Die Bank am Ende des Steges - Clara Morgenfeld - E-Book

Die Bank am Ende des Steges E-Book

Clara Morgenfeld

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Beschreibung

„Die Bank am Ende des Stegs“ – ein Roman über Mut, leise Wendepunkte und die Fragen, die uns zurück ins eigene Leben führen. Als Marlena ans Meer zurückkehrt, sucht sie vor allem eines: Ruhe. Doch was sie findet, ist ein Ort, der ihr Leben sanft in Bewegung bringt. Auf dem alten Steg steht eine unscheinbare Bank, in deren Holz rätselhafte Fragen eingeritzt sind. Fragen, die niemand gestellt haben will – die aber genau dorthin treffen, wo Marlena sich längst verloren hat. Während die Küste sie langsam öffnet, begegnet sie Menschen, deren Geschichten sich in die ihren verweben: einer Witwe, die jeden Dienstag zum Meer kommt; einem Jungen, der Mut sammelt, um sein Leben zu verändern; einer Postbotin, die eine Entscheidung nicht länger aufschieben kann. Und Lenn – der Fremde mit dem Rucksack, der vor seiner Vergangenheit flieht und in Marlena etwas erkennt, das er selbst verloren hat. Die Bank stellt ihnen allen Fragen. Fragen, die Türen öffnen, alte Wunden berühren, aber auch neue Wege sichtbar machen. Für Marlena wird klar: Ein Neuanfang ist kein Ort, an dem man landet – sondern ein Gefühl, das man zulässt. Und manchmal beginnt er genau dort, wo man nie wieder hinwollte. Als eine letzte Frage unter der Bank erscheint, versteht Marlena, dass dieser Ort nicht nur ihr geholfen hat – sondern dass er sie weitertragen wird, wohin ihr Weg auch führt. Ein tiefsinniger, atmosphärischer Roman über Selbstfindung, Hoffnung und den Mut, weiterzugehen. Über das Meer als Spiegel der Seele und die überraschende Kraft kleiner Begegnungen. Warmherzig, lebensnah und voller Zitate, die im Herzen bleiben. Ein Buch für alle, die "Das Café am Rande der Welt", Julie Caplin, Mila Summers oder Petra Hülsmann lieben – und glauben, dass kleine Begegnungen die größten Geschichten schreiben.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Bank am Ende des Steges

Wenn das Meer flüstert, wohin du wirklich willst

Clara Morgenfeld

Erste Auflage 2025

© 2025 Clara Morgenfeld

Alle Rechte vorbehalten

Die Rückkehr ans Meer

Der Wind roch nach Salz und einer Erinnerung, die sie noch nicht ganz zuordnen konnte.

Marlena stand am Rand des Parkplatzes und sah zum ersten Mal seit Jahren wieder auf das Meer. Es war ein grauer, stiller Nachmittag, wie in Watte verpackt. Kein kitschiger Sonnenuntergang, kein dramatisches Licht – nur diese weiche, gleichmäßige Helligkeit, die alles ein bisschen milder erscheinen ließ. Vielleicht brauchte sie genau das.

„Du bist wirklich wieder hier“, murmelte sie in ihren Schal, als müsste sie sich selbst davon überzeugen.

Die Küstenstadt lag hinter ihr, zumindest der kleine Teil, den sie kannte: ein paar flache Häuser, geduckt gegen den Wind, ein Bäcker, der noch genauso hieß wie früher, und der kleine Supermarkt, in dem sie als Teenager ihren ersten Ferienjob gehabt hatte. Vieles sah gleich aus, und doch war alles anders. Vielleicht, dachte sie, war es nur sie selbst, die sich verändert hatte. Oder zu sehr versucht hatte, es nicht zu tun.

Sie zog den Griff ihres Koffers ein Stück fester, als würde sie ihn sonst loslassen und einfach umdrehen. Wieder zurück in die Stadt, in die Agentur, in den Lärm aus Deadlines, Projekten und freundlichen, aber müden Gesichtern. Zurück zu „Könntest du noch schnell?“ und „Wir bräuchten das bis gestern“.

Aber sie war nicht umsonst hierhergekommen.

Vor ihr führte ein schmaler Weg hinunter zum Strand, gesäumt von Grasbüscheln, die der Wind flach strich. Dahinter die Dünen, aus denen wie ein leiser Gruß ihre Kindheit auftauchte: barfuß rennen, lachen, der Geschmack von Sand zwischen den Zähnen. Und irgendwo dort, ein wenig weiter links, musste er sein. Der Steg.

Der Steg, den sie fast vergessen hatte

Marlena setzte einen Fuß vor den anderen. Der Koffer rumpelte über den holprigen Weg, und jedes Geräusch wirkte lauter als nötig. Sie fühlte sich, als wäre sie eine Fremde, die sich in ein altes Foto schleichen wollte. Je näher sie den Dünen kam, desto mehr schob sich ihr Herz in die Höhe, als hätte es Angst, dass gleich etwas Wichtiges passieren könnte.

„Es ist nur Holz“, sagte sie leise. „Nur ein Steg. Beruhig dich.“

Aber das war gelogen und sie wusste es.

Der Wind wurde stärker, als sie zwischen den Dünen hindurchtrat und der Blick frei wurde. Das Meer lag vor ihr, breit und ruhig, mit langen Wellen, die in gleichmäßigem Rhythmus an den Strand rollten. Kein Postkartenblau, eher ein weiches Blau-Grau, das trotzdem schön war. Vielleicht, weil es ehrlich wirkte.

Und da war er.

Der Steg.

Er zog sich wie ein schmaler Finger aus dunklem Holz vom Strand hinaus ins Wasser, nicht ganz bis zur Tiefe, aber weit genug, dass man beim Gehen das Gefühl bekam, der Welt einen Moment entrückt zu sein. Die Pfosten wirkten älter, manche schief, manche vom Salzwasser ausgeblichen. Ein paar Holzplanken waren heller, offenbar irgendwann ersetzt worden. Und doch war es derselbe Steg. Ihr Steg.

Sie blieb stehen und merkte erst da, dass sie den Atem angehalten hatte. Langsam ließ sie die Luft ausströmen und spürte, wie etwas in ihr gleichzeitig enger und weiter wurde.

Hier hatte sie als Kind gesessen, mit baumelnden Beinen, bis ihre Mutter gerufen hatte, dass es Abendessen gab. Hier hatte sie gelernt zu schweigen, wenn Worte zu viel gewesen wären. Hier hatte sie eines Abends als Teenager gesessen und sich geschworen, dass sie einmal „etwas aus ihrem Leben machen“ würde. Sie wusste nicht mehr genau, was das damals für sie bedeutet hatte. Sie wusste nur, dass es irgendwie größer und leichter klang als das, was sie daraus gemacht hatte.

Ihre Finger kribbelten. Ein Reflex, als würde sie nach einem Stift greifen wollen. Ihr Notizbuch lag irgendwo im Koffer, zwischen viel zu vielen Dingen, die sie „für den Fall“ eingepackt hatte. Für den Fall, dass sie hier produktiv sein würde. Für den Fall, dass sie hier plötzlich Pläne machen könnte. Für den Fall, dass sie hier wieder so funktionieren würde, wie man es von ihr kannte.

Sie schnaubte leise, fast ein Lachen, das keins sein wollte.

Der Rucksack auf ihrer Schulter drückte unangenehm schwer, und der Koffer fühlte sich in diesem Moment absurd an. Man brachte keinen Rollkoffer an einen Ort, an dem die Zeit sich anders verhielt. Marlena ließ den Griff los, stellte den Koffer neben einen verwitterten Holzpfahl und schob ihn ein Stück in den Sand, als würde sie ihn damit entschärfen. Den Rucksack behielt sie. Irgendetwas brauchte sie, um sich festzuhalten.

Ihre Schritte wurden langsamer, je näher sie dem Steg kam. Der Sand war feucht und gab unter ihren Stiefeln nach, das leise Schmatzen mischte sich mit dem Rauschen des Meeres. Sie spürte, wie ihre Schultern sich unmerklich senkten, als hätte jemand unsichtbare Lasten Stück für Stück von ihr genommen. Das war es, was ihr gefehlt hatte, ohne dass sie es benennen konnte: Raum. Weite. Der Abstand zwischen sich und allem, was man „muss“.

Sie erreichte den Beginn des Stegs und blieb erneut stehen. Eine der unteren Planken war schief, als hätte jemand mit einem zu schweren Schritt versucht, schneller ins Nichts zu laufen. Ein anderes Brett war heller und glatter – neu. Die Zeit hatte sich auch hier eingemischt, ohne um Erlaubnis zu fragen.

Vorsichtig setzte sie den Fuß auf die erste Holzbohle. Ein vertrautes Knarzen antwortete ihr, und plötzlich war sie nicht mehr vierunddreißig, sondern zehn. Ein Mädchen mit zu großem Pullover, Salz auf den Lippen und dem Gefühl, dass ihre Geheimnisse hier sicher waren.

Sie schloss die Augen für einen Moment.

Damals war sie hierhergekommen, wenn sie traurig gewesen war, weil ihre beste Freundin weggezogen war. Weil ihre Eltern gestritten hatten. Weil sie das Gefühl gehabt hatte, dass niemand verstand, wie laut es in ihr war, obwohl sie nach außen ruhig wirkte. Der Steg hatte nie gefragt. Er hatte einfach gehalten.

„Ich hätte früher zurückkommen sollen“, dachte sie.

Aber das Leben hatte einen anderen Plan gehabt – oder sie einen, von dem sie geglaubt hatte, dass er wichtiger war.

Die ersten Schritte über den Steg fühlten sich fremd und vertraut zugleich an. Das Holz federt leicht, der Rhythmus ihrer Schritte mischt sich mit dem Takt der Wellen. Links und rechts glitt das Wasser unter ihr vorbei, nicht wild, nur stetig. Es war, als würde jemand neben ihr gehen, den sie nicht sehen konnte.

Sie blieb nach ein paar Metern stehen und drehte sich um. Vom Steg aus gesehen wirkte der Strand kleiner, die Häuser weiter weg, die Welt geordnet nach wichtigen und unwichtigen Dingen. Das Meer vor ihr, der Ort hinter ihr, dazwischen sie.

Vielleicht war sie deshalb zurückgekommen.

Nicht nur, weil sie müde war. Nicht nur, weil der Arzt „Ruhe“ verordnet hatte, und die Therapeutin „Abstand“ und ihr Chef „Zeit“. Vielleicht war sie hier, weil ein Teil von ihr wusste, dass man sich an manchen Orten leichter an sich selbst erinnerte.

Wieder nach vorn gewandt, ließ sie den Blick weiter über den Steg gleiten. Ganz am Ende, ein wenig dunkler als der Rest, zeichnete sich die Kontur von etwas ab. Sie wusste eigentlich schon, was es war, aber ihr Herz machte trotzdem diesen kleinen Sprung, als würde es hoffen, sich zu täuschen, um noch einmal überrascht zu werden.

Die Bank.

Nicht irgendeine. Die Bank am Ende des Stegs.

Sie war früher schon da gewesen, aber in ihrer Erinnerung war sie einfacher, unscheinbarer. Jetzt wirkte sie fast… präsent. Als würde sie auf jemanden warten. Die Rückenlehne leicht nach hinten geneigt, die Sitzfläche dunkel vom Wetter, an manchen Stellen abgeschliffen von unzähligen Menschen, die hier Platz genommen hatten. Ein Ort, an dem man sich setzte und länger blieb, als man ursprünglich vorgehabt hatte.

Marlena ging weiter, Schritt für Schritt, bis sie ungefähr in der Mitte des Stegs stand. Hier hatte sie als Kind innegehalten, um nach unten zu schauen, in das Wasser zwischen den Pfosten, in dem manchmal Krabben und kleine Fische zu sehen gewesen waren. Sie lehnte sich ein wenig über das Geländer, doch heute war das Wasser zu trüb, die Wellen zu hoch, um etwas anderes als sich überlagernde Kreise zu erkennen.

„Vielleicht muss man gar nicht immer sehen, was unter der Oberfläche ist“, dachte sie. „Vielleicht reicht es zu wissen, dass da etwas ist.“

Der Wind blies ihr eine Strähne ins Gesicht, sie schob sie zurück und atmete tief durch. Die kalte Luft brannte angenehm in ihrer Lunge, wie ein Reset-Knopf. Ihr war, als würde jemand in ihr die Lautstärke langsam herunterdrehen. Der innere Lärm, der sie in den letzten Monaten begleitet hatte, wurde leiser. Nicht weg – aber leiser.

Sie spürte die Müdigkeit, die sie hierher begleitet hatte, noch immer in jeder Faser. Die vielen Nächte, in denen sie wach gelegen und an Präsentationen gefeilt hatte. Die Tage, an denen das Telefon geklingelt, das Postfach sich gefüllt, ihr Kalender sie angesehen hatte wie ein Einkaufszettel an Verpflichtungen. Und irgendwo dazwischen hatte sie sich selbst herausgestrichen. Nicht aus Absicht. Einfach so, wie man manchmal vergisst, was man eigentlich einkaufen wollte.

Der Steg unter ihren Füßen knarzte erneut, als wollte er sie daran erinnern, dass sie gerade nicht in einer PowerPoint-Folie stand, sondern mitten in einem Moment, der ihr gehörte.

Sie setzte sich wieder in Bewegung.

Je näher sie der Bank kam, desto deutlicher spürte sie dieses merkwürdige Ziehen in der Brust. Es war keine Angst, eher eine Mischung aus Nervosität und Vorfreude, wie vor einem Gespräch, von dem man weiß, dass es etwas verändern könnte. Vielleicht war es albern, einem Stück Holz solche Bedeutung beizumessen. Und doch tat sie es.

Am Ende des Stegs blieb sie noch einmal stehen – direkt vor der Bank. Aus der Nähe sah sie die feinen Risse im Holz, kleine Kerben, als hätten Menschen hier mit Schlüsseln oder Messern ihre Initialen eingeritzt. Die Armlehne war an einer Stelle glatter, blanker als der Rest, vom ständigen Streichen einer Hand, die vielleicht Trost gesucht hatte. Oder einfach Halt.

Sie ließ den Rucksack von der Schulter gleiten und stellte ihn neben sich auf den Boden. Einen Moment lang stand sie nur da, die Hände in den Manteltaschen, den Blick zwischen Meer und Bank hin- und hergleitend. Es fühlte sich an, als müsse sie sich entscheiden, ob sie nur Besucherin sein wollte – oder jemand, der wirklich ankommt.

„Na los“, sagte sie halblaut. „Setz dich.“

Ihre eigene Stimme klang ungewohnt deutlich in der Stille.

Langsam drehte sie sich zur Bank, legte eine Hand auf die Rückenlehne und spürte das raue Holz unter der Haut. Kalt. Echt. Kein Bildschirm, kein Filter. Eine kleine, absurde Erleichterung durchströmte sie.

Dann setzte sie sich.

Das Holz gab ein leises Geräusch von sich, als würde die Bank tief ausatmen. Marlena lehnte sich zurück und ließ den Blick über das Meer schweifen. Sie wusste nicht, wie lange sie so sitzen blieb, nur dass die Minuten sich anders anfühlten als sonst. Sie waren nicht voll, nicht verplant, nicht belegt. Sie waren einfach da.

Und zum ersten Mal seit Langem hatte sie das Gefühl, ebenfalls einfach da sein zu dürfen.

Sie ahnte nicht, dass direkt unter ihr, an der Unterseite der Sitzfläche, Worte eingeritzt waren, die ihr Leben in eine Richtung schieben würden, mit der sie nicht gerechnet hatte.

Noch nicht.

Die Bank, die anders wirkt als früher

Die Bank fühlte sich an, als hätte sie auf sie gewartet.

Marlena merkte es in dem Moment, in dem sie sich wirklich zurücklehnte. Nicht nur dieses vorsichtige, halbe Sitzen, als wäre sie gleich wieder weg – sondern das ganze Gewicht, der Rücken an der Lehne, die Schultern, die sie bewusst sinken ließ. Es war, als hätte der Steg sie bis hierher gelotst, nur um sie dann in diese Holzumarmung zu setzen.

Und doch… irgendetwas war anders.

Sie kannte die Bank von früher. Zumindest glaubte sie das. In ihren Erinnerungen war sie eine einfache Sitzgelegenheit gewesen, ein bisschen wackelig, mit rauen Planken, in die man sich Splitter holen konnte, wenn man zu unruhig herumrutschte. Sie war ein Randdetail ihrer Kindheitserinnerungen gewesen, mehr Hintergrund als Hauptdarsteller. Der Steg war das Abenteuer, das Meer die große Bühne – die Bank war die Pause dazwischen.

Jetzt aber stand sie im Mittelpunkt, als hätte jemand die Kamera geschwenkt.

Marlena strich mit der Hand über die Armlehne. Die Holzfasern fühlten sich glatt an, fast weich. Nicht überall – an manchen Stellen war das Holz rissig, aufgeraut, aber dort, wo die Hände der Menschen immer wieder gelegen hatten, war es geschliffen. Nicht von Maschinen, sondern von Berührungen. Von Zeit.

Ihr Blick glitt über die Lehne, die Streben, die Füße der Bank. Sie suchte nach etwas Vertrautem, einem Zeichen, dass das hier wirklich „ihre“ Bank war und nicht nur eine Nachfolgerin. Eine der oberen Latten war leicht gebogen, etwas tiefer als die anderen, als hätte sie sich mit den Jahren ein wenig hingegeben. Diese Asymmetrie erinnerte sie plötzlich an die Art, wie ihr Vater die Bank einmal „das Rückgrat des Stegs“ genannt hatte. Damals hatte sie gelacht und die Augen verdreht. Heute verstand sie es mehr, als ihr lieb war.

Ihr fiel eine kleine Stelle auf, an der das Holz dunkler war, fast wie ein Wasserfleck, nur in Form einer unregelmäßigen Wolke. Sie war sicher, dass sie diesen Fleck früher schon gesehen hatte. Vielleicht hatte sie ihn als Kind in eine Art Kontinent auf einer Schatzkarte verwandelt. Oder als Insel, auf der sie sich hinfantasiert hatte, wenn ihr alles zu laut wurde.

Sie seufzte leise. Woran sie sich erinnerte und woran nicht, fühlte sich an wie ein Puzzle, dem jemand Teile entnommen und durch andere ersetzt hatte.

Der Wind griff nach ihrem Schal, und sie zog ihn enger um den Hals. Die Kälte kroch ihr nicht nur unter die Kleidung, sondern auch in diesen Teil von ihr, der die letzten Jahre überhitzt gewesen war. Als wäre ihr System endlich bereit, herunterzufahren.

„Du wirkst anders“, dachte sie, während sie mit dem Handballen über die Sitzfläche strich. „Oder ich.“

Dabei war es vielleicht eine Mischung aus beidem.

Die Bank wirkte gepflegter, als sie es erwartet hätte. Jemand musste sich um sie kümmern. Die Schrauben an den Seiten glänzten an einigen Stellen neu, manche Latten waren offensichtlich ersetzt, ohne ihren Charakter zu verlieren. Es war nicht die sterile Perfektion eines Stadtparks, eher das liebevolle Reparieren eines Menschen, dem dieser Ort etwas bedeutete.

„Wer kümmert sich um dich?“, murmelte Marlena. „Und warum fühlt sich das so an, als ginge mich das etwas an?“

Sie lächelte über sich selbst. Mit einer Bank sprechen. Das passte irgendwie zu diesem neuen, langsamer getakteten Leben, in das sie noch nicht richtig hineinpasste, aber in das sie auch nicht mehr zurück konnte.

Ihr Blick blieb an kleinen Kerben hängen, eingeritzt entlang der Rückenlehne. Manche waren nur angedeutet, andere tief. Die meisten waren kaum noch zu entziffern, verwischt von Regen, Sonne und Zeit. Sie beugte sich etwas vor und entzifferte vorsichtig ein paar Initialen: „M + H“, daneben ein Herz, halb weggebrochen. Weiter rechts etwas, das wie „Sommer 98“ aussah. Ein paar Zeichen, die an ein Segelboot erinnerten. Spuren von Menschen, die hier gesessen hatten, geliebt, gestritten, geschwiegen, vielleicht Abschied genommen.

Marlena strich mit dem Finger über die eingeritzten Buchstaben, ohne sie wirklich zu berühren, eher wie eine Geste, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie Nähe wollte oder Respekt.

Sie fragte sich, wie viele Leben diese Bank schon gesehen hatte. Wie viele Entscheidungen hier vorbereitet worden waren, die niemand sonst je kannte. Manchmal sah das Leben von außen so glatt aus, so linear. Man sah die Postkarten, nicht die Randnotizen. Und dann gab es solche Plätze, an denen die Randnotizen plötzlich wichtiger wirkten als alles andere.

Ein unangenehmes Ziehen in ihrem Rücken ließ sie sich wieder zurücklehnen. Sie hatte noch immer diese Verspannung im Schulterblatt, die der Physiotherapeut „hartnäckigen Stressgast“ genannt hatte. Eine von vielen Körperstellen, die versuchten, ihr etwas zu sagen, das sie lange nicht hören wollte.

Die Bank knarzte leise, als sie ihre Position veränderte, und für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, als würde sie Antwort geben. Nicht mit Worten, eher mit einer Art Zustimmung. Du kannst hier sein. Du musst gerade niemandem etwas beweisen.

Die Stille war nicht vollkommen. Das Meer atmete im Hintergrund, die Möwen zogen ihre schrillen Linien durch die Luft, irgendwo klapperte ein lose hängendes Metallteil gegen einen Pfosten. Und doch war es stiller als alles, was sie in den letzten Jahren als „Still“ bezeichnet hatte. Kein Summen von Geräten, kein Dauerrauschen aus Nachrichten, Mails, Chats. Nur Natur und ein bisschen Holz.

Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick den Himmel entlangwandern. Wolken in milchigen Schichten schoben sich langsam weiter, als hätten auch sie keinen Grund, sich zu beeilen. Es war erst früher Nachmittag, aber sie spürte, wie eine Müdigkeit sie überrollte, die nichts mit Schlafmangel zu tun hatte. Es war eher die Erschöpfung, die kommt, wenn man zum ersten Mal innehält und merkt, wie lange man durchgehalten hat.

Sie hätte hier stundenlang sitzen können. Vielleicht war das die größte Veränderung: Früher war die Bank der letzte Stopp nach einem Tag voller Strandabenteuer gewesen. Heute war sie der erste Ort, an dem sie überhaupt zu sein wagte.

„Du bist die erste, bei der ich mich melde“, dachte sie und musste bei diesem absurden Gedanken lächeln. Nicht bei ihrer Mutter, nicht bei ihrer Kollegin, nicht bei ihrer Therapeutin. Bei einer Bank.

Ihr Blick wanderte wieder über das Holz, langsamer nun. Es war, als würde ihr Inneres versuchen, alle Details einzusaugen, um sie später abrufen zu können, wenn es draußen wieder zu laut würde. Die kleinen Risse, die Maserung, die Kanten, an denen der Lack abgeblättert war. An einer Stelle, rechts an der Sitzkante, wirkte das Holz dunkler, fast schwarz. Sie strich vorsichtig mit dem Finger darüber und fühlte eine ganz feine Vertiefung, zu klein, um ein Unfall zu sein, zu bewusst platziert, um Zufall zu sein.

Es war, als hätte jemand einen Punkt gesetzt. Satzende. Oder Beginn eines neuen.

Sie wollte sich gerade zurücklehnen, als ihr auffiel, dass das Holz unter ihren Händen eine Spur wärmer wirkte, als es angesichts der Temperatur sein müsste. Wahrscheinlich Einbildung, redete sie sich ein. Vielleicht hatte die Sonne heute Vormittag länger darauf geschienen. Oder vielleicht war es einfach die Tatsache, dass sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder auf etwas konzentrierte, das nicht auf einem Bildschirm stattfand.

Ein Gedanke schob sich in ihr Bewusstsein, leise, wie eine Welle, die anrollt, bevor man das Geräusch hört: Was, wenn es Orte gibt, die mehr über uns wissen, als wir selbst gerade wissen? Nicht, weil sie magisch sind, sondern weil wir an ihnen schon einmal wir selbst waren.

Die Bank war so ein Ort.

Sie ließ den Blick über den Rand der Sitzfläche gleiten, über die vordere Kante, die leicht abgenutzt war, über die Zwischenräume, wo das Licht hindurchfiel. Für einen Moment glaubte sie, Schattenlinien zu sehen, die nicht ganz mit den Planken übereinstimmten. Als würde sich unter der Bank etwas befinden, das das Licht anders bricht. Aber als sie genauer hinsah, war es nur das Spiel der Wellen, die sich unten am Steg brachen.

„Jetzt siehst du schon Gesichter in den Wolken und Geheimnisse unter Bänken“, murmelte sie. „Vielleicht ist das ein gutes Zeichen.“

Sie schloss kurz die Augen und hörte nur zu. Dem Wind, der an ihren Ohren zerrte. Dem dumpfen Schlagen einer entfernten Boje. Dem regelmäßigen Rhythmus ihres eigenen Herzschlags. Es war, als würde jemand in ihr einen Regler von „Übersteuerung“ auf „Normal“ drehen. Langsam, vorsichtig.

Die Bank passte sich ihrer Körperform an, oder sie bildete es sich ein. Jedenfalls fand sie eine Position, in der es sich so anfühlte, als würde der Holzrücken genau dort nachgeben, wo ihr Rücken seit Monaten protestierte. Sie spürte, wie eine Träne sich in ihrem Augenwinkel sammelte, ohne dass sie genau sagen konnte, warum.

Es war nicht Traurigkeit. Oder nicht nur. Es war eher dieses merkwürdige Gefühl, wenn man nach langer Zeit an einen Ort zurückkehrt, an dem man früher selbstverständlich gewesen war – und plötzlich begreift, wie sehr man ihn vermisst hat, ohne es zu wissen.

„Du wirkst anders“, dachte sie wieder. „Oder vielleicht sehe ich dich heute zum ersten Mal wirklich.“

Sie atmete tief ein und ließ die Luft langsam ausströmen. Mit dem Ausatmen schien etwas in ihr Platz zu machen. Für den Moment. Für sich selbst. Für die Möglichkeit, dass hier mehr passieren könnte, als einfach nur zu sitzen und nicht zu arbeiten.

Ein frischer Windstoß fuhr unter ihren Mantel, und sie zog die Knie ein Stück näher an sich. Die Kälte kroch ihr in die Beine, aber sie machte keine Anstalten aufzustehen. Stattdessen legte sie ihre Hände neben sich auf die Bank. Die Fingerspitzen glitten am Rand entlang, über das Holz, über kleine Unebenheiten, über… etwas.

Ihre linke Hand stieß an eine Vertiefung, die sich deutlicher anfühlte als die zufälligen Kerben. Eine Linie, dann noch eine, als wäre etwas eingeritzt. Sie runzelte die Stirn und tastete genauer nach. Es war schwer, im Sitzen zu erkennen, was es sein könnte. Die Stelle schien eher unten an der Kante zu liegen, fast versteckt.

Sie machte eine kleine Bewegung, um sich vorzubeugen, da fuhr ein plötzlicher Windstoß über den Steg. Eine Salzfahne wehte ihr ins Gesicht, sie blinzelte und lehnte sich reflexartig wieder zurück.

„Später“, sagte sie halblaut, ohne zu wissen, ob sie die Bank meinte oder sich selbst. „Ich bin doch gerade erst angekommen.“

Sie legte die Hände wieder in den Schoß und ließ den Blick noch einmal über das Meer schweifen. Die Bank unter ihr fühlte sich vertrauter an als zu Beginn. Und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als würde sie etwas zurückhalten. Wie ein Mensch, der mehr zu sagen hätte, sich aber Zeit lässt, bis die richtige Frage gestellt ist.

Marlena ahnte nicht, dass diese Frage näher war, als sie dachte.

Sie wusste nur: Diese Bank war nicht mehr nur Kulisse. Sie war ein Gegenüber.

Und irgendetwas in ihr antwortete schon.

Ein Notizbuch im Sand

Der Wind hatte gerade nachgelassen, als hätte das Meer beschlossen, für einen Moment innezuhalten. Marlena saß noch immer auf der Bank, den Blick auf die Stelle gerichtet, an der der Horizont in einer blassen Linie mit dem Himmel verschmolz, als etwas Helles am Rand ihres Blickfeldes aufflackerte.

Zuerst dachte sie, es sei nur ein Stück Treibgut – vielleicht ein Muschelfetzen, eine Plastiktüte, die der Wind hergeweht hatte. Doch irgendetwas daran ließ sie genauer hinsehen. Es lag direkt im Sand, ein paar Meter vom Steg entfernt, halb vergraben, halb freigegeben, als würde der Strand selbst entscheiden, ob er es preisgeben wollte oder nicht.

Marlena runzelte die Stirn.

Das Ding war rechteckig.

Und zu ebenmäßig, um zufällig zu sein.

Sie richtete sich auf, zögerte kurz und stand dann doch auf. Der Wind griff sofort nach ihrem Mantel, als wolle er sie zurückhalten, aber heute würde sie sich von nichts kleinkriegen lassen – nicht einmal vom Wetter. Sie nahm ihren Rucksack, hängte ihn sich über eine Schulter und machte sich auf den Weg zurück über den Steg.

Das Holz knarzte unter ihren Schritten, lauter als zuvor, als hätte es gemerkt, dass sie nicht mehr einfach nur sitzt, sondern etwas vorhat. Je näher sie dem Strand kam, desto deutlicher sah sie das Objekt: etwas Dunkles, eingefasst von helleren Sandkörnern, die wie winzige Kristalle darauf glitzerten.

Als sie vom Steg heruntertrat, wurde der Sand weicher, und sie musste die Schritte anpassen, langsamer, vorsichtiger. Sie blieb stehen und sah sich kurz um – reflexhaft. Niemand sonst war hier. Die Küste wirkte verlassen, die Stadt dahinter still, alle Geräusche schienen weiter weg als sonst.

Sie ging weiter.

Jetzt konnte sie es klar erkennen: ein Buch.

Ein Notizbuch.

Das Cover war aus dunklem, fast schwarzem Leder – oder dem, was früher einmal Leder gewesen war. Es wirkte alt, vom Salz ausgeblichen, die Ränder abgeschabt, als wäre es durch viele Hände gegangen, bevor es hier gelandet war. Die obere Ecke war eingedrückt, wahrscheinlich von einem Stein oder einem angeschwemmten Ast.

Das Notizbuch lag da, als hätte jemand es fallen lassen.

Oder abgelegt.

Oder als wäre es vom Meer angeschwemmt worden – doch dafür lag es zu weit oben am Strand, fast an der Basis des Stegs. Die Flut hätte es kaum so gezielt abgelegt.

Marlena kniete sich langsam hin, legte eine Hand auf den Sand, um das Gleichgewicht zu halten. Sie spürte, wie die Feuchtigkeit durch den Stoff drang. Ihre Finger zögerten einen Hauch, bevor sie das Notizbuch berührten. Das Leder fühlte sich kühl und überraschend fest an. Nicht aufgeweicht, nicht durchnässt. Das bedeutete: Es lag nicht schon seit Tagen hier.

Sie hob es vorsichtig an. Sand rieselte von der Rückseite ab, körnig und schwer, wie kleine Gewichte.

„Wer hat dich verloren?“, murmelte sie, leise und unwillkürlich.

Es gab keinen Namen auf dem Cover. Keine verzierte Prägung. Nur einen schmalen Riss an der rechten unteren Ecke, der aussah, als hätte jemand das Buch oft und ungeduldig geöffnet.

Marlena setzte sich in den Sand, ohne weiter darüber nachzudenken. Ihre Knie sanken ein, der Wind wehte ihr ein paar Strähnen ins Gesicht. Sie schob sie zur Seite, blätterte das Deckblatt ein kleines Stück nach oben – doch es klemmte.

Sand. Natürlich.

Sie klopfte vorsichtig die Kante aus, schüttelte mit einem leicht unsicheren Griff, und ein paar Sandkrümel fielen heraus. Jetzt ließ es sich öffnen.

Die erste Seite war leer.

Nicht ganz. In der oberen rechten Ecke war ein winziges Salzfleckchen, ein heller Kreis, der das Papier leicht gewellt hatte. Sonst nichts. Keine Zeile, keine Handschrift, kein Datum.

Sie blätterte um.

Die zweite Seite war ebenfalls leer.

Und die dritte.

Marlena runzelte die Stirn. Warum sollte jemand ein Notizbuch verlieren, das fast vollständig unbeschrieben war? Vielleicht war es ein Reisetagebuch, das nie begonnen wurde. Oder ein Geschenk, das nie benutzt wurde.

Sie blätterte weiter.

Bis sie auf der sechsten Seite innehielt.

Dort, ganz oben, standen vier Worte. Nicht ordentlich geschrieben, sondern eher wie hingeworfen, wie ein Gedanke, der sich nicht lange bitten ließ. Die Schrift war dünn, leicht nach rechts geneigt, nicht besonders sorgfältig, aber mit einer gewissen Entschlossenheit.

Vier Worte.

Vier, die ihr einen kurzen Schock durch den Körper jagten.

„Was willst du wirklich?“

Marlena starrte auf die Frage, ohne zu blinzeln. Sie fühlte, wie ihre Brust enger wurde, als hätte jemand ihr plötzlich die Luft entzogen. Es war nicht die Frage selbst – die hatte sie schon oft gehört, von Psychologen, von Freunden, von sich selbst.

Nein.

Es war das Gefühl.

Das Gefühl, dass genau diese Frage gerade jetzt, an diesem Ort, in diesem Moment, auf sie gewartet hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---