Kindheitserinnerungen im Café am Meer - Clara Morgenfeld - E-Book
SONDERANGEBOT

Kindheitserinnerungen im Café am Meer E-Book

Clara Morgenfeld

0,0
7,99 €
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn alte Bilder die Zukunft zeigen – und Erinnerungen Wurzeln schlagen. Lina Bergmann hat in Sandhagen nicht nur Tante Mimis Café übernommen, sondern auch ein Stück ihrer eigenen Vergangenheit. Als sie auf dem Dachboden einen alten Karton entdeckt, beginnt eine Reise, die alles verändert: Super-8-Filme, vergilbte Fotos und ein Brief, den Mimi einst nie abgeschickt hat, öffnen Türen zu Geheimnissen, die Lina bisher verdrängt hat – und zu Fragen nach ihrer Mutter, nach Herkunft und Liebe. Gemeinsam mit Ben, dem Schreiner mit den leisen Händen, und unterstützt von Freunden wie der temperamentvollen Hella, dem philosophischen Imker Paul, der lebensfrohen Köchin Sima und dem jungen Finn, entsteht im Café ein Sommer voller Entdeckungen. Lesungen, Filmabende und Rezepte werden zu Landkarten des Lebens, während das Dorf neugierig, vorsichtig und schließlich begeistert mitzieht. Doch nicht alles ist friedlich: Markus, Bens Bruder, will das kulturelle Erbe für seine eigenen Zwecke nutzen. Zwischen ihm und dem Dorf kommt es zu offenen Auseinandersetzungen. Lina muss lernen, klarer denn je für sich einzustehen – und entdeckt dabei, dass Mut und Wahrheit manchmal leiser sind als große Worte. Im Wechselspiel von Ebbe und Flut, zwischen Wattwanderungen, Sonnenuntergängen und dem Lachen der Kinder beim Sandburgenbauen, wächst in Lina eine neue Gewissheit: Kein Weg ohne Herkunft. Am Ende steht das Projekt „Mimis Jahr“: ein Buch, eine Veranstaltungsreihe, ein lebendiges Archiv, in dem Geschichten, Stimmen und Rezepte weitergetragen werden – von Generation zu Generation. Und Lina erkennt: Die Vergangenheit ist kein Schatten, sondern ein Fundament. Mit Mimi an ihrer Seite – damals und heute – findet sie die Kraft, Wurzeln zu schlagen und Flügel auszubreiten. Ein Roman über Kindheitserinnerungen und Neubeginn, über Gemeinschaft, Liebe und das Meer als treuen Begleiter. Herzenswarm, poetisch und voller Sommerlicht. Für Leser:innen von Janne Mommsen, Julie Leuze und Anne Barns. Ein Herzensbuch für schöne Abende – warm wie ein Kerzenlicht, so echt wie der Wind am Meer.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kindheitserinnerungen im Café am Meer

Der Sommer,

der für immer blieb

Clara Morgenfeld

Erste Auflage 2025

© 2025 Clara Morgenfeld

Alle Rechte vorbehalten

Ein Karton auf dem Dachboden: Staub, Sonnenstreifen, Herzklopfen

Die Treppe knarrte unter Linas Füßen, als wolle sie warnen: Überleg dir gut, ob du da hinaufgehst. Sie zog den Kopf ein, als die Dachbodentür vor ihr aufging, und schob sich vorsichtig in den Raum. Ein Schwall abgestandener Luft schlug ihr entgegen, gemischt mit dem Geruch von trockenem Holz, altem Papier und diesem kaum erklärbaren Aroma, das nur Räume besitzen, die seit Jahren unbeachtet schlummern.

Staub hing wie ein unsichtbarer Schleier in der Luft. Jeder ihrer Schritte ließ ihn aufwirbeln, und die Sonnenstrahlen, die durch ein schiefes Dachfenster drangen, fingen die Partikel ein wie Goldglitter in einer Schneekugel. Für einen Moment blieb Lina stehen, blinzelte ins Licht und hatte das Gefühl, mitten in einer Zeitblase zu stehen.

Ihr Herz schlug schneller. Sie wusste selbst nicht genau, weshalb. Vielleicht, weil dieser Dachboden schon immer etwas Geheimnisvolles ausgestrahlt hatte. Als Kind hatte sie sich nicht hierhergetraut – zu dunkel, zu fremd, zu sehr mit Mimis ernster Stimme verbunden: „Da oben ist nur Gerümpel, meine Kleine. Nichts für dich.“ Aber gerade dieses Verbot hatte dem Raum etwas Magisches verliehen, als könne er Schätze oder Antworten bergen, die für Kinderohren nicht bestimmt waren.

Jetzt war sie erwachsen, Besitzerin des Cafés – und doch fühlte sie sich, als würde sie auf Zehenspitzen in eine verbotene Welt eindringen. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, atmete tiefer durch, und zwang sich, weiterzugehen.

Die Dielen bogen sich unter ihrem Gewicht, ein dumpfes Knacken hallte unter dem Dach. Zwischen alten Truhen, Koffern und verbeulten Blechdosen entdeckte sie Kartons, aufeinander gestapelt, beschriftet in Mimis krakeliger Handschrift: „Weihnachten“, „Rezepte – alt“, „Fotos“.

Ihre Finger glitten über die wellige Pappe. Ein Karton jedoch stach heraus – kein Etikett, nur ein dunkler Wasserfleck an der Seite, als habe er Regen überstanden. Ganz unscheinbar, fast absichtlich versteckt zwischen zwei größeren Kisten. Linas Herzschlag beschleunigte sich.

Sie beugte sich hinunter, strich mit den Fingern über die staubige Oberfläche und spürte die raue Struktur der Pappe. Die Wärme des Sommers hatte sich im Dachboden gestaut, Schweiß sammelte sich an ihrem Haaransatz, doch sie fröstelte, als sie den Karton vorsichtig an den Griffmulden anhob. Er war schwerer, als sie erwartet hatte.

Einen Moment hielt sie inne. Bilder rasten durch ihren Kopf – Mimis Lachen, der Klang von Kaffeetassen, der Geruch von frisch gebackenem Kuchen. Und darunter ein Gefühl, das sie nicht benennen konnte: Vorfreude oder Angst?

„Alles okay da oben?“ Bens Stimme hallte gedämpft von der Treppe herauf. Sie zuckte leicht zusammen, als hätte er ihre Gedanken ertappt.

„Ja… ja, alles gut“, rief sie zurück, ohne die Augen von dem Karton zu lösen.

Sie spürte, wie ihr Herz noch einmal heftig gegen ihre Rippen stieß, bevor sie langsam den Deckel anhob.

Der Staub löste sich in einer kleinen Wolke, als wolle der Karton selbst sagen: Endlich.

Super-8-Rollen und vergilbte Fotos

Der Deckel des Kartons klemmte. Lina musste beide Hände benutzen, um ihn langsam hochzudrücken. Das Geräusch des reißenden Pappenkamins war so leise, dass es fast feierlich wirkte – wie das Knacken von Eis, bevor darunter das Wasser zu fließen beginnt. Sie hielt kurz den Atem an, als hätte sie Angst, den Moment zu zerbrechen.

Obenauf lag ein Stapel Fotos, achtlos gebündelt mit einem alten, brüchigen Gummiband, das beim ersten Berühren zerfiel. Die Fotos rutschten auseinander, glitten wie welke Blätter auf den Boden. Lina bückte sich, hob sie einzeln auf.

Die Bilder waren vergilbt, die Farben ins Sepia geglitten. Auf einem sah sie Tante Mimi, deutlich jünger, mit einem Blumenkleid und diesem unverwechselbaren, schiefen Lächeln. Neben ihr ein Schild: „Tante Mimis Café“, frisch gestrichen, die Buchstaben glänzten. Es wirkte, als sei das Café selbst damals noch voller Aufbruch gewesen.

Auf einem anderen Foto entdeckte sie sich selbst: ein Mädchen mit kurzen, zerzausten Haaren, Sommersprossen auf der Nase, ein Becher Kakao in der Hand, die Lippen verschmiert. Sie musste lachen – ein Lachen, das irgendwo tief aus ihrem Bauch kam und zugleich schmerzte.

„Na, was hast du gefunden?“ Bens Stimme klang näher. Sie hatte nicht bemerkt, dass er inzwischen die Treppe hochgekommen war. Er blieb in der Tür stehen, verschränkte die Arme, und sah zu, wie sie die Fotos betrachtete.

„Alte Bilder. Erinnerungen“, murmelte sie. Sie reichte ihm eines hinüber – Mimi auf einem Fahrrad, einen Korb voller Brotlaibe balancierend, als sei das die normalste Sache der Welt. Ben nickte, sagte nichts, doch in seinen Augen lag ein Glanz, als verstünde er, ohne Worte zu brauchen.

Unter den Fotos entdeckte Lina flache Metallspulen. Ihre Finger zitterten leicht, als sie die erste anhob. Sie war beschriftet: „Sommer 1989 – Eröffnung“. In Mimis krakeliger Schrift. Lina fuhr mit dem Daumen über die Buchstaben, so zart, als könnte sie die Zeit zurückspulen, wenn sie nur fest genug daran glaubte.

Eine zweite Spule: „Kuchenwettbewerb 1991“. Eine dritte: „Lina – 1. Tag in der Schule“. Ihr Herz schlug schneller. Sie konnte sich nicht erinnern, dass jemand diesen Tag gefilmt hatte.

„Super-8“, sagte Ben leise, als erkenne er sofort, was sie in der Hand hielt. „Hatte mein Onkel auch. Die Filme riechen irgendwie nach… Kindheit.“

„Ja“, flüsterte Lina, „nach Sommer.“

Sie hielt die Spule an ihr Gesicht, roch tatsächlich diesen eigenartigen Hauch von Zelluloid, Staub und altem Metall. Sofort tauchten Bilder in ihr auf – Kinder, die Sandburgen im Hof bauten, das Brummen von Mimis alter Kaffeemühle, das Zwitschern der Schwalben unter dem Dach.

Ihre Hände griffen tiefer in den Karton, förderten weitere Fotos zutage: Gäste, die sie kaum kannte; lachende Gesichter am Meer; eine Frau, die dicht neben Mimi stand, den Arm vertraut um ihre Schulter gelegt. Lina runzelte die Stirn. Dieses Gesicht war ihr fremd, und doch flackerte ein Gefühl von Beklommenheit in ihr auf. Wer war diese Frau?

„Kennst du sie?“ fragte Ben, der ihr Schweigen bemerkt hatte.

„Nein…“, antwortete Lina zögerlich. „Aber sie sieht… vertraut aus.“

Sie wollte das Foto zurück in den Stapel schieben, doch ihre Finger verharrten. Irgendetwas daran ließ sie nicht los.

Dann entdeckte sie, ganz unten im Karton, einen schmalen Umschlag, sorgfältig zwischen die Rollen geklemmt. Er war noch versiegelt, das Papier brüchig. Auf der Vorderseite stand in Mimis Schrift: „Für später.“

Lina legte den Umschlag zurück, als hätte er Gewicht, das sie nicht tragen konnte. Ihr Blick wanderte wieder zu den Spulen. Wie viele Sommer waren hier verborgen? Wie viele Feste, wie viele Gesichter?

Ein Gedanke traf sie mit der Wucht einer Welle: Vielleicht war dies der Schatz, von dem Mimi immer gesprochen hatte, wenn sie sagte: „Alles hat seine Zeit, auch die Erinnerungen.“

Die Sonnenstrahlen rückten weiter, warfen goldenes Licht auf den Karton. Der Staub wirbelte, tanzte in der Wärme. Lina spürte, wie ihr Herz schneller schlug – nicht vor Angst, sondern vor einer unbestimmten Erwartung. Als würde die Vergangenheit gleich anklopfen, mit Bildern, die längst verschollen geglaubt waren.

Ben trat näher, beugte sich leicht über sie. „Willst du die Filme sehen?“ Seine Stimme war sanft, fast einladend.

Lina nickte, obwohl sie noch nicht wusste, ob sie bereit war. Aber vielleicht war das genau der Punkt: Bereit sein musste man nie, man musste nur anfangen.

Sie legte die Fotos vorsichtig zurück in den Karton, als wolle sie ihnen versprechen: Ich komme wieder. Dann nahm sie die Spule mit der Aufschrift „Sommer 1989“ und hielt sie gegen das Licht.

Für einen Augenblick glitzerte das Zelluloid wie Wasser in der Sonne.

Und Lina wusste: Dieser Dachbodenfund war kein Zufall. Er war eine Einladung.

Mimis Notiz: „Für den richtigen Moment“

Lina schob einige Fotos beiseite, als ihr Blick auf ein kleines, unscheinbares Stück Papier fiel. Es war dünn, fast durchsichtig, die Ränder brüchig, als hätte die Zeit selbst daran genagt. Sie zögerte, bevor sie den Zettel vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger herauszog. Ein kaum hörbares Rascheln begleitete die Bewegung, als würde er ihr zuflüstern: Nimm mich ernst.

Darauf standen nur vier Worte, krakelig, aber unverkennbar:„Für den richtigen Moment.“

Mimis Handschrift.

Lina hielt den Atem an. Der Staub, der in der Luft tanzte, schien für einen Herzschlag stillzustehen. Als sie die Buchstaben betrachtete, überrollte sie ein Gefühl, das sie nicht recht benennen konnte – eine Mischung aus Erleichterung, Sehnsucht und Beklemmung.

„Für den richtigen Moment …“ flüsterte sie, beinahe lautlos, als spräche sie das Rätsel selbst an.

Ben war näher gekommen, stand nun neben ihr, die Arme locker verschränkt, den Kopf leicht geneigt. Er sagte nichts, doch sie spürte seinen Blick auf dem Zettel.

„Was soll das heißen?“ fragte Lina schließlich, mehr zu sich selbst als zu ihm.

Sie setzte sich auf eine der alten Holzkisten, die unter ihrem Gewicht ächzte, und ließ den Zettel auf ihren Knien ruhen. Ihre Finger strichen wieder und wieder über die Schriftzüge, als könne sie dadurch einen verborgenen Sinn ertasten.

Mimi hatte nie viel von Geheimnissen gehalten. Sie war eine Frau der klaren Worte, ihrer schiefen Sprüche und ihrer warmen Gesten. Wenn sie etwas meinte, dann sagte sie es – manchmal laut, manchmal im Scherz, manchmal so ernst, dass man es erst Jahre später verstand. Und doch … hier lag nun eine Botschaft, vage, offen, absichtlich verborgen.

Lina erinnerte sich an Abende in der Küche, wenn Mimi den Holzlöffel in der Hand hielt wie einen Taktstock. „Alles hat seine Zeit, Lienchen“, hatte sie dann gesagt. „Auch der Zucker im Teig. Zu früh macht er klumpig, zu spät schmeckt er bitter. Man muss den richtigen Moment erwischen.“

Damals hatte Lina gelacht, war wieder hinausgerannt in den Hof, um Sandburgen zu bauen oder Muscheln zu sammeln. Heute verstand sie, dass Mimi mehr gemeint hatte als Kuchenrezepte.

Ben beugte sich ein wenig vor. „Vielleicht wollte sie, dass du wartest, bis es sich richtig anfühlt.“ Seine Stimme war leise, warm, ohne Druck.

„Aber was ist richtig?“ Lina sah ihn an, suchte Halt in seinen Augen. „Wenn sie wollte, dass ich etwas Bestimmtes finde – wieso hat sie nicht einfach gesagt: ‚Öffne das hier, wenn du dreißig bist‘ oder ‚wenn du traurig bist‘? Sie wusste doch, dass ich alles immer gleich sofort wissen will.“

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Bens Gesicht. „Vielleicht war das ihre Art, dir Geduld zu schenken.“

Lina lachte auf, kurz, scharf, fast verzweifelt. „Geduld? Ausgerechnet mir?“

Sie schüttelte den Kopf und blickte wieder auf den Zettel. Die Worte flimmerten im Sonnenlicht, als hätten sie eine eigene Energie. Für den richtigen Moment. Es war kein Rätsel, das sich mit Logik lösen ließ. Es war ein Schlüssel – aber wofür?

Ihr Blick wanderte zurück in den Karton. Die Super-8-Rollen, die Fotos, der versiegelte Umschlag, der noch darunter lag. Vielleicht war der Zettel genau dafür gedacht: ein Hinweis, nicht alles auf einmal zu wollen. Vielleicht sollte sie lernen, einen Schritt nach dem anderen zu gehen.

Und doch drängte die Ungeduld in ihr. Ihr Herz pochte schneller, so als rufe etwas in ihr: Jetzt, jetzt ist der Moment.

Sie schloss kurz die Augen, atmete tief ein. Erinnerungen fluteten sie – Sommerabende im Hof, der Duft von frisch gebackenem Kuchen, Mimi, die lachend ihre Arme ausbreitete. Und mittendrin ihr kleines Selbst, das nie gefragt hatte, ob der Augenblick der richtige war. Kinder leben einfach, dachte Lina. Sie bauen Sandburgen, obwohl die Flut sie holt. Sie rennen hinaus in den Regen, obwohl sie durchnässt zurückkommen. Sie brauchen keine Notiz, die ihnen den Moment erklärt.

„Vielleicht“, sagte sie langsam, „ist der richtige Moment nicht etwas, das von allein kommt. Vielleicht ist es der Moment, den ich auswähle.“

Ben nickte nur. Er drängte sie nicht, er stellte keine weiteren Fragen. Und gerade dieses Schweigen war eine Antwort.

Lina faltete den Zettel vorsichtig zusammen, so behutsam, als sei er ein Schmetterlingsflügel. Sie schob ihn zurück zwischen die Fotos, aber nicht so tief wie zuvor. Er sollte erreichbar bleiben, sichtbar, ein kleines Versprechen, das auf Erfüllung wartete.

Dann legte sie die Hände auf die Spule mit der Aufschrift „Sommer 1989“. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie es fast im ganzen Dachboden hören konnte. Vielleicht war sie bereit. Vielleicht auch nicht. Aber der richtige Moment – der konnte genau jetzt beginnen.

Ben hört zu, sagt wenig

Der Zettel lag wieder im Karton, die Filmrollen schimmerten matt im Sonnenlicht, und Lina hatte das Gefühl, als atmete der Dachboden schwerer als zuvor. Die Luft war dichter, als hielte der Raum selbst inne und wartete, was sie als Nächstes tun würde.

Ben hatte sich an einen Balken gelehnt, seine Hände locker in den Hosentaschen vergraben. Er wirkte so selbstverständlich in dieser Umgebung, als gehöre er hierher, als sei Holz und Staub seine zweite Haut. Er beobachtete Lina, aber nicht aufdringlich. Es war diese Art von Aufmerksamkeit, die man kaum merkt und die doch stärker wirkt als jedes Wort.

„Das ist… viel“, murmelte Lina. Sie stand auf, strich ihre Jeans glatt und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Fotos, Filme, Notizen. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“

Ben nickte nur. Er sagte nichts, und gerade dieses Schweigen brachte sie ins Stolpern. Es war kein leeres Schweigen, nicht gleichgültig – eher ein stiller Raum, in dem ihre Gedanken Platz hatten.

„Vielleicht ist das alles gar nicht für mich bestimmt“, fuhr sie nach einer Weile fort, ihre Stimme leiser. „Vielleicht wollte Mimi, dass jemand anderes das findet. Oder dass es… einfach vergessen bleibt.“

Wieder dieses Nicken. Dann ein kurzes Heben seiner Schultern, als wolle er sagen: Oder vielleicht doch genau für dich.

Lina seufzte. „Du machst es einem echt nicht leicht.“

„Muss ich auch nicht“, erwiderte er schließlich. Seine Stimme war tief, ruhig, so selbstverständlich wie das Knacken der Dielen unter ihren Füßen. „Es reicht, wenn du hinsiehst.“

Sie ließ sich auf die Kiste zurücksinken, den Karton neben sich. Ihr Blick wanderte durch den Dachboden: Koffer, verbeulte Blechdosen, vergessene Spielsachen. Alles sprach von Geschichten, die sich längst zu Staub verwandelt hatten – und gleichzeitig von einer Zeit, die immer noch da war, wenn man nur genau hinschaute.

„Du weißt doch, dass ich manchmal… Angst habe, nicht genug zu sein“, sagte Lina leise, fast in die Stille hinein. „Dass ich hier scheitere. Am Café, an der Verantwortung. Dass alle sehen: Ich bin nur die, die weggelaufen ist – und zurückkam, weil sie nirgends sonst hingehört.“

Ben löste sich vom Balken, trat näher, setzte sich wortlos neben sie. Seine Gegenwart war wie ein Stein im Wasser – fest, verlässlich, ein Gewicht, an dem man sich orientieren konnte. Er legte keine Hand auf ihre, er sprach keine beruhigenden Phrasen. Er saß einfach da, ließ ihr Herz schneller schlagen und zugleich ruhiger werden.

Nach einer Weile sagte er: „Scheitern gehört dazu. Sandburgen halten auch nicht für immer. Trotzdem baut man sie.“

Lina lachte auf, überrascht von seinen Worten. „Das hast du von Paul, stimmt’s?“

Ein kaum sichtbares Grinsen huschte über Bens Gesicht. „Vielleicht. Oder von dir.“

Sie sah ihn an. Seine Augen hatten dieses tiefe, zurückhaltende Leuchten, das ihr manchmal mehr Mut machte als hundert Sätze. Sie spürte, wie die Last in ihrem Brustkorb ein wenig leichter wurde.

„Du weißt, dass ich kein großes Redetalent bin“, fügte er nach einer Pause hinzu. „Aber zuhören – das kann ich.“

„Und ich rede zu viel“, gab sie zurück.

„Passt doch.“

Ein kurzes Schweigen, das kein Schweigen war, sondern ein Einverständnis.

Lina griff wieder nach der Filmrolle, die Spule mit der Aufschrift „Sommer 1989 – Eröffnung“. Sie hielt sie so, dass das Licht hindurchfiel, und kleine Muster auf den Boden zeichnete. „Wenn wir die sehen, verändert sich vielleicht alles“, sagte sie leise.

„Oder gar nichts“, entgegnete Ben. „Aber beides ist in Ordnung.“

Sie atmete tief ein. Ja, vielleicht hatte er recht. Vielleicht musste sie nicht immer alles sofort begreifen, sofort benennen, sofort lösen. Vielleicht reichte es, die Dinge anzusehen, wenn sie auftauchten – und darauf zu vertrauen, dass der richtige Moment sich zeigen würde.

Sie spürte, wie ihr Herz ruhiger wurde, langsamer, fast im Takt von Bens Atem.

„Danke“, murmelte sie, kaum hörbar.

„Wofür?“

„Dafür, dass du… einfach da bist.“

Ben zuckte mit den Schultern, als sei es das Natürlichste der Welt. „Gern.“

Und mehr musste er nicht sagen.

Damals: Sandburg im Hof – einstürzend, doch voller Lachen

Die Sonne stand hoch am Himmel, blendend hell über dem kleinen Hof hinter dem Café. Der Sand, den Mimi in einer alten Zinkwanne für Lina ausgeschüttet hatte, war noch warm vom Vortag. Er roch nach Meer, obwohl sie hier zwischen Mauern und Backsteinen saß. Für Lina war er ein Königreich.

Ihre kleinen Hände patschten ungeduldig in die Körnchen, schoben, häuften, klatschten. Immer wieder rutschten Brocken davon, rollten wie kleine Lawinen den Hang hinunter. Aber das störte sie nicht. Jeder neue Turm, jeder neue Wall war ein Abenteuer.

„Mach einen Graben drumherum, Lienchen!“ Mimis Stimme kam aus dem Küchenfenster. Sie klang wie immer ein bisschen rau, aber voller Wärme. „Damit die Flut nicht alles gleich wegspült.“

Lina grinste, auch wenn sie nicht wusste, wie hier im Hof eine Flut kommen sollte. Trotzdem zog sie mit einem roten Plastikbecher eine Rinne um ihre Burg. Das Wasser aus der Gießkanne, das Mimi ihr später brachte, floss wie ein winziger Strom hindurch.

„Schau mal, Mimi! Ein echter Burggraben!“

Die ältere Frau beugte sich lachend herunter, der Duft von frisch gebackenem Kuchen hing an ihrer Schürze. „So muss das sein. Jede Königin braucht eine Burg – und jeder Kuchen braucht Geduld.“

Lina kicherte, verstand nur halb, was Mimi meinte, aber sie nickte eifrig. Ihre Burg wuchs weiter, Schicht um Schicht, bis die Türme wackelig in den Himmel ragten. Ein Stück Muschel, das sie am Strand gesammelt hatten, wurde zum Tor, ein alter Knopf zum Fenster.

Dann kam der Moment, den sie insgeheim gefürchtet hatte: Einer der Türme brach unter dem Gewicht zusammen. Ein Riss zog sich durch die Mauer, Sand rieselte, der ganze Bau stürzte krachend in sich zusammen.

Linas Unterlippe bebte. Einen Augenblick lang wollte sie weinen – all die Mühe, das kleine Königreich, fort in einem Atemzug.

Doch Mimi lachte. Ein warmes, volles, unerschütterliches Lachen, das über den Hof rollte wie Sommerwind. „Na, was hab ich gesagt? Die Flut kommt immer. Und dann bauen wir eben neu.“

Sie griff nach einer Schaufel, setzte sich neben das Mädchen in den Sand, obwohl die Schürze längst fleckig war. Gemeinsam schoben sie den Sand wieder zusammen. Lina lachte jetzt auch, ihr Kichern mischte sich mit Mimis tiefer Stimme. Es war kein trauriger Klang, sondern einer voller Zuversicht.

„Weißt du, warum wir Sandburgen bauen?“ fragte Mimi, während sie eine neue Mauer aufzog.

Lina schüttelte den Kopf, ihre Stirn voller Sandkörner, die in der Sonne glitzerten.

„Weil sie nicht bleiben. Weil sie uns lehren, dass das Schöne nicht ewig sein muss, um wichtig zu sein.“

Das verstand Lina nicht. Nicht wirklich. Aber sie nickte wieder, weil Mimis Worte sich immer so anhörten, als wären sie wahr.

Später, als die Schatten länger wurden, saß Lina in Mimis Schoß, den Kopf an ihre Schürze gelehnt. Der Sand klebte an ihren Knien, in den Haaren, sogar an den Wimpern. Mimi strich ihr mit einer groben Hand durchs Haar und summte eine Melodie, die nach Heimat klang.

Die Sandburg im Hof war längst wieder eingestürzt. Aber in Linas Brust fühlte es sich an, als hätte sie etwas viel Größeres gebaut: ein Lachen, das blieb.

Flimmern der Erinnerung - Projektor summt, Bilder springen

Das Café roch an diesem Abend anders. Nicht nach frisch gebrühtem Kaffee oder Mimis Vanillekipferln, sondern nach Technik, Staub und Spannung. Die Fenster waren geöffnet, Salzluft wehte herein und ließ die weißen Vorhänge zittern. Auf den Tischen, die sie zur Seite gerückt hatten, standen noch vereinzelte Gläser mit Teelichtern, deren Flammen unsicher flackerten.

Finn hockte auf dem Boden, schraubte am Projektor, als wäre er ein Herzchirurg. Der alte Apparat hatte Jahrzehnte auf dem Dachboden geschlafen, und es war fast ein Wunder, dass er überhaupt noch summte. „Ich glaub, der lebt“, hatte Finn vorhin stolz gesagt, als die Lampe zum ersten Mal aufleuchtete und Staubkörnchen im Lichtstrahl wie winzige Planeten zu tanzen begannen.

Jetzt summte er wieder, ein tiefes, rhythmisches Brummen, das den Raum erfüllte. Lina spürte, wie ihr Herzschlag sich dem Takt anpassen wollte. Sie stand neben Ben, die Filmrolle in den Händen, schwerer als gedacht. Sommer 1989 – Eröffnung. Nur vier Worte, aber sie wogen eine ganze Welt.

„Bereit?“ Finn drehte sich zu ihr um, ein Grinsen im Gesicht, das ein bisschen Unsicherheit verriet.

Lina nickte, auch wenn sie alles andere als sicher war. Ihre Kehle war trocken. Es fühlte sich an, als stünde sie vor einer Tür, von der sie nicht wusste, ob sie ins Licht oder in den Abgrund führte.

Ben legte ihr kurz die Hand auf den Rücken, drückte sanft. Keine Worte, nur diese Berührung, die sagte: Du musst da nicht allein durch.

Finn setzte die Spule ein, seine Finger flink, die Bewegungen geübt, obwohl er so jung war. Dann der Klick, das Surren, und der Raum wurde mit einem Mal still, so still, dass man das leise Knacken der alten Stromleitung hörte.

Ein Lichtstrahl schnitt durch das Halbdunkel. Er traf das weiße Laken, das Finn mit Wäscheklammern an der Wand befestigt hatte. Der Staub im Raum verwandelte sich in ein flirrendes Sternenmeer.

Die ersten Bilder sprangen. Unschärfe, ein Zittern, schwarze Streifen, dann plötzlich: Farben. Überbelichtet, doch klar genug, um Umrisse zu erkennen. Stimmen mischten sich, verzerrt, wie durch eine andere Zeit getragen.

Lina hielt den Atem an.

Auf der Leinwand zeichnete sich ein Hof ab, die alten Backsteinmauern, die sie heute noch kannte. Doch er wirkte jünger, heller, voller Leben. Kinder rannten hindurch, schrien, lachten, ihre Bewegungen hakten in den Sprüngen des Films.

„Da!“ Finn rief leise, als hätte er einen Schatz entdeckt. „Das ist doch das Café!“

Lina nickte stumm. Ihre Augen klebten an den Bildern, während ihr Herz in die Kehle rutschte. Ja, das war das Café – ihr Café. Nur anders, lebendiger, voller Sommer.

Das Summen des Projektors wurde zum Pulsschlag des Raums. Das Surren der Rollen, das Klicken beim Bildwechsel – alles zusammen ergab einen Rhythmus, der sich tief in ihr verankerte.

Ein Gefühl breitete sich in Lina aus, halb Vorfreude, halb Angst. Sie wusste nicht, was sie gleich sehen würde. Nur, dass es mehr sein würde als ein Film. Es war eine Botschaft, die Mimi für sie zurückgelassen hatte. Eine Brücke zwischen damals und heute.

Ben stand dicht neben ihr, die Arme verschränkt, schweigend. Doch sie spürte seine Präsenz wie einen Anker. Sie brauchte keinen Kommentar, keine Fragen. Nur die Sicherheit, dass jemand da war, falls die Bilder sie überrollten.

Dann wechselte das Bild.

Die Kamera wackelte, fing Gesichter ein, Hände, die Tassen hielten, eine Tür, die geöffnet wurde. Die Farben flirrten, die Stimmen waren kaum verständlich – und doch schoss eine Welle von Wärme durch Lina.

Sie war dabei, eine Erinnerung zu sehen, die sie nie bewusst erlebt hatte.

Das Licht flackerte, das Summen wurde lauter, fast vibrierend.

Und Lina wusste: Ab diesem Augenblick würde es kein Zurück mehr geben.

Mimi jung, das Café voller Sommer

Das Flimmern auf dem Laken wurde ruhiger, die Bilder klarer. Lina fühlte, wie ihr Atem stockte.

Da stand Mimi.

Nicht die Mimi, die sie zuletzt gekannt hatte – mit grauen Strähnen im Haar, müden Augenwinkeln und den schweren Bewegungen einer Frau, die viele Jahre gearbeitet hatte. Nein, diese Mimi war jung. Ihr Haar fiel dunkel und glänzend über die Schultern, das Kleid flatterte leicht, als habe es den Sommer selbst eingefangen. Ihre Augen funkelten, lebendig, voller Glanz, und in ihrem Lächeln lag eine Wärme, die den ganzen Raum zu füllen schien.

„Das gibt’s doch nicht …“ Linas Stimme war nur ein Flüstern.

Mimi bewegte sich über die Leinwand, goss Kaffee in Tassen, lachte mit Gästen, wischte mit schnellen Bewegungen über den Tresen. Sie wirkte nicht wie eine Frau, die arbeitete – eher wie jemand, der feierte. Jeder Handgriff hatte etwas Leichtes, Spielerisches, als sei das Café kein Ort der Mühe, sondern ein Ort der Freude.

Um sie herum wuselte das Leben. Kinder mit Sommersprossen liefen durch die Tür, balancierten Kuchenstücke, während ihre Eltern Gläser anstießen. Irgendwo klimperte ein Akkordeon, Stimmen sangen durcheinander, lachten, schrien, mischten sich zu einem Klang, der nach Glück roch.

Und das Café selbst … Lina erkannte die alten Holzbalken, die abgewetzten Stühle, die Fensternischen. Doch alles sah heller aus, jünger, voller Farben. Gardinen wehten im Wind, Tischtücher flatterten, und an jeder Ecke standen Vasen mit wilden Blumen – Mohn, Margeriten, Kornblumen. Es war, als hätte der Sommer persönlich hier sein Quartier aufgeschlagen.

„So hab ich das Café noch nie gesehen“, murmelte Lina.

Ben nickte neben ihr. „Es lebt.“

Ja, dachte sie, es lebt. Nicht nur als Gebäude, sondern als Herzstück des ganzen Dorfes. Die Menschen auf der Leinwand wirkten, als gehörten sie zusammen, verbunden durch mehr als Kaffee und Kuchen. Hier war Heimat sichtbar, greifbar.

Die Kamera zoomte näher auf Mimi. Ein Schweißtropfen glänzte auf ihrer Stirn, doch sie lachte, wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und schenkte nach, als gäbe es kein Ende. Sie strahlte eine Energie aus, die ansteckend war.

Lina schluckte. Sie hatte ihre Tante geliebt, ohne Frage. Doch oft hatte sie Mimi als streng empfunden, als nüchtern, als jemand, der Verantwortung wie eine Last trug. Dieses Bild aber zeigte eine Frau, die im Zentrum stand, die Freude verströmte, die so viel größer wirkte, als Lina sie je erlebt hatte.

„Das war Mimi“, flüsterte sie. „Das war wirklich sie.“

Und plötzlich verstand sie, was Paul immer gemeint hatte, wenn er von Mimi sprach: Sie war wie ein Sommerabend, warm und voller Licht.

Die Kamera schwenkte weiter. Man sah eine Tafel im Freien, gedeckt mit Schüsseln, Brotkörben, dampfenden Kaffeekannen. Lachen drang aus allen Richtungen, Menschen stießen an, Kinder stibitzten heimlich Zuckerwürfel. Mimi stand mittendrin, ihre Arme weit, als wolle sie die ganze Gesellschaft umarmen.

Das Bild flackerte kurz, dann sah man sie draußen vor dem Café, mit einem Strauß Sonnenblumen in der Hand. Ihr Blick ging direkt in die Kamera, direkt zu Lina, Jahrzehnte später.

Lina sog scharf die Luft ein. Für einen Augenblick war es, als würde Mimi sie jetzt ansehen, als wüsste sie, dass dieser Film eines Tages ihre Nichte erreichen würde.

Ihre Knie wurden weich. Sie griff nach der Lehne des nächsten Stuhls, um nicht ins Wanken zu geraten.

„Alles gut?“ fragte Ben leise.

Sie nickte, konnte aber kaum sprechen. Ihre Augen brannten, und sie ließ die Tränen einfach laufen. Es war keine Traurigkeit, nicht nur. Es war Staunen, Dankbarkeit, ein Schmerz, der süß war, weil er sie erinnerte.

Finn drehte sich kurz zu ihr um, seine Stirn gerunzelt. „Wahnsinn, oder? Sie war … echt cool.“

„Ja“, brachte Lina hervor. „Mehr als cool.“

Sie ließ den Blick nicht von der Leinwand. Da war Mimi, jung, voller Glanz, umgeben von einem Café, das aus allen Nähten platzte vor Leben.

Lina hatte das Gefühl, als sähe sie nicht nur Bilder, sondern eine Botschaft. Als wollte Mimi ihr sagen: So kann es sein. So soll es sein. Du musst das Leben nicht tragen wie eine Last. Du darfst es feiern.

Das Flimmern wurde schneller, das Bild wechselte wieder. Doch Linas Herz hing noch an diesem einen Moment, an Mimis strahlendem Gesicht.

Und tief in ihr wusste sie: Dies war erst der Anfang.

Eine unbekannte Frau neben Mimi

Das Bild auf der Leinwand flackerte, ruckelte kurz, dann scharfte sich der Fokus wieder. Man sah die Fassade des Cafés, frisch gestrichen, das Holz dunkel glänzend, die Fenster mit weißen Vorhängen geschmückt. Ein Sommerwind ließ sie flattern. Die Kamera hielt drauf, als wolle sie die Frische dieses Moments festhalten.

Und dann trat Mimi ins Bild. Neben ihr eine Frau.

Lina erstarrte.

Die Frau war schlank, ihr blondes Haar fiel in weichen Wellen auf die Schultern. Sie trug ein helles Sommerkleid, das im Wind flatterte, und ein Lächeln, das gleichermaßen offen wie zurückhaltend wirkte. Ihr Arm lag locker um Mimis Schulter, so vertraut, dass es selbstverständlich schien.

Lina blinzelte. Noch nie hatte sie diese Frau gesehen. Nicht auf Fotos, nicht in Geschichten, nicht in Mimis Erzählungen. Und doch war sie da, auf der Leinwand, mitten im Sommer 1989, so real, dass man fast glauben konnte, sie trete gleich aus dem Bild heraus.

„Wer ist das?“ Die Frage kam aus ihr heraus, ehe sie darüber nachdenken konnte. Ihre Stimme klang brüchig.

Im Raum herrschte Stille. Das Summen des Projektors war das einzige Geräusch. Paul, der hinten in der Ecke saß, räusperte sich leise, aber er sagte nichts. Finn runzelte die Stirn, beugte sich ein Stück nach vorne, als wolle er besser sehen.

„Kenn ich nicht“, murmelte er. „Aber … sie wirkt wichtig.“

Wichtig. Ja. Das war das Wort.

Denn während die Kamera weiterlief, blieb die Frau an Mimis Seite. Man sah sie lachen, während sie einen Kuchen aufs Tablett stellte. Man sah sie mit Mimi anstoßen, ein Glas in der Hand, die Augen voller Glanz. Man sah sie Kinder auf den Schoß nehmen, als gehöre sie dazu.

Und Lina spürte, wie ihr Herzschlag schneller wurde.

Warum hatte Mimi nie von ihr gesprochen?

Sie wandte sich halb zu Ben, suchte in seinem Gesicht eine Antwort. Doch er schüttelte nur langsam den Kopf. Seine Augen waren ernst, forschend, aber ohne Erklärung.

Lina biss sich auf die Lippe. Eine Ahnung nagte in ihr, etwas Unausgesprochenes, das schon immer zwischen den Zeilen ihrer Kindheit gestanden hatte. Doch sie wagte nicht, es laut zu denken.

Das Bild sprang. Jetzt sah man Mimi und die Frau vor dem Café, beide lachend, Arm in Arm. Der Wind spielte mit ihren Kleidern, ein Sonnenstrahl fiel genau auf ihre Gesichter. Es war ein Bild voller Vertrautheit, voller Nähe.

Lina fühlte, wie ihre Hände kalt wurden. Sie ballte sie zu Fäusten, um die Unsicherheit zu vertreiben.

„Vielleicht … war sie nur eine Freundin“, hörte sie sich selbst sagen, und schon beim Aussprechen wusste sie, dass sie nicht daran glaubte.

Paul bewegte sich unruhig, dann stand er langsam auf. „Ich … erinnere mich dunkel.“ Seine Stimme war leise, fast brüchig. „Da war eine Frau. Sie war nicht von hier. Aber mehr …“ Er brach ab, schüttelte den Kopf. „Mehr weiß ich nicht.“

Lina fixierte ihn. „Aber du hast sie gesehen?“

„Vielleicht“, antwortete er. „Es ist lange her.“

Das Bild wechselte wieder, neue Szenen erschienen: Kinder, die Seifenblasen jagten, Mimi, die tanzte. Die Fremde war verschwunden. Aber das Gefühl blieb.

Lina konnte sich nicht lösen. Sie hatte das Gefühl, als hätte sich eine Tür geöffnet – nicht weit, nur einen Spalt. Dahinter lag etwas, das mit ihr zu tun hatte. Mit ihrer Mutter, vielleicht. Mit Fragen, die sie nie zu stellen gewagt hatte.

Ben legte eine Hand auf ihre Schulter. Ein kurzer Druck, fest, beruhigend. Keine Worte.

Doch das Schweigen im Raum war lauter als jedes Gespräch.

„Ich muss es wissen“, murmelte Lina schließlich. „Wer sie war. Warum sie hier war. Warum niemand je von ihr gesprochen hat.“

Ben nickte. „Dann finden wir es heraus.“

Die Leinwand zeigte inzwischen wieder Alltag: Teller, Tassen, lachende Gäste. Doch für Lina war der Zauber gebrochen. Die Bilder hatten ein Rätsel geboren, das größer war als jeder Film.

Sie wusste: Diese Frau war ein Schlüssel. Zu Mimi. Zu ihrer Mutter. Vielleicht zu ihr selbst.

Und plötzlich fühlte sich die Hitze des Raumes nicht mehr nach Sommer an, sondern nach einem Rätsel, das seit Jahrzehnten darauf wartete, gelöst zu werden.

Linas Name auf einer Filmklappe

Das Flimmern auf der Leinwand sprang. Ein kurzer Ruck, dann war das Bild schwarz. Für einen Atemzug dachte Lina, der Projektor sei kaputt. Finn rüttelte hektisch an der Seite des Geräts, doch noch ehe er etwas sagen konnte, tauchte ein neues Bild auf.

Eine Kinderhand füllte die Leinwand. Klein, mit abgekauten Fingernägeln und einem Pflaster über dem Daumen. Sie hielt eine Filmklappe. Mit weißer Kreide stand darauf geschrieben:

„Lina – 1. Schultag.“

Die Worte trafen Lina wie ein Schlag.

Ihr Name. Kreidig, zittrig, und doch klar. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Der Raum, das Café, der Projektor – alles rückte in den Hintergrund. Sie konnte nur noch auf diese Kreideschrift starren, die aus einer anderen Zeit zu ihr sprach.

„Das … das bin ich“, brachte sie hervor, kaum mehr als ein Hauch.

Dann klappte die Klappe zu, ein Klacken, und das nächste Bild erschien.

Ein kleines Mädchen trat ins Bild. Zöpfe, eine viel zu große Schultüte, die in beiden Armen kaum zu halten war. Die Kamera wackelte, zoomte heran, fing das breite, unsichere Grinsen ein.

Lina.

Sie selbst, sechs Jahre alt, mit einem Kleid, das wohl neu war, aber schon Falten hatte vom Sitzen. Die Schultüte glänzte, rosa mit bunten Stickern beklebt. Sie erinnerte sich plötzlich an das Gewicht, an die Bonbons, die darin raschelten, an die Angst, sie könnte sie fallen lassen.

Ihre Knie wurden weich. Sie klammerte sich an die Rückenlehne des Stuhls neben sich.

„Das bist du“, sagte Ben leise, fast ehrfürchtig.

„Ja.“ Tränen schossen Lina in die Augen, heiß und plötzlich. „Aber … ich wusste nicht, dass … dass jemand das gefilmt hat.“

Auf der Leinwand sah man, wie das kleine Mädchen unbeholfen versuchte, die Schultüte abzustellen. Sie kippte, kullerte fast davon, und Mimi kam ins Bild. Sie legte eine Hand auf Linas Schulter, hielt sie fest, lachte in die Kamera.

Dieses Lachen – es war warm, tief, voller Stolz.

Lina legte sich die Hand auf den Mund. Ein Schluchzen entkam ihr, bevor sie es zurückhalten konnte.

„Ich erinnere mich kaum“, flüsterte sie. „Nur an den Geruch von Kreide. An die Angst, dass ich alles falsch mache.“

Doch da, auf der Leinwand, sah sie etwas anderes: Mimi, die sie festhielt, die mit ihr lachte, die sie sichtbar machte.

Finn grinste leise. „Du warst echt süß.“

Lina musste lachen, trotz der Tränen. Ein heiseres, brüchiges Lachen, das die Spannung löste. „Süß und überfordert.“

Die Kamera fing noch mehr Details ein: andere Kinder, die an ihr vorbeihuschten, eine Schulglocke im Hintergrund, bunte Ranzen. Doch für Lina gab es nur zwei Dinge: ihr jüngeres Ich und Mimis Hand auf ihrer Schulter.

Es war, als würde die Vergangenheit ihr zurufen: Du warst nicht allein. Du warst getragen.

Sie spürte Bens Blick auf sich, ruhig, fest. Es war derselbe Ausdruck, den Mimi auf der Leinwand getragen hatte: ein stilles Versprechen, da zu sein.

„Ich hätte nie gedacht …“ Lina brach ab, schüttelte den Kopf. Worte reichten nicht.

Die Leinwand flackerte erneut, das Bild wechselte. Doch der Moment blieb in ihr eingebrannt.

Ihr Name, auf einer Filmklappe.

Eine Botschaft aus der Vergangenheit, schwarz auf weiß, Kreide auf Holz.

Und plötzlich begriff Lina, dass Mimi ihr mehr hinterlassen hatte als Rezepte und ein Café. Sie hatte ihr ein Archiv gegeben. Ein Beweis. Eine Geschichte, die Lina selbst nie erzählt hätte, weil sie dachte, niemand habe sie gesehen.

Doch jemand hatte. Mimi hatte.

Und das veränderte alles.

Damals: Kakaoflecken und Kreidefinger

Der Tisch im Café war fast so hoch wie Lina selbst. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um über den Rand zu sehen. Mimi hatte ihr einen Stuhl herangerückt, damit sie besser an die Tasse kam.

Der Kakao dampfte, dick und süß, mit einem Schaum, der fast wie eine kleine Wolke auf der Oberfläche lag. Lina griff mit beiden Händen nach der Tasse – sie war schwer, fast zu schwer – und führte sie vorsichtig zum Mund. Doch die Wolke war schneller. Ein Schaumfleck setzte sich direkt auf ihre Nase.

Mimi lachte, laut und voll, so dass selbst die Gäste an den Nachbartischen grinsen mussten. „Lienchen, du siehst aus wie ein Kätzchen im Winter!“ Sie griff nach ihrem Geschirrtuch, wischte sanft über Linas Gesicht, doch der Kakao hatte schon seine Spuren hinterlassen: braune Tropfen auf dem Kleid, ein dicker Fleck auf dem Holz des Tisches.

„Entschuldigung“, murmelte Lina, doch Mimi winkte ab. „Flecken sind Geschichten. Und Geschichten gehören hierher.“

Das Mädchen strahlte. Wenn Mimi das sagte, dann war es richtig. Dann waren Flecken keine Fehler, sondern Erinnerungen, die man sehen konnte.

Nach dem Kakao schob Mimi ihr ein kleines Schälchen mit Zuckerwürfeln zu. „Aber nur einen“, warnte sie mit hochgezogener Augenbraue. Natürlich nahm Lina zwei. Der Zucker knirschte zwischen den Zähnen, und sie fühlte sich reich, als hätte sie einen Schatz gefunden.

Später, als der Nachmittag sonniger wurde, zog sie mit einer Schachtel bunter Kreiden hinaus in den Hof. Mimi hatte ihr erlaubt, die Pflastersteine zu bemalen – „solange der Regen es wieder abwäscht“.

Lina kniete sich hin, die Knie sofort voller Staub, und begann. Erst ein Haus mit schiefem Dach, dann ein Baum mit riesigen Blättern, die so groß waren, dass sie den halben Hof bedeckten. Schließlich eine Sonne, rund und strahlend, so groß, dass sie den Himmel auf dem Pflaster für sich allein beanspruchte.

Ihre Finger waren bald ganz bunt: blau, rot, gelb, grün. Sie strich über die Steine, zog Linien, die zu Flüssen wurden, und Kreise, die zu Rädern.

„Das sieht schön aus“, hörte sie plötzlich hinter sich. Mimi stand im Türrahmen, die Hände in der Schürze vergraben, die Haare im Wind flatternd. „Sehr schön, Lienchen.“

Dieses „schön“ war mehr wert als jedes Lob in der Schule, mehr wert als jede Belohnung. Es war ein Siegel, das sagte: Du bist gesehen.

Lina drehte sich stolz um, wischte sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht, und grinste – dabei hinterließ sie einen blauen Streifen auf ihrer Stirn. Mimi lachte wieder, dieses volle, herzliche Lachen, das den ganzen Hof ausfüllte.

„Du bist mein kleines Kunstwerk“, sagte sie, und in diesem Moment fühlte sich Lina, als sei sie die wichtigste Person auf der Welt.

Der Abend kam, der Kakao war längst vergessen, die Kreidezeichnungen verblassten in der Dämmerung. Aber die Kakaoflecken auf dem Kleid und die bunten Finger blieben. Und jedes Mal, wenn sie sie ansah, wusste sie: Das war ein guter Tag.

Ein Tag voller Kakaoflecken und Kreidefinger.

Rezepte wie Landkarten

---ENDE DER LESEPROBE---