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Polizeiärztin Magda Fuchs – Das Leben, ein wilder Tanz E-Book

Helene Sommerfeld

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Beschreibung

Jagt Magda einer fixen Idee nach? Berlin 1924: Viele Fremde suchen in der Stadt das schnelle Glück. Offenbar auch die schwer verletzte junge Frau, die von Polizeiärztin Magda untersucht wird. Als die Unbekannte überraschend stirbt, macht Magda sich Vorwürfe. Hat sie eine falsche Diagnose gestellt? Eine Freundin identifiziert die Tote als Millionärin, die im wilden Berlin das Leben mit Damen und Herren aus den höchsten Kreisen genoss. Als Magda versucht, die Wahrheit herauszufinden, kommt sie mächtigen Leuten in die Quere. Aber sie will auch endlich das Schicksal des kleinen Otto aufklären. Er wurde vor vielen Jahren nach einem Familiendrama verschleppt. Seiner älteren Schwester Elke konnte Magda ein neues Zuhause geben. Damals gab sie sich das Versprechen, die Geschwister wieder zusammenzubringen. Plötzlich eröffnet sich die Möglichkeit, Otto doch noch anhand seiner Fingerabdrücke identifizieren zu können. Aber es sind zahllose Kinder, die überprüft werden müssten. Da erinnert sich Elke an ein ganz besonderes Merkmal ihres Bruders. Tatsächlich wird ein Junge gefunden, auf den die Beschreibung passt. Kann er wirklich Otto sein? Oder jagt Magda in Wahrheit nur einer fixen Idee nach, weil sie sich selbst schon so lange ein Kind wünscht?   Polizeiärztinnen gab es ab 1900 in Berlin. Diese standen zwar im Dienst der Polizei, führten jedoch keine polizeilichen Arbeiten aus, sondern waren zuständig für die medizinische Betreuung der Opfer von Gewaltverbrechen, insbesondere an Frauen und Kindern. Zusätzlich kümmerten sie sich um die gesundheitliche Versorgung der zahlreichen Prostituierten in den Zwanzigerjahren. Das Amt einer Polizeiärztin wurde für eine geringe Entlohnung nur nebenberuflich bekleidet.  

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Helene Sommerfeld

Polizeiärztin Magda Fuchs

Das Leben, ein wilder Tanz

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Inhaltsverzeichnis

PersonenverzeichnisMottoEin Funken HoffnungFrauenkramDie Dame aus dem WasserRuhe im HerzenDer süße SchmerzEin unmoralisches AngebotDas vergessene IchDoktor Jessens FreundeHallelujahDer AbgrundMaja am FlügelGeständnis am SeeFür immer?Eine neue ZukunftDer Tote im ParkEin neuer AnfangNachwortLeseprobe aus: Sommerfeld, Die Töchter der Ärztin

Die wichtigsten Personen

MAGDA MEHRING *1890, verwitwete Fuchs, Polizeiärztin

KUNO MEHRING *1888, Kriminalkommissar, Magdas Mann

CELIA HINNES-FAHRLAND *1898, Studentin der Medizin

EDGAR HINNES *1897, Ingenieur, Celias Mann

 

In der »Pension Bleibtreu«:

DORIS KAUFMANN *1901, Schauspielerin

ERIKA HAUSNER *1892, Journalistin

MARGRET GROSS *1882, Psychologin

ELFRIEDE KANDLER *1902, Studentin

LUISE MEIER »Liesl« *1859, Köchin

GERTI *1892, Dienstmädchen

BABETTE GRUSINSKI *1857, Concierge

 

Die Polizei:

ERNST WAGNER *1878, Kriminalkommissar

ADOLF LAMOUR *1885, Kriminalassistent

TRUDE KRAWINSKI *1879, Wagners Sekretärin

DARIUS WENZEL *1862, Gerichtsarzt

 

Weitere Personen in Berlin:

INA DIETRICH *1882, Fürsorgerin

JOSEFINE DALDRUPP *1896, geb. Kronstatt, Celias Freundin

RUTH JESSEN *1885, Rechtsanwältin

OTTMAR JESSEN *1880, ihr Mann

CLÄRE HINNES *1901, Edgars Schwester

ALFRED HINNES *1870, Edgars und Cläres Vater

RAINER BERGMANN *1885, Edgars Butler

GUNTRAM HARRICH *1901, Student der Medizin

GREGOR ZEUTHEN *1872, Politiker

XENIA VAN XANTEN *1886, Erbin

PROFESSOR AUGUST BIER *1861, Chirurg

ANTONIA THOMASIUS *1900, Studentin

 

Personen in Hildesheim:

CHRISTA TRÜMPER *1882, Magdas Schwester

JOHANNES TRÜMPER *1872, Christas Mann

ELKE SCHMITTKE *1913, beider Mündel

Ich verlange nicht von dir, dass du mich immer so liebst, aber ich möchte, dass du dich daran erinnerst; denn irgendwo in meinem Innern wird immer die Person sein, die ich heute Nacht bin.

 

F. Scott Fitzgerald, Zärtlich ist die Nacht

 

Wenn man heute als Frau eine Möglichkeit hat, seinen Mitschwestern etwas zu sagen, dann soll man ihnen vor Augen führen, dass die Frau es ist, die im Leben des einzelnen Mannes, im Leben der Familie, im öffentlichen Leben, im Geschick der Völker, letzten Endes auch im Geschick der Welt, die ausschlaggebende Rolle spielt.

 

Henny Porten, Wie ich wurde

1924

Ein Funken Hoffnung

Aufgewühlt betrachtete Magda das mattweiße Blatt Papier. Es war schlichtweg unfassbar, dass es das gab! Nicht nur, weil so viele Jahre vergangen waren. Sie stellte sich vor, wie es zu diesem Fund gekommen sein mochte: Ein Kind lernte gerade laufen. Es tappte unsicher umher, schwankte, und seine kleine Hand hielt sich an dem fest, was sich gerade anbot. Vielleicht ein Türrahmen oder ein Tischbein. Damit hatte es ein Zeugnis hinterlassen, das es über den Umweg dieser Ermittlungsakte von der Vergangenheit in die Gegenwart geschafft hatte.

Ich war hier, es hat mich gegeben, lautete die stumme Botschaft dieser zarten dunklen Rillen.

Mehr war von Otto nicht geblieben – sein Name und die Fingerabdrücke in der Wohnung seiner Eltern. Und dann war da Elke, seine Schwester, der ihre Erinnerung keine Ruhe ließ. Weil sie sich immer wieder fragte: Was geschah mit meinem kleinen Bruder? Lebt er noch? Und wenn ja: wo und wie? Werde ich ihn je wiedersehen?

»Glauben Sie, damit können wir Otto endlich ausfindig machen?«, fragte Magda. Ungeduldig saß sie auf der vorderen Kante des durchgesessenen Sofas im Büro von Kommissar Wagner.

Gerade hatte der Leiter des »Mordbereitschaftsdienstes« ihr das alte, so plötzlich wieder aufgetauchte Dokument gegeben. Darauf befand sich eine Vielzahl von Fingerabdrücken. Größere von Erwachsenen und kleinere von Kindern. Fall Schmittke hatte jemand mit akkurater Schrift auf dem Blatt notiert. Der Fall war einmal eine Familie gewesen. Von ihr geblieben waren nur diese dürftigen Spuren, die Kriminalassistent Lamour in der Mordwohnung akribisch zusammengetragen hatte. Sie entflammten in Magda eine Hoffnung, die nach wie vor in ihr glomm.

Als Polizeiärztin hatte es von Anfang an zu Magdas Aufgaben gehört, Kinder ärztlich zu versorgen, die durch ein Verbrechen in den Sog von Gewalt geraten waren. Die Mutter von Elke und Otto war ermordet worden. Das Mädchen, fast sieben, hatte sich während des Verbrechens versteckt und ausgesagt, dass ihr damals zweieinhalb Jahre altes Brüderchen verschleppt worden sei. Das war kurz vor Weihnachten 1920 geschehen, also vor gut drei Jahren. Als die Polizei überzeugt gewesen war, den Täter endlich stellen zu können, war es zu einer Schießerei gekommen, die tragisch endete: Der Mann war sofort tot. Damit war die Verbindung zu Otto endgültig gekappt. Obendrein hatte Kommissar Wagner nie den Ehrgeiz gehabt, das Kind zu finden, wie Magda nach wie vor vermutete. Otto war schlichtweg zu klein gewesen, um als Zeuge infrage zu kommen.

»Jetzt, wo Sie das hier haben, werden Sie ihn suchen, nicht wahr?«, fragte Magda. Er musste ja einen Grund haben, wenn er sie nun mit den Fingerabdrücken konfrontierte!

Wagners Büro lag im ersten Stock des Polizeipräsidiums, der »Roten Burg« am Alexanderplatz. Direkt vor dem Fenster ratterte die Stadtbahn auf dem Hochgleis vorbei. Gespräche mit Wagner wurden vom Takt der Zugfolge bestimmt. Ihn selbst schien das nicht zu stören. Im Gegenteil: Die lärmende Bahn war willkommener Teil seiner Inszenierung des Wissens um die Geheimnisse einer dunklen Welt. Bei Magda ging dieses Spiel schon lange nicht mehr auf. Das hatte sie zumindest angenommen und wurde gerade eines Besseren belehrt. Denn sie musste auf die Antwort warten, bis auch der Gegenzug durch war. Manchmal – wie gerade jetzt – gönnte sich der Kommissar in diesen Gesprächspausen einen genussvollen Happen von der Torte auf seinem Schreibtisch.

»Nun, Herr Kommissar?«, hakte Magda nach, als es in Wagners Büro wieder still war.

Der Polizist grinste, was sein Gesicht so freundlich wie den Vollmond wirken ließ. »Der Fall Schmittke is ’n kalter Fisch, Frau Doktor, ’n sehr kalter«, bekräftigte er mit einem müden Nicken seines schweren Kopfes.

Kalte Fische waren ungelöste Fälle, die niemand anfasste. Also ging es gar nicht darum, Otto zu finden. Sie hätte es wissen müssen! Verschwanden doch in diesem Moloch von Stadt Hunderte von Kindern, die niemand fand. Auch weil die Polizei gar nicht erst nach ihnen suchte.

Anfangs hatte Magda von Wagners schwerfälligem Äußeren auf die Schnelligkeit seines Denkens geschlossen. Sie hatte einsehen müssen, dass das ein Irrtum war. Der Mann legte es darauf an, unterschätzt zu werden. Folglich führte er gerade etwas anderes im Schilde.

»Warum wärmen Sie den alten Fall auf, wenn er Sie eigentlich nicht interessiert?«, fragte sie.

Die Antwort gab nicht Wagner, sondern Kommissar Mehring, Magdas Ehemann, der als Dritter anwesend war: »Der Herr Kollege bittet mich darum, Elkes Fingerabdrücke zu nehmen. Sie sollen mit denen aus der alten Akte verglichen werden. Stimmen sie überein, liegt der Schluss nahe, dass die anderen kleinen Fingerspuren die von Otto sind.«

»Ach so.« Magda gab sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Somit ist das noch nicht eindeutig?«

Kuno schüttelte den Kopf. Er lehnte an Wagners Schreibtisch und sah Magda auf eine Art an, die vielleicht nur sie zu interpretieren wusste: Er fühlte sich unwohl, weil er zwischen zwei Stühlen saß. Wagners Art war ihm zuwider, denn dessen Arbeit entsprang offensichtlich nicht der Menschenliebe. Gleichzeitig war der Dienstältere sein Vorgesetzter. Im Gegensatz zu Wagner interessierten Kuno Kapitalverbrechen weniger als das, was die sich abgebrüht gebenden Kollegen die »weichen« Fälle nannten. So hatten sich Magda und Kuno durch das grausame Schicksal der Familie Schmittke überhaupt kennengelernt und Elkes trauriges Los zu ihrer persönlichen Angelegenheit gemacht.

»Elke ist zehn. Sie wird Fragen stellen: Warum willst du meine Fingerabdrücke haben, Onkel Kuno?«, gab Magda zu bedenken.

Über die Jahre hatten sich die Grenzen verwischt: Nachdem die kleine Waise Elke zwischen den Pflegestellen hin und her geschoben worden war, hatte Magda ihrer älteren, kinderlosen Schwester von ihr erzählt. Mittlerweile wuchs das Mädchen in Hildesheim in Christas Obhut zu einem Menschen heran, der die Vergangenheit zu vergessen begann. Bis auf jene Nächte, in denen der Horror der Mordnacht oder die Erinnerung an das verlorene Brüderchen erwachte. Erst vor ein paar Wochen, zu Weihnachten, hatte Magda es erlebt.

»Ihnen wird eine überzeugende Antwort einfallen, Frau Doktor«, meinte Wagner jovial. »Denken Sie dabei an das große Ganze: Wir müssen besser verstehen, wie Fingerabdrücke auszuwerten sind. Verändern sie sich zum Beispiel, wenn ein Mensch heranwächst? Oder bleiben sie gleich?«

Ihm schwebte so etwas wie eine Revolution der Kriminalistik vor. Bislang arbeiteten die vielen Kommissare unkoordiniert nebeneinanderher; niemand wusste, was der andere tat, und die Ergebnisse der Ermittlungen wurden sorgsam in Hunderten von Aktenordnern abgeheftet. In einer nicht zu fernen Zukunft sollte es ein gemeinsames Archiv geben, in dem jeder seine Fälle ablegte, damit sie allen Kollegen zugänglich waren und unter Umständen miteinander in Verbindung gebracht werden konnten – ein Recherchewissen, aus dem alle schöpfen konnten. Die Daktyloskopie, um Fingerabdrücke richtig zu sammeln und auszuwerten, gehörte dazu. Das Einzige, was auf Ottos Existenz hinwies, würde zu einem Lehrmittel werden.

Nur darum ging es Wagner.

Als Kuno und Magda draußen auf dem Gang standen, präsentierte er ihr die Akte wie eine Trophäe. »Für Wagner mag das hier ein kalter Fisch sein. Ich dagegen bin überzeugt, wir haben hiermit ein heißes Eisen im Feuer.« Er hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wir finden Otto!«

 

Am Vortag hatte Magda im Frauengefängnis Barnimstraße Dutzende von Prostituierten untersucht, die bei Polizeirazzien festgenommen worden waren. Die Weiterverbreitung von Geschlechtskrankheiten sollte dadurch verhindert werden. Nur jene Frauen, die neu im Gewerbe waren, protestierten gegen die Zwangsmaßnahme. Die erfahreneren hingegen wussten die Gelegenheit zu schätzen, auf die erste Ärztin zu treffen, die sie gründlich untersuchte. Immer wieder wurde Magda gefragt, ob sie auch eine eigene Praxis habe, wo man sich ihr anvertrauen könne.

»Demnächst ist es so weit«, vertröstete sie die Frauen.

In der Tat würde wohl bald der Weg frei sein, die von der übrigen Ärzteschaft verschmähten Bordsteinschwalben angemessen behandeln zu können. Doch noch hatte Magda die erforderliche Genehmigung durch das Gesundheitsamt nicht erhalten. Es verdarb ihr die Laune, an das umständliche Vorgehen der Berliner Behörden zu denken.

Stattdessen widmete sie sich der ungeliebten Routine einer Polizeiärztin: In dem kleinen Zimmer, das ihr im Präsidium zur Verfügung stand, stapelten sich die Akten mit den Damen vom Vortag auf dem Schreibtisch. Gelegentlich hob sie mit einem kaum unterdrückten Seufzer den Blick und sah zum Fenster hinaus. Es war Mitte Februar, die Stadt lag in tristem Grau und Weiß.

Nach kurzem Klopfen trat Kuno ein, im Mantel, den Hut in der Hand, ein liebevolles Lächeln im Gesicht. »Keine Mittagspause. Tut mir leid«, sagte er. »In einer Charlottenburger Villa wurde ein kleiner Junge gefunden. Er war dort gemeinsam mit anderen auf Diebestour. Ich dachte, du siehst ihn dir vielleicht mal an.«

»Ja, natürlich.« Sofort flammte die Hoffnung auf, Otto zu finden. Nun, da man ihn anhand seiner Fingerkuppen würde identifizieren können.

Zahllose Knaben hatte Magda seit Ottos Verschwinden untersucht. Mancher hätte Otto sein können. Fingerabdrücke hatte sie nie genommen. Schließlich hatte sie nichts von der Möglichkeit eines Vergleichs geahnt.

Sie schlüpfte in ihren Wollmantel und trat vor den kleinen Spiegel neben dem Garderobenhaken. Sie trug kein Make-up, betonte nur mit einem leichten Kajalstrich ihre hellblauen, leicht schräg stehenden Augen über den hohen Wangenknochen. Ihr kastanienfarbenes, leicht lockiges Haar war wie fast immer in einen Dutt gebändigt, aus dem sich widerspenstige Strähnen befreit hatten. Sie wirkte jünger als die dreiunddreißig Jahre, die sie alt war.

Kuno schloss rasch die Tür, trat hinter sie und legte die Arme um sie. »Ich liebe dich«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr.

Sie wandte sich ihm lächelnd zu. »Bist du etwa nur zum Flirten gekommen, Herr Kommissar?« Sie küsste ihn.

Er war einer der wenigen Männer, die keinen Bart trugen, was seinen jungenhaften Charme ebenso betonte wie seine stets leicht zerzauste Frisur, die sie grinsend ein wenig ordnete.

Als sie etwas später mit dienstlich ernsten Gesichtern die langen, schmalen Präsidiumsgänge entlangeilten, schob Kuno die Erklärung für den jetzigen Einsatz nach: »Der Kleine, den die Kollegen gefunden haben, gehört vermutlich zu einer Gruppe von Kindern, die von Erwachsenen angestiftet werden, in Villen einzubrechen.«

Wozu Minderjährige in diesen Zeiten missbraucht wurden, empörte Magda, seitdem sie als Polizeiärztin arbeitete. Wobei der Einsatz bei einer Diebesbande möglicherweise noch einer der harmlosesten Fälle war.

»Dabei hat der Kleine sich verletzt? Schlimm?«

Sie führte ihre Arzttasche bei diesen Einsätzen immer mit sich.

»Verletzungen von Kindern?« Kuno schüttelte resigniert den Kopf. »Das meldet das zuständige Revier nicht. Man rief mich nur deshalb an, weil die Einbrüche in der Gegend so stark zugenommen haben. Vielleicht kannst du dem Knaben entlocken, wer ihn losgeschickt hat. Es wäre gut, den Hintermännern das Handwerk zu legen.«

Sie bestiegen gerade den Wagen der Fahrbereitschaft, als ein Zeitungsjunge die Hauptnachricht der Mittagsausgabe in die Welt hinausschrie: »Stirbt Hinnes? Deutschlands reichster Mann ringt mit dem Tod!«

Magda war schon fast im Auto, als sie den Jungen heranwinkte und das Blatt kaufte. »Ach, du meine Güte«, murmelte sie, während sie den Artikel auf der Fahrt überflog.

»Celia Fahrland ist doch die Schwiegertochter dieses Herrn Hinnes, nicht wahr?«, fragte Kuno. »Dem gehört halb Deutschland, heißt es.« Er sah sie ratlos an. »Was mag da los sein?«

Viel wusste Magda nicht über die noch sehr junge Ehe ihrer Vermieterin und gar nichts über den Gesundheitszustand von deren Schwiegervater. Doch eines ahnte sie: Um nichts in der Welt würde sie mit Celia tauschen wollen. Trotz des unvorstellbar großen Vermögens der Familie Hinnes. Oder gerade deshalb.

 

Die letzte Auskunft, die einer von Professor Biers Assistenzärzten dem jungen Ehepaar Hinnes gegeben hatte, war denkbar nebulös gewesen: »Der Herr Professor tut alles, was in seiner Macht steht.«

Was sollte Celia mit einer solchen Aussage anfangen? Wenn es sich doch nur um Gallensteine handelte, wegen denen ihr Schwiegervater operiert wurde! Aber was hieß schon nur?

Biers bevorzugte Methode bei einer Entzündung der Gallenblase war die Drainage, also die Ableitung des Eiters. Durch Zufall hatte Celia von der Alternative erfahren, die weniger Risiken barg – eine komplette Entfernung der Gallenblase. Ihr Mitstudent Guntram im Studiengang Humanmedizin hatte ihr davon berichtet, weil er im Physikum dazu von Bier befragt worden war und diese Behandlung empfohlen hatte. Genau deshalb hatte Bier ihn durchfallen lassen. Für den Professor, einen von Deutschlands berühmtesten Chirurgen, kam das richtige Vorgehen bei diesem Routineeingriff nämlich einer Art Weltanschauung gleich.

Somit stand außer Frage, dass auch Deutschlands einflussreichster Unternehmer so behandelt wurde. Als Fünftsemester konnte Celia nur vermuten, dass dabei etwas schiefgegangen war. Es bestand die Möglichkeit, dass die gerissene Gallenblase die anderen Organe gewissermaßen mit körpereigenem Gift überschwemmte. Die Folge wäre eine Blutvergiftung, die durch nichts zu stoppen wäre.

Tun, was in seiner Macht steht? Bei allem Respekt, den sie vor dem wichtigen Mediziner hatte: Es würde weniger um Macht gehen, ein Wunder wäre hilfreicher! Ihr Schwiegervater drohte an einer Sepsis zu sterben. Dabei hatte sie versucht, Edgars Vater auf die drohenden Risiken hinzuweisen. Doch was zählte die Meinung einer Studentin im Vergleich zum Renommee eines Mediziners von Weltruf?

Sich darüber zu ärgern brachte nichts. Stattdessen brauchte sie ihre gesamte Kraft für Edgar, seine Verzweiflung würde sie auffangen müssen. Sein Mund, von einem sorgfältig gestutzten Oberlippenbart betont, war nur ein Strich, sein Gesicht aschfahl, der Blick unruhig. Er hielt Celias Hände, während sie einander zugewandt in dem für ein Krankenhaus geradezu luxuriös breiten Gang vor dem Operationssaal standen. Kein Wort sagte er, aber Celia wusste ohnehin um die schweren Gedanken, die ihn plagten. Auch sie selbst hielt es für klüger, schweigend abzuwarten, was geschehen würde.

Ein Herr in Anzug, Weste, Stehkragen und Krawatte näherte sich so vorsichtig, als ginge er auf Zehenspitzen. Anfangs war er nur alle Stunde gekommen, inzwischen erschien er viertelstündlich. Bis zu diesem Tag hatte Celia ihn nie gesehen, inzwischen wusste sie, dass Egon Holzapfel einer der Sekretäre ihres Schwiegervaters war.

»Die Börse spielt verrückt. Die Kurse stürzen. In jeder Sekunde werden Millionenwerte vernichtet. Sie sollten sich dringend an die Reporter wenden, Edgar. Alle Zeitungen sind da. Beruhigen Sie die Leute. Ich bitte Sie!«

Edgar nickte nur stumm.

»Noch ein paar Minuten, Herr Holzapfel«, sprang Celia für ihn ein. »Wir warten die neueste Information aus dem OP ab.«

»Was soll ich denn sagen, Lia?«, fragte Edgar, als der Sekretär gegangen war.

Börse, Kurse … Celia hatte nie mit dieser fremden Welt zu tun gehabt, deren Mittelpunkt der Mann, den sie liebte, geworden war. Er hatte das ebenso wenig vorausgesehen wie sie; es traf sie beide vollkommen unvorbereitet.

»Ich vermute, du solltest den Leuten draußen Hoffnung machen, Edgar. Sag ihnen etwas Aufbauendes. Sie haben Angst. Wie wir ja auch.«

Ihre Worte kamen ihr selbst banal vor, doch sie richteten Edgar förmlich auf. »Ja, Lia, das ist wahr. Ich sag ihnen, dass …«

Er wusste nicht weiter. Die plötzliche Sorge um das Leben seines Vaters blockierte das Denken ihres im Grunde entschlussfreudigen Mannes.

»Sag, dass es sich um eine Gallenoperation handelt. Professor Bier hat sie Hunderte Male vorgenommen.« Nach kurzem Nachdenken setzte sie hinzu: »Wir sind überzeugt, dass Alfred Hinnes in guten Händen ist.«

Daran hatte sie Zweifel, große Zweifel. Aber lügen war erlaubt, wenn man sich in Not befand, in großer Not.

Edgar küsste sie auf den Mund. »Gott, bin ich froh, dass ich dich habe.« Er seufzte. »Ich geh denn mal.«

»Ich bleibe hier und warte.«

Zögernd strebte er dem Treppenhaus zu. Den Kopf gesenkt, die Schultern hängend.

»Edgar!«, rief sie ihm nach.

Er wandte sich um.

»Kopf hoch! Wir schaffen das!«

Tatsächlich straffte er seinen Körper mit einem tiefen Aufatmen und lächelte bemüht.

 

Während sie Edgar nachsah, dachte sie, dass das Schicksal die irrwitzigsten Kapriolen schlug. Es hatte mit ihnen beiden im Herbst vor zwei Jahren so begonnen, wie so etwas eben anfängt: Ein schöner Mann mit Charme und Manieren flirtete mit ihr und bat um ein Rendezvous im bekanntesten Café der Stadt. Und wählte dafür eine eigentümliche Formulierung: »Wir finden heraus, was wir beide mögen. Und was nicht. Vielleicht ergibt sich eine Schnittmenge. Das sind dann wir.«

Schnittmenge. Sie hatte gelacht und war davon ausgegangen, dass es seine Art war, ein lockeres Abenteuer zu umschreiben. Dem sie nicht ganz abgeneigt gewesen war. Erst später hatte sie den Grund für die Wortwahl herausgefunden: Er war Ingenieur und schrieb gerade an seiner Promotion. Von dem unermesslichen Einfluss seines Vaters und dem Reichtum der Familie erfuhr sie häppchenweise. Kurz vor der Hochzeit – also vor vier Wochen – hatte er ihr aus einer amerikanischen Zeitung vorgelesen, die seinen Vater als heimlichen König von Deutschland bezeichnet hatte.

Alfred Hinnes gehörten mehrere Tausend Firmen, oder er besaß zumindest maßgebliche Anteile daran. Vor allem die Schlüsselindustrien Kohlebergbau und Transportwesen beherrschte er und gab damit Hunderttausenden von Menschen Arbeit. Der ganze Konzern war komplett auf Edgars Vater zugeschnitten. Es war unvorstellbar, dass dieser Mann ausfiel. Kein Wunder, dass die Börsen durchdrehten, seitdem sich herumgesprochen hatte, wie es um ihn stand.

Aber wenn der Vater ein König war, was war dann sein ältester Sohn Edgar? Ein Prinz? Und sie als seine Frau? Eine Prinzessin?

Es fühlte sich gerade ganz und gar nicht so an. Sondern nach: Das sind dann wir. Nach: Wir leben und sehen dann mal, was so alles passiert. Und wie wir damit umgehen. Das Leben als Schule, die nie endet und in der es Lehrstoff gibt, den man nicht versteht. Aber offensichtlich am dringendsten braucht, um versetzt zu werden.

Celia legte die Hand auf ihren sich leicht rundenden Bauch. Sie war im vierten Monat. Manchmal meinte sie, das Kind bereits spüren zu können. Sicher war sie sich nicht. Es fühlte sich eher so an, als schliefe das winzige Wesen in ihrem Körper noch tief und fest.

Sie trat an das geschlossene Fenster, in dessen blanker Scheibe sie sich spiegelte. Sie hatte ihren Hut abgenommen, weil das Gebäude überheizt war. Ihr schmales Gesicht wurde von hellblondem Haar gerahmt, das sie der Mode folgend mit Pony als Bob trug. Mit der neuen Frisur versuchte sie, ihrer mädchenhaft jungen Ausstrahlung entgegenzuwirken, weil sie sich oft nicht ernst genommen fühlte. Obwohl sie doch schon in wenigen Wochen sechsundzwanzig wurde.

Unten auf der Joachimstaler Straße war der Verkehr zusammengebrochen. Eine dichte Traube von Menschen hatte sich vor Professor Biers Privatklinik, dem »Westsanatorium«, gebildet. In ihrem Zentrum der bedrängte Edgar. Jemand blickte nach oben, zeigte mit dem Finger auf die am Fenster stehende Celia. Alle Köpfe reckten sich, jemand riss seinen Fotoapparat hoch.

Erschrocken wich sie zurück. Man kannte sie in ihrer Heimatstadt. Schließlich war ihr Foto einmal fast täglich auf den Titelseiten der Zeitungen abgebildet gewesen. Damals, als die Reporter sie eine Mörderin genannt hatten …

»Wo ist der junge Herr Hinnes?«, fragte eine befehlsgewohnte Stimme in Celias Rücken.

Sie wusste bereits, mit wem sie es zu tun hatte, bevor sie Professor Bier in Person sah.

 

»Ich kenne Sie doch«, begann Professor Bier. »Was tun Sie denn hier?«, fragte er, Verwunderung in der Stimme. »Dies ist meine Privatklinik. Studenten unterrichte ich nur in der Charité.«

»Ich bin nicht als Ihre Studentin hier, Herr Professor«, erwiderte Celia. »Alfred Hinnes ist mein Schwiegervater.«

»Ihr Schwiegervater. Verstehe.« Bier brauchte seinerseits einen Moment, um sich zu sammeln. Der Studentin aus dem Physikum vom letzten Herbst, die er als Fräulein Fahrland kannte, in einer ganz neuen Rolle zu begegnen, traf den Chirurgen unvorbereitet.

Er trug den weißen Kittel des Operateurs, darunter Hemd, Fliege, Weste. Sein Gesicht war breit, fast bäuerlich, der klare Blick unter Schlupflidern überaus wach.

»Man lässt uns im Ungewissen, Herr Professor. Wie geht es Herrn Hinnes? Ist die OP erfolgreich verlaufen?«

»Erfolgreich, selbstverständlich«, nahm er das Wort auf, das Celia ihm als Brücke gebaut hatte. »Leider ist die Konstitution des Patienten schlecht. Was sich auf die Selbstheilungskräfte des gesamten Organismus auswirkt.«

Die Selbstheilungskräfte! Sie waren das Kriterium, das laut Bier grundsätzlich gegen eine Entnahme der Gallenblase sprach. Schließlich beruhte seine Lehre darauf, dass ein erkrankter Körper sich selbst helfen konnte. Der Operateur legte nur die Drainage; das Entzündungssekret floss ab, die Heilung konnte theoretisch beginnen. Die Methode hatte nur einen Haken: Die Galle saß sozusagen eingeklemmt zwischen Leber und Darm, was den Spielraum des Operateurs beengte. Celia sah es plastisch vor sich. Darum hatte sie ihrem Schwiegervater von der Alternative erzählt: dem gezielten Entfernen des kranken Organs. Dabei war die Gefahr des Austretens der Gallenflüssigkeit gering, weil der Körperteil bei der Entnahme intakt blieb.

Hatte ihr Schwiegervater das Bier gesagt? Durfte sie danach fragen? Oder war es nicht sogar ihre Pflicht?

»Eine schlechte Konstitution des Patienten«, wiederholte sie seine Formulierung. »Eine Cholezystektomie schlossen Sie dennoch aus?«

Biers Gesicht versteinerte. »Wollen Sie mir sagen, wie ich zu operieren habe?«

In diesem Moment durchfuhr sie ein leichter Schmerz, den sie nicht kannte. »Nein. Das war nur eine Frage«, sagte sie gepresst.

»In welchem Semester sind Sie?«

»Ich frage als Alfred Hinnes’ Schwiegertochter. Bat er Sie um eine Cholezystektomie?«

»Ich wies ihn darauf hin, dass er meinen chirurgischen Fähigkeiten vertrauen kann. Und das dürfen auch Sie, junge Frau.«

Es war das Kind, dessen Bewegungen sie zum ersten Mal wie ein leichtes Zucken spürte. Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch und versuchte, ihre im unpassenden Moment auftretende Unsicherheit mit einem Lächeln zu überspielen.

Bier musterte sie überrascht. »Ist Ihnen nicht wohl?«

»Ich erwarte ein Kind«, erwiderte sie etwas kurzatmig. Dies war wirklich der falsche Zeitpunkt, um eine Diskussion mit ihrem einstigen Professor vom Zaun zu brechen!

»Na, dann.« Bier wandte sich zum Gehen. Mit Schwangeren debattierte er nicht, sollte das wohl heißen.

»Herr Professor, wie geht es Alfred Hinnes? Ich brauche eine klare Antwort: Wird mein Schwiegervater die Operation überleben?«

»Ich habe eine fachlich korrekte chirurgische Arbeit getan, Frau Hinnes. Der Rest wird sich zeigen. Guten Tag.« Er ließ sie stehen.

Celia versuchte, ihre aufwallenden Gefühle in den Griff zu bekommen. Zumindest hatte das misslungene Gespräch einen Vorteil: Der kleine Mensch unter ihrem Herzen hatte endlich ein klares Lebenszeichen von sich gegeben. Das Schicksal der Familie Hinnes war durch ihn mit ihr selbst verbunden.

 

Der heimliche König von Deutschland hatte ein Privatzimmer der doppelten Größe von Edgars Salon, und der war schon sehr groß. Das Krankenbett darin wirkte verloren, was den Patienten noch hilfsbedürftiger erscheinen ließ. Das kurze, dichte dunkle Haar seines Kopfes und Barts stach gegen seine gelblichweiße Gesichtshaut ab, die Augen lagen in tiefen Höhlen.

Das allein konnte auf starken Blutverlust schließen lassen. Die spröden, unwirklich blassen Lippen und der stumpfe Blick sandten Celia das alarmierende Signal, das sie von den letzten Tagen ihrer Mutter kannte: Das Leben zog sich aus dem angeschlagenen Organismus zurück.

»Vater, was machst du für Sachen!« Edgar hatte sich einen Stuhl genommen und saß unruhig neben dem Bett. »Geht es dir gut?«

Kurz nach dem Gespräch mit Bier war Edgar von seinem Treffen mit den Reportern heraufgekommen, anschließend hatte einer der Assistenten des Professors das junge Ehepaar endlich in das Krankenzimmer gelassen: »Bitte schonen Sie den Patienten. Er darf sich nicht aufregen.« Keine weitere Erklärung zu den Heilungsaussichten.

»Nein, Junior, es geht mir nicht gut.« Alfred Hinnes’ Stimme war brüchig. Sein müder Blick erfasste Celia. »Hat Bier etwas falsch gemacht?«, fragte er sie direkt. »Mit mir stimmt doch etwas nicht.«

Falls die Gallensäfte in den Blutkreislauf gelangt waren, hatte Bier nicht nur in der Tat die falsche Operationsmethode gewählt. Sein Kunstfehler war obendrein nicht mehr zu korrigieren. Der baldige Tod des Industriemagnaten wäre unausweichlich. Celia war so schockiert, dass sie kaum klar denken konnte. Warum hatte eine solche Katastrophe, die sie von Anfang an befürchtet hatte, eintreten müssen?

Sie beide hatten ohnehin bislang nicht viel miteinander geredet. Zuletzt während ihrer Hochzeit. Getanzt hatte der Schwiegervater mit ihr, der Braut. Und sie hatte die rare Gelegenheit genutzt, auf die sie so lange gewartet hatte, um ihm zu sagen, was ihr wichtiger als alles andere war: Die Galle musste komplett raus! Jetzt fragte sie ihn selbst, ob er das weitergegeben hatte.

»Bier antwortete mir, ich könne ihm vertrauen. Er wisse, was er tue. Und ich hatte solche Schmerzen. Ich konnte nicht aufstehen und gehen. Zu wem auch?« Es fiel ihm schwer, all das vorzubringen. »Du wolltest mich warnen, Celia, und ich habe mir nicht die Zeit genommen, ausführlich mit dir zu reden. Sag mir die Wahrheit: Werde ich sterben? Es fühlt sich so an.«

»Vater!«, rief Edgar. »Du wirst nicht sterben. Du wirst gesund!«

»Junior, sieh deine Frau an. Sie guckt wie jemand, der weiß, was gespielt wird.«

Edgar fuhr herum. Seine Gesichtszüge waren vollkommen entgleist. »Lia! Was heißt das?«

Sie schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß gar nichts.«

Der kranke Mann im Bett lächelte matt. »Schade«, sagte er. Dann verstummte er, weil er offensichtlich starke Schmerzen hatte.

»Was ist schade?«, fragte Edgar.

»Dass ich mir nicht die Mühe gemacht habe, deine Frau kennenzulernen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.« Hinnes verzog das Gesicht zu einem misslungenen Lächeln.

»Soll ich dafür sorgen, dass du ein weiteres Mittel gespritzt bekommst?«, fragte Celia.

»Welches?«

»Morphium, schätze ich.«

»Dann dämmere ich dem Tod entgegen?« Seine Kiefer mahlten, um den Schmerz zu besiegen.

»Ich weiß es nicht«, wand sie sich erneut und fürchtete, dass es genauso kommen würde.

»Also ja. Dann habe ich zu tun. Ruft Holzapfel herein. Außerdem brauche ich mindestens zwei Fernsprecher hier am Bett. Edgar, kümmere dich darum.«

Alfred Hinnes, der Wirtschaftsmagnat, hatte maßgeblichen Anteil daran, dass drei Monate zuvor in Deutschland eine Währungsreform eingeführt worden war. Die hatte aus einer Billion eine einzige Mark gemacht. Nebenbei war er auf diese Weise schlagartig den gigantischen Schuldenberg losgeworden, mit dem er sein Firmenimperium finanziert hatte.

Mit dieser Kompromisslosigkeit stellte er sich nun dem Tod.

»Vater, du sollst dich nicht aufregen, sagen die Ärzte«, erwiderte Edgar, obwohl er bereits aufstand.

»Besser, ich rege mich jetzt auf. Später kann ich es nicht mehr. Geh schon. Celia, du bleibst.«

Sein Sohn eilte hinaus.

»Edgar hat recht«, sagte Celia. »Wenn du dich in Arbeit stürzt, kostet dich das Kraft, die du brauchst.«

Alfred Hinnes’ Hand machte eine wegwerfende Bewegung. »Wir haben nur diese Minute, bevor Holzapfel reinkommt. Rede nicht drum herum: Wie viel Zeit bleibt mir, bis ich für immer das Bewusstsein verliere? Tage? Oder Stunden?«

 

Das schmale Gesicht des Jungen war so blass, dass die frischen Farben seines zugeschwollenen blauen Auges noch stärker leuchteten. Sie changierten zwischen einem zarten Rosa, einem weichen Violett und einem dunklen Rot. Sehen konnte der Knabe damit für die nächsten Tage nichts. Egal, was er getan hatte – musste man ein zartes, höchstens sechs Jahre altes Kind so brutal bestrafen?

Keine Nachsicht mit niemandem. So hatte sich Magda die Stadt, in der sie lebte und arbeitete, von Anfang an präsentiert. Trotzdem erschreckte sie die Brutalität, mit der Menschen einander behandelten, bei jedem Einzelfall erneut. Noch immer hatte sie die schwachen Fingerabdrücke der Schmittke-Kinder vor Augen und war mit Kuno in dieses Charlottenburger Polizeirevier gefahren mit der plötzlich wieder aufgekeimten Hoffnung: Ob das wohl Otto ist, den sie gefunden haben?

Nun untersuchte sie den Jungen, während sich Kuno mit dem Revierleiter unterhielt. Nur der Holztresen, mit dem Beamte von Besuchern getrennt wurden, war zwischen ihnen. Was sie hörte, passte genau zu den Verletzungen des Kindes.

»Diese Banden gehen immer gleich vor«, wusste der Wachtmeister zu berichten. »Die suchen sich die kleinsten Bengel aus – einen wie den da – und lassen den durch ein Kellerfenster hinab. Der is der Türöffner, damit die Älteren ohne großen Aufwand durch Keller- oder Vordertür ins Haus gelangen.«

»Aber diesmal ging etwas schief«, stellte Kuno fest. »Was?«

Das sah Magda deutlich: Der Kleine war bei dieser Aktion offenbar in die Zinken einer Harke getreten. Sein blutiger Fuß war an drei dicht nebeneinanderliegenden Stellen durchbohrt. Magda desinfizierte die Wunden zwar bereits, doch unter Umständen war es zu spät.

»Wer hat das Kind dermaßen verprügelt?«, fragte Kuno.

»Der Besitzer des Hauses überraschte die Bande. Weil er nicht mehr laufen konnte, haben seine Kumpane den Kleenen zurückgelassen. Da hat er die Dresche abjekriegt.« Der Polizist seufzte. »Den Letzten beißen die Hunde. Is nu mal so.«

»Hat er gesagt, wer mit ihm unterwegs war?«

Der rundliche Wachtmeister lachte. »Eher küsst mir der Kaiser von China die Füße!«

Was wohl bedeuten sollte, dass der Junge schwieg. Dass er hart im Nehmen war, bemerkte auch Magda: Während der schmerzhaften Behandlung gab er nicht einen Mucks von sich.

»Wie heißt du?«, fragte sie.

Er reagierte nicht einmal, starrte mit zusammengebissenen Zähnen ins Nichts.

»Ich bin Ärztin«, sagte sie.

Für Sekundenbruchteile zuckte sein Blick zu ihr, entkam ihr sofort wieder.

»Ich bringe dich ins Krankenhaus.«

Wieder zuckte sein Blick. Er erinnerte sie an ein Tier, das in die Enge getrieben war.

»Man wird dir gutes Essen geben.« Dieser Trumpf stach sonst immer.

Nicht dieses Mal. Der Blick ging wieder ins Nichts.

Inzwischen war sein Fuß verbunden. Sie packte ihre Utensilien ein, sagte zu Kuno: »Ich bring ihn ins St. Hedwig.«

Sie vermied die Anrede, sagte weder »Kuno« noch »Herr Kommissar«. Obschon verheiratet, achteten sie beide darauf, Beruf und Privatleben vor den Augen und Ohren Dritter zu trennen.

»Müssen Se nur noch das Protokoll unterschreiben, Frau Doktor«, sagte der Wachtmeister.

Magda ging um den Tresen herum. Im selben Augenblick sauste der Junge zur Tür, so wie er war, mit nacktem verbundenem Fuß, ohne Jacke. Hinaus in Schnee und Eis.

»So ’ne Kanaille!«, fluchte der Polizist und machte keinen Versuch, ihm zu folgen.

Kuno rannte selbst los. Im Vertrauen auf die sportlichen Fähigkeiten ihres Mannes unterschrieb Magda in aller Ruhe das Protokoll.

»Machen Se sich nich zu viel Arbeit mit dem Bengel, Frau Doktor«, riet der Wachtmeister. »Der is bald hin.«

»Ach ja?«

»Die Harke war dreckig, in die er getreten is. In ein paar Wochen kriegt der ’n Wundstarrkrampf. Dann is aus.«

Wenn Schmutz in die Blutbahn geriet, das war Allgemeinwissen, war eine Behandlung unmöglich. Ein Mittel gegen Wundstarrkrampf gab es noch nicht. Doch Magda hätte diese Arbeit nicht begonnen, wenn sie nicht um jedes Leben hätte kämpfen wollen.

 

Schon so oft hatte Magda in einem der Wagen der Fahrbereitschaft ein Kind zum Krankenhaus gebracht. Der kleine namenlose Unglücksrabe aus der Charlottenburger Villa hockte wie all die anderen vor ihm schweigend in die Ecke gedrückt neben Kuno, dem großen Polizisten. Der hatte ihn nach einem kurzen Sprint vor der Wache wieder eingefangen. Es lag kaum Schnee, aber die Temperatur war eisig und der Knabe trug nur eine zerrissene Hose und einen Pullover, der ihm zu klein war. Falls er Schuhe gehabt hatte, hatte man ihm die gewiss vor dem Einbruch abgenommen, damit er sich geschickter und leiser bewegen konnte.

»Wenn du uns sagst, wo du wohnst, bringen wir dich heute noch nach Hause«, versprach Magda ihm. Sie beugte sich zu dem Kind hinüber, suchte seinen unruhigen Blick. »Du weißt doch, wo deine Eltern wohnen? So ein großer Junge wie du.«

Er presste seine vor Kälte bläulich verfärbten Lippen zusammen. Magda hätte ihm am liebsten eine Decke um die schmalen Schultern gelegt, doch es gab keine. Nein, der Knabe wollte kein Mitleid. Wäre er Otto, dachte sie, hatte er vermutlich Schlimmeres durchgemacht. Entweder war er gegen Ende des Krieges zur Welt gekommen oder in der entbehrungsreichen Zeit danach aufgewachsen. Und irgendwann zum Stehlen losgeschickt worden. Ob er überhaupt wusste, was mit dem Begriff Kindheit gemeint war?

»Oder sollen wir dich lieber ins Gefängnis bringen?«, fragte Kuno.

Was nur eine leere Drohung war; die nächste Station nach dem Krankenhaus wäre vermutlich die Abteilung für Kinder im »Städtischen Obdach« in der Fröbelstraße. Das war schlimmer als jedes Zuchthaus, fehlte doch dort für medizinische Betreuung das Personal. Träfe die Vermutung des Wachtmeisters zu, würde der Kleine dort irgendwann sang- und klanglos von dieser Welt abtreten. So gesehen hatte er richtig gehandelt, als er versucht hatte abzuhauen.

Jetzt stoppte der Wagen vor dem St. Hedwig-Krankenhaus in der Großen Hamburger Straße, die trotz ihres Namens eine enge Gasse war. Oberschwester Xaveria vom Orden der Borromäerinnen nahm das Bürschchen entgegen. Die Nonne trug eine ungewöhnliche Tracht, deren eng das Gesicht umschließende weiße Haube über dem Scheitel spitz zulief und Schultern und Brust einschloss. Die wachen Augen in ihrem blassen Gesicht schmückte ein Strahlenkranz aus Lachfältchen. Magda kannte sie und vertraute ihr seit einem ihrer ersten Einsätze als Polizeiärztin.

Gemeinsam begutachteten die beiden unterschiedlichen Frauen den verletzten Fuß. Mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen fasste die Schwester zusammen: »Wenn das mal gut geht.« Sie seufzte. »Was machen wir danach mit ihm?«, fragte sie kurz darauf vor der Tür.

Danach – er würde nur kurz bleiben dürfen. Ein kaputter Fuß war kein Kriterium für einen längeren Aufenthalt.

»Gibt es in der Kleiderkammer noch gespendete warme Sachen, die ihm passen könnten?«, fragte Magda zurück.

»Ich lasse nachsehen. Und dann?«

»Er wird versuchen wegzulaufen.«

»Sobald sie sich satt gegessen haben, versuchen das alle diese Jungs, Frau Doktor.«

»Halten Sie ihn nicht zurück, Schwester.«

»Tatsächlich?«

»Irgendwo gehört er hin. Uns sagt er es nicht. Also …«

Die Nonne nickte verstehend.

 

Kuno schloss sich wenig später Magda an. Auf einem Blatt Papier präsentierte er ihr die Fingerabdrücke des kleinen Einbrechers. Er hatte sie mithilfe eines Stempelkissens gewonnen. Und sie erzählte ihm von ihrem Vorhaben.

»Laufen lassen willst du ihn, damit er uns zu seiner Bande führt?«, fragte er erstaunt. »Irgendein Schutzmann soll ihm dafür womöglich durch die ganze Stadt folgen?« Kuno Mehring grinste. »Das stelle ich mir sehr lustig vor.«

»Du meinst, das wird nichts, weil der Kleine türmen wird. Und kein Schupo der Welt wird ihm folgen.«

Kuno nickte.

»Und wenn es Otto wäre?«, fragte Magda listig lächelnd.

»Magda, soll ich allen kleinen Einbrechern der Stadt nach Hause folgen, um eventuell Otto zu finden?«, fragte Kuno seufzend.

»So ganz nebenbei würdest du vielleicht eine Bande festnehmen, die kleine Jungs für Einbrüche benutzt.«

»Siehst du, deshalb jagt Kollege Wagner Mörder. Das ist eine Arbeit für richtige Kommissare.«

Sie wusste, dass er scherzte, und strich ihm wie zufällig über seinen sportlich trainierten Bauch. »Ich erkenne einen richtigen Kommissar, wenn ich ihn ansehe.«

 

Als Celia das Krankenzimmer ihres Schwiegervaters betreten wollte, prallte sie im ersten Moment zurück, weil sie meinte, sich in der Tür geirrt zu haben. Der Raum war voller Männer in dunklen Anzügen, teilweise trugen sie Mantel und Hut. Als wären sie gerade gekommen oder kurz vor dem Aufbruch. Und alle sprachen viel zu laut und durcheinander. Nicht eine einzige Frau war an diesem Morgen nach der unglücklichen Operation zu sehen. Auch nicht Cläre, mit der sie sich am Bett von deren Vater treffen wollte.

Entschlossen schob sich Celia durch den vollen Raum, bis sie zu ihrem Schwiegervater vorgedrungen war. Der Patriarch hatte nicht mehr die Kraft, den Telefonhörer selbst zu halten; Holzapfel, sein Sekretär, tat dies, seltsam verdreht seinem Arbeitgeber zugewandt. Von Edgar war nichts zu sehen, obwohl er die eheliche Wohnung am Bayerischen Platz bereits um halb sechs in der Früh verlassen hatte.

»Schon dich, Lia. Ich komme zurecht«, hatte er seinen Abschiedskuss kommentiert.

Jetzt war es halb zehn. Wo war er?

Endlich legte Holzapfel den Hörer auf. Celia nutzte die Gelegenheit: »Schwiegervater, wäre es nicht klüger, all diese Leute hinauszukomplimentieren?«

Mit einem schwachen Kopfnicken stimmte der Todgeweihte ihrem Vorschlag zu.

Celia wandte sich den Besuchern zu. »Meine Herren …«

Niemand hörte auf sie.

»Celia …« Die Stimme des Patriarchen war schwach, aber sie hörte sie und beugte sich zu ihm. »Sag ihnen danke für ihr Vertrauen. Edgar wird mein Nachfolger sein, wenn …« Seine Stimme versagte kurz. Dann sagte er: »Ich vertraue dir. Wir sind aus demselben Holz.«

Es hatte einmal einen wichtigen ersten Augenblick gegeben, in dem sie und der alte Herr, wie Edgar den Vater nannte, ihre gegenseitige Sympathie entdeckt hatten. Es war bei dem Abendessen in Edgars Wohnung gewesen, als sie ihrem späteren Schwiegervater vorgestellt worden war. Er hatte von seinen geschäftlichen Problemen im von Frankreich besetzten Ruhrgebiet erzählt und sie hatte erwähnt, wie schwer es gewesen war, als man sie für die Mörderin ihres ersten Mannes gehalten hatte. Dass man so etwas eben aushalten müsse. Obwohl sie einander kaum kannten, hatte er sie daraufhin als Edgars Verlobte akzeptiert.

Genau solch ein Moment war auch dies. Celia lief ein Schauer über den Rücken.

Entschlossen klatschte sie in die Hände. Es wurde still.

»Herr Hinnes dankt Ihnen und bittet Sie zu gehen.«

Die Männer guckten ungläubig.

»Mein Ehemann, Edgar Hinnes, wird …« Welche Formulierung war richtig: Nachfolger? Während Alfred Hinnes lebte?

Unruhe kaum auf.

»Edgar Hinnes vertritt seinen Vater«, rief sie fast. »Wir brauchen jetzt Ruhe.«

Der Raum leerte sich, es wurde still. Nur Holzapfel, Verzweiflung im Gesicht, war noch da.

»Celia …«

Sie trat zum Schwiegervater. »Ja?«

»Gut gemacht.« Alfred Hinnes verzog das Gesicht unter Schmerzen. »Edgar wird viel Verantwortung tragen müssen«, sagte der Patriarch. »Du wirst ihn mit all deiner Kraft unterstützen. Versprich mir das.«

»Selbstverständlich werde ich das«, antwortete sie spontan.

Doch leise meldete sich eine Stimme in ihr, der Celia nicht zuhören wollte. Denn diese Stimme fragte: Und was wird aus dir, Celia? Aus deinem Studium? Deiner Hoffnung, nicht nur Ehefrau und Mutter zu sein?

 

Cläre traf erst gegen Nachmittag ein. Das Gesicht gerötet, den Kopf eng umschlossen von einer Lederkappe, auf der Stirn eine Fahrtenbrille, um die Lippen ein Lächeln, das irgendwo zwischen Triumph und Niederlage spielte. Während sie das Krankenzimmer betrat, löste sie ihre Kappe vom Kopf, fuhr sich burschikos durch das kurz geschnittene glatte blonde Haar und warf ihren Ledermantel auf einen Stuhl. Celia meinte, die klare Winterluft, die ihre Schwägerin umgab, in dem stickigen Raum riechen zu können.

Cläre hatte eine große Leidenschaft – das Autofahren, etwas, das die wenigsten Frauen konnten oder gar wollten. Die Dinger hatten riesige Lenkräder, die viel Kraft erforderten, und sie waren auch sonst anstrengend zu bedienen. Trotz der eisigen Temperaturen fuhr sie ihr schweres Cabriolet wohl sogar offen.

»Viel los draußen«, sagte sie an Celia gewandt. »Geht es Vater wirklich so schlecht, dass die Journaille von ganz Berlin antanzt?«

Auf den ersten Blick war der kritische Gesundheitszustand ihres Vaters nicht zu erkennen. Es machte den Eindruck, als kämpfte Alfred Hinnes um sein Firmenimperium und nicht um sein Leben. Er hatte hohes Fieber entwickelt, Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Vor Stunden bereits hatte Professor Bier eine Krankenschwester abgestellt, die dem Patienten immer wieder kühlende Wickel legte und ihm Wasser reichte. Was der Kranke eher unwillig ertrug. Jetzt seinem Sohn neue Aufträge zu diktieren, war ihm wichtiger. Edgar, inzwischen von dem Treffen mit einem wichtigen Wirtschaftskapitän zurückgekehrt, saß neben dem Bett. Sekretär Holzapfel telefonierte ununterbrochen die neuesten Informationen herbei oder erteilte Mitarbeitern Direktiven. Die neu hinzugekommene Tochter Cläre begrüßte der Vater flüchtig, indem er die Hand zum Gruß hob.

Celia bugsierte ihre Schwägerin zum Fenster hinüber. »Wir machen uns wirklich große Sorgen um ihn.«

»Er ist fast wie immer.«

»Das täuscht.« Celia holte tief Luft. Es erschien ihr unredlich, Cläre anzulügen: »Dein Vater spürt, dass es mit ihm zu Ende geht.«

»Du machst mir Angst, Süße.«

Schon bei ihrer ersten Begegnung vor gut drei Jahren hatte Cläre sie so angesprochen. Damals hatten sie beide nicht gewusst, wer die andere war; Celias Kindheitsfreundin Josefine hatte sie in einem Tanzlokal miteinander bekannt gemacht. Die Anrede war geblieben, hatte aber eine neue Bedeutung bekommen. Celia wusste, dass Edgars Schwester sie wirklich gern hatte. Was auch andersherum galt.

»Ich will dir keine Angst machen, Cläre. Ich habe selbst Angst um ihn.«

»Oh Gott!« Sie schloss Celia in die Arme. »Aber es ist doch nur eine Gallen-OP. Kann da so viel schiefgehen?«

Celia nickte. »Wo sind deine anderen Brüder, deine Mutter?«

Erst diese Frage schien Cläre den Ernst der Lage bewusst zu machen. »Mutter ist wie immer in Mülheim.« Die Familie stammte von dort, allerdings hatte der Patriarch eine repräsentative Berliner Villa. »Du meinst, man sollte ihr sagen, sie müsse kommen?«

»Ja.«

»Mutter kann Berlin nicht leiden.« Sie seufzte. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«

»Natürlich.«

»Ruf du sie an. Sie weiß, dass du Medizin studierst. Dir wird sie glauben. Bei mir wird sie behaupten, ich wolle mich aufspielen.«

Als Celia und Edgar noch frisch verliebt gewesen waren, hatte er einen bezeichnenden Satz gesagt: Meine Familie ist so etwas wie die Vereinigung von Interessen zur Erlangung eines gemeinsamen Ziels. Sie war in ihrer eigenen Familie auch nicht glücklich, aber diese Formulierung hatte sie erschüttert.

»Cläre, ich kenne deine Mutter kaum«, gab sie zu bedenken; es hatte nur oberflächliche Gespräche bei der Hochzeit gegeben.

»Aber ich kenne sie umso besser. Darum bitte ich dich, es zu tun.«

Es war Alwine Hinnes, die dafür gesorgt hatte, dass ihre einzige Tochter von allem ferngehalten wurde, was das Unternehmen betraf. Allerdings kannte Celia ihre Motive noch nicht.

»Deine Brüder telefonierst aber du herbei«, beharrte sie.

»Sag mal, Süße, wie geht es dir eigentlich? Du siehst nicht gut aus.«

»Danke. Ich liebe deine Komplimente.« Sie lächelte. »Das Kind macht sich seit heute richtig bemerkbar.« Sie führte Cläres Hand auf ihren Bauch. »Spürst du es?«

»Nein. Kann man denn das? Aber müsstest du dann nicht zum Arzt, wenn das Kind dir wehtut?«

Celia musste lachen. »Nein, es ist ein gutes Zeichen und es tut gar nicht weh!« Auf eine richtige Idee hatte Cläre sie dennoch gebracht.

 

Liesl zog die Backform aus dem Ofen. In der Küche breitete sich der Duft von heißem Zucker, Hefe und Butter aus, den Celia mit ihrem einstigen Zuhause verband.

»A guats Essen hält Leib und Seele ’zam«, sagte Liesl. »So wie du ausschaust, brauchst des grad.«

»Warum sagen alle, ich sähe so bemitleidenswert aus? Ich finde, ich sehe ganz normal aus«, protestierte Celia.

»Tust ja auch, Lia.«

Die Köchin lächelte verschmitzt und servierte die Rohrnudeln gleich am Küchentisch, wie es seit Celias Kindertagen Brauch war. Seit einigen Jahren war ihre hochherrschaftliche Wohnung in der Bleibtreustraße im noblen Charlottenburg eine Pension, die von der einstigen Haushälterin geführt wurde.

»Das schmeckt so lecker! Danke, Liesl.«

»Zucker und Fett, Lia, des musst dir merken, wenn dein Kind da is – des is Nervennahrung. Also, erzähl: Wie geht’s deinem Schwiegervater?« Nachdem Celia berichtet hatte, folgerte Liesl: »Du glaubst also ned, dass er durchkommt?« Sie stöhnte. »Und dann, Lia? Da wird doch dein Mann für seinen Vater einspringen müssen, oder? Was wird dann hier aus uns?«

»Die Pension bleibt, Liesl. Ich werde sie nicht verkaufen.«

Liesl setzte sich zu Celia an den Tisch, was sie selten tat. Denn trotz des engen Verhältnisses wahrte sie den Standesunterschied zwischen Herrschaft und Personal. »Lia, mach die Augen auf: Des geht ned! Dein Mann – da muss i doch nur in die Zeitung schaun, was sie alle schreib’n – der muss so was wie a Weltreich führ’n, wenn dein Schwiegervater stirbt. Da is kein Platz mehr für uns und die kleine Pension hier.«

Die mahnenden Worte schnürten Celia die Kehle zu. Sie schob das Essen ein Stück von sich. »Was soll ich denn machen, Liesl? Du und die Pension – ihr seid mein Zuhause. Ich kann das nicht aufgeben. Vielleicht kommt Schwiegervater ja auch durch und Biers Theorie mit der Selbstheilung erweist sich noch als richtig. Der Professor macht es schließlich seit Jahrzehnten so. Da wird ihm doch nicht der berühmteste Patient wegsterben. Oder, Liesl? Ist doch so?«

Ihre Worte waren wie das Pfeifen eines ängstlichen Kindes, das sich im dunklen Wald verlaufen hat.

»Genauso is es, Lia. Ned immer kommt alles so schlimm, wie man meint. Jetzt iss erst mal dei Rohrnudel.«

 

»Ach, Frau Doktor Fuchs, das ist aber schön, Sie mal wieder zu sehen!«

»Mehring, Frau Grusinski«, verbesserte Magda lächelnd.

»Verzeihen Sie. Ich habe ganz vergessen, dass Sie geheiratet haben. Wie geht’s dem Herrn Gemahl?«

»Danke, Kommissar Mehring hat viel zu tun.«

Frau Grusinski wischte gerade den gemusterten Fliesenboden im Eingangsbereich des hochherrschaftlichen Treppenhauses. Die Concierge hatte ihr vor einer Weile gesagt, dass sie darin eigentlich nicht ihre Aufgabe sah. Schließlich müsse sie einen guten Eindruck machen als Empfangsdame in der Bleibtreustraße. Aber die Zeiten hatten sich während der Inflation geändert und nun, nach der Währungsreform, war das Geld noch knapper. Die Concierge war zur Hauswartsfrau geworden.

»Ich habe eine gute Nachricht, Frau Grusinski: Ich werde meine Praxis wiedereröffnen!«

»Ach, das freut mich aber für Sie.« Ohne aufzublicken, schob Frau Grusinski den Schrubber über den Boden. Sie ahnte wohl, dass sie in Zukunft mehr Arbeit haben würde, wenn hier wieder Patientinnen ein und aus gingen …

Magda stieg beschwingt die Treppe in den ersten Stock nach oben. Schon so lange war sie nicht mehr hier gewesen, aber nun hatte sie endlich das ersehnte Schreiben des Gesundheitsamts im Briefkasten vorgefunden.

Bald ein Jahr war vergangen, seitdem Magda sich entschlossen hatte, ihre Praxis wegen der ständigen Streitereien mit ihrer damaligen Vermieterin aufzugeben. Nach dem überraschenden Tod von Agnes Fahrland hatte deren Tochter Celia Magda sofort einen neuen Mietvertrag angeboten. Nun war der Zeitpunkt da, Celia zu informieren und den Neustart zu organisieren. Es waren viele Wochen vergangen, seitdem die beiden Frauen sich zuletzt getroffen hatten. Viel war seitdem geschehen: die Hochzeit der acht Jahre Jüngeren, deren Schwangerschaft, nun die Sorge um den Schwiegervater.

Zwei große Wohnungen teilten sich die Beletage. Rechts die einstige Wohnung der Fahrlands, die Magda nur als »Pension Bleibtreu« kannte, links die Praxis des seligen Dr. Hermann Fahrland, die Magda übernommen hatte. Sie sah auf die Uhr und zögerte kurz. Es war fast acht Uhr abends. Konnte sie noch läuten? Kurzentschlossen tat sie es.

Gerti, das Dienstmädchen, strahlte sie an, als sie öffnete; bis kurz vor ihrer eigenen Hochzeit hatte Magda in der Pension gewohnt und sich wohlgefühlt.

»Frau Doktor! So eine Überraschung!« Auch hier war Magda Frau Doktor, obwohl sie nie promoviert hatte.

»Ich habe auf gut Glück geklingelt«, sagte sie. »Ich müsste mit Frau Fahrland-Hinnes sprechen. Hat sie ihr Kommen angekündigt, Gerti?«

»Sie ist gerade hier! Treten Sie ein, Frau Doktor. Man meint sonst ja, Sie wären nur ein Gast.«

Bereits im langen Korridor der Pension trafen die beiden Frauen aufeinander.

»Wie gut, dass Sie gerade kommen, Magda! Haben Sie ein wenig Zeit für mich?«

Magda lachte. »Ich wollte Sie dasselbe fragen!«

 

Das gleichmäßige Rauschen des Bluts, das beruhigende Pochen des jungen Herzens. Es gab kaum ein Geräusch, das Magda mehr schätzte als diese beiden untrüglichen Signale werdenden Lebens. Sie nahm das Hörrohr von Celias sich leicht rundendem Bauch und richtete sich mit einem Lächeln auf.

»Das klingt alles sehr gut«, sagte Magda. »Wieso sollte es auch nicht! Sie sind eine junge, gesunde Frau.«

»Ich mache mir ein wenig Sorgen, Magda. Mein kleiner Mensch machte sich erstmals deutlich bemerkbar, als mir die weitreichenden Konsequenzen von Professor Biers Vorgehen klar wurden. Meinen Sie, es schadet dem Kind, wenn ich mich so aufrege?«

Die Ärztin wiegte bedächtig den Kopf. »Ich glaube kaum, Celia«, sagte sie. »Ja, es gibt diese neuen Untersuchungen über das Seelenleben. Dass das Ungeborene spürt, wenn es der Mutter schlecht geht. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun. Ich bin sicher, dass auch Ihre Psyche das gut wegsteckt, was gerade um Sie herum geschieht.«

»Meine Schwägerin hat mich in dem Punkt etwas verunsichert«, räumte Celia ein. »Vom rein medizinischen Standpunkt aus bin ich gar nicht ängstlich.« Lächelnd richtete sie sich auf.

»Wissen Sie, wann Ihre Empfängnis war?«, fragte Magda.

»Ziemlich genau sogar: am 3. September.«

Offenbar ging die junge Frau, die Magda früher für etwas weltfremd gehalten hatte, sehr bewusst mit ihrem Körper um. »Also fünfter Monat. Da ist es durchaus üblich, dass Sie erste Bewegungen spüren.«

»Die sind ziemlich deutlich.«

»Sie stehen unter Anspannung, Celia. Das verändert die Wahrnehmung.«

»Was gerade geschieht, ist kompliziert. Ich bin nicht darauf vorbereitet, mit einem Mann verheiratet zu sein, der nie zu Hause ist.«

»Woher wollen Sie wissen, dass es so kommt?«

»Weil sein Vater so lebt. Wie sonst soll man so viele Firmen leiten?«

Magda hielt es für klüger, sich dazu nicht zu äußern. Eine geplatzte Gallenblase war lebensgefährlich. Aber wenn Bier, den sie nicht kannte, für gewöhnlich so operierte, würde das schon seine Richtigkeit haben. Obwohl sie in ihren Jahren am Hildesheimer St. Bernward-Krankenhaus durchaus selbstherrliche Ärzte erlebt hatte. Das Wohl der Patientinnen war ihnen weniger wichtig als ihr eigener guter Ruf. Kunstfehler, wie sie gang und gäbe waren, wurden deshalb entweder kleingeredet oder vertuscht.

Aber Magda musste auch ihr eigenes Anliegen anschneiden: »Nächste Woche möchte ich hier wieder offiziell öffnen.«

»Tatsächlich? Oh, das freut mich. Ihren neuen Mietvertrag bekommen Sie schnellstens. Wollen wir es so machen, dass Sie erst nach einem Jahr Miete zahlen? Wenn Sie wissen, wie Sie über die Runden kommen?«

Als Gattin eines der reichsten Männer des Landes konnte die Studentin sich solche Großzügigkeit leisten. So mochte Magda es jedoch nicht sehen. Für sie war Celia eine Frau, die hart für ihre Unabhängigkeit gekämpft hatte. Auch jetzt würde sie sich finanziell sicher nicht an ihren Gemahl anlehnen.

»Das ist ein großzügiges Angebot. Danke. Ich denke, es wird nicht nötig sein, Celia. Ich bin sicher, dass ich es schaffe.«

Davon war Magda in der Tat überzeugt. Schließlich beabsichtigte sie, nicht nur die feinen Charlottenburgerinnen zu behandeln. Denn auf Agnes Fahrland, die nicht nur ihre Vermieterin, sondern auch Assistentin gewesen war, musste sie nach deren Tod keine Rücksicht mehr nehmen. Sie konnte selbst entscheiden, wen sie behandeln wollte, und war entschlossen, jeder Frau zu helfen.

»Als Ihre Patientin nehmen Sie mich aber schon?«, scherzte Celia.

»Natürlich!« Schon beschlichen Magda leise Bedenken: Ob das gut ginge? Die Millionärsgattin im Wartezimmer neben der Bordsteinschwalbe?

 

»Das sind deine Bedenken?« Lachend küsste Kuno Magda. »Dann richte Sprechstunden für die einen Damen ein und für die anderen, die keine Damen sind! Die müssen sich doch nicht über den Weg laufen.«

Ihr Kommissar war sogar noch später als sie selbst in die gemütliche Wohnung in der Knesebeckstraße heimgekehrt. Nach einem späten Abendessen legte Kuno nun eine Schallplatte auf.

»Darf ich bitten, gnädige Frau?«

Walzer im Wohnzimmer getanzt hatten sie schon in ihrer vorherigen Wohnung. Die war etwas weitläufiger gewesen. Da sie bislang aber nur wenige Möbel hatten, reichte der Platz allemal. Aus Rücksicht auf die Nachbarn von unten trugen sie keine Schuhe. Magda mochte es, den Kopf an Kunos breite Schulter zu schmiegen und sich von der Musik tragen zu lassen. Bis die Nadel in der Leerrille knisterte. Die Arbeit bürdete ihnen beiden so viele Sorgen auf, dass diese kleine Flucht aus der Wirklichkeit besonders guttat.

»Ich habe die Fingerabdrücke des Unglücksraben aus Charlottenburg überprüft. Es ist nicht Otto«, sagte Kuno und wechselte die Schallplatte. »Ehrlich gesagt bin ich erleichtert. Du nicht?«

»Doch«, gab sie zu. »Es wäre schrecklich, wenn man ihn zu einem Dieb erzogen hätte. Ist er aus dem Krankenhaus fortgelaufen?«

»Schon nach einer Stunde.« Kuno führte sie wieder über das heimische Parkett. »Er hat genau das getan, was wir erwartet hatten.«

»Du hast die Bande festgenommen?«

»Eine ältere Frau war da, die wir eingesperrt haben. Vermutlich hat sie nur auf die Kinder aufgepasst. Sozusagen ein Mutterersatz für insgesamt vier Jungs. Bis morgen bleiben sie in Polizeigewahrsam, aber kein einziger ist strafmündig. Also ab ins Städtische Obdach.«

»Was geschieht mit dem Unglücksraben, der nicht Otto ist? Was wird mit seinem verletzten Fuß? Kann ich wenigstens versuchen, Ina um Hilfe zu bitten?«

»Meinst du, deine Freundin schafft es, ihn am Weglaufen zu hindern?«

Magda ließ das so stehen. Es war nicht einfach, Straßenkindern, die kein Zuhause kannten, eines zu besorgen. Doch wenn es jemand konnte, war es Ina.

 

Der Dienstausweis, mit dem Magda ausgestattet worden war, machte nicht viel her. Es war ein Stück graues, hartes Papier, groß wie ein halber Briefbogen und in der Mitte gefaltet, mit etlichen Siegeln und den Unterschriften des Polizeipräsidenten sowie eines Mitarbeiters des Gesundheitsamts. Für gewöhnlich musste Magda das inzwischen etwas abgegriffene Dokument nicht mehr vorzeigen. Man kannte sie überall dort, wo sie für gewöhnlich auftauchte. Das Polizeipräsidium Charlottenburg an der Kreuzung Kaiserdamm und Schlossstraße, wo sie nun zum ersten Mal allein erschien, zählte noch nicht dazu.

»So? Polizeiärztin sind Se?«, sagte der Diensthabende am Eingang und drehte den schäbigen Ausweis in seinen Händen. »Und wat wollen Se?«

Magda legte ein Schreiben vor, das Kuno angefertigt hatte.

»Ach, die Gören. Sitzen bei Wasser und Brot. Die neue Fürsorgerin is schon bei denen.«

Wegen dieser Nachricht machte Magdas Herz einen kleinen Freudensprung. Denn sie bedeutete, dass es ihrer Freundin Ina Dietrich tatsächlich gelungen war, die Stelle zu bekommen, auf die sie sich schon im letzten Sommer beworben hatte. Bislang hatte sie für einen Verein privater Wohltäterinnen gearbeitet.

Dem seit dem 1. Januar geltenden neuen Fürsorgegesetz verdankte sie die Sicherheit einer Anstellung beim Bezirk Charlottenburg. Der war bis vor knapp vier Jahren eine eigene Stadt gewesen mit über dreihunderttausend Einwohnern und gehörte seitdem zu Groß-Berlin. Mancher in der Hauptstadt scherzte, der inzwischen Berlin-W. genannte Bezirk hielte sich für den Nabel der Welt, weil hier die meisten der mondänen Vergnügungsstätten waren. Und auch die wohlhabendsten Bürger wohnten.

Dem Charlottenburger Präsidium sah man das Geld seiner Steuerzahler an. Es war wesentlich neuer und auch heller als die Rote Burg. Was dem darin untergebrachten Polizeigefängnis allerdings nicht zugutegekommen war. Die vier Jungs, zu denen auch jener mit dem verletzten Fuß gehörte, kauerten in einer vergitterten Zelle mit zwei Stockbetten, in der es nach Angst, Schweiß und Urin roch. Zumindest war der winzige Raum trocken.

Ina Dietrich, in dunklem Mantel und Hut, hatte man zu den Kindern in die Zelle gelassen. Als Magda hinzukam, schenkte sie ihr ein Lächeln, ließ sich aber ansonsten nicht anmerken, wie gut man einander kannte. Sie beide verkörperten Autoritäten, waren hier keine Privatpersonen, das war in ihren Berufen ein wichtiger Unterschied. Obwohl Magda darauf brannte zu erfahren, wie Ina die neue Stelle gefiel.

»Das ist die Ärztin Frau Mehring«, erklärte Ina. »Wenn einer von euch krank ist, dann sagt es ihr. Also?«

Der Unglücksrabe mit dem Fußverband schickte Magda einen kurzen scheuen Blick. Dann sah er wie die anderen auf den nackten Zementboden und schwieg ebenfalls.

»Will hier jemand wieder raus? Oder ist es im Gefängnis am schönsten?«, fragte Magda in jenem burschikosen Stil, den sie ihrer Freundin Ina im Laufe der Jahre abgeschaut hatte.

»Se müssen uns wieda loofen lassen. Wir sind Kinda.« Der anscheinend Älteste war bereits im Stimmbruch.

»Wir müssen jarnischt«, knurrte Ina. »Wer unsere Hilfe nich will, ist selbst schuld.«

Im sogenannten Milieu zählte nur Stärke, egal wie alt man war. Wenn die vier zusammenhielten, waren Fürsorgerin und Polizeiärztin machtlos. Wollten sie dem Unglücksraben helfen, mussten sie ihn folglich aus der Gruppe herauslösen.

»Du da«, Magda deutete auf den Jungen, »bist krank. Dich nehme ich mit.«

»Bin ick nich!«

Ina packte ihn am Arm und zog das Leichtgewicht hoch. »Haste nich gehört, was Frau Doktor sagt?«

Sie führten den Jungen in einen anderen, leeren Raum, wo Magda seinen Fuß erneut untersuchte. Rund um die Eintrittsstellen der Harkenzinken hatten sich Entzündungshöfe gebildet. Der Wachtmeister hatte recht gehabt: Das lief auf eine Sepsis hinaus. Im Krankenhaus würde man verhindern müssen, dass sich der Wundbrand ausbreitete. Sie erklärte es dem Kind geduldig – auch die letzte Konsequenz.

»Wat? ’n Fuß wollen Se mich abschneiden?« Der Kleine machte große Augen, dachte kurz nach. »Dann bettel ick. Det jibt mehr Penunze als wie bei die Einbrüche.«

Magda und Ina tauschten einen einvernehmlichen Blick. Ihnen beiden fehlten die Worte.

 

Ina und Magda fanden einen Platz an einem Tisch in der Kantine des Charlottenburger Polizeipräsidiums. Es war Mittag und der Raum voll. Magda war selten in einem solchen Speisesaal und blickte sich verwundert um.

Es waren vor allem Männer, die einander ähnelten: ernster, manchmal starrer Blick, fast alle mit Bart, Kragen, dunkler Krawatte, Weste, schwarzem Anzug. Viele frühere Offiziere waren in den Polizeidienst gewechselt und so wirkten sie auch: wie Soldaten. Unweigerlich musste Magda an Wagner denken, der nicht viel von seinen Kollegen hielt. Sie hatten nicht gelernt, selbstständig zu denken, und ermittelten ohne eigene Ideen. Darum brauchten sie klare Regeln, an die sie sich halten konnten. Für sie erschuf er deshalb sein Regelwerk.

»Es sind genau vier«, sagte Ina.

»Vier? Wovon?«

Ina lachte. »Ich dachte, du zählst, wie viele Frauen hier sind. Da drüben die beiden sind Tippfräuleins und dann wir zwei Hübschen. Hier ist es noch schlimmer als in der Roten Burg. Die Tippfräuleins verschwinden hinter ihren Schreibmaschinen und huschen dann nach Hause. Von denen verirrt sich kaum mal eine hierher. Wir beide sind Exotinnen, Magda!«

»Gut, dass du mich daran erinnerst. Ich vergesse leicht, dass vielen Frauen das Selbstbewusstsein fehlt, sich einfach unter die Herren zu mischen. Dabei sollte es normal sein.«

»Ist es aber nicht. Nur wer genau hinsieht, erkennt die alltägliche Ungerechtigkeit und kann mithelfen, sie zu verändern.«

»Heute so grundsätzlich?«, stichelte Magda.

»Wieso heute?« Ina schmunzelte.

Sie hatten sich beide für Sauerkraut, Blutwurst und Kartoffeln entschieden, das klassische Winteressen.

»Auch ein Vorteil meiner neuen Position«, sagte Ina. »Als Angestellte des Bezirks darf ich hier umsonst essen.«

Aus ihrer großen Handtasche holte sie einen Henkelmann hervor, schaufelte mehr als die Hälfte ihres Essens hinein und ließ das Blechtöpfchen anschließend kommentarlos wieder verschwinden.

»Wie gefällt dir deine neue Arbeit?«, fragte Magda.

»Es ist ein großer Unterschied zu früher, als ich auf das Wohlwollen der Leute angewiesen war, um meine Arbeit machen zu können. Jetzt bin ich städtische Fürsorgerin. Die Menschen müssen sich meinen Anordnungen fügen. Das sind sie nicht gewohnt. Dabei meine ich es doch nach wie vor nur gut mit ihnen.«

»Man begegnet dir mit Misstrauen?«

Ina nickte. »Gestern erst schickt mich eine Schule los, weil zwei Geschwister schwänzen. Erst nach langem Läuten wird mir aufgemacht. Die Mutter lässt mich rein, zeigt mir ihre beiden Jungs. Die hätten die Grippe. Ich frage: ›Warum sind die dann nicht im Bett?‹ Die Mutter druckst rum: ›Das geht gerade nicht.‹ Weißte, wer im Bett lag? Ein Schlafgänger. Und dann seh ich: Die Jungs kratzen sich die ganze Zeit. Das kenn ich – Flöhe. Ich zähl eins und eins zusammen: Tagsüber vermietet die Mutter das Bett an einen Mann, der nachts arbeitet. Der bringt die Flöhe mit, die auf die Jungs überspringen, wenn die nachts im selben Bett schlafen.«

»Warum hat die Mutter die Kinder nicht in die Schule geschickt?«

Ina verdrehte die Augen: »Na, weil sie sich schämt. Das hier is Charlottenburg. Da haste keine Flöhe, Bettwanzen oder Läuse und arm biste besser auch nicht. Meine alte Klientel in Friedrichshain sah das anders: Besser Flöhe als jar keene Haustiere.«

»Du hast die Kinder zum Entlausen geschickt?«

»Kannst dir vorstellen, welches Theater die Mutter gemacht hat. Das ganze Bettzeug – alles musste weg. Beliebt macht man sich so nich.« Sie guckte auf Magdas nach wie vor halb vollen Teller. »Magst du die Blutwurst nicht?«

Magda schob ihr den Teller hin und kurz darauf verschwand das Essen im wieder hervorgeholten Henkelmann.

»Is ein bisschen schwierig zurzeit«, brummelte Ina. »Gustav hat seine Arbeit verloren. Na ja, verloren