Die Bernsteinburg - Friederike Schmöe - E-Book

Die Bernsteinburg E-Book

Friederike Schmöe

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Beschreibung

Flora langweilt sich in den monotonsten Ferien der Welt - mit ihrer Mutter in einem Kloster! Den ganzen Tag passiert nichts Aufregendes. So bleibt nur ihr einziges Hobby: zeichnen. Bis drei seltsam gekleidete Gestalten mit Pfeil und Bogen auf dem Rücken Floras Nähe suchen. Sollte dieser Sommer doch noch ein Abenteuer bergen? Die drei bitten Flora, eine Karte zu zeichnen. Flora lässt sich darauf ein, nicht ahnend, dass in wenigen Stunden nichts mehr so sein wird wie zuvor …

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Friederike Schmöe

Die Bernsteinburg

Fantasy

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-digital.de

Gmeiner Digital

Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © Foto-Biene – Fotolia.com

Umschlaggestaltung: Benjamin Arnold

ISBN 978-3-7349-9404-3

1. Drei auf der Jagd

Die Sonne sank hinter den Gipfel. Feurig rieselte das Licht über den Bergkamm und färbte die Felsen blutrot. Ein Gänseschwarm zerschnitt das Farbenspiel mit energischem Flügelschlag. Weit weg rauschte ein Zug durch das Tal. Es war völlig windstill.

Die drei Schützen lagen im Gras hinter der Mauer und beobachteten die Weinberge. Ihre Bögen lagen neben ihnen im Gras.

»Ich habe so einen Hunger, ich könnte einen Drachen fressen«, sagte das Mädchen, das in der Mitte lag. Sie hatte dichte, schwarze Locken und einen kriegerisch bemalten Köcher auf dem Rücken, aus dem die zerfledderten Schwanzfedern vielbenutzter Pfeile ragten.

Das ältere Mädchen neben ihr stöhnte.

»Reiß dich zusammen, Armine. Bald wird es dunkel, dann besorgen wir uns was zu essen.«

»Bis es dunkel wird, bin ich so tot wie diese Ratte da.« Armine zeigte mit einem Pfeil auf die Mauer. Bestimmt war die Ratte schon eine Weile tot, denn sie sah vertrocknet aus und irgendwie platt. Ihr Maul stand halb offen. Deutlich konnte man die langen Eckzähne sehen.

»Quatsch!«, schnaubte das andere Mädchen. Die hohen Wangenknochen gaben ihrem Gesicht ein strenges Aussehen. Energisch griff sie in ihr langes, rotblondes Haar und begann, einen Zopf zu flechten. »Du hast wohl vergessen, was auf dem Spiel steht. Hast du eigentlich kein Heimweh?«

Armine knurrte etwas, oder vielleicht knurrte auch nur ihr Magen. Der Dritte im Bunde, ein langer Junge mit schwarzem glatten Haar und großen glänzenden Augen, sagte:

»Noemi hat recht, Armine. Halte durch! Wir sind nicht mehr lange hier. Bald haben wir, was wir brauchen, und dann kehren wir nach Hause zurück.«

»Pah, nach Hause!«, machte Armine und stocherte mit ihrem Pfeil im Gras herum. »Nach Hause kommen wir lange nicht.«

»Doch, nach Hause«, bestätigte der Junge, der fast schon ein Mann war.

»Das wird noch eine Ewigkeit dauern, Yuma«, maulte Armine.

»Ich glaube, dir ist einiges nicht ganz klar«, erklärte Noemi. Sie hatte ihren Zopf fertig und warf ihn entschlossen zurück. »Zum Beispiel, wie viel Vertrauen Yva in dich setzt. Du solltest stolz darauf sein.«

Armine ließ ihren Magen antworten. Yuma sagte nichts.

»Glaubt ihr wirklich, die da unten kann uns helfen?« Armine hob ihren Pfeil ein klein wenig höher und deutete auf das Mädchen, das tief unter ihnen im Weinberg saß. Eine blasse Hand schoss hervor und drückte ihr den Arm hinunter.

»Allerdings«, kam es von Noemi. »Aber besser, sie sieht uns erst, wenn es nicht mehr anders geht.«

Armine schwieg. War Noemi in Hörweite, sagte man besser nicht, was man dachte. Was man wirklich tief drinnen dachte.

2. Eine Katze, ein Kälbchen, drei Pfeile

Flora hockte auf ihrem Klappstuhl und betrachtete zweifelnd ihre Zeichnung.

»Ich weiß nicht«, sagte sie zu der Spinne, die sich auf ihrem Turnschuh niedergelassen hatte. »Eigentlich sollte das alles ganz anders aussehen.«

Die Spinne sagte nichts dazu, sondern huschte auf ihren acht Beinen davon und verschwand im Gras.

Flora ließ den Blick über die Weinberge schweifen. Tief unter ihr lag das Kloster im Nachmittagsschlaf. Sie hörte hin und wieder eine Kuh im Stall muhen, und von Zeit zu Zeit bog ein Auto auf den großen Parkplatz hinter den Wirtschaftsgebäuden.

Hier oben hatte sie sich einen schönen Platz erobert. Sie genoss den Rosenduft, der in der Wärme des Nachmittags über den Rebstöcken schwebte. Erst hier in Kilianswendel hatte sie gehört, dass die Rosenbüsche am Anfang jeder Rebstockreihe dem Winzer anzeigten, ob sich ein Schädling in den Weinberg einschlich. Es stimmte, was Mom sagte: Flora lernte hier eine ganze Menge. Aber sie langweilte sich auch. Sie langweilte sich immer in den Ferien, und gerade diese Ferien waren ganz bestimmt nicht das, was sie erträumt hatte. Außer Zeichnen gab es im Kloster nichts, womit sie sich die Zeit vertreiben konnte. Keine Radtouren, weil es keine anderen Jugendlichen in ihrem Alter gab, und Mom es zu gefährlich fand, wenn Flora allein unterwegs war. Kein Volleyball, denn mit wem hätte sie spielen sollen, keine Stadtbummel, denn es gab weit und breit keine Stadt, kein Lagerfeuer am Abend. Nicht einmal ein Schwimmbad hatten sie hier. Mom hatte versprochen, sie würden nicht lange bleiben. Nur so lange, bis sie ihren Artikel fertiggeschrieben hätte. Aber das dauerte nun schon fast zwei Wochen.

Flora faltete das Blatt mit ihrer Zeichnung. Allmählich wurde es kühl. Die Turmuhr schlug sechs. Gleich würde es Abendessen geben, und dann lag wieder ein langer, eintöniger Abend vor ihr. Sie könnte fernsehen, lesen und wieder zeichnen. Mom musste bestimmt noch arbeiten.

Flora stand auf, klemmte Block und Stifte unter den Arm und ging langsam den Berg hinunter. Sie war zwölf, und außer ihr war hier niemand zwölf. Hier gab es nur Klosterbrüder, alle faltig und weißhaarig, Mom, die ihren Artikel schrieb, und irgendwelche Erwachsenen, die Kurse in staubtrockenen Fächern wie Pädagogik und Naturkunde belegten. Sie besuchten den Klostergarten und stellten dem Botaniker aufgeblasene Fragen oder saßen in großer Runde draußen um den Tisch und redeten endlos. Flora hielt sich lieber abseits und begegnete diesen Erwachsenen nur zu den Mahlzeiten. Sie wirkten auf Flora wie ihre Lehrer zu Hause, rechthaberisch und verbissen. Ab und zu leistete ihr wenigstens eine launische Klosterkatze Gesellschaft. Ansonsten war sie auf sich allein angewiesen.

Die bunten Ziegel des Klosterdaches schimmerten wie Drachenschuppen im Abendlicht. Flora hätte sich gerne eine Geschichte ausgedacht, mit Drachen und Feen, etwas Abenteuerliches, was sie vergessen ließ, dass sie nur noch zwei Wochen Ferien hatte. Dass sie sehr gerne etwas anderes in den Ferien gemacht hätte, als im Kloster zu sitzen und zu zeichnen.

Jedenfalls zeichnete sie hier so viel, dass sie allmählich richtig gut wurde. Von ihrem Lieblingsplatz im Weinberg konnte sie die gesamte Klosteranlage überblicken. Inzwischen hatte sie schon den vierten Entwurf auf ihrem Block. Die Häuser und Innenhöfe, die Ställe und Werkstätten und mittendrin die große Kirche – alles sah auf ihrem Blatt Papier fast genauso aus wie in der Wirklichkeit. Nur kleiner. Und schwarz-weiß. Sie freute sich. Bald würde sie so gut zeichnen wie Papa. Im Gehen blätterte Flora zum hundertsten Mal ihren Block durch. Es war schon eigenartig. Sie hob alle ihre Zeichnungen auf. Nie trennte sie einen Entwurf aus dem Block. Aber die dritte Skizze war und blieb verschwunden. Als hätte es sie nie gegeben. Flora ärgerte sich über sich selbst. War sie unachtsam gewesen? Oder hatte jemand ihren Zeichenblock in der Hand gehabt? Mom vielleicht? Aber Mom würde nicht einfach eine Zeichnung herausreißen. Sie war zwar nicht besonders begeistert von Floras Talent, aber fair und ehrlich war sie doch. Flora überlegte, ob sie Mom fragen sollte, aber es wäre wohl besser, es nicht zu tun, um sich die übliche Predigt darüber zu ersparen, wie wichtig Ordnung war.

Flora erreichte den Friedhof und schlenderte unter dem mächtigen Tor hindurch zum Gästehaus. Aus der Küche duftete es herrlich nach Abendessen. Floras Magen rumorte. Mom würde sagen, das mache die frische Luft, und ihr zufrieden durchs Haar streichen, um sofort wieder in die Ferne zu schauen. Verträumt und ein bisschen so, als sei sie gar nicht anwesend. Als sei niemand anwesend in ihrem Leben außer sie selbst.

Vielleicht denkt sie doch an Papa, überlegte Flora. Mom behauptete zwar, das Kapitel sei abgeschlossen, aber Flora glaubte es nicht recht. Schließlich dachte sie selber oft an Papa. An einen großen, blonden Mann, der weit fort in Afrika als Ingenieur arbeitete. Er sorgte dafür, dass Fabriken und andere komplizierte Gebäude geplant und schließlich gebaut wurden. Papa zeichnete die Pläne und beaufsichtigte den Bau. Flora stellte sich die technischen Pläne viel spannender vor als das, was sie selbst zeichnete, aber damit konnte sie bei Mom nicht punkten. Mom führte keine langen Reden, sie sagte einfach ihre Meinung und dann schwieg sie und schrieb ihre grässlich langweiligen Artikel.

Flora machte einen Umweg über die Stallungen, um nach den Katzen Ausschau zu halten. Sie hörte die Kühe im Stall stampfen. Ein Mönch hatte ihr vor ein paar Tagen erzählt, dass eine Kuh ein Kälbchen bekommen hatte. Flora würde es sich gerne ansehen. Ob sie einfach in den Stall schleichen sollte? Die Mönche sahen es nicht gerne, die Besucher machten die Tiere nur nervös, sagten sie. So ein Kälbchen brauchte Ruhe, vor allem in den ersten Lebenstagen. Flora beschloss, ganz leise zu sein. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Stalltür. Ein Kälbchen war etwas ganz Besonderes, und wenn die anderen in der Schule sie fragen würden, was sie in den Ferien erlebt hatte, dann gab es da wenigstens eine Geschichte, die sie erzählen konnte.

Zaghaft schob Flora den Riegel zurück.

Sie hörte ein leises Zischen. Drei Pfeile rammten direkt über ihrem Kopf in die Tür und blieben mit schwingenden Enden stecken.

3. Brombeeren

Die Frau hatte lange im Dickicht des Waldes nach Kräutern gesucht. Nun richtete sie sich müde auf und sah zu den Brombeerhecken hinüber. Ein hoch aufgeschossener Junge stand dort und stocherte in den Dornen herum. Das letzte Sonnenlicht fiel in das enge Tal und brachte sein langes blondes Haar zum Glänzen. Die Frau legte die Kräuter in ihren Korb und ging zu dem Jungen hinüber.

»Lass das, Carolus«, sagte sie freundlich, während sie ihre gebräunten, von Mücken zerstochenen Arme kratzte. »Die Brombeeren sind noch nicht reif. Wenn du sie jetzt alle abschlägst, ernten wir keine.«

Ohne zu antworten drosch Carolus weiter auf die Hecke ein. Auf der Stirn der Frau bildete sich eine steile Falte.

»Möchtest du mit zu mir kommen und einen Tee trinken?«, fragte sie. Ihr Ton war ruhig.

Carolus hielt inne. Er zog seinen Stock aus der Hecke und sagte:

»Ich kriege Ärger mit meiner Mutter, Tullia.«

»Ich weiß«, sagte Tullia. Die Falte wurden noch ein wenig steiler. »Aber sie muss es ja nicht erfahren.«

Carolus zuckte mürrisch die Schultern und begann erneut auf die Hecke einzudreschen. Tullia trat auf ihn zu und packte seine Hand.

»Lass das«, sagte sie. Sie hob die Stimme nicht, aber sogar Carolus würde einen Hauch Ungeduld darin erkennen. »Alle mögen Brombeersaft. Du auch.«

Carolus riss sich los und steckte den Stock in seinen Gürtel. Er bückte sich und hob Bogen und Köcher auf.

»Wo sind eigentlich deine Freunde?«, fragte Tullia. Sie erreichten den Pfad und gingen nach Norden. Zwar hatte Tullia die Sträucher entlang des Weges zurückgeschnitten. Doch in der zunehmenden Dämmerung wurde es auch hier schnell dunkel. Ein Schwarm Krähen flog krächzend über die Baumwipfel.

»Sie haben die Grippe.«

»So?« Tullia glaubte ihm kein Wort. »Die Grippe? Sogar Armine? Die ist doch nie krank.«

Carolus sagte nichts und trabte neben Tullia her. Er hatte schon längere Beine als sie, aber seine Bewegungen kamen ungelenk, als habe er Mühe, seine Füße im richtigen Abstand auf den Pfad zu setzen.

»Ich hoffe, du steckst dich nicht an«, sagte Tullia, nur um etwas zu sagen. Eine Maus kam aus dem Dickicht und huschte vor ihnen über den Pfad.

»Nein«, murmelte Carolus. Er hielt inne und sah in den silbrig glänzenden Abendhimmel.

Tullia schwieg und wartete auf ihn. Schließlich kamen sie zu der Abzweigung. Links ging es zur Burg hinauf, rechts zu ihrer Kate. Der Weg zu ihrem Zuhause war nur ein Trampelpfad, überwuchert vom Gestrüpp, als wolle der Wald ihn in Besitz nehmen, und am besten auch gleich die Kate, in der sie lebte. Als wolle er auch Tullia verschlingen. Es fehlte nicht viel, und es würde ihm gelingen.

»Also?«, fragte sie und nahm den Korb mit den Kräutern in die andere Hand. »Möchtest du mitkommen? Einen Tee trinken oder was anderes?«

Sie wusste, dass ihre Einladung nicht so herzlich klang, wie sie es sollte. Carolus zögerte, dann schüttelte er den Kopf.

»Nein. Ich gehe heim. Gute Nacht.«

Er wandte sich nach links und stolperte den steinigen Weg hinauf. Kurz darauf war er hinter den Bäumen verschwunden.

Tullia zuckte die Schultern. Sie war beinahe erleichtert. Energisch schritt sie aus, stieg geschickt über Wurzeln und Felsbrocken hinweg. Schon hatte der Wald sie verschluckt. Dunkel war es hier, und die Kälte der Herbstnacht leckte an Fingern und Zehen. Oben in der Burg, dachte Tullia, wärmten wohl noch die letzten Sonnenstrahlen die Zinnen. Sie atmete schwer, so schnell ging sie. Ein gutes Stück weiter, an einen dicken Felsen geschmiegt, stand ihre Kate. Fast unsichtbar im Zwielicht wie ein Schattenpilz. Tullia schob die Tür auf und ging hinein. Fröhlich meckernd kam die Ziege herbei, um sie zu begrüßen.

»Na, Zaza«, murmelte Tullia und streichelte ihr kurz das struppige Fell. Wie im Traum fand sie die Kerzen. In ihrem gelben Lichtschein begann sie, die Kräuter auszulesen.

4. Ein Auftrag

Flora zwickte sich zweimal fest in den Arm. Sie schlief nicht, sie träumte nicht, da waren drei Pfeile über ihrem Kopf ins Holz geschlagen, und nun richtete sich die Furcht blank und grell vor ihr auf und wurde so groß wie der dunkelhaarige Junge, der zwischen den beiden Mädchen auf sie zukam.

Alle Drei trugen lange Bögen aus Holz mit straff gespannten Sehnen in den Händen. Auf ihren Rücken wippten bunte Köcher voller Pfeile mit langen Schwanzfedern. Pfeile wie jene, die knapp über ihrem Kopf in der Stalltür wippten.

»Guten Tag«, sagte der Junge höflich. Er war fast schon erwachsen. »Bitte entschuldige, dass wir so … na ja, mit der Tür ins Haus fallen. Darf ich vorstellen: Ich bin Yuma. Das ist Armine«, er zeigte auf das kleine Mädchen mit den dunklen Locken, »und das Noemi. Wir kommen von ziemlich weit her und möchten dich um einen Gefallen bitten.«

Flora verschränkte die Arme. Welchen Gefallen sie den drei Gesellen in ihren flattrigen Leinenklamotten mit den schiefsitzenden Kappen tun sollte, das musste ihr erst mal einer erklären.

»Findet ihr das witzig, mit Pfeilen auf Leute zu schießen?«, fragte Flora. »Ihr hättet mich treffen können, mir ein Auge ausschießen …«

»Hätten wir nicht«, sagte Armine. Sie wühlte in einem Lederbeutel an ihrem Gürtel und förderte ein Stück trockenes Brot zutage. Hungrig biss sie hinein. Es krachte beim Kauen. Das Mädchen mit dem rötlichen Zopf, das Noemi hieß, warf ihr einen gereizten Blick zu.

»Am besten gehen wir hier rein«, schlug sie vor. »Damit uns niemand stört.«

Sie schoben Flora in den Stall. Drinnen war es düster und roch nach Heu, ein Geruch, den Flora mochte. Aber dass die drei Verrückten sich hinter ihr hineindrängten und die Tür schlossen, gefiel ihr nicht. Noemi lehnte sich gegen die Tür, pflanzte sich auf wie ein Feldherr. Der Junge schnippte mit den Fingern. Ein bleiches, grünliches Licht erglühte in seiner Handfläche. Er schien sich nicht die Finger zu verbrennen, dabei sah es aus, als lodere das Licht wie ein Feuer direkt auf seiner Haut.

»Du kannst gut zeichnen«, begann Noemi. »Deswegen brauchen wir dich.«

Flora sah, wie das jüngste Mädchen, das Armine hieß, mit den Augen rollte.

»Wer … seid ihr?«, flüsterte Flora und umklammerte ihren Oberkörper. Sie holte tief Luft. Nur sich nicht anmerken lassen, dass sie Angst hatte, das war genau das Falsche, das hatten sie in der Schule gelernt. In einer brenzligen Situation musste man so tun, als hätte man alles im Griff. Ziemlich schwierig, wenn man in einem Kuhstall feststeckte und einer ein Feuer in der Hand trug.

»Setzen wir uns«, schlug Yuma vor. Flora hockte sich auf einen Strohballen und drückte Zeichenblock und Stifte an sich. Hinter sich hörte sie das Stampfen der Kühe. Die anderen drei nahmen auf dem Boden Platz. Dazu mussten sie die Bögen gegen die Wand lehnen. Die Bögen waren größer als ihre Träger.

»Wir kommen aus einem anderen Land«, erklärte Yuma. »Einem sehr schönen Land. Dort würden wir dir auch Essen und Trinken anbieten, aber leider sind wir hier fremd und konnten uns nichts besorgen.«

Armine seufzte. Flora hörte mit halbem Ohr, wie jemand draußen eine Schubkarre vorbeischob. Ihre Finger wurden kalt.

»Wir haben gesehen, dass du sehr gut zeichnen kannst.« Yuma holte mit der freien Hand ein Stück Papier aus der Tasche.

»Das ist meine Zeichnung!«, rief Flora. »Woher hast du die?«

Yuma strich das Papier glatt und legte es auf den Boden.

»Wir haben sie uns beschafft«, erklärte er. »Aber lass dir erklären, was du uns zeichnen sollst.«

»Die Zeichnung gehört dir nicht!« Empört streckte Flora die Hand nach dem Blatt aus.

»Sei jetzt still und hör zu«, schnappte Noemi.

Flora schwieg. Die Stifte in der Schachtel auf ihrem Schoß klapperten sachte, so sehr zitterten ihre Hände.

»Wie gesagt, wir kommen aus einem anderen Land. Wir würden auch sehr gerne wieder dorthin zurückkehren, aber leider ist uns das ohne eine Karte nicht möglich. Diese Karte sollst du für uns zeichnen.«

»Aus welchem Land seid ihr?«, fragte Flora. »Es gibt von allen Gegenden der Welt Karten. Ich kann euch einen Atlas besorgen.«

»Unser Zuhause ist nicht auf diesen Karten«, sagte Noemi verächtlich.

»Warum nicht?«, fragte Flora.

»Noemi hat recht«, erklärte Yuma geduldig. »Von unserem Land gibt es keine Karten.«

Flora wurde immer verwirrter. Die drei kamen aus einem Land, das auf keiner Karte der Welt eingezeichnet war? So was gab es nicht, das hatte Papa ihr oft gesagt. Alle noch so fernen Landstriche dieser Erde waren erschlossen. Es gab keine weißen Flecken mehr auf der Weltkugel.

»Wie soll ich euch eine Karte zeichnen, wenn ich euer Land nicht kenne?«, fragte sie schließlich.

»Dafür bist du genau die Richtige«, entgegnete Yuma. »Wir beschreiben dir, wie alles aussieht, und du zeichnest.«

»Könnt ihr denn nicht selber zeichnen?« Flora begann, sich zu ärgern. Dieser Yuma mit seinem Feuertrick machte sie ganz fickrig. Außerdem wurde ihr kalt vor Angst, und sie hatte Hunger. Ihr Magen knurrte laut. Flora bemerkte Armines mitleidigen Blick.

»Wenn wir sie selber zeichnen könnten, müssten wir nicht hier herumsitzen und dir alles lang und breit erklären«, schnappte Noemi. »Also: machst du es?«

»Wir kommen sonst nicht nach Hause«, sagte Armine. »Obwohl es mir hier wirklich gut gefällt.«

»Sei ruhig!«, fauchte Noemi sie an.

»Aber es stimmt doch!«, rief Armine. »Hier ist es lieblicher und sonniger als auf Höllenstein. Dort kriechen den ganzen Tag Schatten durch die Mauern, und der Wald ist beinahe schwarz!«

Noemi zischte vor Zorn:

»Halt jetzt die Klappe. Du bist nicht zum Jammern mitgekommen. Denk mal daran, welche Ehre es für dich ist …«

Yuma unterbrach sie, indem er ihr die freie Hand auf den Arm legte.

Flora dachte nach. Die drei Musketiere waren nicht ganz richtig im Kopf. Zwar war da die Sache mit dem grünen Licht, das in Yumas Hand brannte, aber es gab ja so viele Zirkussachen und Scherzartikel zu kaufen. Er wollte sie sicher nur beeindrucken. Sie würde einfach »ja« sagen und abhauen. Niemand konnte sie zwingen, irgendeine blödsinnige Karte zu zeichnen.

»O.k.«, sagte Flora. »Ich zeichne euch eure Karte.«

Yuma, Noemi und Armine tauschten Blicke.

»Aber jetzt muss ich zum Essen. Mom wartet bestimmt schon, und ich bekomme Ärger, wenn ich unpünktlich bin.«

Noemi verzog das Gesicht, doch Yuma nickte und erhob sich.

»Gut. Um Mitternacht wartest du hinter der Kirche auf uns. Bring deine Zeichensachen mit.«

Noemi zog scharf die Luft ein. Yuma blinzelte ihr zu. Unmerklich fast, und ohne dass sein Lächeln erlosch.

Flora machte runde Augen.

»Um Mitternacht? Hinter der Kirche, auf dem Friedhof?« In Yumas Schrank fehlten ein paar Tassen, soviel war klar.

»Wir wollen uns doch in Ruhe unterhalten«, sagte Yuma begütigend.

»Gut.« Flora hatte sich wieder in der Gewalt. »Aber jetzt muss ich gehen.«

»Wir können uns doch auf dich verlassen?«, fragte Noemi.

»Klar. Ja, klar.« Flora mochte Noemis schneidenden Tonfall nicht. Sie presste ihre Sachen fest an sich.

»Ich glaube dir. Du kannst gehen«, sagte Yuma.

»Dann tschüss.« Flora stand auf und ging zur Tür. Als sie sich umdrehte, schloss Yuma die Finger. Das grüne Licht erlosch.

5. Treffen um Mitternacht

»Glaubst du, sie kommt?« Noemi fragte das schon seit Stunden. Immer wieder. Yuma zog gereizt die Augenbrauen hoch.

»Ich bin sicher. Sie ist neugierig und hat angebissen. Wartet nur ab. Es ist noch Zeit.«

Armine kuschelte sich in ihren Filzumhang. Es wurde kalt draußen. Von Höllenstein war sie nichts anderes gewohnt, da saß der Raureif schon im Spätsommer auf Felsen und Blättern. Am liebsten hätte sie Yuma gebeten, von der Bernsteinburg zu erzählen, aber sie ahnte, dass weder er noch Noemi besonders erpicht darauf waren, sich mit Reden die Zeit zu vertreiben. Noemi ging zwischen den Gräbern spazieren, und Yuma hockte stumm in seinen Umhang gehüllt auf den Stufen zur Kirche.

Die Bernsteinburg! Der Ort, an den diese Flora sie zurückbringen sollte, war in Armines Erinnerung schon so weit weg, dass er unwirklich und verschwommen aussah. Wie ein Traum, nicht wie etwas, das sie wirklich mit eigenen Augen gesehen hatte. Wenn sie die Lider schloss und an die Bernsteinburg dachte, dann sah sie nicht ihre eigenen Erinnerungen, sondern jene, von denen die anderen erzählt hatten. Aber die Bilder ähnelten einander kaum. In Noemis Gedächtnis lag über allem ein stählerner Glanz, wogegen Yuma vom salzigen Geruch erzählte, den die Meeresbrise gegen die Mauern wehte. Yvas Augen schienen wie aus kostbarem Glas, wenn sie das Abendlicht beschrieb, das die Bernsteinburg umschmeichelte, und Carolus wusste von langen Sommernächten zu berichten, in denen sie mit den Pferden zur Küste ritten und Fisch brieten. Gebratener Fisch! Armines Magen knurrte.

Wenn sie ehrlich war, wäre sie lieber hier geblieben, als nach Höllenstein zurückzukehren. Wenn sie nur an den schwarzen, unheimlichen Wald um Höllenstein dachte! Im Schutz der Kiefern und Tannen glommen die lauernden Augen unbekannter Tiere. Nachtvögel mit glühenden Schnäbeln wippten in den Zweigen und warteten auf Beute. Hier dagegen schimmerten die Weinberge in den letzten Sonnenstrahlen des Abends, Amseln sangen, es wuchsen Äpfel und Birnen an den Bäumen, so viele, dass Armine vorhin im Vorbeigehen einige Früchte hatte mitgehen lassen. Natürlich hatte sie die längst aufgegessen.

»Wir hätten sie gleich mitnehmen sollen«, sagte Noemi. Auch das hatte sie schon viele Male gesagt. Yuma hielt es nicht für nötig, zu antworten, und auch Armine sagte keinen Ton. Sie fror, sie war hungrig, und sie sehnte sich nach einem warmen Essen und einem kuscheligen Bett. Sicher schmiegte Flora sich gerade in ein paar weiche Kissen, aber Armine wollte nicht an Flora und an all die sonderbaren Pläne denken, die Noemi und Yuma und Yva mit ihr hatten.

Noemi nahm das alles so ernst. Und Yuma auch, keine Frage. Verdammt, was für einen Hunger sie hatte! Aber sie durfte Yuma damit nicht kommen, und Noemi schon gar nicht. Armine war die Jüngste von ihnen. Man hatte ihr nur deshalb erlaubt, mitzukommen, weil sie die beste Bogenschützin war. Sie schoss zu Hause von der Nordzinne aus auf die Scheibe, die am Teufelsfelsen befestigt war, und traf genau die Mitte. Von der Nordzinne zum Teufelsfelsen war es weit. Man musste viele Minuten einem steinigen, von Gestrüpp überwucherten Pfad folgen. Alle wussten, dass niemand sonst auf diese Entfernung traf. Außer Armine.

Der Mond huschte hinter dem Kirchturm hervor. Er war fast noch voll.

»Wir haben nur noch ein paar Tage für die Rückreise«, sagte Noemi. »Denk daran, Yuma!«

Yumas Gesicht verfinsterte sich.

»Ich weiß, dass wir nur bei abnehmendem Mond zurückreisen können«, erwiderte er scharf. »Wir haben Zeit genug.«

»Wenn er schon zu dünn ist, dann klappt es nicht«, sagte Noemi. »Und wir sind zu viert.« Sie nahm überhaupt keine Notiz von Yumas Gereiztheit. Das machte Noemi immer so, und normalerweise erreichte sie damit, was sie wollte.

Armine schmiegte sich in ihren Umhang und dachte daran, wie schön es wäre, wenn sie den richtigen Zeitpunkt für die Rückreise verpassen würden. Sie könnten einen ganzen Monat hierbleiben, in einer Gegend, wo die Sonne wärmer schien und der Wind sanfter wehte. Vielleicht kämen dann auch die anderen auf den Geschmack, und sie müssten sich nicht mehr in dem eisigen Höllenstein mit den Schneemassen abquälen, die die Wege verschütteten und die Kräfte lähmten, mit der Kälte, der kaum ein Feuer trotzen konnte, mit den feuchten Mauern und klammen Betten. Aber was noch wichtiger war: Sie brauchten keine Rücksicht mehr auf Carolus und seine Launen zu nehmen, und nicht auf Yva, vor der Armine tief drinnen eine finstere Angst verspürte, obwohl Yva immer sehr freundlich zu Armine war. Von Yva ging eine Kraft aus, der mit Pfeil und Bogen nicht beizukommen war. Es tat so gut, unerreichbar zu sein, an einem Ort, an den Yva nicht kommen würde. Obwohl Noemi fast so gemein wie Yva sein konnte, da gab es nichts zu deuteln. Yuma behauptet, es liege daran, dass Noemi eine Waise war und nur Yva hatte und sonst niemanden auf der Welt. Armine nahm sich vor, nie so fies zu werden wie Noemi. Das machte die Einsamkeit nicht besser.

Der Mond kroch hinter eine Wolke. Es wurde dunkel. Armine rutschte zu Yuma herüber. Yuma verstand sie, auch ohne dass sie etwas erklärte. Er nickte ihr zu und sagte:

»Es wird alles gut werden.«

Armine war nicht überzeugt. Eine steile Falte stahl sich zwischen ihre Augenbrauen und machte ihr Gesicht finster.

6. Ein Verdacht

Tullia wachte auf. Ein paar Sekunden lang wusste sie nicht, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Aufmerksam lauschte sie in die Dunkelheit.

Draußen waren Leute unterwegs. In der unendlichen, undurchdringlichen Schwärze des Waldes bewegten sich Menschen. Nah bei ihrer Kate. Zaza, die Ziege, meckerte leise. Tullia schlug die Decken zurück und stand auf. Ihre nackten Füße tappten lautlos über den Boden.

»Still, Zaza!«, flüsterte sie.

Ihre Kate war so gut wie unsichtbar. Sie lag zu nah an den Drachenfelsen. Wer nicht ganz genau hinsah, würde sie nicht sehen. Außerdem hatte sie kein Licht brennen. Die vollkommene Dunkelheit war ihr Schutz. Tullia nahm ein Tuch von ihrem einzigen Stuhl und legte es sich um die Schultern. Ein Vogel schrie. Einer, den Tullia noch nie gehört hatte. Sie hielt Zaza die Hand vor das Maul.

»Still«, wisperte sie noch einmal, ließ die Ziege los und ging auf das Fenster zu. Es war nur ein winziges Fenster, blind beinahe, und draußen brütete die Nacht. Tullia sah nichts als Schwärze. Aber sie ahnte etwas. Bewegung.

Entschlossen griff sich Tullia ihr Messer und bewegte sich langsam zur Tür. Sie sollte Pino endlich unter Druck setzen, damit er ihr ein Schloss machte. Schließlich lieferte sie ihm auch allerlei Brauchbares aus dem Wald. Sie schauderte. Lautlos drückte sie die Klinke hinunter. Von hinten stupste ihr Zazas weiches Maul in die Kniekehlen. Sie schlüpfte hinaus und schloss die Tür.

Wieder schrie der Vogel. Der Wald starrte sie an. Seine Augen fraßen alles, verdauten alles, vernichteten alles. Man konnte in diesem Wald für immer verschwinden, wenn man nicht wachsam war. Tullias Atem ging schnell. Der Wald ist kein Wesen, beruhigte sie sich. Er ist nur ein Wald. Bäume. Viele Bäume zusammen sind der Wald, mehr nicht. Aber sie wusste, dass es nicht stimmte, und dass dieser Wald sehr wohl ein eigenständiges Lebewesen war, das aus vielen geheimnisvollen Quellen seine magische Kraft schöpfte.

Zweige raschelten neben ihr. Tullia hob das Messer und glitt um die Ecke. Sie lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Den Atem anhaltend lauschte sie. Schritte. Leise Schritte von bedachtsamen Läufern. Aber sie waren nicht allzu geübt, sich lautlos in einem Wald zu bewegen. Sie stießen mit den Schuhspitzen Steine weg. Zertraten Zweige. Erschraken keuchend vor einer Fledermaus. Einmal schlug ein Bogen gegen einen Ast. Tullia atmete ganz flach. Zwischen ihr und dem kleinen Heer, das nach Norden lief, lagen wenige Meter und ein schulterhoher Drachenfelsen. Sie ging in die Hocke, zog sich ihr Tuch über das Gesicht und versteckte ihre Hände darunter. Die weiße Haut eines Menschen konnte im Wald leuchten wie der Mond. Sie vermochte die vorüberhuschenden Krieger nicht zu zählen. Es mochten fünfzehn sein. Oder zwanzig. Nicht mehr.

Tullia wartete, bis der letzte leise Tritt in der Tiefe des Waldes verklang. Also stimmte es, was man sich erzählte. Yvas Macht hatte Risse bekommen. Tullia richtete sich auf und ging zur Tür. Jetzt war sie allein. Im Lauf der Jahre in dieser Einsamkeit hatte sie sich daran gewöhnt, die Gegenwart von Menschen zu spüren. Ich habe die Fähigkeiten eines Tiers angenommen, dachte sie bitter. Nicht mehr lange, und ich bin selbst ein Tier. Manchmal brannte in ihrem Herzen eine grauenvolle Angst, ganz verlassen zu sein. So wie jetzt. Als sie die Tür aufstieß, spürte sie das Bedürfnis nach Licht. Sie entzündete eine Kerze und schirmte sie mit der Hand ab. Zaza schlief beim Herd. Tullia setzte sich auf ihr Bett, zog die Beine an und betrachtete ihre schmutzigen Füße.

Die Gerüchte schwirrten schon lange um die Burg wie Krähen. Gerüchte über Dinge, die Yva kaum gefallen würden. Dann mochte wohl auch das andere Gerücht wahr sein. Jenes Gerücht, dass sie ein Mädchen holen wollten. Eines, das gut zeichnen konnte. Tullia zweifelte kaum daran, dass Yva Yuma und Noemi geschickt hatte, schließlich waren die beiden ihre klügsten und treuesten Anhänger. Aber Armine? Sie war noch so jung, verspielt wie ein Fohlen. Tullia schüttelte den Kopf. Sie versuchte, sich das fremde Mädchen vorzustellen. Und wie es für sie sein würde, hierher zu kommen. Zorn kochte in ihr hoch, so plötzlich und so heftig, dass sie am liebsten geschrieen hätte. Aber sie blieb stumm, atmete, massierte mit dem Zeigefinger einen Punkt auf ihrer Stirn. Die Wut ebbte ab. Sie blies die Kerze aus und stellte sie vor das Bett. Wieder gab es nichts als Dunkelheit. Tullia kroch unter ihre Decke. Drüben am Herd schnarchte leise die Ziege.

7. Zeichenstunde

Flora kauerte im Speisesaal neben dem Kamin und zählte ungeduldig die Schläge der Turmuhr. Eine Viertelstunde vor Mitternacht. Das Feuer war heruntergebrannt, aber die Wärme hing noch im Raum und machte sie schläfrig, trotz der Aufregung. Sie hatte nicht vorgehabt, zu dem Treffen mit den Bogenschützen zu gehen. Beim Gedanken an Yumas unheilvolles grünes Feuer zog sich ihr Magen zusammen wie ein schrumpeliger Fußball. Wenn Mom nur nicht so ein Aufhebens gemacht hätte, weil sie eine halbe Stunde zu spät zum Essen gekommen war.

»Ich habe gedacht, dir ist etwas passiert«, hatte Mom vorwurfsvoll durch den ganzen Speisesaal gerufen, und alle konnten sie hören. Die Klosterbrüder, die anderen Erwachsenen und überhaupt alle. Neugierig drehten sich die Köpfe. Flora bemerkte genau, wie manche Augenpaare vorwurfsvoll, andere mitleidig dreinsahen.

»Entschuldige Mom, ich habe nicht auf die Uhr geschaut.«

»Kannst du mir verraten, wozu du eigentlich eine Uhr hast?«

Moms Stimme hatte diesen schneidenden Naserümpfton, der Flora das Gefühl gab, klein und dumm zu sein und sowieso nur zu nerven. Sie hatte die Zeichensachen unter ihren Stuhl gelegt, sich Spaghetti mit Tomatensauce auf den Teller gehäuft und lieber nichts geantwortet. In diesen Minuten, in denen Mom das Gespräch mit den Lehrern wieder aufnahm, hatte sie beschlossen, das Treffen mit Yuma, Armine und Noemi nicht sausen zu lassen, komme, was wolle.

Es war eine Sache, über die Gefahren eines nächtlichen Friedhofs und sämtliche Gruselgeschichten, die man je gehört hatte, nachzudenken, wenn man in einem hellen Speisesaal Spaghetti aß. Aber nun war es beinah Mitternacht und stockdunkel. Flora drehte leise den Schlüssel. Er steckte immer innen an der Speisesaaltür, die auf den Küchenhof hinausführte, und von dort wäre sie in weniger als einer Minute beim Friedhof.

Ganz leicht ging die Tür auf. Flora hielt den Atem an, als sie durch den Spalt schlüpfte. Sie hoffte nur, niemand würde so spät noch vorbeikommen, die Tür unverschlossen vorfinden und wieder zusperren. Dann säße sie draußen fest. Rasch zog Flora den Schlüssel ab und steckte ihn vorsichtshalber in die Jeans. Sie war ja nicht lange weg. Niemand würde etwas merken.

Flora rannte lautlos über den Hof zur Kirche, wo sie sich in einer Seitennische verkroch. Keinesfalls wollte sie zu früh kommen. Erst genau um Mitternacht, wenn die Uhr geschlagen hatte. Sie wartete ab. Unsanft klopfte ihr Herz gegen ihre Rippen. Nachtvögel riefen sich Losungen zu. Von den Bergen ringsum blitzten Lichter ins Tal. Die Kühle roch schon nach Herbst, viel zu früh, fand Flora, es waren doch noch Sommerferien. Aus dem Glockenturm kam Knarren und Rasseln. Vier tiefe Glockenschläge drängten die Stille weg, gefolgt von zwölf helleren. Flora löste sich aus der Nische. Ihre Zähne klapperten vor Kälte und Aufregung, als sie um die Kirche herum zum Friedhof hastete. Da saßen drei dunkle Gestalten und sahen ungeduldig zu ihr herüber.

»Du bist pünktlich«, sagte Yuma. Es klang erleichtert.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, mischte sich Noemi ein. »Deine Zeichensachen hast du dabei?«

»Siehst du doch«, murmelte Armine.

»Ja, fangen wir besser gleich an«, sagte Yuma. »Bitte«, fügte er hinzu, und Flora merkte, wie aufgewühlt und nervös er war.

»Klar«, sagte Flora. Sie sah sich um. »Aber hier gibt es zu wenig Licht.«

»Unsinn«, sagte Yuma. Augenzwinkernd entfachte er das grüne Licht in seiner Hand. Er blies darauf, ehe er es vor Flora auf einen Grabstein setzte. »Reicht das?«

»Ich denke schon«, sagte Flora verwirrt. Sie begann, sich an die drei Verrückten zu gewöhnen. »Was soll ich zeichnen?«

»Zuerst eine Skizze«, sagte Yuma. »Auf deinem Papier. Später überträgst du die Zeichnung ins Reine.«

»Na gut.« Flora hockte sich auf ihre Fersen. »Fangt an.«

Plötzlich redeten alle drei wild durcheinander. Yumas sonst so bedächtige Stimme wurde hektisch, und Armine übertönte seinen und Noemis Eifer noch. Auf dem nächtlichen Friedhof hallten ihre Stimmen laut wie Feuerwehrsirenen. Erregt brach Noemi ab und zischte: »Wollt ihr, dass das ganze Kloster angestürmt kommt?«

»Die Burg«, flüsterte Yuma, »hat einen runden, hohen Turm in ihrer Mitte.«

Flora zeichnete einen runden Turm.

»Höher«, mischte sich Armine ein.

»Gleich neben dem Turm steht ein mächtiges Steinhaus. Sein Dach besteht aus dunklen Ziegeln«, machte Yuma weiter.

Flora zeichnete. Sie zeichnete einen Wall, ein paar kleinere Steinhäuser, mehrere Innenhöfe, einen Eckturm, eine Zugbrücke und einen gewaltigen Burggraben.

»Die Burg steht auf Felsen«, erklärte Noemi. »Sie ragt hoch aus dem Wald auf.«

»Der Wald ist sehr dicht und sehr dunkel«, kam es von Armine. »Und überall im Wald liegen Steinbrocken. Dann ist da noch eine Kate …«

»Genug, Armine!«, unterbrach Yuma. »Die Kate muss sie nicht zeichnen. Es genügt die Burg und die unmittelbare Umgebung.«

»Genau!«, bestätigte Noemi scharf.

Flora nahm sich einen weicheren Bleistift und schraffierte, hob Linien hervor und radierte alles weg, was Yuma oder Noemi nicht für wichtig hielten. Sie arbeiteten viele Stunden an der Zeichnung, und als das Morgenlicht heraufdämmerte, besah sich Yuma das Papier.

»Was meinst du, Noemi. Könnte es so gehen?«

»Ja«, antwortete Noemi. Sie sah sehr zufrieden aus. Auf ihrem angespannten Gesicht lag sogar ein Lächeln.

»Gut«, sagte Yuma. »Zeichne die Karte ins Reine.« Er wühlte in seinem Lederbeutel. »Nicht auf dein Papier. Auf unseres.«

Er reichte Flora eine Rolle Pergament. »Außerdem zeichnest du mit Tinte. Hier hast du eine Feder.«

»Verschwende nichts«, befahl Noemi mit Blick auf das kleine Tintenfass, das Yuma Flora in die Hand drückte. »Die Tinte ist wertvoll.«

»Ich habe Tuschestifte«, begann Flora. »Damit kann man sauberer …«

»Du zeichnest mit dieser Tinte auf dieses Pergament, verstanden?« Noemi sah sehr streng aus.

Flora verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war müde und erschöpft, und Noemis herrisches Gehabe schnitt ihren Geduldsfaden durch.

»Ihr könnt mich mal«, sagte sie. »Ihr habt mich um einen Gefallen gebeten. Allmählich habe ich die Nase voll von euren Kommandos.«

»Bitte«, sagte Yuma. »Du hilfst uns wirklich sehr. Es gibt für uns keinen anderen Weg, um nach Hause zu kommen.«

Flora sah von einem zum anderen. Noemi kaute auf ihrer Unterlippe und blickte zu den Bergen hinauf, Yuma lächelte sie an. Armine lag, in ihren Umhang gekuschelt, auf den Treppenstufen vor der Kirche und schlief.

»Morgen um die gleiche Zeit bringst du uns die Karte«, sagte Yuma. »Abgemacht?«

Flora betrachtete Armines dunkle Locken. Das Mädchen tat ihr leid, mit so einer Nervensäge wie Noemi auskommen zu müssen. Betont träge packte sie ihre Sachen zusammen.

»Abgemacht«, sagte sie schließlich.

8. Pergament und schwarze Tinte

Flora wachte auf, weil Mom mit Nachdruck an die Tür klopfte.

»Flora?«

Flora bohrte das Gesicht in ihr Kissen. Es kam ihr vor, als wäre sie eben erst eingeschlafen. Ihr Kopf brummte wie ein Bagger.

»Flora, aufstehen, es ist schon acht Uhr. Gleich gibt es Frühstück.«

Obwohl Floras Magen knurrte wie ein Kettenhund, konnte sie unmöglich aufstehen. Ihre Beine verweigerten jede Bewegung, ihre Arme ebenso, und ihr Kopf wollte am liebsten ganz in Ruhe gelassen werden. Da war ein Rest von einem Traum …

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