Häuserkampf - Beate Baum - E-Book

Häuserkampf E-Book

Beate Baum

3,8

Beschreibung

Vorweihnachtszeit in Dresden. Die Journalistin Kirsten Bertram und ihr Freund Andreas Rönn, Lokalchef der "Dresdner Zeitung", freuen sich auf die nahenden Festtage. Das ändert sich schlagartig, als Andreas' ungeliebter Bruder Frank auftaucht. Als Geschäftsführer einer Hamburger Baufirma will er im Dresdner Hechtviertel, einem Teil der Neustadt und ausgewiesenen Sanierungsgebiet, im großen Stil tätig werden. Andreas ist sich sicher, dass sein Bruder dabei mit unlauteren Mitteln vorgeht. Er beginnt zu recherchieren und steht bald nicht nur vor den Abgründen seiner Familiengeschichte, sondern befindet sich mit Kirsten inmitten eines mörderischen Kampfes um die von der Sanierung betroffenen Häuser.

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Beate Baum

Häuserkampf

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Die meisten Dresdner Örtlichkeiten sind der Realität nachgebildet. Die Suiten im Hotel Hilton sind jedoch den Notwendigkeiten der Handlung geschuldete reine Fantasie-Architekturen der Autorin.

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www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Pixelio.de

ISBN 978-3-8392-3060-2

Widmung

Für Fred Blumenthal†2007

1. Kapitel

»Hast du schon wieder deinen Schlüssel vergessen?«

Ich öffnete die Wohnungstür und wollte auf dem Absatz kehrtmachen, als ich stockte. Der Mann im Hausflur hatte zwar die gleichen strahlend grünen Augen wie Andy, auch blonde, kurze Haare, aber er war es nicht.

»Entschuldigung.« Er lächelte, und die Ähnlichkeit war noch auffälliger. »Ich vermute, ich möchte zu dem, den Sie erwarten. Frank Rönn, Andreas’ Bruder.« Seine Stimme hatte eine norddeutsche Färbung, während man Andy am ehesten die Jahre in Berlin anhörte. Er streckte mir eine Hand entgegen, die ich reflexartig ergriff.

Es dauerte einen Augenblick, bis ich realisierte, dass er noch immer im Hausflur stand, und ihn hineinbat. Schon vor Ewigkeiten hatte Andy kategorisch erklärt, dass seine Familie kein Thema für ihn wäre, und dabei war es all die Jahre geblieben. Jetzt fiel mir ein, dass er ganz am Anfang einmal auf meine Frage nach Geschwistern geantwortet hatte, dass er einen Bruder habe. An mehr als diese nackte Information konnte ich mich nicht erinnern.

Ich führte Frank Rönn in die Küche, dachte dann, dass ich besser das Wohnzimmer gewählt hätte, das aufgeräumter war.

»Kirsten Bertram. Setzen Sie sich doch.« Ich fegte ein paar Brotkrümel von einem Stuhl und stellte schmutziges Geschirr vom Tisch auf die Spüle. »Andreas muss jeden Moment hier sein. Entschuldigen Sie, ich wollte gerade spülen.«

Lächelnd winkte er ab, schien jedoch auf seinen schlammfarbenen Anzug acht zu geben, als er Platz nahm. Das gut sitzende Jackett konnte seinen Bauch nicht ganz kaschieren; so würde Andy also in ein paar Jahren aussehen, wenn er nicht aufpasste.

»Ich bin beruflich in Dresden und dachte, ich könnte die Gelegenheit nutzen und meinen großen Bruder besuchen.«

Andreas war also älter, das hätte ich nicht gedacht. Wahrscheinlich lag das an der Kleidung.

»Ja, schön. Möchten Sie etwas trinken?«

»Danke, ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«

In diesem Moment klickte die Wohnungstür, und Andys Stimme klang durch den Flur:

»Ich hab den Langhammer noch gekriegt. Er hat natürlich behauptet, dass er keine Ahnung gehabt hätte, aber …« Abrupt brach er beim Betreten der Küche ab und starrte seinen Bruder an, der aufgestanden war.

Frank Rönn streckte die Hand aus.

»Hallo Andreas.«

»Hallo.« Förmlich wie zwei Geschäftspartner gaben sie sich die Hand.

Andy ging zum Kühlschrank, holte eine Flasche Bier heraus. Wollte er sich sofort von seinem Bruder abgrenzen, oder war er schlicht betroffen über den Besuch? Mit dem Rücken eines Messers hebelte er den Kronkorken ab, fuhr mit dem Pulloverärmel über die Öffnung und trank einen großen Schluck direkt aus der Flasche. Eigentlich versuchte er seit über einer Woche einmal wieder abzunehmen, und Bier hatte er sich seitdem komplett verkniffen.

Frank bot er nichts an, und ich beschloss, mich in die Familienbeziehung nicht einzumischen.

»Wir haben davon gelesen, wie du dich in dieser Redaktion durchgesetzt hast letztes Jahr«, begann Frank, der sich nicht wieder gesetzt hatte. Andy reagierte nicht. »Dein Ruhm ist bis in eine der Zeitungen, die du verabscheust, gedrungen.« Er lächelte.

»Beifall von der falschen Seite also.« Andreas trank noch einen Schluck, stellte die Flasche dann auf die Arbeitsplatte. »Warum bist du hier?«

Sein Bruder suchte Augenkontakt, Andy starrte jedoch geradeaus.

»Vater bereitet sich auf den Ruhestand vor. Er möchte seinen Austritt aus der Firma mit einer großen Weihnachtsfeier am 20. begehen und dich herzlich dazu einladen. Deine Lebensgefährtin ist natürlich ebenfalls willkommen.« Frank Rönn nickte mir zu.

»Das kann ich mir kaum vorstellen.« Andreas’ Stimme war eisig. »Kirsten kommt aus richtig kleinen Verhältnissen. Ruhrgebiet. Arbeiterfamilie.«

Sein Bruder gab mir die Hand. »Wir würden uns freuen, Sie in Hamburg begrüßen zu können. Auf Wiedersehen.« Er wandte sich an Andy. »Denk noch mal drüber nach. Du erreichst mich im Hilton.«

»Wo sonst«, murmelte Andreas.

Ich brachte Frank zur Tür, während Andy schon heißes Wasser in die Spüle einlaufen ließ.

»Wir sollten uns wirklich eine Spülmaschine anschaffen«, sagte er, als ich wieder in der Küche war, nahm zwei schmutzige Gläser vom Tisch und hielt sie unter den dampfenden Strahl.

»Sollten wir. Dann könntest du jetzt nicht so ausweichen. Was ist denn los mit dir und deiner Familie? So wie du eben, reagiert man vielleicht in der Pubertät, aber doch nicht mit 37!«

Andreas stellte ein sauberes Glas vorsichtig in das Abtropfgitter. »Das verstehst du nicht. Du hast schließlich eine ganz normale Familie.«

»Welche Familie ist schon normal?«

»Auf jeden Fall nicht meine.« Er wischte sich die nassen Hände an der Jeans ab und griff nach der Bierflasche, trank einen Schluck. »Glaub mir einfach, bitte. Du würdest mit diesen Leuten auch nichts zu tun haben wollen.«

Ich nahm ein Geschirrtuch und trocknete das Glas ab, während ich Andy betrachtete, der weiter spülte. Er war tatsächlich betroffen von der Begegnung; und er wollte definitiv nicht darüber reden. Ich rekapitulierte das Wenige, was ich wusste. Er sei direkt nach dem Abitur nach Berlin gegangen – um dem Kriegsdienst und seiner Familie zu entkommen, hatte er mal erzählt. Und in den elf Jahren, die ich ihn kannte, hatte ich nie mitbekommen, dass er nach Hause gefahren wäre, der Ausdruck schien in seinem Vokabular gar nicht zu existieren – oder wenn, dann am ehesten für diese Wohnung, in der wir jetzt seit gut eineinhalb Jahren zusammenwohnten.

Weihnachten, wenn zumindest in den ersten Erfurter Jahren noch fast alle Kollegen ihre Familien besuchten, arbeitete er freiwillig und trieb sich in irgendwelchen Kneipen herum.

Bevor Andreas einen Stoß Teller in das Becken setzte, leerte er die Bierflasche.

»Einfach hier aufzutauchen, das ist dreist«, sagte er unvermittelt. »Und mir dann unter die Nase zu reiben, dass ich in einem ihrer reaktionären Blätter gelobt worden bin.« Er scheuerte so kraftvoll an einem Teller herum, dass ich dachte, er müsse gleich zerbrechen.

»Das hat er doch nicht so gemeint, er wollte doch nur irgendwie ein Gespräch beginnen«, machte ich einen Versuch.

»Du kennst ihn nicht. Das hat er genau so gemeint!«

Ich schüttelte den Kopf. Ich fand meine eigene Familiengeschichte nicht unkompliziert. Tatsächlich stammte ich aus einer klassischen Arbeiterfamilie – mein Vater hatte bei Hoesch am Hochofen gestanden, bevor er vor sieben Jahren über den Sozialplan in Frührente geschickt worden war, meine Mutter war Hausfrau. Und beide waren sie so stolz auf mich, ihr einziges Kind, hatten mich immer so umsorgt und behütet, dass ich irgendwann dachte, ich müsste ersticken. In gewisser Weise war auch ich geflüchtet – allerdings erst viel später. Und mittlerweile konnte ich normal mit ihnen umgehen, fand es sogar ganz nett, wenn ich zu Besuch war.

Andreas ließ das schmutzige Wasser ablaufen, trocknete seine Hände an dem Geschirrtuch und nahm noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Ich hielt seine Hand fest.

»Wenn du dich besaufen willst, lass uns ins ›Raskolnikoff‹ gehen. Da können wir auch was essen.«

»Ich will mich nicht besaufen«, erwiderte er, »und ich will auch nichts essen«, aber er stellte die Flasche zurück, und kurz darauf gingen wir durch den regnerischen, kalten Abend die wenigen Meter von unserer Wohnung bis zu der Kneipe, wo der steinerne Ofen in der Mitte bollerte, während der sandbestreute Boden so überhaupt nicht zu der Jahreszeit zu passen schien. Wir quetschten uns an einen kleinen, dreieckigen Tisch, und ich nahm die Speisekarte zur Hand. Wenn Andy nichts erzählen wollte, konnte ich ihn nicht dazu überreden, so gut kannte ich ihn nach all den Jahren.

In schnellen Rhythmen forderte Van Morrison einen ›sonny boy‹auf, mit dem Trinken aufzuhören, die Bedienung brachte uns zwei Pils, und wir sprachen über die Arbeit in der Lokalredaktion, deren Chef Andreas seit vergangenem August war – und wo er sich in Franks Worten ›durchgesetzt‹ hatte. Bei diesem Durchsetzen, das eher ein Durchkämpfen gewesen war, hatte ich ihm geholfen, und danach überredete er mich, in dem neuen Team, das er sich zusammenstellen konnte, dabei zu sein. Seitdem war es wieder ein bisschen wie vor elf Jahren, als wir beide in Erfurt den ›Tageskurier‹ mit aufgebaut hatten, und tatsächlich genoss ich die Arbeit – obwohl ich eigentlich keine Festanstellung mehr gewollt hatte.

Als ein Kellner meinen Salat mit Putenfleisch servierte, wünschte Andy mir erst »Guten Appetit«, um dann zusammenhanglos anzufügen: »Also, bevor du jetzt irgendwas ganz Verdrehtes denkst – es ist eine politische Entscheidung.«

»Politische Entscheidung? Deine Familie nicht mehr zu sehen?«

Das hörte sich für mich verdrehter als alles andere an. Auf der anderen Seite wusste ich, dass Andy rigide Maßstäbe hatte.

»Mein Großvater hat ein Vermögen mit Kleidung«, bei dem Wort deutete er Anführungszeichen in der Luft an, »gemacht – KZ-Häftlingsanzüge, genäht von Zwangsarbeiterinnen.« Er hob sein Bierglas, trank aber nicht, sondern starrte hinein. »Natürlich wurde er im Entnazifizierungsverfahren nur als Mitläufer eingestuft, obwohl er ein richtig strammer Faschist war. Die Fabrik hat er an meinen Vater übergeben, der weiter damit Kohle gemacht hat. Und schlimm fand das Ganze keiner in meiner Familie. Die polnischen Frauen hätten es gut gehabt beim Opa, lautete ein Standardsatz.« Er stellte das Glas wieder ab, schob es von sich.

Ich hatte aufgehört zu essen. »Das ist scheußlich. Aber nach all den Jahren – und was kann dein jüngerer Bruder dafür?«

Andy knetete seine Finger. »Keiner von denen hat jemals etwas begriffen. Keiner. Und deshalb will ich mit keinem von ihnen mehr etwas zu tun haben.« Damit war das Thema für ihn abgeschlossen, er winkte die Kellnerin heran und bestellte einen Milchkaffee.

*

Am nächsten Morgen auf der Redaktionskonferenz bat Andreas uns als Erstes, die Wochenend- und Feiertagsplanung abzuschließen. Er selbst würde sowohl an den Weihnachtsfeiertagen als auch am Wochenende davor – also an jenem 20. – arbeiten, bräuchte jedoch noch jeweils eine Person zur Unterstützung. Außerdem müsse der Dienst an Silvester und Neujahr besetzt werden.

Ringsumher gab es mehr oder weniger lautes Stöhnen, ein mehr oder weniger deutliches Verziehen der Gesichter. Das neue Team der ›Dresdner Zeitung‹ bestand wieder aus neun Lokalredakteuren, bis auf Martin Alex komplett neu ausgewählt, drei Fotografen und der bewährten Sekretärin Ingeborg Hübner, und alle waren gute und engagierte Journalisten – die Feiertagsarbeit zum Jahresende machte jedoch niemand gern.

Ich überlegte, ob ich mich zum Weihnachtsdienst melden sollte. Weihnachten mit Andy hier in Dresden hätte seinen Reiz, Sentimentalität würde dabei bestimmt nicht aufkommen. Außerdem hatte ich das letzte Fest bei meinen Eltern verbracht, sie sollten es verstehen, wenn ich in diesem Jahr hierbliebe.

»Wir müssen das nicht jetzt klären, aber bis Ende der Woche sollten wir uns einig sein«, sagte Andreas. »Was gab es gestern Abend im Bauausschuss, Martin?«

Martin Alex war erst 26, recht pummelig, wodurch er noch jünger aussah; hatte jedoch schon eine eineinhalbjährige Tochter und war Lokaljournalist mit Leib und Seele. Seine Augen schienen zu sprühen, während er die Ärmel seines engen, langärmeligen T-Shirts hochschob. Wie immer war der Plattenbau, in dem die Redaktion untergebracht war, ziemlich überheizt.

»Mehr als das Übliche«, begann er. »Ein Großinvestor durfte sich präsentieren.«

Andy schaute ihn fragend an.

»Anscheinend hat ein Unternehmen das halbe Hechtviertel aufgekauft und saniert jetzt im großen Stil.«

Andy pfiff durch die Zähne. »Gibt’s da schon mehr?«

Martin reichte ihm eine Visitenkarte. »Man könnte es hier versuchen. Dort soll ein Büro entstehen als Anlaufstelle für interessierte Bürger – sprich potenzielle Käufer. Geplant sind nämlich fast ausschließlich Eigentumswohnungen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wer soll die denn hier kaufen? Außerdem stehen doch sowieso viele Wohnungen in der Neustadt leer.«

»Steuerersparnisse«, sagte Martin. »Erinnert euch, das Hechtviertel ist als Sanierungsgebiet ausgewiesen worden, damit können die Restaurationsarbeiten steuerlich abgesetzt werden. Sie wollen ganz gezielt die junge, kaufkräftige Klientel ansprechen, angeblich gibt es schon Kontakte zu den großen Halbleiterwerken.«

Andreas nickte nachdenklich. »Du hast genug mit dem Ausschuss zu tun, Martin«, sagte er. »Kirsten, schau du doch mal, ob du in diesem Büro in der Seitenstraße jemanden erwischt, der dir ein bisschen was erzählen kann. Und dann macht ihr zusammen eine Seite darüber.«

Eine halbe Stunde später war ich auf dem Weg zurück auf die andere Elbseite. Ich hatte mich dagegen entschieden, vorher anzurufen, da ich so eher einen Eindruck des laufenden Betriebs bekommen würde. Sollte niemand für mich Zeit haben, konnte ich mich immer noch ein wenig im Viertel umhören, was man dort von den geplanten Sanierungen hielt.

Selbst am unteren Ende der Prager Straße, wo die Redaktion war, standen noch Stände des Weihnachtsmarktes, jede Menge Räuchermännchen aus dem Erzgebirge und thüringische Bratwürste wurden angeboten. Aus einer Boutique klang es süßlich: ›Last Christmas I gave you my heart‹; ich zog meinen dicken Wollmantel fester um mich und schnupperte in die kalte Luft, ob ich irgendwo gebrannte Mandeln riechen würde, hatte jedoch keinen Erfolg.

Mit der Linie 7 fuhr ich in die Neustadt zurück; stieg allerdings nicht am Albertplatz, sondern erst am Bischofsweg aus. Rechter Hand lag das mittlerweile sehr angesagte Szenequartier, in dem auch wir wohnten, links führte die Straße ins direkt angrenzende Hechtviertel. Die Bahngleise entlang des Dammwegs fungierten als Grenzlinie. Eigentlich gehörte der Hecht zur Neustadt, und vor der Wende war der gesamte Stadtteil wenig angesehen gewesen. Die dichte Gründerzeitbebauung verfiel, da das Geld anstatt in Sanierung in Plattenbauten gesteckt wurde, und die Bewohner – Andersdenkende, Künstler, Intellektuelle, Homosexuelle, aber auch viele, die ohne eindeutigen Grund durchs Raster der sozialistischen Gesellschaft gefallen waren – sorgten für Skepsis bei braven DDR-Bürgern. Dieses zwiespältige Image war dem Hechtviertel bis heute erhalten geblieben. Mit der Deklarierung als Sanierungsgebiet wollte die Stadt dafür sorgen, dass hier die gleiche Entwicklung in Gang kam wie in dem bekannten Teil der Neustadt. Offenbar mit Erfolg – wenn die ›Wohnbautraum‹ tatsächlich so viel investierte, wie sie im Bauausschuss angekündigt hatte.

Fünf Minuten später stand ich vor der Seitenstraße 6, wo die ›Wohnbautraum GmbH‹ laut Visitenkarte ihren Dresdner Sitz haben sollte. Das Unternehmen kam aus Hamburg, wollte jedoch, so hatte der Chef des angegliederten Planungsbüros im Ausschuss betont, vor Ort mit lokalen Bauunternehmen zusammenarbeiten und selbst bis zu 20 Arbeitsplätze im Bereich Organisation und Verkauf schaffen.

Vorerst jedoch gab es hier lediglich zwei Container auf einem brachliegenden Grundstück. Ein dezentes, in verschiedenen Blautönen gehaltenes Firmenschild trug das Logo der Karte, und nach kurzem Anklopfen betrat ich den Raum.

Eine regelrechte Hitzewelle schlug mir entgegen und nahm mir nach der frischen Luft draußen fast den Atem. An den Wänden standen Regale, die meisten von ihnen leer, hinter dem Schreibtisch, an dem eine sehr junge, dunkelhaarige Frau saß, hing ein großes Poster mit einer Architektenzeichnung wunderschöner Gründerzeithäuser.

»Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?« Die Frau schien mit ihren Gedanken weit weg. Sie bog eine Büroklammer auseinander und schien völlig darauf konzentriert, sie in eine gerade Linie zu verwandeln.

»Ich hoffe es. Kirsten Bertram von der ›Dresdner Zeitung‹. Gestern Abend im Bauausschuss wurde Ihr Projekt vorgestellt, und ich würde darüber gerne einen größeren Artikel machen. Können Sie mir etwas mehr dazu sagen?«

»Nein, tut mir leid, das ist gerade ungünstig. Können Sie sich vielleicht in ein paar Tagen noch einmal melden?«

Ich schaute auf ihren sauber aufgeräumten Schreibtisch. »Es wäre schon sinnvoller, wenn wir jetzt dar­über berichten könnten. Das wäre doch auch in Ihrem Interesse. Meinen Sie nicht, Sie könnten mir ein wenig zu dem Vorhaben erzählen?« Ich nahm einen bunten Hochglanzprospekt von einem Stapel auf der Ecke des Tisches. ›Canaletto-Lofts in Dresdens einzigartigem Hechtviertel‹ wurden quer über einer kleinen Abbildung der Architektenzeichnung angepriesen. Canaletto? Es gab keinen einzigen Punkt im Hecht, von wo aus man den berühmten Maler-Blick auf das Altstadt-Ufer hatte. Prüfend blickte ich die Frau an.

»Das können Sie natürlich gern mitnehmen.« Ich nickte nur und lächelte aufmunternd. Auf einmal seufzte sie tief und ließ den Kopf sinken, starrte auf das Metall in ihren Händen. »Rufen Sie doch bitte morgen noch einmal an. Die Nummer steht hinten auf dem Heftchen.«

»Gerne«, sagte ich, blieb jedoch stehen und blätterte die Broschüre auf. Geschmackvoll gemacht. Eine Seite Zitat aus Erich Kästners ›Als ich ein kleiner Junge war‹, komplett mit Zeichnung.

»Ich bin nur Sekretärin«, setzte die Frau leise an. »Und das ist erst mein zweiter Tag. Ich kann Ihnen nichts sagen. Ich bin noch nicht einmal richtig eingewiesen. Das sollte alles erst kommen. Der Chef und seine Assistentin wollten das alles aufbauen. Und jetzt hat gerade eben jemand angerufen und gesagt, dass Herr Rönn verhindert ist.« Bei dem Namen wurde ich hellhörig. »Und Frau Kaiser würde gar nicht mehr kommen. Und ich weiß gar nicht, was ich tun soll.« Sie blickte auf und wirkte wie erlöst, nachdem sie das zugegeben hatte. Offensichtlich fürchtete sie um ihren gerade erst angetretenen Job.

Nein, auch Jan Stegmüller, der Planer, dessen Karte Martin bekommen hatte, sei nicht mehr hier zu sprechen.

»Den müssten Sie aber jetzt schon wieder in Hamburg erreichen können. Oder über Funk. Soll ich Ihnen die Nummer geben?« Sie schien froh, etwas tun zu können. Die Mobil-Nummer stand auf der Visitenkarte, ich notierte mir die Hamburger dazu und verabschiedete mich freundlich, fragte bereits in der Tür noch beiläufig: »Sagen Sie, der Herr Rönn ist doch im Hilton abgestiegen, oder?«

Die junge Frau sah mich zweifelnd an, ich fragte mich, ob sie es nicht wusste oder nicht wusste, ob sie es mir sagen durfte, schließlich nickte sie aber. »Nu. Aber da erreichen Sie ihn jetzt nicht.«

Tief in Gedanken fuhr ich zurück in die Altstadt, stieg an der Synagoge aus und näherte mich von hinten dem Touristenviertel mit Frauenkirche und Schloss, wo auch das Hilton stand.

»Entschuldigen Sie, mein Schwager ist hier abgestiegen. Frank Rönn. Können Sie mir sagen, ob er im Moment auf seinem Zimmer ist?«

Der Mann an der Rezeption war etwa 40 und von der professionellen Höflichkeit, die man wohl in einem Haus wie dem Hilton mitbezahlte. Er lächelte freundlich und sagte, ohne auf seinen Bildschirm oder in irgendwelche Bücher zu schauen: »Bedaure, Herr Rönn ist momentan verhindert.«

»Und seine Kollegin, Frau Kaiser?« Da ich mich als Franks Schwägerin ausgegeben hatte – was ja nicht vollkommen falsch war – lag die Frage eigentlich nicht nahe, der Rezeptionist schüttelte jedoch nur noch bedauernder den Kopf. Nein, Frau Kaiser sei auch nicht zu sprechen. Auf meine Frage, wann Herr Rönn zurückerwartet würde, erhielt ich lediglich das Angebot, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich bat um einen Anruf, gab unsere Redaktionsnummer an und verließ die Hotellobby mit dem dezent geschmückten Weihnachtsbaum.

Was war da los? Ein Unternehmer, der am Anfang eines großen Projekts stand, war nicht erreichbar; seine Mitarbeiterin verschwand anscheinend komplett – und keiner wollte dazu etwas sagen. Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf, während ich tief in meinen Mantelkragen verkrochen die Prager Straße hinunterlief.

In der Redaktion sagte ich Martin nur kurz, dass ich noch nichts hätte, dann klickte ich den Posteingang auf und sah die seit dem gestrigen Redaktionsschluss hereingekommenen Meldungen durch, rief schließlich die Pressestelle der Polizei an. Zum Glück erwischte ich sofort Frau Marten, die Chefin der Abteilung. Ich bat sie, mir die aktuellen Mitteilungen zu schicken.

»Ich weiß, dass ich alles in ein paar Stunden bekomme, aber ich brauche es jetzt«, argumentierte ich.

Endlich erklärte sie sich dazu bereit.

Es war der vierte Text: »Gegen 5.13 Uhr wurde ein 31-jähriger weiblicher Hotelgast des Hotels Hilton in der Dresdner Innenstadt tot in dem Zimmer eines 36-jährigen männlichen Gastes aus Hamburg aufgefunden. Der Mann wurde vorläufig festgenommen.«

Ich schloss das Bildschirm-Fenster. Das war eine Geschichte, aber nicht die, die wir erwartet hatten. Die Volontärin Sandra kam mit einigen Zetteln in der Hand auf mich zu, ich bat sie, zu Hans zu gehen, einem älteren Kollegen, der am anderen Ende des Raums saß. Martin blickte mich fragend an, ich zuckte die Achseln, stand auf und ging über den Flur zu Andreas’ Büro.

Die Zimmertür stand offen, er telefonierte. Ich schloss die Tür und lehnte mich von innen dagegen. Andy sah mich erstaunt an, notierte etwas und beendete das Gespräch.

»Was ist los?«

»Ist dein Bruder 36?«

»Frank? Ja, wir sind nur ein Jahr auseinander.« Seinem Gesicht war anzusehen, dass er nicht vorgehabt hatte, sich noch einmal mit dem Thema zu beschäftigen.

»Und er ist Makler oder so was Ähnliches?«

»Gut möglich. Er hat BWL studiert.« Seine Stimme klang verächtlich, gleichzeitig war ein Quäntchen Interesse hörbar. »Wieso? Oh, nein, ich ahne es. Er hat mit der Hecht-Sanierung-Geschichte zu tun.«

»Ja, es scheint, als wäre er Chef dieser ›Wohnbautraum‹.« Andy verzog das Gesicht. »Aber das ist nicht alles. Wenn ich richtig kombiniere, steht er wohl unter Verdacht, seine Mitarbeiterin ermordet zu haben.«

»Was?!« Andy starrte mich an.

Ich setzte mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und erzählte, was ich erfahren hatte. Währenddessen war ihm anzusehen, dass er versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.

»Ja, sieht so aus, als hättest du recht.« Er hob seine Kaffeetasse zum Mund, stellte fest, dass sie leer war, und setzte sie wieder ab. »Dann müssen wir wohl darüber schreiben, dass dieses Sanierungsvorhaben schon vor Beginn auf der Kippe steht. Ich spreche gleich mit Martin, dass er bei der Stadt checkt, inwieweit sie Infos über die Firma eingeholt haben, bevor sie ihr dieses Podium beim Ausschuss gegeben haben, und du könntest versuchen, bei der Kripo mehr über die Hilton-Geschichte herauszubekommen.«

»Andy, es ist dein Bruder!«

»Deshalb würde ich es auch nicht gern selber machen.« Er nahm seine Tasse und stand auf, ging um den Schreibtisch herum. »Und die Konkurrenz wird die Story auf jeden Fall bringen, also müssen wir auch was machen.« Neben mir blieb er stehen, lehnte sich an den Tisch und rieb mit der freien Hand über seinen Oberschenkel.

»Das ist doch Quatsch.« Ich griff nach seiner Hand, hielt sie fest. »Die Konkurrenz weiß nicht, dass die beiden Geschichten zusammengehören, selbst wenn von ihnen heute auch jemand versucht, noch etwas über die ›Wohnbautraum‹ zu erfahren.«

»Natürlich werden sie da auch nachgraben. Das ist eine große Sache.«

»Ja, du großer Redaktionsleiter. Aber sie ziehen keine Verbindung zu einem 36-jährigen Mann, der im Hilton verhaftet wurde.« Ich schaute auf meine Uhr. Es war schon eins. »Pass auf: Martin hat bestimmt noch einiges im Block stehen zu dem Sanierungsvorhaben. Ich habe eine schöne, bunte Broschüre mitgenommen, also können wir einen informativen Artikel machen, was dort geplant ist. Ganz ohne Spekulationen, aber komplett im Konjunktiv. Reinstes Lehrbuch.« Ich machte eine Pause, aber Andreas entgegnete nichts. »Und wir beide gehen jetzt erst einmal irgendwo eine Kleinigkeit essen und dann ganz privat zur Kripo und versuchen herauszubekommen, was da heute Morgen passiert ist.«

»Er ist doch so ein Arschloch«, brach es auf einmal aus Andreas heraus. »Er ist verheiratet, mit einem Mädchen aus meiner Stufe, und hat Kinder. Aber natürlich betrügt man seine Frau auf einer Dienstreise mit seiner Sekretärin. Das macht man wohl einfach so. Und dann …« Er brach ab, als würde ihm jetzt erst klar, was dort vielleicht passiert war.

Ich stand auf, nahm ihn fest in den Arm und ging dann in die Redaktion zurück. Ich sagte Martin nur, dass wir mit der ›Wohnbautraum‹ vorerst wohl nicht weiterkämen und aus seinen Notizen und der Werbebroschüre einen zurückhaltenden Text machen sollten. Dann nahm ich meinen Mantel vom Haken und holte Andy, der mit seinem Kaffeebecher in der Hand noch immer an der gleichen Stelle lehnte, aus seinem Büro.

*

»Woher weißt du das von Franks Familie, wenn ihr keinen Kontakt mehr hattet?«, fragte ich, während ich an einer harten Pizzakruste herumsäbelte.

Ich hatte gedacht, Andreas bräuchte Nervennahrung, und ihn in den Pizza-Hut im ehemaligen Rundkino gezogen. Er beharrte aber darauf, dass er abnehmen wolle, und bestellte bloß einen Salat, den er mechanisch in sich hineinstopfte.

»Meine Mutter hat mich auf dem Laufenden gehalten. Ob ich wollte oder nicht. Bis ich nach Gera ging und sie die Adresse nicht mehr hatte. Ein Foto von Franks zweitem Kind kam noch per Nachsendeantrag, dann hatte ich Ruhe.« Er betrachtete einen dicken weißen Strunk auf seinem Teller, schob ihn beiseite. »Frank war der Bilderbuchsohn. Hat alles gemacht, was meine Eltern sich wünschten. Und wahrscheinlich hat meine Mutter jahrelang gehofft, mich auch noch bekehren zu können.«

War er wirklich so kalt? Den eigenen Eltern keine Adresse zukommen lassen, nur ›Ruhe‹ wollen? Das passte so wenig zu dem emotionalen Andy, den ich kannte – oder vielleicht gerade. Ich schaute ihn an. Er rupfte an einem gummiartig aussehenden Stück Brot herum und stand offensichtlich neben sich. Er tat mir leid. Das vergangene Jahr war für uns beide so schön gewesen. Andreas genoss es, Chef eines guten Teams zu sein, wir hatten uns in unserer Wohnung und miteinander eingelebt, und alles schien nach Wunsch zu laufen. Franks Auftauchen, dieser ungeheuerliche Verdacht und das Wieder-Hochkommen seiner Familiengeschichte hatten ihn aber anscheinend komplett aus der Bahn geworfen.

»Wozu bekehren? Du hast doch unheimlich zügig studiert und sofort einen Job bekommen.«

Er wedelte unkoordiniert mit dem Brot herum: »Ich habe Sozialwissenschaften studiert und bin Journalist geworden. Und nicht beim Handelsblatt, sondern bei einer Regionalzeitung. Ich bitte dich. Und ich hab keine Familie, kein Häuschen am Stadtrand …«

Ich beschloss, mich nicht weiter mit meiner Pizza herumzuquälen, und stand auf. »Komm, jetzt gehen wir zu Hantzsche und hören, was er uns über Frank sagen kann.«

Andreas schaute auf die Selbstbedienungstheke, er schien zu überlegen, sich doch noch etwas zu holen, nur um den Gang zur Kripo hinauszuzögern. Dann erhob er sich aber ebenfalls, und wir verließen das Lokal.

Draußen legte ich meinen Arm um ihn und schob meine Hand in seine Jackentasche.

»Du hast schon ganz gut abgenommen, was?«, fragte ich nach, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.

Andy war nicht wirklich dick, er hatte jedoch in den letzten Jahren stetig leicht zugelegt, sodass einige überzählige Pfunde zusammengekommen waren. Und da er ziemlich eitel war, machte ihm das zu schaffen.

Er reagierte jedoch gar nicht auf das Kompliment. »Wenn Hantzsche mit dem Fall zu tun hat, werden bei dem Namen ›Rönn‹ sowieso die Alarmglocken losgegangen sein«, meinte er.

Wir kannten Hauptkommissar Hantzsche jetzt seit über zwei Jahren, und gerade das Verhältnis zwischen ihm und Andreas war nicht das beste.

»Ja, da hast du recht«, stimmte ich ihm zu.

Wir überlegten, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass es Hantzsches Fall war, und wie wir das Gespräch beginnen sollten. Als wir jedoch die Hauptwache betraten, kam uns Frank Rönn geradewegs entgegen. Er nestelte an seiner Krawatte herum, während ein älterer Mann, ebenfalls im Anzug, auf ihn einredete. Andreas war stehen geblieben. Ich hatte den Eindruck, dass sein erster Reflex war, umzudrehen und wieder zu verschwinden. Frank bemerkte uns erst, als er schon fast vor uns stand. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Dunkle Ringe lagen unter seinen geröteten Augen, die Bartstoppeln hoben eine ungesunde Blässe hervor, an der Unterlippe klebte eine blutige Kruste. Offensichtlich hatte er darauf herumgekaut.

»Andreas.« Er war stehen geblieben.

Der Mann neben ihm schaute irritiert hoch. »Gut, ich denke, das Wichtigste ist klar. Sie machen hier weiter wie geplant, alles andere wird sich aufklären. Aber geben Sie acht, dass die Presse keinen Wind von der Geschichte bekommt, das wäre schlecht fürs Geschäft.«

2. Kapitel

»Andreas«, wiederholte Frank, als der Mann sich mit einem kurzen Nicken verabschiedet hatte, fügte dann an: »Das war mein Anwalt.«

Andy verharrte stumm. Frank rückte seinen Jackett-Kragen zurecht, nahm die Schultern etwas zurück und bemühte sich, aufrechter zu stehen.

»Geht es dir gut?«, fragte ich nach, ohne mir darüber bewusst zu sein, dass ich ihn duzte.

Erst, als Frank mich dankbar anschaute und »Ja, danke, ich bin okay«, entgegnete, wurde es mir klar.

Andreas räusperte sich: »Das Geschäft, ja? Kommt mir doch irgendwie bekannt vor. Egal, wer gerade wen umgebracht hat, wichtig ist das Geschäft. Aber du hast Pech. Die Presse hat Wind davon bekommen.« Er war jetzt genauso bleich im Gesicht wie sein Bruder. Mein Gott, in was für ein Psycho-Drama war ich hier hineingeraten?

»Ich habe niemanden umgebracht! Andreas, um Himmels willen!«

»Davon muss die Polizei auch ausgehen, sonst wäre Frank jetzt nicht hier«, versuchte ich zu intervenieren.

»Du weißt nicht, was solche Leute für Anwälte haben«, sagte Andy, ohne mich anzuschauen. »Er da«, mit dem Kinn wies er in Richtung Ausgang. »Ist er der beste Dresdens oder extra aus Hamburg eingeflogen?«

»Er ist der Firmenanwalt. Andy, bitte …«

»Nenn mich nicht Andy!« Er atmete tief durch. »Okay, also was ist passiert? Du hast mit deiner Sekretärin gefickt, und heute Morgen war sie auf einmal tot?«

Frank zuckte zusammen und drehte sich um, ob jemand gehört hatte, was sein Bruder sagte. »Nein. Wir sind zwar zusammen auf mein Zimmer gegangen, ich war aber viel zu betrunken. Dort stand eine Flasche Sekt«, er schluckte, »in der etwas gewesen sein muss. Ich habe nur einen Schluck getrunken, ich, ich wollte nicht mehr, ich war müde.

Wir haben uns gestritten, das weiß ich noch, dann bin ich aufs Bett gefallen und eingeschlafen. Elena –« In der Pause zog er die Hemdmanschetten gerade. »Elena muss mehr von diesem Sekt getrunken haben. Heute Morgen, als ich wach wurde«, er zögerte, sprach dann sehr schnell weiter, »und auf Toilette musste, bin ich fast über sie gestolpert. Sie lag im Flur. Ich habe die Polizei gerufen.«Erschöpft stoppte er.

»Habt ihr euch da im Flur gestritten? Wieso überhaupt Flur in einem Hotelzimmer?«

»Eine Suite.«

»Ach so.« Wieder klang Andreas verächtlich. Ein Außenstehender mochte seine Reaktion für Neid halten; ich wusste jedoch, dass sie durch und durch ehrlich war. Und jetzt glaubte ich auch ihren Ursprung zu kennen. »Also: Habt ihr euch im Flur gestritten?«

»Nein, ich glaube nicht.«

Einigermaßen ratlos standen wir in einem Dreieck da. Frank nestelte weiter an seinem Anzug herum, Andy hatte die Fäuste in die Taschen seiner Lederjacke gestemmt. Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Frank, du willst dich jetzt bestimmt erst einmal frisch machen. Wäre es in Ordnung, wenn wir uns in einer Stunde in eurem Container treffen und du mir etwas über das Vorhaben der ›Wohnbautraum‹ erzählst? Wir würden gerne ausführlicher darüber berichten.«

Bei den letzten Worten sah ich Andreas an, der fast unmerkbar nickte, also zustimmte, von dem Verdacht gegen seinen Bruder nichts zu schreiben. Auch Frank schien verstanden zu haben, worauf ich hinauswollte, denn er stimmte eifrig zu und verabschiedete sich danach so schnell wie möglich.

Andy sah ihm hinterher.

*

»Du weißt ja sicherlich, dass das Viertel hier zum Sanierungsgebiet erklärt worden ist.«

Ich nickte. Frank hatte seine Haltung wiedergewonnen. In einem frischen, ebenfalls wieder sehr gut sitzenden Anzug, rasiert und mit einem Hauch von Parfüm umgeben, wirkte er völlig souverän. Ich fragte mich, wie nah er der Frau, mit der er nach Dresden gekommen war und die er vor wenigen Stunden tot in seinem Zimmer gefunden hatte, gestanden hatte. Jetzt ließ er sich auf jeden Fall keinerlei Regung mehr anmerken. Er saß mir in seinem Büro im hinteren Teil des Containers gegenüber und redete über das Konzept der ›Wohnbautraum‹. Die Sekretärin, die mich etwas verblüfft noch einmal begrüßt hatte, brachte Kaffee und Mineralwasser.

»Danke sehr.« Frank übernahm das Eingießen und fuhr fort: »Damit ist hier eine der letzten Möglichkeiten gegeben, mit Wohneigentum Steuern zu sparen. Es wird ja alles immer weiter gekürzt, die Regierung will sogar an die Eigenheimzulage gehen, und dabei haben wir in Deutschland ohnehin eine der geringsten Wohneigentums-Quoten in ganz Europa.«

»Das gleichen wir doch mit einer der höchsten Quoten an versiegelten Flächen locker wieder aus.«

Seine Irritation war nur kurz zu sehen. »Ja, natürlich. Nun, hier geht es ja eben nicht um das Bauen auf der Grünen Wiese, sondern genau um den Erhalt von innerstädtischen Strukturen. Von lebendigen Stadträumen.« Wieder nickte ich bloß. »Und das ist außer der Sanierung eines denkmalgeschützten Gebäudes die einzige Möglichkeit, mit Immobilien noch Steuern zu sparen. Immerhin zehn Jahre lang zehn Prozent. Das lohnt sich.«

»Deshalb saniert deine Firma hier die Häuser. Damit ihr den Steuervorteil habt.« Die fahle Sonne hinter dem Containerfenster verblasste bereits wieder. Auch nach fast drei Jahren in Dresden fand ich die kurzen Wintertage immer noch fürchterlich. Die Stadt lag so weit im Osten, dass man bereits am frühen Nachmittag das Gefühl hatte, der Tag sei vorbei.

»Nein, eben nicht.«Franks Blick ähnelte dem des Mannes auf dem Wochenmarkt, der einem verkündet, dass er tatsächlich noch eine Schale Erdbeeren zu den Kirschen und Pfirsichen dazulegt, und alles zum gleichen Preis. Bloß, dass dieser Marketender Boss trug. »Den Vorteil geben wir an unsere Käufer weiter. Wir verstehen uns als Dienstleister. Unser Planungsbüro hat Sanierungspläne für alle Häuser erstellt, wir haben Baufirmen, die sofort einsteigen könnten –«

»Im Dezember?«

Diesen Einwand schien er erwartet zu haben: »Es gibt immer genügend zu tun. Bei solch einer Sanierung geht es ja nicht nur um Arbeiten im Außenbereich.«

Davon hatte ich zu wenig Ahnung, dennoch kam es mir seltsam vor, mitten im Winter solch ein Vorhaben zu starten. Frank beschrieb jedoch schon voller Begeisterung die einzelnen Häuser, rund 20 Gebäude, die originalgetreu instand gesetzt werden sollten. »Und für diejenigen, die nicht in einem Altbau leben möchten, erstellen wir auf diesen zwei Grundstücken«, mit einem Bleistift wies er auf eine Stelle der vor mir liegenden Karte, »hochwertige Neubauten.«

»Was war die Aufgabe von Frau Kaiser?« Ich konnte einfach nicht glauben, dass er so problemlos auf Marketing umschalten konnte.

»Elena.« Wenigstens zog jetzt ein Schatten über sein Gesicht. »Elena war meine engste Mitarbeiterin, persönliche Sekretärin, Koordinatorin, im besten Sinne: Mädchen für alles.«