zu. Es gibt Menschen, die genau das beabsichtigen. Sie wollen unser Vaterland in den Abgrund reißen.« Womit er darauf anspielte, dass im August des Vorjahres der deutsche Finanzminister, ein politischer Freund Josef Kronstatts, von radikalen Rechten ermordet worden war. »Seid also achtsam bei dem, was ihr hört und seht. Und noch mehr bei dem, was ihr sagt und zu wem ihr es sagt.« Er hob sein Glas. »Auf die Familie! Auf Deutschland!«

Celia nippte nur und ließ den Blick über die Runde schweifen. Viele der Anwesenden kannte sie nur vom Sehen, manche gar nicht. Neben Josefine hatte sie eigentlich nur mit deren Mutter Adele zu tun, die ihr lächelnd zunickte. Sie war ihr eine Vertraute, auf deren Rat sie viel gab. Mit ihr würde sie über Edgar sprechen, beschloss sie.

 

»Gnädige Frau hat Alfred Hinnes dich genannt? Und das macht dir solche Sorgen?« Adele musterte Celia einen Augenblick. Sie hatte Finis Mutter am späten Nachmittag in deren behaglichem Nähzimmer aufgesucht. »Nun ja, Alfred Hinnes ist kein Liberaler. Sein Weltbild ist durch und durch konservativ.«

»Du kennst Edgars Vater?«, fragte Celia, zwischen Entsetzen und Bewunderung schwankend.

»Natürlich, Lia. Josef und Alfred sind langjährige Geschäftspartner. Umtriebig wie die beiden sind, kommen die Ehefrauen zwar selten dazu, dabei zu sein. Doch gelegentlich war Alfred hier bei uns.« Sie legte die Häkelnadeln auf einen Nähtisch.

»So klein ist die Welt?«

»Für einen Mann wie Alfred Hinnes schon. Er kauft sie sich.«

Adele Kronstatt klang bitter, aber da sie wohl fand, dass dieser Tonfall nicht zu ihr passte, lachte sie die Schwere ihrer Worte kurzerhand weg. Und Celia wagte es nicht nachzufragen, ob ihr Mann eher schlechte Erfahrungen mit Hinnes gemacht hatte.

»Was genau meinst du mit konservativ, Adele?«

»Lia, mein Schatz …« Adele nahm ihre Hände. »Eine Liebesbeziehung mit dem Sohn des reichsten Mannes des Landes … Das is a bisserl … schwierig.«

»Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen.«

»Dann muss ich es wohl klar aussprechen: Alfred Hinnes ist jene Art von Mann, der sein Gspusi niemals heiraten würde. Wie gesagt: konservativ. Ein Herr, der das Recht der ersten Nacht für sich reklamiert.« Adele lächelte bitter. »Entsprechendes erwartet er von seinem Sohn.«

»Und ich bin eine Witwe. Eine gnädige Frau.« Darum also die Schnittmenge. Nicht sie bestimmte die Regeln, sondern Edgar.

Sie hatte das Gefühl, die Stola an ihrem Hals würde sie einschnüren.

»Du hast dich doch nicht etwa in Edgar verliebt?«

Celia schüttelte energisch den Kopf. »Natürlich nicht!«

»Ach, du meine Güte!« Adele hatte sie durchschaut. »Beende es, bevor es zu sehr schmerzt.« Der Blick der mütterlichen Freundin fiel auf den blauen Fleck an Celias Hals. »So, wie ich Edgar einschätze, geschieht sonst etwas, das nicht mehr rückgängig zu machen ist.«

 

Freiwillig machte Celia sich nicht auf den Weg, aber Adele hatte zu Recht gemeint, dass es notwendig wäre: »Es ist Neujahr. Reich deiner Mutter die Hand. Versuch es zumindest, Lia.«

Während sie nun den Kurfürstendamm überquerte, um zum nördlichen Ende der nahen Bleibtreustraße zu gehen, erinnerte sie sich daran, wie Josef Kronstatt gesagt hatte, dass Familie Halt bietet, wenn die Erde bebt. Ihre konnte er damit nicht meinen. Ihr Bruder war im Krieg gefallen, der Vater nach mehreren Schlaganfällen gestorben und ihre Mutter hatte sie wohl nie leiden können. Die Kronstatts waren zu ihrer Familie geworden und erwarteten keine Gegenleistung. Mit einer Einschränkung, die gewissermaßen ein Kredit auf eine ungewisse Zukunft war: ER – und dabei hatte Adele zum Himmel geblickt – würde ihr irgendwann zu verstehen geben, ob oder wie sie sich bedanken könne.

An der Einmündung der Knesebeckstraße verließ sie den Kurfürstendamm, als sie Glas splittern hörte. Gleichzeitig schrien offenkundig betrunkene Männerstimmen etwas, das sie nicht verstand. Als sie näher kam, glitzerten auf dem Bürgersteig Glasscherben. Ein paar junge Männer in langen dunklen Mänteln rannten davon. Ihre grobstolligen Stiefel hinterließen breite Abdrücke im frischen Weiß.

Celia kannte das Leihhaus, dessen Schaufenster soeben zerschmettert worden war. Hier hatte sie im letzten Frühjahr ihren Pelzmantel versetzt und einen Spottpreis für das gute Stück erhalten. Es war die falsche Jahreszeit gewesen, aber sie hatte Alberts prunkvolles Geschenk unbedingt loswerden wollen, obwohl der Pfandleiher ihr abgeraten hatte. Nun war der Laden verwüstet.

Ein älteres Ehepaar ging vorbei, registrierte Celias Entsetzen, interpretierte das aber ganz anders: »Recht geschieht es dem Judenpack.«

»Das stimmt nicht!«, rief Celia empört. »Das ist ein ehrlicher Mann, dem der Laden gehört.«

Das Ehepaar ignorierte sie. Zwei Schupos eilten herbei, und Celia ging weiter zur »Pension Bleibtreu«, die einmal ihr Zuhause gewesen war.

 

Magda ging achtlos an dem weißen Emailleschild vorbei, auf dem sich ein Schleier aus Schneeflocken gebildet hatte. Schließlich hing es immer neben dem Eingang zur »Pension Bleibtreu«. Nach zwei weiteren Schritten wurde ihr bewusst, dass etwas anders war als sonst. Sie machte auf dem Absatz kehrt.

Magda Fuchs

Ärztin für Frauen- und Kinderheilkunde

Sprechstunden nach telefonischer Vereinbarung

Sie starrte die schwarzen Buchstaben an, als wären sie ein Wunder. Ihr eigener Name an dieser Hauswand! Nie zuvor hatte es ein Schild gegeben, das aller Welt kundtat: Ich bin hier, ich warte auf Sie, verehrte Patientinnen! Instinktiv blickte sie sich um, ob jemand sah, wie ergriffen sie war von diesem Anblick. Das war schon was, wenn sie, die Hildesheimerin, im feinen Charlottenburg als Frauenärztin praktizieren durfte! Darauf konnte sie durchaus stolz sein. Es gab keine Kollegin in der Gegend, hatte Frau Fahrland ihr mehrfach versichert, und die wusste es als Arztwitwe gewiss.

Magdas Herz raste vor Aufregung. Sie wischte den Schnee ab. Schön sah das aus! Frau Fahrland hatte es entweder gestern oder sogar erst heute anbringen lassen. Eine umgängliche Person war sie nicht gerade, aber dies war eine rundum gelungene Überraschung. Und morgen war Einweihung, Damen der Gesellschaft wurden erwartet. Ein Gedanke, der Magda ein mulmiges Gefühl bereitete, denn besonders trittsicher fühlte sie sich nicht auf dem Charlottenburger Parkett.

Das Schild war keinen Tag zu früh an seinem Platz, dachte Magda und ging die elegante Treppe hinauf. Im ersten Stock rechts befand sich der Eingang zur Pension, links jener zur Praxis. Auch hier war das alte Schild gegen das neue ausgetauscht. Wäre das heute in der Früh schon so gewesen, hätte sie es bemerkt. Der 1. Januar, natürlich! Glücklich schloss sie die Tür zur Praxis auf. Der kleine Vorraum mit einer Handvoll Stühle, das Empfangszimmer in dunklem Holz, alles sehr gediegen.