Die Ballade von John und Ines - Beate Baum - E-Book

Die Ballade von John und Ines E-Book

Beate Baum

4,7

Beschreibung

Ines Behrendt ist glücklich: Die Dresdner Sängerin ist an Paul McCartneys Pop-Uni LIPA angenommen worden, zwischen dem Mitstudenten John Raymond und ihr knistert es, und ausgerechnet in Liverpool wird ihr Beatles-Programm bejubelt. Alles ist perfekt, da wird eines Morgens der Chef des berühmten Cavern-Clubs erschlagen aufgefunden und John verhaftet. Dabei erscheint der deutsche Veranstalter Nicolas Olsen, der aus der Stadt eine Art Beatles-Disneyland machen will, doch sehr viel verdächtiger …

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Beate Baum

Die Balladevon John und Ines

Roman

Impressum

Ausgewählt von Claudia Senghaas

Personen und Handlung sind frei erfunden. Die Ähnlichkeit von zwei Figuren mit lebenden Musikern ist jedoch beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung:/E-Book Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von:

© MIGUEL GARCIA SAAVED / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4560-6

Widmung

Für alle Wirte und Veranstalter, die mit dem Herzen dabei sind.

1. Kapitel

»Und die Bilder sind wirklich von John Lennon?« Immer wieder verdrehte Janine den Kopf, um die vier bunten Zeichnungen hinter sich zu betrachten. Sie zeigten einen glücklichen Vater, ein sich küssendes Paar. Trotz der wenigen Striche waren die Gesichter unverwechselbar. Der Mann trug eine Nickelbrille, die Frau hatte lange schwarze Haare.

»Soviel ich weiß, ja.« Ines freute sich über die Begeisterung ihrer Freundin. »Und wir sitzen dort, wo die Beatles nach ihren Auftritten im ›Cavern‹ ihr Bier getrunken haben.« Sie deutete auf kleine Messingschilder direkt über der gepolsterten Bank. »Vermutlich auch noch auf den gleichen Bezügen«, ergänzte sie mit Blick auf den speckig-fleckigen Stoff.

Janine lachte. »Aber das ist doch irre: eine ganz normale Kneipe, kein Eintritt …«, besorgt schaute sie von ihrem noch halbvollen Pint of Lager zu Ines: »Dann hat das Bier bestimmt ein Vermögen gekostet. Die nächsten beiden hole auf jeden Fall ich, und ich kann dir auch Geld zurückgeben.«

Sie machte sich Sorgen um ihre finanzielle Situation, registrierte Ines gerührt. Sie schüttelte den Kopf: »Das Bier ist überall in England teuer. Hier bezahlt man nicht mehr als woanders.« Sie schaute auf ihre Uhr und verzog erwartungsvoll die Mundwinkel. Es war kurz nach elf. »Die nächste Runde werden wir aber trotzdem woanders nehmen müssen.«

Die älteren Gäste am Nebentisch standen gerade auf und verabschiedeten sich mit lauten Bemerkungen in dem derb-kehlig klingenden Liverpooler Dialekt voneinander. Ein Mann stürzte noch einen Riesenschluck Bier hinunter, ein anderer ließ das große Glas mit einem verbliebenen Drittel Inhalt stehen. Eine Angewohnheit, die Ines nach wie vor irritierte: So teuer das Bier war, so viel tranken die Liverpudlians und so sorglos gingen sie damit um.

»Schluss jetzt, Leute.« Der etwa 30-jährige Barmann kam in den hinteren Teil der Kneipe, sammelte die Pintgläser ein und drehte mit schwungvollen Bewegungen die kleinen Hocker um, stellte sie auf die Tische. »Trinkt aus!«

Die Gäste neben ihnen erhoben sich prompt. Janine wirkte verwirrt: »Ich dachte, die typische Sperrstunde ist längst aufgehoben.«

»Nicht in altmodischen Kneipen wie dem ›White Star‹. Nimm dein Glas mit nach vorn, dann kann er hier schon aufräumen.«

Der Barmann hatte einmal seine Runde gemacht, beschäftigte sich nun mit dem Tisch neben ihnen. Janine seufzte und holte ihre kleine Kamera aus der Tasche, fotografierte die Wand mit den Lennon-Zeichnungen, dem Vertrag der Beatles mit Bert Kaempfert über ihre erste Plattenaufnahme, den vielen Fotos.

»Na, na, junge Frau. Das kostet extra!«

Janine schreckte zusammen. Unsicher blickte sie ihre Freundin an.

»Wir würden noch mindestens zwei Pints trinken, aber ihr lasst uns ja nicht«, hielt die dem Mann vor.

Er zuckte die schmalen Schultern. »Der Chef. Will nach Hause zu Frau und Kindern. Fünf Kindern, stellt euch das mal vor!«

»Genauso laut wie im ›Grapes‹«, vermutete Ines.

»Raus mit euch!« Er grinste.

»’tschuldigung!« Ines trank den letzten Rest ihres Biers und bedeutete Janine, es ihr gleichzutun.

Kurz darauf standen sie vor der Kneipe. Es war ein milder Freitag Mitte Mai, die Nacht in Liverpool begann. In der kleinen Seitenstraße waren relativ wenige Menschen unterwegs, von der Mathew Street um die Ecke drang jedoch ein gewaltiger Geräuschpegel herüber. Verschiedene Musikstile mischten sich mit den Rufen mehr oder weniger angetrunkener Menschen aller Altersklassen.

»Das ›Grapes‹ ist eine Kneipe mit Karaoke für Junggesellinnen-Abschiede und so«, klärte Ines ihre Freundin auf. »Du wirst die wilden Horden gleich sehen.« Dass es ebenfalls eine Stammkneipe der Beatles gewesen war, verriet sie Janine nicht. »Ich schlage vor, wir schlendern die Ausgehmeile hoch, und dann geht’s in den ›Cavern‹.«

Arm in Arm gingen sie die Mathew Street entlang. Helle Leuchtgirlanden gaben der Fußgängerzone etwas Kirmeshaftes, die aus den Pubs und Clubs herausdröhnende Musik war teilweise schon auf der Straße zu laut. Wie an jedem Wochenendabend waren viele Stag- und Hen-Nights unterwegs, Braut und Bräutigam beim Abschied vom Singleleben, der hier so exzessiv gefeiert wurde, dass man sich danach vermutlich nur noch nach einem ruhig-beschaulichen Eheleben sehnte, erklärte Ines Janine.

»Und wie sieht es bei dir in der Hinsicht aus?«, fragte Janine. »Mit Mirco bist du nicht mehr zusammen, oder?«

»Nein.« Ines zögerte kurz. Auch nach neun Monaten schmerzte der Gedanke an die Trennung noch. Oder eher die Erinnerung daran, wie wenig Verständnis er für ihren Traum vom Leben als Musikerin gehabt hatte.

»Mirko war nicht bereit zu einer Fernbeziehung«, formulierte sie nüchtern und zog die Freundin zur Seite, damit sie nicht mit fünf Frauen in pinkfarbenen Häschenkostümen inklusive Ohren und Schwänzen zusammenstieß.

Janine drückte sie kurz an sich. »Das tut mir leid!«

»Es ist okay«, versicherte Ines. »Vielleicht treffe ich hier in Liverpool ja meinen John Lennon.«

*

Im ›Cavern Club‹, dem tief unter der Mathew Street liegenden Keller, in dem die Beatles ihre ersten Erfolge in der Heimat gefeiert hatten, war noch nicht viel los. Janine machte ein Foto der winzigen Bühne im ersten Backsteingewölbe, holte an der Theke zwei Bier und sie gingen in den angrenzenden Raum, in dem vier Musiker in dunklen Anzügen gerade ihre Instrumente aufbauten. In beiden Kellerräumen lief Musik von Ray Davis; die Gäste waren Touristen, die den weltberühmten ›Cavern‹ sehen wollten, aber auch einige tanzbegierige junge Einheimische, die sich zum Rhythmus von ›Is There Life After Breakfast‹ bewegten.

Als die Freundinnen kurz vor der Bühne waren, sah Ines erfreut, dass sie einen der Musiker kannte. John Raymond, ein Ire, stand kurz vor seinem Abschluss am LIPA, Paul McCartneys Pop-Uni.

»Hey, Ines«, begrüßte er sie auch schon. Als einer der ganz wenigen Englischsprachigen schaffte er es, ihren Namen annähernd richtig auszusprechen. Unter einer langen, dunklen Ponysträhne strahlte er sie an und nahm sie in den Arm. Er roch nach Mottenkugeln.

»Hi, John! Ich hätte dich fast nicht erkannt in dem Anzug.« Sie drehte sich zu Janine um. »Janine, das ist John, ein Studienkollege. John, das ist Janine, meine dienstälteste Freundin aus der Heimat.«

Die beiden gaben sich die Hand.

»Also aus Dresden?«, fragte er.

Janine schüttelte den Kopf. »Dort bin ich aufgewachsen, heute lebe ich in Berlin«, formulierte sie etwas holprig.

»Ah, Berlin. Spannend!« John wandte sich wieder Ines zu. »Ja, seltsam, nicht?« Er schaute an sich herab. Die Hosenbeine waren ein wenig zu lang. »Hab ich mir heute Nachmittag schnell noch bei Oxfam gekauft. Die ›Cavern Beatles‹ brauchten dringend einen Bassisten. Ian, Ringo Starr da«, er verzog die Mundwinkel zu einem feinen Lächeln, während er zu dem Drummer schaute, »hab ich neulich im ›Hannah’s‹ kennengelernt und ihm für genau solche Fälle meine Nummer gegeben.« Er zuckte die Achseln. »Wird gut bezahlt.«

»Dann bist du also Paul McCartney.« Ines grinste. »Ohne Pilzkopf.« Die ständigen Mitglieder der Coverband trugen die typischen Frisuren, während Johns schulterlange Haare hinten zu einem losen Zopf gebunden waren.

»Ian wollte mich noch zum Frisör schicken, aber ich habe gesagt, ich könnte doch Paul McCartney bei der Zeugnisübergabe nicht als Paul McCartney gegenübertreten. Das hat er verstanden.« Er zwinkerte Ines bedauernd zu. »Ich fürchte, ich muss.«

Seine Bandkollegen hinter ihm waren mit ihren Vorbereitungen fertig, das Stimmen war in ›She Loves You‹ übergegangen. Ray Davies verstummte. Mit einem Gruß in Richtung Janine ging John auf seine Position, hängte sich den E-Bass um. Ines wollte etwas dazu sagen, dass er auch nicht Linkshänder war wie der Beatle, aber Janine war schneller:

»Ist das vielleicht dein John Lennon?« Die Neugierde war ihr quer über das hübsche Gesicht mit der Stupsnase und den großen blauen Augen geschrieben. Dennoch schoss sie die nächste Frage gleich hinterher: »Und er trifft Paul McCartney?«

*

»Das hatte ich dir aber erzählt, dass man hier von Päule persönlich sein Abschlusszeugnis bekommt«, beharrte Ines noch am nächsten Morgen beim späten Frühstück in ihrem Zimmer.

Sie hatte sich zur Untermiete bei einer alten Dame in einer sanierungsbedürftigen Villa am Sefton Park einquartiert, ein absoluter Glücksgriff angesichts der Mieten in der Stadt. Für eines der Studentenwohnheime hatte sie sich mit ihren 28 Jahren zu alt gefühlt. Und sie mochte Mrs Englewood, die sie regelrecht unter ihre Fittiche genommen hatte.

Ines war examinierte Krankenschwester – und passionierte Sängerin, die sich bei ihren eigenen Songs und Beatles-Interpretationen am Klavier begleitete und schon seit Jahren in Clubs in Dresden und Umgebung erfolgreich aufgetreten war. Als ihr Großvater verstarb und ihr seine Ersparnisse vermachte, hatte sie sich kurzentschlossen bei LIPA – dem Liverpool Institute for Performing Arts – beworben. Und war nach einem Vorsingen angenommen worden. Seit Anfang September lebte sie nun in der Stadt, die sie bei einem Besuch vor drei Jahren kennen und lieben gelernt hatte. Glücklich – auch wenn sie mit ihrem Geld sehr sorgsam umgehen musste. Das Studium mit den Kommilitonen und Dozenten aus aller Welt, von denen viele bereits ein ganz anderes Leben geführt hatten, war anstrengend, aber spannend; Liverpool fand sie nach wie vor aufregend.

»Nein, das hätte ich mir gemerkt!« Janine war sicher, erst jetzt erfahren zu haben, dass Paul McCartney ihrer Freundin die Hand schütteln würde. Sie goss ihnen beiden Kaffee nach.

Ines hatte keine eigene Küche, nur eine winzige Nische mit einem zweiflammigen Kocher, Toaster und Kaffeemaschine auf einem Kühlschrank. Das Nötigste an Geschirr, Gläsern, Besteck und Töpfen stapelte sich auf einem Regalbrett. Die Freundinnen saßen in schönen, alten Ohrensesseln vor dem großen Fenster, durch das man auf Mrs Englewoods Garten blickte, wo warmer Sonnenschein die farbenfrohe Blütenpracht beschien. Jetzt, im Frühjahr, störte es nicht, dass das verzogene Fenster nicht richtig schloss. Im Winter hatte Ines oft genug unter der Bettdecke gefrühstückt, zumal die Heizung der Villa nicht sehr leistungsfähig war. Sie hatte Mrs Englewood in Verdacht, dass sie sich so oft persönlich um ihr Wohl kümmerte, um die baulichen Mängel auszugleichen – ein Handel, auf den Ines gern einging.

»McCartney gibt sogar regelmäßig Master-Classes«, erzählte sie, ohne den Stolz auf ›ihre‹ Uni zu verbergen. »Und wenn man sich auf Songwriting spezialisiert, bekommt man im Abschlussjahr eine Stunde Einzelunterricht von ihm. John war letzten Monat dran und meinte, Paul wäre richtig auf ihn und seine Sachen eingegangen.« Sie bestrich eine Toastscheibe mit Orangenmarmelade.

»John, hmm?« Janine grinste. »Nun erzähl doch schon!«

»Da gibt’s nichts zu erzählen.« Ines biss von ihrem Toast ab und fuhr mit vollem Mund fort: »So alt wie wir, also ein halbes Jahr älter als ich. In der Nähe von Dublin aufgewachsen, aber schon seit sechs Jahren in Liverpool, kein Geld, hat einen Kredit aufgenommen, um die Studiengebühren zu bezahlen, nutzt deshalb jede Gelegenheit, Gigs zu bekommen. Spielt super Gitarre und Bass und ist ein begnadeter Songschreiber.«

Sie dachte daran, wie sie in der Vorweihnachtszeit das erste Mal mit ihm gesprochen hatte. Nach Beginn des Semesters war sie zunächst vollauf damit beschäftigt gewesen, ihre direkten Mitstudenten kennenzulernen, die ihr teilweise so viel jünger, hipper und zugleich musikalisch erfahrener vorkamen als sie selbst. Sie wusste, dass ihr Gesang gut war, aber an ihrem Klavierspiel musste sie hart arbeiten. Obwohl sie seit Jahren spielte und es leidenschaftlich liebte. John war bis dahin nur ein Gesicht auf dem Flur gewesen, ein stiller Typ, von dem man wusste, dass sein Gitarrenspiel herausragend war, der jedoch selten bei Treffen im Pub auftauchte.

Ausgerechnet am Nikolaustag hatte Ines eine Klavierstunde gehabt, bei der ihr nichts gelingen wollte und David Amstel, der Dozent, hart mit ihr ins Gericht gegangen war. Danach stand sie frustriert am Fuß der steinernen Wendeltreppe, wo der alte Teil des Institutsgebäudes in den neueren überging, als John sie auf einmal ansprach. Er strahlte solch eine freundliche Ernsthaftigkeit aus, dass sie ihm spontan ihr Herz ausschüttete. Er lud sie auf einen Kaffee in die Bar ein und baute sie wieder auf.

In den folgenden Wochen hatten sie sich häufig dort getroffen, waren schließlich auch miteinander ausgegangen, hatten zunehmend mehr Zeit zusammen verbracht.

Aus irgendeinem Grund wollte sie jedoch nicht mit Janine über ihn reden. Es war noch zu früh, dachte sie. »Er ist nett«, schob sie also nur mit Verspätung hinterher.

»Ach nein!« Ihre Freundin lachte herzhaft, drang aber nicht weiter in sie. »Was machen wir heute?«

»Hast du Lust, LIPA zu sehen? Paul McCartneys und George Harrisons Highschool?« Schon bevor die Freundin sich angekündigt hatte, hatte Ines für die Mittagszeit eins der begehrten Aufnahmestudios in der Schule reserviert. Sie wollte einen Song einspielen. Material, mit dem sie sich später bei Plattenlabels bewerben konnte. »Ich muss dann in Ruhe ein bisschen arbeiten, aber ich kann dir den Weg zum Beatles Museum beschreiben und hinterher treffen wir uns in einem Café.«

Janine war begeistert und sie fuhren mit dem 75er Bus in die Innenstadt, stiegen an der imposanten Ruine der St. Luke’s Kathedrale aus und gingen die steile Straße hoch ins Univiertel.

Die Sonne schien weiter von einem wolkenlosen Himmel, es war einer jener Frühlingstage, die einen glauben machen konnten, das englische Wetter sei viel besser als sein Ruf. Deshalb hatte Ines auch den kleinen Schlenker eingeplant.

Fast am Kopf des Hügels, an der Ecke Hardman und Hope Street, glänzte die prachtvolle Fassade der ›Philharmonic Dining Rooms‹. Auf die Frage, was er am meisten vermisse, nachdem er berühmt geworden war, hatte John Lennon geantwortet: in Ruhe im Phil ein Pint trinken zu können. Während sie die Jugendstilarchitektur bestaunten, erzählte Ines Janine die Anekdote, dann bogen sie rechts in die Hope Street ein und liefen sie ein Stück entlang, bevor es wieder nach rechts in eine kleine Gasse ging.

»Und da in dem ›Ye Cracke‹«, sie deutete auf eine unscheinbare Kneipe, »hat Lennon sich einmal so schlecht benommen, dass es Hausverbot von der Wirtin setzte. Auch, als er berühmt war, hat sie es nicht aufgehoben.«

Janine lachte fasziniert und Ines fiel ein. Sie fand es schön, wie selbstverständlich diese Stadt mit den Geschichten lebte. Keine Heldenverehrung, für die Bewohner waren die vier eher immer die flegelhaften Jungs geblieben, aus denen aber doch noch etwas Anständiges geworden war.

Warum hatte sie so viel mehr Geschichten über John Lennon parat als über die anderen Beatles, fragte sie sich selbst. Aber jetzt stand ja Paul McCartney auf dem Plan.

»Hier rein geht es zu den heiligen Hallen.« Sie steuerte den gepflasterten Hof des LIPA an. Der prachtvolle, säulenflankierte Haupteingang an der Mount Street wurde nur bei großen Abendveranstaltungen benutzt; die Studenten betraten ansonsten zuerst den modernen Anbau in der Pilgrim Street.

Nachdem Ines Janine bei dem diensthabenden Wachmann einen Besucherpass besorgt hatte, führte sie sie über die geschwungene Treppe von innen in das höher gelegene alte Foyer mit seinen Sandsteinwänden und zeigte ihr das Paul McCartney Auditorium, den größten Veranstaltungssaal.

»McCartneys Idee war ja, jungen Künstlern in der heutigen Unterhaltungsindustrie den Start zu erleichtern und uns zu wappnen für das, was auf uns zukommt«, sagte sie. »Und ich meine, dass es funktioniert.« Mit einer ausholenden Armbewegung vermaß sie den Saal, meinte aber das ganze Gebäude. »Einerseits können wir uns hier wunderbar austoben und werden mit jeder verrückten Idee ernst genommen. Andererseits bekommen wir das Rüstzeug, uns da draußen durchzukämpfen.«

Zu den perfekt ausgestatteten Proberäumen und Aufnahmestudios im vierten Stock nahmen sie den Aufzug. Im mittleren der fünf Studios wartete bereits Melanie, die Tontechnik-Studentin, auf Ines.

Janine kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie begierig darauf war, sich ihrer Musik zu widmen, sie bestaunte nur kurz das riesige Mischpult und verabschiedete sich dann: »Ich komme allein klar. Also um halb vier im Café des Maritime Museums!«

*

»Das ist ja traumhaft«, schwärmte Janine. Sie saßen im obersten Stockwerk des Museums am Hafen. »Auf nach Amerika!«

»Ich dachte, dir gefällt es hier«, antwortete Ines gut gelaunt. Sie war sicher, im Studio gute Arbeit geleistet zu haben, und fühlte sich eins mit der Welt.

»Klar, aber das ist so das Gefühl. Von hier aus jetzt mit einem riesigen Schiff in die Neue Welt.«

»Du warst auch im Stadtmuseum«, vermutete Ines. Sie hatte der Freundin die Ausstellung in dem Neubau nebenan empfohlen, falls sie noch Zeit hatte.

»Sonst denkst du ja, ich interessiere mich nur für die Beatles!«

»Dann weißt du schon, dass das da ›die drei Grazien‹ sind?« Ines zeigte aus dem Stahlfenster auf die prunkvollen Gebäude. »Das Royal Liver Building mit den berühmten Vögeln auf dem Dach, das Gebäude der Hafenverwaltung und das der Reederei Cunard. Da kannst du sehen, wie reich Liverpool mal war – gerade auch in der Zeit, als viele arme Menschen aus ganz Europa sich hier in Richtung New York eingeschifft haben.«

Janine nickte. »Ja, das habe ich mitbekommen.«

Sie unterhielten sich weiter über die Geschichte der Stadt, die schon zu den reichsten und den ärmsten Europas gehört hatte, während sie Scones mit Marmelade aßen und Tee tranken.

»Wollen wir eine Runde mit der Fähre drehen?«, schlug Ines schließlich vor. Sie fühlte sich, als habe sie selbst Urlaub, und als sie aus dem Gebäude heraustraten, stimmte sie mit ihrer vollen Altstimme ›Ferry ’Cross The Mersey‹ an.

Zwei alte Männer blieben stehen, um zuzuhören, hinterher applaudierten sie gemeinsam mit der strahlenden Janine. Ines bedankte sich mit einer Verbeugung.

»Treten Sie hier irgendwo auf?«, fragte der eine, dessen weißes Haar unter einer speckigen Lederkappe hervorquoll.

»Ja, immer mal wieder. Nächsten Mittwoch bin ich im ›Zanzibar‹.«

Der Mann nickte bedächtig. »Großartig, junge Frau.« Er stach mit seinem Zeigefinger in die Luft, stoppte erst kurz vor ihrer Nase. »Ich werde kommen.«

Fährfahrt, Spaziergang am Fluss entlang und zurück zu Mrs Englewoods Villa zum Ausruhen. Ines freute sich, dass ihrer Freundin Liverpool so gut gefiel, dass sie mit ihrer Musik Fortschritte machte und auch, ja, dass sie sich häufig bei Gedanken an John erwischte. An jenem Nikolaustag war er Teil ihres Lebens geworden, ihre Gefühle hatte sie jedoch nur langsam zugelassen. Jetzt dachte sie: Ja, ich bin verliebt.

2. Kapitel

Am Abend stand das zweite Ausgehviertel der Stadt auf dem Plan. Am Vortag waren sie nach Janines Ankunft direkt losgezogen, nun wählten sie wie in alten Zeiten gemeinsam aus, was sie anziehen wollten. Janine war immer die hübschere der beiden gewesen, was es für Ines oft schwergemacht hatte. Zwar mochte sie ihre langen, dunkelbraunen Haare und die fast schwarzen Augen; mit ihren kantigen Gesichtszügen und der knabenhaften Figur haderte sie jedoch stets. Normalerweise trug sie fast immer Röhrenjeans, dazu je nach Jahreszeit T-Shirt, Sweat-Shirt oder ein Herrenhemd. Nun überredete Janine sie zu einem schmalen, langen Rock mit hohem Schlitz, den Ines kürzlich erstanden und noch nie getragen hatte, und einem Top dazu.

»Ich hab doch gestern gesehen, wie die Mädels hier ausgehen!«

Ines lachte. »Da will ich gar nicht mithalten!« Selbst im tiefsten Winter – was mitunter Minusgrade bedeuten konnte – trugen die Liverpoolerinnen bei ihren Ausgehtrips häufig quasi nichts. Knappeste Röcke und Oberteile, keine Strumpfhosen, die bloßen Füße in hochhackigen Sandalen. »Als Krankenschwester kann ich dir nur sagen: Das ist ungesund.«

»Dazu muss man nicht Krankenschwester sein«, gab Janine trocken zurück. Sie hatte sich ein gestreiftes Hemd von ihrer Freundin ausgeliehen und es um die Taille geknotet, darunter blitzte ihr spitzenbesetzter BH auf. »Aber ich find’s schön, dass man als Frau das Gefühl hat, alles geht.«

Wieder fuhren sie mit dem Bus in die Stadt, als Grundlage für den langen Abend holten sie an einem Imbiss Fish and Chips, stilecht mit Essig und viel Salz, aßen die Mahlzeit auf den Treppen vor der St. Luke’s Ruine.

»Das ist so toll, wie gut du mit der Sprache klarkommst«, beneidete Janine ihre Freundin.

»Das gerade war doch ein Pakistani, die versteht man doch immer gut«, entgegnete Ines. »Mit den Liverpudlians habe ich manchmal noch Schwierigkeiten, glaub mir. Weißt du, wie man den Dialekt nennt?«

Janine schüttelte den Kopf, bevor sie mit dem Holzgäbelchen ein weiteres Stück des panierten Fischfilets abbrach.

»Scouse – genauso wie einen Eintopf, der hier entstanden ist, eine Art Labskaus.«

Janine hatte Mühe, die Panade nicht hervorzuprusten, so sehr musste sie lachen. »Das passt!«

»Aber ich weiß selbst nicht«, sinnierte Ines mit Blick auf eine Horde Jugendlicher, die dem nächsten Pub zuströmte, »Englisch-Leistungskurs, all die Urlaube in Großbritannien – das hat bestimmt geholfen, die Sprachprüfung am LIPA zu bestehen, manchmal denke ich aber, so richtig gelernt habe ich es erst hier, durch das tägliche Leben.«

»Glückspilz!«, befand Janine. »Jetzt zeig mir noch mehr Nachtleben.«

Ines führte sie zunächst kreuz und quer durch das Karree zwischen Seel Street und Bold Street, dann nahmen sie ein Nachtisch-Guinness im ›Pogue Mahones‹, schauten in den ›Empire-Pub‹ gegenüber hinein, wo eine Kommilitonin von Ines Songs zur akustischen Gitarre sang, und verbrachten längere Zeit bei einem Konzert einer Indie-Band im ›Heebie Jeebie’s‹.

Es war Mitternacht, als sie den Club verließen, und noch immer schienen die Leute in die Innenstadt hineinzuströmen.

»Fast alle sagen, dass es besser war, als noch überall die Sperrstunden galten«, sagte Ines und dirigierte die Freundin durch eine schmale Gasse auf die Wood Street. »Die Pubs haben um elf zugemacht, dann gab es den großen Rush auf die Clubs und es wurde wie wild losgefeiert, weil ja um zwei Uhr definitiv Schluss war. Hier –«, sie hatten fast wieder die St. Luke’s-Ruine am Kopf der Straße erreicht, »soll es immer eine richtige Schlange gegeben haben, und das, obwohl man von außen überhaupt nicht erkennen konnte, dass hier was ist. Kein Schild, nur diese Tür.« Sie wies auf den schmalen Einlass an der Seite des riesigen Backsteingebäudes und steuerte darauf zu.

»Zweimal Nicht-Mitglieder«, verlangte sie von dem etwa 60-jährigen Mann mit dem ausgeprägten Bauchansatz hinter der Holztheke. Sein Haar war dunkelblond, von grauen Strähnen durchzogen, die blauen Augen strahlten sie an:

»Ines«, bei ihm hörte es sich sehr seltsam an. »Das ist ja schön. Du siehst toll aus. Kommt John noch?« Er zwinkerte ihr zu.

Janine stieß sie in die Seite, Ines tat beleidigt: »Da hab ich mich extra für dich hübsch gemacht …«

Sie stellte ihre Freundin dem Chef Thomas Duncan vor.

»Den Club hat sein Vater gegründet, als richtigen Mitglieder-Club. Der muss eine wahre Legende in der Stadt gewesen sein. Hat bis ins hohe Alter immer um zwei die Leute mit einem Lolly und guten Wünschen verabschiedet«, erzählte Ines. »Ich hab ihr gesagt, was ich über deinen Dad weiß«, wandte sie sich auf Englisch an Thomas.

Er nickte und zeigte ein trauriges Grinsen. »Waren andere Zeiten damals. Geht mal rein, ich lad euch ein, ist eh noch nichts los.«

Das war noch untertrieben. An der Bar unterhielten sich zwei Angestellte, und an einem Tisch in dem Raum, der an ein amerikanisches Diner erinnerte, saßen drei Männer und eine angetrunkene Frau. Von nebenan, von der Tanzfläche, drangen die Klänge von ›Walking On Sunshine‹ hinüber, Musik, die kaum zu der Atmosphäre passen wollte. Ines sah den Club mit Janines Augen: die großen, fast leeren Räume mit dem schmutzig-klebrigen Fußboden, die Risse in den Kunststoffbänken, die bespritzten Wände. Thomas müsste von Grund auf renovieren, dachte sie. Aber das würde einiges kosten. Und wenn schon an Samstagabenden nichts hereinkam …

Sie bemühte sich, ihre Gedanken nicht zu zeigen, holte an der Theke zwei Bier und erzählte Janine mehr davon, was sie über das frühere Liverpooler Nachtleben wusste. Zwei junge Frauen schauten in der Zwischenzeit herein, verschwanden jedoch gleich wieder. In einer Pause zwischen zwei Musikstücken hörte man von vorn, am Einlass, Thomas mit jemandem reden. Plötzlich wurde seine Stimme so laut, dass sie sogar das einsetzende ›Sugar Coated Iceberg‹ übertönte, das Scouse dabei so ausgeprägt, dass auch Ines kaum etwas verstand. Auf jeden Fall warf er einen Gast mit etlichen Verwünschungen hinaus.

»Wollen wir gehen?«, fragte Ines ihre Freundin.

Die stimmte zu.

»Ihr habt das gerade mit angehört, nicht wahr?«, vermutete Thomas am Einlass. Er sah noch immer wütend aus. »Tut mir leid.« Mit einer Handbewegung versuchte er, den Vorfall wegzuwischen. »Ein dummer Streit unter Kollegen. Ihr wollt doch noch nicht gehen? Jetzt wird’s endlich was!«

Tatsächlich betrat gerade eine Gruppe von sieben Leuten um die 40 in bester Partystimmung den Eingangsbereich. Thomas kassierte den Eintritt.

»Also, ihr zwei Hübschen, darf ich euch noch ein Bier spendieren?«

Zögernd blickte Ines Janine an, die entschlossen nickte. »Gern! So schnell werde ich ja nicht wieder herkommen.«

Thomas schien hocherfreut, er ging mit ihnen an die Bar und orderte zwei Flaschen Becks, eilte zurück an seinen Platz, weil weitere Neuankömmlinge hörbar waren. Die beiden Freundinnen stellten sich an den Rand der Tanzfläche, wippten zunächst im Takt mit zu den alten Hits, begannen schließlich zu tanzen. Sehr viel schneller, als Ines es erwartet hätte, füllte sich der Raum, und die Stimmung war großartig. Jeder tanzte mit jedem, es fühlte sich an wie eine große Familie von Musikbegeisterten – und damit so, wie sie es bei ihrem früheren Besuch erlebt hatte.

Als sie zwischendurch verschwitzt und erschöpft in den Nebenraum zurückkehrten, nahm sie das schäbig gewordene Interieur kaum mehr wahr. Janine strahlte vor Begeisterung, sie hatte drei Lieder lang mit einem attraktiven Südländer getanzt und geflirtet und holte nun noch einmal Bier für die Freundin und sich.

Wenn man hier noch immer so feiern konnte, dann lebte das alte Ausgeh-Liverpool nach wie vor, dachte Ines betrunken und glücklich. Sie würde einen Song darüber schreiben. »Zwei Uhr früh im ›Cabin Club‹, früher ging es raus auf die Straße, mit einem Lolly von Daddy.« Sogar eine Melodie hatte sie im Kopf, Oasis zum Trotz, die nebenan in voller Lautstärke den ›Wonderwall‹ errichteten. Hoffentlich würde sie sich am nächsten Tag daran erinnern.

*

Der Sonntag begann spät und verkatert mit einem langen Spaziergang durch den Sefton Park, um den Kopf wieder freizubekommen. Dann zeigte Ines Janine die altehrwürdigen Museen am nördlichen Rand der Innenstadt sowie die prachtvolle Zentralbibliothek mit ihrem kreisrunden Lesesaal und der Dachterrasse, von wo aus man einen wunderbaren Blick über die Stadt hatte.

Abends gingen sie indisch essen und sahen sich einen Film im ›FACT‹ an. Da Janine skeptisch war, wie viel sie verstehen würde, entschieden sie sich für eine eher schlichte Liebesgeschichte, bei der man die Handlung erahnen konnte.

Ines merkte, wie ihre Gedanken immer wieder abschweiften: zu ihrer Musik, aber auch zu John, den sie am nächsten Tag im Institut wiedersehen würde.

*

Zunächst musste sie am Morgen Abschied von Janine nehmen. Ihr hatte es in Liverpool so gut gefallen, dass sie auf jeden Fall wiederkommen wollte. Aber sie nahm ihrer Freundin auch das Versprechen ab, sie bald in Berlin zu besuchen.

Danach hetzte Ines in die Stadt, um pünktlich zu ihrem ersten Kurs am LIPA zu gelangen. ›Selbstvermarktung und Vertragsgestaltung‹ stand auf dem Plan, kein einfaches Thema direkt nach dem Wochenende. Aber der Dozent Edward Bunter, ein skurril wirkender kleiner Mann, der stets einen Anzug mit Fliege trug, wusste das Thema so aufzubereiten, dass alle begriffen, wie wichtig es war.

Natürlich, dachte Ines: 57 Musikstudenten wurden allein am LIPA jedes Jahr angenommen – das waren 57 Talente, die spätestens nach ihrem Abschluss begierig auf gute Auftritte und einen Vertrag mit einem Musiklabel waren.

»Andererseits«, Mr Bunter schien ein nervöses Zwinkern am linken Auge zu haben, »sollten Sie während Ihres Studiums jede Gelegenheit nutzen aufzutreten. Da akzeptiert man dann vielleicht doch schon einmal schlechte Konditionen.«

Die Studenten rings umher murmelten Zustimmung. Alle waren so begierig auf das Musikmachen, dass sie ohnehin ständig spielten – die meisten in mehreren Bands in- und außerhalb des Instituts, und sie wussten nur zu gut, dass man in den seltensten Fällen einen regelgerechten Vertrag mit ordentlicher Gage erhielt. Alle hofften, dass sich das mit wachsender Erfahrung und erst recht mit ihrem Abschlusszeugnis ändern würde, aber Ines war sich manchmal nicht so sicher.

Zur Not, tröstete sie sich selbst, konnte sie jederzeit in ihren ursprünglichen Beruf zurückkehren. Krankenschwestern wurden schließlich immer gebraucht.

Gleich nach dem Theorieseminar hatte sie Einzel-Gesangsunterricht. Stimmübungen, Tonleitern, dann der komplizierte Joni-Mitchell-Song, an dem sie bereits in der letzten Stunde gearbeitet hatte. Mae Thames war eine erfahrene West-End-Sängerin, die auf jeden falschen Tempowechsel, jede nur halb getroffene Note achtete. Nach der Stunde war Ines erschöpft wie nach einem Hundertmeterlauf.

In der Bar, dem Treffpunkt der Studenten, bestellte sie ein Sandwich und einen Kräutertee für ihre beanspruchte Kehle. Sie hatte eine Stunde Zeit, bis ihr Klavierunterricht begann, und hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern. Im Moment schien jedoch niemand hier zu sein, mit dem sie reden wollte, also holte sie ihr Handy heraus und überprüfte, ob ihr Anrufe oder Nachrichten entgangen waren. Es war ungewöhnlich, dass John ihr noch nicht über den Weg gelaufen war. Sie schrieb ihm eine launige SMS, in der sie fragte, ob er nach seinem Aufstieg zum Cavern Beatle nicht mehr ins LIPA käme.

»Entschuldigung, darf ich mich zu Ihnen setzen?« Ein schlanker Mann Anfang 40 mit einem verwegen wirkenden Haarschnitt und intensiven blauen Augen stand vor ihr. Er trug ein Leinenhemd in der gleichen Farbe wie seine Augen und lächelte sie an.

»Gern.« Sie wies auf den freien Barhocker neben sich und legte das Handy zur Seite.

»Nicolas Olsen.« Er streckte die Hand aus.

»Ines Behrendt.«

»Ich weiß.« Er hatte ins Deutsche gewechselt und genoss ihre Überraschung. »Sie sind mir empfohlen worden.«

»Empfohlen? Von wem?«

»Von Ihrem Dozenten.«

Ines musste an sich halten, um nicht vor Begeisterung zu jubilieren. War er das, der Moment? Wurde ihr im nächsten Moment ein Vertrag angeboten? Sie legte beide Hände um ihre Teetasse, um sich etwas Halt zu verschaffen, und räusperte sich, wollte gerade nachfragen, von welchem ihrer Lehrer, als der Mann schon weitersprach:

»Ihre Beatles-Cover sollen sehr ausdrucksstark sein. Ich bin auf der Suche nach Talenten für eine neue Veranstaltungsreihe.«

Ines nickte, ein klein wenig enttäuscht. Aber Veranstaltungen waren auch wichtig, und wenn etwas quasi vom LIPA vermittelt wurde, gab es bestimmt gute Rahmenbedingungen und eine ordentliche Bezahlung.

Nicolas Olsen fragte, wann er sie einmal hören könne, und Ines lud ihn am Mittwoch ins ›Zanzibar‹ ein.

Mit der Zusage zu kommen verabschiedete er sich und Ines ging beschwingt zu David Amstel. Er hatte sie bestimmt nicht lobend erwähnt. Nach wie vor war das Klavierspiel eher ihre schwache Seite. Aber sie hatte fleißig geübt und kniete sich nun voller Enthusiasmus in ihr Spiel, präsentierte ein fast perfektes Stück aus der Filmmusik von ›Forest Gump‹ und erntete immerhin ein anerkennendes Nicken.

*

Am Abend versuchte sie, John auf seinem Handy zu erreichen, erhielt jedoch nur die Nachricht, dass der Teilnehmer im Moment nicht verfügbar sei. Von Janine war eine SMS gekommen, dass sie gut zu Hause gelandet war.

›Bis bald – in Berlin, Dresden oder Liverpool‹, antwortete sie der Freundin.

Dann setzte sie sich an ihr E-Piano, um an dem neuen Song über den ›Cabin Club‹ zu tüfteln. Das war ein weiteres Argument für das Zimmer bei Mrs Englewood: Sie hatte nichts gegen Musik im Haus, selbst wenn einzelne Passagen endlos wiederholt wurden. Das hatte sie gleich nach Ines’ Einzug betont. Immerhin sei sie in ihrer Jugend, in der Hochzeit des Mersey Beat, selbst mit etlichen Musikern befreundet gewesen. »Ich weiß, was das heißt, meine Liebe«, sagte sie gern mit einem unergründlichen Lächeln – und häufig genug mit einem Stück Kuchen in der Hand.

So auch an diesem Abend. Ines hatte kaum begonnen, der Melodie, die sie im Kopf hatte, nachzuspüren, da klopfte es an der Tür. Kurz darauf stand die kleine, zierliche Person mit dem grauen Kurzhaarschopf im Raum und streckte ihr einen Teller entgegen:

»Ich habe wieder einmal Karottenkuchen gebacken. Den mögen Sie doch so gern.«

Ines bedankte sich, stellte den mit einer fadenscheinigen Stoffserviette abgedeckten Teller auf den Tisch am Fenster und erzählte bereitwillig, wie gut ihrer Freundin Liverpool gefallen habe und dass sie bis in die frühen Morgenstunden des Sonntags im ›Cabin Club‹ getanzt hatte.

Mrs Englewoods Augen leuchteten. »Das hört sich schön an. Ich habe Fred Duncan gut gekannt, den Vater des heutigen Betreibers. Ein feiner Mann. Er hat seinerzeit häufig Musiker bei sich aufgenommen, die keine Bleibe hatten, wissen Sie.«

Ines nickte. »Sein Sohn ist nach ihm geschlagen, denke ich. Ein Freund von mir ist eng mit ihm befreundet und auch zu mir ist er immer sehr nett.«

»Es sind gute Menschen. Hoffen wir, dass sie sich in der heutigen Zeit weiter behaupten können. Es hat sich so viel verändert.« Sie verstummte und schaute mit einem versonnenen Blick aus dem Fenster. »Nun will ich Sie aber nicht länger aufhalten, meine Liebe. Lassen Sie sich den Kuchen schmecken!«

Als Ines sich wieder an ihr E-Piano setzte, geriet der geplante Song über den ›Cabin Club‹ auf einmal zu einem über John. »Manchmal denke ich, du warst immer schon da, mit deinen bernsteinfarbenen Augen und deinem Lächeln.« Die Akkorde klangen holprig, entsprachen nicht der zärtlichen Melodie, die sie für das Stück wollte. Sie versuchte es weiter. »Ich denke an dich, und ich frage mich: Wollen wir es versuchen? Wollen wir es riskieren?«

*

Am nächsten Morgen war am LIPA die Hölle los. Christopher Henley, der Chef des ›Cavern Clubs‹, war tot auf dem Gelände des alten St. James Friedhofs hinter der Kathe­drale gefunden worden – und die Polizei hatte John festgenommen.

»Er soll erschlagen worden sein«, berichtete Sarah, eine schwergewichtige farbige Drummerin aus Detroit, und legte ordentlich Schauder in ihre Stimme. »Lag da zwischen den uralten Grabsteinen.« Sie schüttelte sich.

»John hatte am Freitagabend einen saftigen Streit mit Henley«, wusste Fréderic, der Saxofonspieler aus Südfrankreich. Er hatte es von Matt gehört, einem Freund von ›George Harrison‹ von den Cavern Beatles. »Ist richtig auf ihn los. Zwei Leute mussten ihn zurückhalten.«

Worum es gegangen sei?

»Worum schon? Die Gage natürlich!«

»Und dann ist er abgehauen!« Rut, eine Norwegerin mit grandioser Stimme, sprach ganz leise.

»Die Polizei hat ihn in einem winzigen Kaff in Wales aufgegriffen.« Das war wieder Sarah, die Ines mit forschendem Blick anschaute. »Du weißt davon überhaupt nichts?«

»Nein, ich – woher denn?« Ines hatte kein Radio gehört, weil sie sich nur mit ihrer eigenen Musik beschäftigen wollte, und Lokalzeitungen wie in Deutschland gab es in Liverpool nicht. Und überhaupt: Wann war das alles passiert? Warum und woher wussten die anderen Bescheid?

Sie hatte das Gefühl, dass sich alles um sie drehte. Vorsichtig lehnte sie sich an die Wand.

Die Gruppe stand vor dem Seminarraum, in dem Mrs Snyder Urheberrecht lehren sollte, aber keiner von ihnen machte Anstalten hineinzugehen. Die Dozentin, ansonsten eher streng, ermahnte sie nicht, sondern sprach leise mit anderen Studenten. Offenbar wusste sie selbst nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte.

John verhaftet? Unter Mordverdacht? Nein! Ines konnte sich gut vorstellen, dass er einen heftigen Streit vom Zaun brach, wenn jemand ihn über den Tisch ziehen wollte – wie es ja wohl der Fall gewesen war bei seinem Gastauftritt als Cavern Beatle. Aber –

»Ines? Ines!« Rut fasste sie am Arm. »Geht es dir gut?«

Sie schaute um sich. Ohne es zu merken, war sie an der Wand heruntergerutscht und saß nun auf dem Fußboden. Ihr gegenüber huschte gerade eine Angestellte aus dem Sekretariat in den Seminarraum.

»Ja, ich bin okay, danke.« Ihre Stimme klang heiser.

»Hier, trink!« Sarah reichte ihr eine Mineralwasserflasche.

Ines dankte ihr und trank in kleinen Schlucken. John hatte einmal durchblicken lassen, dass er früher in Schwierigkeiten gesteckt hatte. Er trank keinen Alkohol – was in einer Stadt wie Liverpool auffiel. Deswegen? Rastete er aus, wenn er etwas trank? Und war das Freitagnacht passiert?

»Wann ist der Cavern-Chef denn gefunden worden?«

»Wie’s scheint, Sonntag in den frühen Morgenstunden«, antwortete Fréderic.

»Dann muss es doch auch kurz davor erst passiert sein.«

Fréderic zuckte die Schultern, Sarah behielt den skeptischen Blick bei, Rut nickte nachdenklich.

Mrs Snyder trat vor die Tür, die Sekretariats-Angestellte direkt hinter ihr, und verkündete, dass es keinen Unterricht mehr geben würde, die Polizei jedoch alle Studenten befragen wollte. Sie würden gebeten zu bleiben, wo sie waren. »Sie werden dann einzeln hier abgeholt.«

Ines blieb auf dem Fußboden sitzen, Sarahs Wasserflasche in der Hand. Die Stimmen der anderen Studenten über ihrem Kopf nahm sie nur mehr als Rauschen, als Kulisse wahr. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Als eine uniformierte Polizistin ihren Namen nannte, reagierte sie zuerst überhaupt nicht. Erst als Rut sie an der Schulter berührte, schaute sie auf.

»Ines Behrendt?«

Das hörte sich an wie Einies Bierint. Kein Wunder, dass sie es nicht auf sich bezogen hatte, signalisierte ihr Ruts Blick. Mühsam erhob Ines sich und folgte der Beamtin. Überall standen Gruppen von Studenten herum, viele schwiegen, ihre Blicke wirkten betroffen, andere redeten halblaut. Kein Lachen, kein Rufen war zu hören. Sie gingen in das Büro des Direktors. Der hatte seinen Platz offensichtlich für zwei Kriminalpolizisten räumen müssen, die sich als Detectiv Inspector Mark McErran und Detectiv Sergeant Jennifer Sibbons vorstellten. Die Frau wies auf den freien Stuhl vor dem Schreibtisch und leitete die Formalitäten ein, die mit der Frage endeten:

»Sie sind John Raymonds Freundin?«

»Nein.« Ines starrte auf die Wasserflasche, die sie noch immer in den Händen hielt. »Wir sind befreundet, aber nicht …« Sie riss sich zusammen: »Wir sind gute Freunde«, schloss sie mit fester Stimme.

»Sehr gute Freunde?«, hakte die Frau nach.

»Was verstehen Sie darunter?« Die Beamtin war ihr unsympathisch. Sie war hager, ihre Adleraugen bohrten sich in Ines’ Gesicht.

»Wie viel Zeit haben Sie zusammen verbracht?«

»Wir haben uns täglich hier am Institut gesehen und sind ab und zu miteinander ausgegangen.«

»Hat John sich Ihnen schon einmal anvertraut?« Das war der Mann, ein behäbiger Typ, der Ruhe ausstrahlte.

»Was heißt anvertraut?« Ines zögerte. »Nein, vermutlich nicht.« Sie wollte nicht mit diesen Polizisten über John sprechen. Sie waren auf dem Holzweg. Ein Irrtum, ein fürchterlicher Fehler. John würde so etwas nie tun.

»Sie wussten nichts von seinen Vorstrafen?« Der Beamte bemühte sich um einen einfühlsamen Tonfall.

Ines schaute ihn an, registrierte den wachen Blick seiner grün-grauen Augen und wandte den Blick ab.

»Also wussten Sie es doch.« Das war wieder die Frau.

Ines gab zu, dass John einmal so etwas angedeutet hatte.

»Was angedeutet?« Die Stimme war schneidend.

Ines sagte nichts.

»Nun, meine Liebe, dann will ich Sie mal aufklären: Ihr Freund war ein Junkie und ist uns wegen Körperverletzung und Raub bestens bekannt!«

Ines konzentrierte sich darauf, nicht aufzusehen. Dieses hartherzige Weib sollte nicht mitbekommen, dass ihr die Tränen in den Augen standen.

»Also: Wir wissen bereits, dass Sie Mr Raymond am Freitagabend getroffen haben. Und danach? Haben Sie ihn an dem Wochenende noch einmal gesehen? Ist er vielleicht zu Ihnen gekommen, um seinem Herzen Luft zu machen?«

3. Kapitel

Ines stolperte durch die Flure, die Treppe hinunter, an der gläsernen Wand der Bar, wo viele Studenten zusammensaßen, entlang. Sie sprach mit niemandem, erkundigte sich nicht, wann der normale Schulbetrieb wieder aufgenommen würde, sie wollte nur hinaus.

Auf dem Hof atmete sie tief ein. Schon über Nacht war das Wetter umgeschlagen und die Luft war kühl und feucht. Sie auf der Haut und in der Lunge zu spüren, tat gut, war wie eine Vergewisserung der Realität.

John ein Junkie. Hätte sie das merken können, merken müssen? Sie war Krankenschwester, sie sollte einen Blick dafür haben. Auch, wenn es lange her war. Falls es lange her war. Sucht veränderte die Persönlichkeitsstruktur. Junkie bleibt Junkie, hatte ein erfahrener Arzt in der Notaufnahme des Dresdner Diakonissenkrankenhauses einmal gesagt.

Die Abstinenz beim Alkohol, die hätte sie darauf bringen können. Die Angst vor Kontrollverlust.

Sie hasste sich selbst, wie sie über John als einen Patienten, einen klinischen Fall, nachdachte. Und dennoch …

Natürlich hatte sie als Teenager wie die meisten ihrer Freunde ein wenig mit Drogen experimentiert, es war ihr jedoch schnell unheimlich geworden. Heroin oder auch Crack hatte niemand aus ihrer Clique ausprobiert. Mit Suchtproblemen war sie dafür später zuhauf in der Notfallambulanz konfrontiert gewesen. Genug, um sich mit keinem Junkie einlassen zu wollen.

Ines hatte sich nicht wie sonst hinter dem Ausgang nach rechts gewandt, um das LIPA-Gelände in Richtung Innenstadt zu verlassen, sondern war links um die runde Terrassenanlage in der Mitte des Hofs herumgegangen, über den Parkplatz auf die Upper Duke Street. Die ganze Zeit ragte die gewaltige Backstein-Kathedrale vor ihr auf. Das größte Kirchengebäude in Großbritannien. Auf Ines wirkte es bedrohlich.

Der alte Friedhof begann direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, er lag rings um den Sakralbau in einem Talkessel, der von oben wie ein Befestigungsgraben aussah. Aber auch grün wie ein Park.