Die Befristeten - Elias Canetti - E-Book

Die Befristeten E-Book

Elias Canetti

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Beschreibung

"Kommt einer mit einem bestimmten Quantum Leben zur Welt, oder ist dieses Quantum unbestimmt, so dass derselbe Mensch 70 oder bloß 40 werden könnte? Und wann wäre der Punkt erreicht, wo die Begrenzung klar ist? Wer das erstere glaubt, ist ein Fatalist; wer es nicht glaubt, schreibt dem Menschen ein erstaunliches Maß an Freiheit zu und räumt ihm einen Einfluss auf die Länge seines Lebens ein." Elias Canetti über das nach dem Tod seiner Geliebten Friedl Benedikt verfasste Stück "Die Befristeten".

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Über das Buch

»Kommt einer mit einem bestimmten Quantum Leben zur Welt, oder ist dieses Quantum unbestimmt, so dass derselbe Mensch, 70 oder bloß 40 werden könnte? Und wann wäre der Punkt erreicht, wo die Begrenzung klar ist? Wer das erstere glaubt, ist ein Fatalist; wer es nicht glaubt, schreibt dem Menschen ein erstaunliches Maß an Freiheit zu und räumt ihm einen Einfluss auf die Länge seines Lebens ein.« Elias Canetti über das nach dem Tod seiner Geliebten Friedl Benedikt verfasste Stück

Elias Canetti

Die Befristeten

Impressum

ISBN 978–3–446–25345–2

Entstanden 1952; uraufgeführt 1956, in Buchform erschienen 1964

Text nach Band II der Canetti-Werkausgabe

© 2015, 2016 Elias Canetti Erben Zürich, Carl Hanser Verlag München

Umschlaggestaltung: S. Fischer Verlag / www.buerosued.de

Cover: Elias Canetti nach dem Tod seiner Frau Veza, London 1963

Foto: Horst Tappe, Montreux

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Die Befristeten

Personen

Prolog über die alte Zeit

Erster Teil

Zweiter Teil

Personen

Fünfzig

Der Freund

Der Kapselan

Einer

Ein Anderer

Mutter, 32

Junge, 70

Mann, Dr. 46

Frau, 43

Grossmutter

Enkelin

Der Junge Zehn

Zwei Kollegen

Das Paar

Junge Frau beim Begräbnis ihres Kindes

Zwei junge Herren, 28 und 88

Zwei Damen

Chor der Ungleichen

Zwei ganz alte Frauen, 93 und 96

Prolog über die alte Zeit

Einer: Damals!

Ein Anderer: Damals? Du glaubst an dieses Ammenmärchen!

Einer: Aber es war wirklich so. Du brauchst nur die Berichte von Augenzeugen einzusehen!

Der Andere: Hast du sie denn gelesen?

Einer: Natürlich. Darum erzähle ich es dir doch.

Der Andere: Und was stand darin?

Einer: Was ich dir eben gesagt habe. Ein Mann ging von zu Hause weg, um Zigaretten zu kaufen. »Ich bin in ein paar Minuten wieder da«, sagte er zu seiner Frau, »ich komme gleich.« Er trat zu der Haustür hinaus und wollte die Straße überqueren, das Geschäft lag gegenüber. Ein Auto kam plötzlich um die Ecke und stieß ihn nieder. Er blieb liegen. Doppelter Schädelbruch.

Der Andere: Und? Was weiter? Er wurde ins Spital geschafft und ausgeheilt. Er lag einige Wochen im Spital.

Einer: Nein. Er war tot.

Der Andere: Tot. Es war sein Augenblick.

Einer: Eben nicht. Das ist ja der Witz bei der Sache.

Der Andere: Wie hieß er denn?

Einer: Peter Paul.

Der Andere: Aber was war sein wirklicher Name?

Einer: Peter Paul.

Der Andere: Das will man mir immer einreden. Glaubst du denn wirklich, daß die Leute damals ohne rechte Namen leben konnten?

Einer: Ich sag dir, es war so. Sie hatten irgendwelche Namen und die Namen hatten gar nichts zu bedeuten.

Der Andere: Da hätte man die Namen einfach vertauschen können.

Einer: Gewiß. Es war gleichgültig, wie jemand hieß.

Der Andere: Und der Name hatte mit dem Augenblick nichts zu tun?

Einer: Nichts. Der Augenblick war unbekannt.

Der Andere: Ich verstehe es nicht. Du willst sagen, daß kein Mensch, kein einziger Mensch eine Ahnung davon hatte, in welchem Augenblick er stirbt?

Einer: Genau das. Kein einziger.

Der Andere: Jetzt sag einmal, ernsthaft: kannst du dir so etwas überhaupt vorstellen?

Einer: Ehrlich gesagt: nein. Darum finde ich es so interessant.

Der Andere: Aber das hätte doch niemand ausgehalten! Diese Unsicherheit! Diese Angst! Da hätte ich ja keine Minute Ruhe gehabt! Ich hätte an nichts anderes denken können. Wie haben diese Menschen gelebt? Wenn man nicht einmal einen Schritt vors Haus tun kann! Wie haben die Leute Pläne gemacht! Wie haben sie sich irgend etwas vorgenommen? Ich finde das furchtbar.

Einer: Das war es. Ich kann es mir genausowenig ausmalen!

Der Andere: Aber glaubst du es? Glaubst du, daß es so war?

Einer: Dazu studiert man doch Geschichte.

Der Andere: Geschichten – willst du sagen. Ich will dir gern glauben, daß es Menschenfresser gegeben hat …

Einer: Und Pygmäen …

Der Andere: Und Riesen, Hexen, Mastodonten und Mammute, aber das ist doch was anderes!

Einer: Wie soll ich es dir noch beweisen?

Der Andere: Ich habe es mir vielleicht nie klarzumachen gesucht. Es klingt ungeheuerlich! Es klingt unglaublich!

Einer: Und doch ist die Welt so weitergegangen.

Der Andere: Vielleicht waren die Leute viel dümmer als jetzt. Stumpfsinnig.

Einer: Du meinst wie Tiere. Die denken auch an nichts.

Der Andere: Ja. Die jagen, fressen und spielen, und was ihnen dabei geschehen kann, daran denken sie einfach nicht.

Einer: Da haben wir's schon ein bißchen weiter gebracht.

Der Andere: Ein bißchen? Das andere kann man gar nicht Menschen nennen.

Einer: Und doch haben die Leute gemalt und geschrieben und Musik gemacht. Es gab Philosophen und große Geister.

Der Andere: Lächerlich. Jeder armselige Schuster bei uns ist ein größerer Philosoph, denn er weiß, was mit ihm geschehen wird. Er kann sich seine Lebenszeit genau einteilen. Er kann planen ohne Angst, er ist seiner Spanne sicher, er steht so sicher auf seinen Jahren wie auf seinen Beinen.

Einer: Ich halte die Bekanntwerdung des Augenblicks für den größten Fortschritt in der Geschichte der Menschheit.

Der Andere: Es waren eben Wilde vorher. Arme Teufel.

Einer: Bestien.

Erster Teil

EineMutterläuft hinter ihrem kleinenJungenher

Mutter: Siebzig, Siebzig, wo bist du?

Junge: Du holst mich ja doch nicht ein, Mutter!

Mutter: Und du mußt mich immer außer Atem bringen.

Junge: Du rennst mir doch gern nach, Mutter.

Mutter: Und du läßt mich gerne rennen, du böser Junge, du. Wo steckst du jetzt?

Junge: Auf dem Baum oben, ätsch, da kannst du mich nicht fangen.

Mutter: Komm sofort herunter, du wirst fallen, die Äste sind morsch.

Junge: Warum soll ich denn nicht fallen, Mutter?

Mutter: Du wirst dir weh tun.

Junge: Das macht doch nichts, Mutter. Warum soll ich mir nicht weh tun? Ein tapferer Junge fürchtet sich nicht vor Schmerzen.

Mutter: Gewiß, gewiß. Es kann dir ein Unglück zustoßen.

Junge: Mir doch nicht, mir doch nicht. Ich heiße Siebzig.

Mutter: Man kann nie wissen, es ist besser, man ist vorsichtig.

Junge: Aber Mutter, du hast es mir doch selbst erklärt.

Mutter: Was habe ich dir erklärt.

Junge: Du hast gesagt, ich heiße Siebzig, weil ich siebzig Jahre alt werde. Du hast gesagt, du heißt Zweiunddreißig, weil du mit zweiunddreißig sterben mußt.

Mutter: Ja, ja. Aber du kannst dir ein Bein brechen.

Junge: Mutter, darf ich dich etwas fragen?

Mutter: Alles, mein Junge, alles.

Junge: Mußt du wirklich mit zweiunddreißig sterben?

Mutter: Ja, natürlich, mein Junge. Das habe ich dir doch erklärt.

Junge: Mutter, weißt du, was ich ausgerechnet habe?

Mutter: Was, mein Junge?

Junge: Ich werde achtunddreißig Jahre älter als du.

Mutter: Gott sei Dank, mein Junge.

Junge: Mutter, wieviel Jahre wirst du jetzt noch leben?

Mutter: Das ist zu traurig, mein Kind. Warum frägst du mich das?

Junge: Aber du wirst noch viele Jahre leben, nicht wahr, Mutter.

Mutter: Nicht gar so viele.

Junge: Wie viele, Mutter, ich will wissen, wie viele.

Mutter: Das ist ein Geheimnis, mein Kind.

Junge: Weiß es der Vater?

Mutter: Nein.

Junge: Weiß es die Tante?

Mutter: Nein.

Junge: Weiß es der Großpapa?

Mutter: Nein.

Junge: Weiß es die Großmama?

Mutter: Nein.

Junge: Weiß es der Herr Lehrer?

Mutter: Nein.

Junge: Weiß es niemand? Auf der ganzen Welt niemand?

Mutter: Niemand. Niemand.

Junge: O Mutter, ich will es wissen!

Mutter: Warum quälst du mich? Es nützt doch nichts, wenn du es weißt.

Junge: Ich muß es wissen.

Mutter: Aber warum? Warum nur?

Junge: Ich hab so Angst, Mutter. Alle Leute sagen, du stirbst jung. Ich will wissen, wie lange du mir noch nachrennst. Ich will dich schrecklich liebhaben. Ich habe Angst, Mutter.

Mutter: Du sollst keine Angst haben. Du wirst ein tüchtiger, braver Mann werden, du wirst dir eine Frau nehmen und viele Kinder haben und noch viel mehr Enkel. Du wirst alt werden, siebzig, und wenn du stirbst, werden schon Urenkel um dich sein.

Junge: Ich mag sie aber nicht. Ich mag nur dich. Mutter, sag's mir!

Mutter: Du sollst nicht so eigensinnig sein. Ich kann es dir nicht sagen.

Junge: Du hast mich nicht gern.

Mutter: Ich hab niemand so gern wie dich, das weißt du.

Junge: Mutter, ich kann nicht schlafen, wenn du mir's nicht sagst.

Mutter: Du bist ein schrecklicher Junge. Du hast bis jetzt auch immer geschlafen.

Junge: Das glaubst du. Das glaubst du. Ich stelle mich nur so. Wenn du aus dem Zimmer bist, mach ich die Augen auf und schau auf die Decke. Da zähl ich die Kreise.

Mutter: Wozu? Du sollst lieber schlafen.

Junge: Aber das sind doch die Gutenachtküsse, die ich noch von dir bekomme. Ich zähl sie, ich zähl sie, jeden Abend zähle ich sie, aber es stimmt nie. Manchmal sind es furchtbar viele, manchmal sind es ganz wenige, – weißt du, ich seh nie gleich viele Kreise. Ich will wissen, wie viele es sind. Ich kann sonst nie mehr schlafen.

Mutter: Ich will es dir sagen, mein Junge. Du bekommst noch mehr als hundert Gutenachtküsse von mir.

Junge: Mehr als hundert! Mehr als hundert! O Mutter, jetzt werde ich schlafen können …

Fünfzig. Sein Freund

Fünfzig: Es ist das beste Alter. Ich glaube es nicht.

Freund: Aber es hat bis jetzt noch immer gestimmt.

Fünfzig: Ich glaube es nicht. Ich kann dir einen einfachen Gegenbeweis geben. Du sagst, es hat jeder seinen Augenblick zur richtigen Zeit. Gib mir ein Beispiel!

Freund: Ich brauche nur an meine eigene Familie zu denken. Mein Vater hieß Dreiundsechzig. Er war genau so alt, als es geschah. Meine Mutter gehört zu den Glücklichen. Sie lebt noch.

Fünfzig: Wie ist der Name deiner Mutter?

Freund: Sechsundneunzig.

Fünfzig: So alt kann sie nicht sein. Gewiß. Aber das heißt doch nicht …

Freund: Warte. Warte. Ich will dir etwas sagen. Ich hatte eine kleine Schwester, ein bezauberndes Geschöpf. Wir waren alle verliebt in sie. Sie hatte lange Locken und wunderbare, dunkle Wimpern. Es war hinreißend, sie zu betrachten, wenn sie die Augen aufschlug, sie tat das ganz langsam, und ihre Wimpern waren wie stille Flügel, die einen in die Höhe trugen, und während man leichter und leichter wurde, lag man zugleich, das war so sonderbar, im Schatten zu ihren Füßen.

Fünfzig: Du sprichst wie von einer Geliebten.

Freund: Sie war ein Kind. Ich war älter als sie. Ich war nicht der einzige, der sie vergötterte. Jeder, der in ihre Nähe kam, empfand sie als ein überirdisches Wesen.

Fünfzig: Und was wurde aus ihr?

Freund: Sie lebt nicht mehr. Sie starb als junges Mädchen.

Fünfzig: Und wie hieß sie denn?

Freund: Sie hieß Zwölf.

Fünfzig: Das hast du mir nie erzählt.

Freund: Ich spreche nie von ihr. Ich habe es nie verwunden.

Fünfzig: Wußte sie alles?

Freund: Darüber haben wir alle schon viel nachgedacht. Es ist nicht leicht, diese Dinge vor einem Mädchen geheimzuhalten. Sie sind neugierig und horchen auf die Gespräche der Erwachsenen.

Fünfzig: Ja. Sie haben immer dieses krankhafte Interesse für ihren Namen. Alle Kinder. Was sie ihre Mütter nur quälen, bis die ihnen alles gestehen!

Freund: Aber bei meiner Schwester war es anders. Sie fragte nie. Vielleicht hatte sie eine Ahnung von ihrem frühen Augenblick, aber wenn sie sie hatte, so ließ sie sich nichts anmerken. Sie war so gleichmäßig für ein Kind. Sie ließ sich durch nichts in Eile versetzen. »Du bist zu spät für die Schule«, sagte man ihr. »Du mußt dich eilen.« »Ich hab Zeit, ich komm schon zurecht«, sagte sie. Und obwohl sie so langsam war, war sie nie zu spät.

Fünfzig: Das klingt sehr ausgeglichen für ein Kind in ihrem Alter.

Freund: Das war es eben. Wir begriffen es nicht. Sie stritt nie. Sie nahm nie einem Kind etwas weg. Sie hatte keine besonderen Wünsche. Sie war über alles froh, was ihr vor die Augen kam, und betrachtete es auf ihre langsame, eindringliche Art. Ich glaube jetzt, das Betrachten war ihr Glück, so wie andere lieben, sah sie sich die Dinge lange an.

Fünfzig: Ich hätte sie gerne gesehen.

Freund: O das ist lange her. Über dreißig Jahre.

Fünfzig: Da kannten wir uns noch gar nicht. Sie hatte wohl eine schwere Krankheit.

Freund: Natürlich. Aber darüber sprechen wir jetzt nicht. Ich erzähle das nicht zum Vergnügen. Ich sage dir, wie sie hieß, und du weißt auch, daß es dann so kam.

Fünfzig: Ich zweifle dein Worte nicht an.

Freund: Wie könntest du das? Du würdest mich auf den Tod beleidigen. Könnte ich über so etwas lügen?

Fünfzig