Die Blechtrommel - Günter Grass - E-Book

Die Blechtrommel E-Book

Günter Grass

4,3

Beschreibung

Oskar Matzerath ist ein Kind, dessen „geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist“. Mit drei Jahren beschließt er, nicht weiter zu wachsen. Der groteske Außenseiter betrachtet die Welt mit schonungslos-sarkastischem Blick „von unten“. Sein ständiger Begleiter ist eine Blechtrommel. Mit ihr ertrommelt er sich Distanz, fordert, schreckt auf. Wird sie ihm genommen, setzt er sich mit einem Schrei zur Wehr, der Glas zerspringen lässt. So absonderlich der zornige Zwerg ist, so frei ist er. Oskar ist ein unerbittlich scharfsinniger Beobachter des Danziger Kleinbürgertums im „Dritten Reich“. Er durchschaut alles, doch er greift nicht ein …

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Günter Grass

Die Blechtrommel

Inhaltsverzeichnis
ERSTES BUCH
Der weite Rock
Unterm Floß
Falter und Glühbirne
Das Fotoalbum
Glas, Glas, Gläschen
Der Stundenplan
Rasputin und das ABC
Fernwirkender Gesang vom Stockturm aus gesungen
Die Tribüne
Schaufenster
Kein Wunder
Karfreitagskost
Die Verjüngung zum Fußende
Herbert Truczinskis Rücken
Niobe
Glaube Hoffnung Liebe
ZWEITES BUCH
Schrott
Die Polnische Post
Das Kartenhaus
Er liegt auf Saspe
Maria
Brausepulver
Sondermeldungen
Die Ohnmacht zu Frau Greff tragen
Fünfundsiebenzig Kilo
Bebras Fronttheater
Beton besichtigen – oder mystisch barbarisch gelangweilt
Die Nachfolge Christi
Die Stäuber
Das Krippenspiel
Die Ameisenstraße
Soll ich oder soll ich nicht
Desinfektionsmittel
Wachstum im Güterwagen
DRITTES BUCH
Feuersteine und Grabsteine
Fortuna Nord
Madonna 49
Der Igel
Im Kleiderschrank
Klepp
Auf dem Kokosteppich
Im Zwiebelkeller
Am Atlantikwall oder es können die Bunker ihren Beton nicht loswerden
Der Ringfinger
Die letzte Straßenbahn oder Anbetung eines Weckglases
Dreißig

ERSTES BUCH

Der weite Rock

Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.

Mein Pfleger kann also gar nicht mein Feind sein. Liebgewonnen habe ich ihn, erzähle dem Gucker hinter der Tür, sobald er mein Zimmer betritt, Begebenheiten aus meinem Leben, damit er mich trotz des ihn hindernden Guckloches kennenlernt. Der Gute scheint meine Erzählungen zu schätzen, denn sobald ich ihm etwas vorgelogen habe, zeigt er mir, um sich erkenntlich zu geben, sein neuestes Knotengebilde. Ob er ein Künstler ist, bleibe dahingestellt. Eine Ausstellung seiner Kreationen würde jedoch von der Presse gut aufgenommen werden, auch einige Käufer herbeilocken. Er knotet ordinäre Bindfäden, die er nach den Besuchsstunden in den Zimmern seiner Patienten sammelt und entwirrt, zu vielschichtig verknorpelten Gespenstern, taucht diese dann in Gips, läßt sie erstarren und spießt sie mit Stricknadeln, die auf Holzsöckelchen befestigt sind.

Oft spielt er mit dem Gedanken, seine Werke farbig zu gestalten. Ich rate davon ab, weise auf mein weißlackiertes Metallbett hin und bitte ihn, sich dieses vollkommenste Bett bunt bemalt vorzustellen. Entsetzt schlägt er dann seine Pflegerhände über dem Kopf zusammen, versucht in etwas zu starrem Gesicht allen Schrecken gleichzeitig Ausdruck zu geben und nimmt Abstand von seinen farbigen Plänen.

Mein weißlackiertes metallenes Anstaltsbett ist also ein Maßstab. Mir ist es sogar mehr: Mein Bett ist das endlich erreichte Ziel, mein Trost ist es und könnte mein Glaube werden, wenn mir die Anstaltsleitung erlaubte, einige Änderungen vorzunehmen: Das Bettgitter möchte ich erhöhen lassen, damit mir niemand mehr zu nahe tritt.

Einmal in der Woche unterbricht ein Besuchstag meine zwischen weißen Metallstäben geflochtene Stille. Dann kommen sie, die mich retten wollen, denen es Spaß macht, mich zu lieben, die sich in mir schätzen, achten und kennenlernen möchten. Wie blind, nervös, wie unerzogen sie sind. Kratzen mit ihren Fingernagelscheren an meinem weißlackierten Bettgitter, kritzeln mit ihren Kugelschreibern und Blaustiften dem Lack langgezogene unanständige Strichmännchen. Mein Anwalt stülpt jedesmal, sobald er mit seinem Hallo das Zimmer sprengt, den Nylonhut über den linken Pfosten am Fußende meines Bettes. Solange sein Besuch währt – und Anwälte wissen viel zu erzählen –, raubt er mir durch diesen Gewaltakt das Gleichgewicht und die Heiterkeit.

Nachdem meine Besucher ihre Geschenke auf dem weißen, mit Wachstuch bezogenen Tischchen unter dem Anemonenaquarell deponiert haben, nachdem es ihnen gelungen ist, mir ihre gerade laufenden oder geplanten Rettungsversuche zu unterbreiten und mich, den sie unermüdlich retten wollen, vom hohen Standard ihrer Nächstenliebe zu überzeugen, finden sie wieder Spaß an der eigenen Existenz und verlassen mich. Dann kommt mein Pfleger, um zu lüften und die Bindfäden der Geschenkpackungen einzusammeln. Oftmals findet er nach dem Lüften noch Zeit, an meinem Bett sitzend, Bindfäden aufdröselnd, so lange Stille zu verbreiten, bis ich die Stille Bruno und Bruno die Stille nenne.

Bruno Münsterberg – ich meine jetzt meinen Pfleger, lasse das Wortspiel hinter mir – kaufte auf meine Rechnung fünfhundert Blatt Schreibpapier. Bruno, der unverheiratet, kinderlos ist und aus dem Sauerland stammt, wird, sollte der Vorrat nicht reichen, die kleine Schreibwarenhandlung, in der auch Kinderspielzeug verkauft wird, noch einmal aufsuchen und mir den notwendigen unlinierten Platz für mein hoffentlich genaues Erinnerungsvermögen beschaffen. Niemals hätte ich meine Besucher, etwa den Anwalt oder Klepp, um diesen Dienst bitten können. Besorgte, mir verordnete Liebe hätte den Freunden sicher verboten, etwas so Gefährliches wie unbeschriebenes Papier mitzubringen und meinem unablässig Silben ausscheidenden Geist zum Gebrauch freizugeben.

Als ich zu Bruno sagte: »Ach Bruno, würdest du mir fünfhundert Blatt unschuldiges Papier kaufen?«, antwortete Bruno, zur Zimmerdecke blickend und seinen Zeigefinger, einen Vergleich herausfordernd, in die gleiche Richtung schickend: »Sie meinen weißes Papier, Herr Oskar.«

Ich blieb bei dem Wörtchen unschuldig und bat den Bruno, auch im Geschäft so zu sagen. Als er am späten Nachmittag mit dem Paket zurückkam, wollte er mir wie ein von Gedanken bewegter Bruno erscheinen. Mehrmals und anhaltend starrte er zu jener Zimmerdecke empor, von der er all seine Eingebungen bezog, und äußerte sich etwas später: »Sie haben mir das rechte Wort empfohlen. Unschuldiges Papier verlangte ich, und die Verkäuferin errötete heftig, bevor sie mir das Verlangte brachte.«

Ein längeres Gespräch über Verkäuferinnen in Schreibwarenhandlungen fürchtend, bereute ich, das Papier unschuldig genannt zu haben, verhielt mich deshalb still, wartete, bis Bruno das Zimmer verlassen hatte, und öffnete dann erst das Paket mit den fünfhundert Blatt Schreibpapier.

Nicht allzu lange hob und wog ich den zäh flexiblen Packen. Zehn Blatt zählte ich ab, der Rest wurde im Nachttischchen versorgt, den Füllfederhalter fand ich in der Schublade neben dem Fotoalbum: Er ist voll, an seiner Tinte soll es nicht fehlen, wie fange ich an?

Man kann eine Geschichte in der Mitte beginnen und vorwärts wie rückwärts kühn ausschreitend Verwirrung anstiften. Man kann sich modern geben, alle Zeiten, Entfernungen wegstreichen und hinterher verkünden oder verkünden lassen, man habe endlich und in letzter Stunde das Raum-Zeit-Problem gelöst. Man kann auch ganz zu Anfang behaupten, es sei heutzutage unmöglich, einen Roman zu schreiben, dann aber, sozusagen hinter dem eigenen Rücken, einen kräftigen Knüller hinlegen, um schließlich als letztmöglicher Romanschreiber dazustehn. Auch habe ich mir sagen lassen, daß es sich gut und bescheiden ausnimmt, wenn man anfangs beteuert: Es gibt keine Romanhelden mehr, weil es keine Individualisten mehr gibt, weil die Individualität verlorengegangen, weil der Mensch einsam, jeder Mensch gleich einsam, ohne Recht auf individuelle Einsamkeit ist und eine namen- und heldenlose einsame Masse bildet. Das mag alles so sein und seine Richtigkeit haben. Für mich, Oskar, und meinen Pfleger Bruno möchte ich jedoch feststellen: Wir beide sind Helden, ganz verschiedene Helden, er hinter dem Guckloch, ich vor dem Guckloch; und wenn er die Tür aufmacht, sind wir beide, bei aller Freundschaft und Einsamkeit, noch immer keine namen- und heldenlose Masse.

Ich beginne weit vor mir; denn niemand sollte sein Leben beschreiben, der nicht die Geduld aufbringt, vor dem Datieren der eigenen Existenz wenigstens der Hälfte seiner Großeltern zu gedenken. Ihnen allen, die Sie außerhalb meiner Heil- und Pflegeanstalt ein verworrenes Leben führen müssen, Euch Freunden und allwöchentlichen Besuchern, die Ihr von meinem Papiervorrat nichts ahnt, stelle ich Oskars Großmutter mütterlicherseits vor.

Meine Großmutter Anna Bronski saß an einem späten Oktobernachmittag in ihren Röcken am Rande eines Kartoffelackers. Am Vormittag hätte man sehen können, wie es die Großmutter verstand, das schlaffe Kraut zu ordentlichen Haufen zu rechen, mittags aß sie ein mit Sirup versüßtes Schmalzbrot, hackte dann letztmals den Acker nach, saß endlich in ihren Röcken zwischen zwei fast vollen Körben. Vor senkrecht gestellten, mit den Spitzen zusammenstrebenden Stiefelsohlen schwelte ein manchmal asthmatisch auflebendes, den Rauch flach und umständlich über die kaum geneigte Erdkruste hinschickendes Kartoffelkrautfeuer. Man schrieb das Jahr neunundneunzig, sie saß im Herzen der Kaschubei, nahe bei Bissau, noch näher der Ziegelei, vor Ramkau saß sie, hinter Viereck, in Richtung der Straße nach Brentau, zwischen Dirschau und Karthaus, den schwarzen Wald Goldkrug im Rücken saß sie und schob mit einem an der Spitze verkohlten Haselstock Kartoffeln unter die heiße Asche.

Wenn ich soeben den Rock meiner Großmutter besonders erwähnte, hoffentlich deutlich genug sagte: Sie saß in ihren Röcken – ja, das Kapitel »Der weite Rock« überschreibe, weiß ich, was ich diesem Kleidungsstück schuldig bin. Meine Großmutter trug nicht nur einen Rock, vier Röcke trug sie übereinander. Nicht etwa, daß sie einen Ober- und drei Unterröcke getragen hätte; vier sogenannte Oberröcke trug sie, ein Rock trug den nächsten, sie aber trug alle vier nach einem System, das die Reihenfolge der Röcke von Tag zu Tag veränderte. Was gestern oben saß, saß heute gleich darunter; der zweite war der dritte Rock. Was gestern noch dritter Rock war, war ihr heute der Haut nahe. Jener ihr gestern nächste Rock ließ heute deutlich sein Muster sehen, nämlich gar keines: Die Röcke meiner Großmutter Anna Bronski bevorzugten alle denselben kartoffelfarbenen Wert. Die Farbe muß ihr gestanden haben.

Außer dieser Farbgebung zeichnete die Röcke meiner Großmutter ein flächenmäßig extravaganter Aufwand an Stoff aus. Weit rundeten sie sich, bauschten sich, wenn der Wind ankam, erschlafften, wenn er genug hatte, knatterten, wenn er vorbeiging, und alle vier flogen meiner Großmutter voraus, wenn sie den Wind im Rücken hatte. Wenn sie sich setzte, versammelte sie ihre Röcke um sich.

Neben den vier ständig geblähten, hängenden, Falten werfenden oder steif und leer neben ihrem Bett stehenden Röcken besaß meine Großmutter einen fünften Rock. Dieses Stück unterschied sich in nichts von den vier anderen kartoffelfarbenen Stücken. Auch war der fünfte Rock nicht immer derselbe fünfte Rock. Gleich seinen Brüdern – denn Röcke sind männlicher Natur – war er dem Wechsel unterworfen, gehörte er vier getragenen Röcken an und mußte gleich ihnen, wenn seine Zeit gekommen war, an jedem fünften Freitag in die Waschbütte, sonnabends an die Wäscheleine vors Küchenfenster und nach dem Trocknen aufs Bügelbrett.

Wenn meine Großmutter nach solch einem Haus­putz­back­wasch­und­bügel­sonnabend, nach dem Melken und Füttern der Kuh ganz und gar in den Badezuber stieg, der Seifenlauge etwas mitteilte, das Wasser im Zuber dann wieder fallen ließ, um sich in großgeblümtem Tuch auf die Bettkante zu setzen, lagen vor ihr auf den Dielen die vier getragenen Röcke und der frischgewaschene Rock ausgebreitet. Sie stützte mit dem rechten Zeigefinger das untere Lid ihres rechten Auges, ließ sich von niemandem, auch von ihrem Bruder Vinzent nicht, beraten und kam deshalb schnell zum Entschluß. Barfuß stand sie und stieß mit den Zehen jenen Rock zur Seite, welcher vom Glanz der Kartoffelfarbe den meisten Schmelz eingebüßt hatte. Dem reinlichen Stück fiel dann der frei gewordene Platz zu.

Jesu zu Ehren, von dem sie feste Vorstellungen hatte, wurde am folgenden Sonntag morgen die aufgefrischte Rockreihenfolge beim Kirchgang nach Ramkau eingeweiht. Wo trug meine Großmutter den gewaschenen Rock? Sie war nicht nur eine saubere, war auch eine etwas eitle Frau, trug das beste Stück sichtbar und bei schönem Wetter in der Sonne.

Nun war es aber ein Montag nachmittag, an dem meine Großmutter hinter dem Kartoffelfeuer saß. Der Sonntagsrock kam ihr montags eins näher, während ihr jenes Stück, das es sonntags hautwarm gehabt hatte, montags recht montäglich trüb oberhalb von den Hüften floß. Sie pfiff, ohne ein Lied zu meinen, und scharrte mit dem Haselstock die erste gare Kartoffel aus der Asche. Weit genug schob sie die Bulve neben den schwelenden Krautberg, damit der Wind sie streifte und abkühlte. Ein spitzer Ast spießte dann die angekohlte und krustig geplatzte Knolle, hielt diese vor ihren Mund, der nicht mehr pfiff, sondern zwischen windtrocknen, gesprungenen Lippen Asche und Erde von der Pelle blies.

Beim Blasen schloß meine Großmutter die Augen. Als sie meinte, genug geblasen zu haben, öffnete sie die Augen nacheinander, biß mit Durchblick gewährenden, sonst fehlerlosen Schneidezähnen zu, gab das Gebiß sogleich wieder frei, hielt die halbe, noch zu heiße Kartoffel mehlig und dampfend in offener Mundhöhle und starrte mit gerundetem Blick über geblähten, Rauch und Oktoberluft ansaugenden Naslöchern den Acker entlang bis zum nahen Horizont mit den einteilenden Telegrafenstangen und dem knappen oberen Drittel des Ziegeleischornsteines.

Es bewegte sich etwas zwischen den Telegrafenstangen. Meine Großmutter schloß den Mund, nahm die Lippen nach innen, verkniff die Augen und mümmelte die Kartoffel. Es bewegte sich etwas zwischen den Telegrafenstangen. Es sprang da etwas. Drei Männer sprangen zwischen den Stangen, drei auf den Schornstein zu, dann vorne herum und einer kehrt, nahm neuen Anlauf, schien kurz und breit zu sein, kam auch drüber, über die Ziegelei, die beiden anderen, mehr dünn und lang, knapp aber doch, über die Ziegelei, schon wieder zwischen den Stangen, der aber, klein und breit, schlug Haken und hatte es klein und breit eiliger als dünn und lang, die anderen Springer, die wieder zum Schornstein hin mußten, weil der schon drüber rollte, als die, zwei Daumensprünge entfernt, noch Anlauf nahmen und plötzlich weg waren, die Lust verloren hatten, so sah es aus, und auch der Kleine fiel mitten im Sprung vom Schornstein hinter den Horizont.

Da blieben sie nun und machten Pause oder wechselten das Kostüm oder strichen Ziegel und bekamen bezahlt dafür.

Als meine Großmutter die Pause nützen und eine zweite Kartoffel spießen wollte, stach sie daneben. Kletterte doch jener, der klein und breit zu sein schien, im selben Kostüm über den Horizont, als wäre das ein Lattenzaun, als hätt’ er die beiden Hinterherspringer hinter dem Zaun, zwischen den Ziegeln oder auf der Chaussee nach Brentau gelassen, und hatte es trotzdem eilig, wollte schneller sein als die Telegrafenstangen, machte lange, langsame Sprünge über den Acker, ließ Dreck von den Sohlen springen, sprang sich vom Dreck weg, aber so breit er auch sprang, so zäh kroch er doch über den Lehm. Und manchmal schien er unten zu kleben, dann wieder so lange in der Luft stillzustehn, daß er die Zeit fand, sich mitten im Sprung klein aber breit die Stirn zu wischen, bevor sich sein Sprungbein wieder in jenes frischgepflügte Feld stemmen konnte, das neben den fünf Morgen Kartoffeln zum Hohlweg hinfurchte.

Und er schaffte es bis zum Hohlweg, war kaum klein und breit im Hohlweg verschwunden, da kletterten auch schon lang und dünn die beiden anderen, die inzwischen die Ziegelei besucht haben mochten, über den Horizont, stiefelten sich so lang und dünn, dabei nicht einmal mager über den Lehm, daß meine Großmutter wiederum nicht die Kartoffel spießen konnte; denn so etwas sah man nicht alle Tage, daß da drei Ausgewachsene, wenn auch verschieden gewachsene, um Telegrafenstangen hüpften, der Ziegelei fast den Schornstein abbrachen und dann in Abständen, erst klein und breit dann dünn und lang, aber alle drei gleich mühsam, zäh und immer mehr Lehm unter den Sohlen mitschleppend, frischgeputzt durch den vor zwei Tagen vom Vinzent gepflügten Acker sprangen und im Hohlweg verschwanden.

Nun waren alle drei weg, und meine Großmutter konnte es wagen, eine fast erkaltete Kartoffel zu spießen. Flüchtig blies sie Erde und Asche von der Pelle, paßte sie sich gleich ganz in die Mundhöhle, dachte, wenn sie dachte: die werden wohl aus der Ziegelei sein, und kaute noch kreisförmig, als einer aus dem Hohlweg sprang, sich über schwarzem Schnauz wild umsah, die zwei Sprünge zum Feuer hin machte, vor, hinter, neben dem Feuer gleichzeitig stand, hier fluchte, dort Angst hatte, nicht wußte, wohin, zurück nicht konnte, denn rückwärts kamen sie dünn durch den Hohlweg lang, daß er sich schlug, aufs Knie schlug und Augen im Kopf hatte, die beide raus wollten, auch sprang ihm Schweiß von der Stirn. Und keuchend, mit zitterndem Schnauz, erlaubte er sich näher zu kriechen, heranzukriechen bis vor die Sohlen; ganz nah heran kroch er an die Großmutter, sah meine Großmutter an wie ein kleines und breites Tier, daß sie aufseufzen mußte, nicht mehr die Kartoffel kauen konnte, die Schuhsohlen kippen ließ, nicht mehr an die Ziegelei, nicht an Ziegel, Ziegelbrenner und Ziegelstreicher dachte, sondern den Rock hob, nein, alle vier Röcke hob sie hoch, gleichzeitig hoch genug, daß der, der nicht aus der Ziegelei war, klein aber breit ganz darunter konnte und weg war mit dem Schnauz und sah nicht mehr aus wie ein Tier und war weder aus Ramkau noch aus Viereck, war mit der Angst unterm Rock und schlug sich nicht mehr aufs Knie, war weder breit noch klein und nahm trotzdem seinen Platz ein, vergaß das Keuchen, Zittern und Hand aufs Knie: Still war es wie am ersten Tag oder am letzten, ein bißchen Wind klönte im Krautfeuer, die Telegrafenstangen zählten sich lautlos, der Schornstein der Ziegelei behielt Haltung, und sie, meine Großmutter, sie strich den obersten Rock überm zweiten Rock glatt und vernünftig, spürte ihn kaum unterm vierten Rock und hatte mit ihrem dritten Rock noch gar nicht begriffen, was ihrer Haut neu und erstaunlich sein wollte. Und weil das erstaunlich war, doch oben vernünftig lag und zweitens wie drittens noch nicht begriffen hatte, scharrte sie sich zwei drei Kartoffeln aus der Asche, griff vier rohe aus dem Korb unter ihrem rechten Ellenbogen, schob die rohen Bulven nacheinander in die heiße Asche, bedeckte sie mit noch mehr Asche und stocherte, daß der Qualm auflebte – was hätte sie anderes tun sollen?

Kaum hatten sich die Röcke meiner Großmutter beruhigt, kaum hatte sich der dickflüssige Qualm des Kartoffelkrautfeuers, der durch heftiges Knieschlagen, durch Platzwechsel und Stochern seine Richtung verloren hatte, wieder windgerecht gelb den Acker bekriechend nach Südwest gewandt, da spuckte es die beiden Langen und Dünnen, die dem kleinen aber breiten, nun unter den Röcken wohnenden Kerl hinterher waren, aus dem Hohlweg, und es zeigte sich, daß sie lang, dünn und von Berufs wegen die Uniformen der Feldgendarmerie trugen.

Fast schossen sie an meiner Großmutter vorbei. Sprang nicht der eine sogar übers Feuer? Hatten jedoch auf einmal Hacken und in den Hacken ihr Hirn, bremsten, drehten, stiefelten, standen in Uniformen gestiefelt im Qualm und zogen hüstelnd die Uniformen, Qualm mitziehend, aus dem Qualm und hüstelten immer noch, als sie meine Großmutter ansprachen, wissen wollten, ob sie den Koljaiczek gesehen, denn sie müsse ihn gesehen haben, da sie doch hier am Hohlweg sitze, und er, der Koljaiczek, sei durch den Hohlweg entkommen.

Meine Großmutter hatte keinen Koljaiczek gesehen, weil sie keinen Koljaiczek kannte. Ob der von der Ziegelei sei, wollte sie wissen, denn sie kenne nur die von der Ziegelei. Die Uniformen aber beschrieben ihr den Koljaiczek als einen, der nichts mit Ziegeln zu tun habe, der vielmehr ein Kleiner, Breiter sei. Meine Großmutter erinnerte sich, hatte solch einen laufen sehen, zeigte, ein Ziel ansprechend, mit dampfender Kartoffel auf spitzem Ast in Richtung Bissau, das der Kartoffel nach zwischen der sechsten und siebenten Telegrafenstange, wenn man vom Ziegeleischornstein nach rechts zählte, liegen mußte. Ob aber jener Läufer ein Koljaiczek gewesen, wußte meine Großmutter nicht, entschuldigte ihre Unwissenheit mit dem Feuer vor ihren Stiefelsohlen; das gäbe ihr genug zu tun, das brenne nur mäßig, deshalb könne sie sich auch nicht um andere Leute kümmern, die hier vorbeiliefen oder im Qualm stünden, überhaupt kümmere sie sich nie um Leute, die sie nicht kenne, sie wisse nur, welche es in Bissau, Ramkau, Viereck und in der Ziegelei gäbe – die reichten ihr gerade.

Als meine Großmutter das gesagt hatte, seufzte sie ein bißchen, doch laut genug, daß die Uniformen wissen wollten, was es zu seufzen gäbe. Sie nickte dem Feuer zu, was besagen sollte, sie hätte wegen des mäßigen Feuerchens geseufzt und wegen der vielen Leute im Qualm auch etwas, biß dann mit ihren weit auseinanderstehenden Schneidezähnen der Kartoffel die Hälfte ab, verfiel ganz dem Kauen und ließ die Augäpfel nach oben links rutschen.

Die in den Uniformen der Feldgendarmerie konnten dem abwesenden Blick meiner Großmutter keinen Zuspruch entnehmen, wußten nicht, ob sie hinter den Telegrafenstangen Bissau suchen sollten, und stießen deshalb einstweilen mit ihren Seitengewehren in die benachbarten, noch nicht brennenden Krauthaufen. Plötzlicher Eingebung folgend, warfen sie gleichzeitig die beiden fast vollen Kartoffelkörbe unter den Ellenbogen meiner Großmutter um und konnten lange nicht begreifen, warum nur Kartoffeln aus dem Geflecht vor ihre Stiefel rollten und kein Koljaiczek. Mißtrauisch umschlichen sie die Kartoffelmiete, als hätte sich der Koljaiczek in solch kurzer Zeit einmieten können, stachen auch gezielt zu und vermißten den Schrei eines Gestochenen. Ihr Verdacht traf jedes noch so heruntergekommene Gebüsch, jedes Mauseloch, eine Kolonie Maulwurfshügel und immer wieder meine Großmutter, die dasaß wie gewachsen, Seufzer ausstieß, die Pupillen unter die Lider zog, doch das Weiße sehen ließ, die die kaschubischen Vornamen aller Heiligen aufzählte – was eines nur mäßig brennenden Feuerchens und zweier umgestürzter Kartoffelkörbe wegen leidvoll betont und laut wurde.

Die Uniformen blieben eine gute halbe Stunde. Manchmal standen sie fern, dann wieder dem Feuer nahe, peilten den Schornstein der Ziegelei an, wollten auch Bissau besetzen, schoben den Angriff auf und hielten blaurote Hände übers Feuer, bis sie von meiner Großmutter, ohne daß die das Seufzen unterbrochen hätte, jeder eine geplatzte Kartoffel am Stöckchen bekamen. Doch mitten im Kauen besannen sich die Uniformen ihrer Uniformen, sprangen einen Steinwurf weit in den Acker, den Ginster am Hohlweg entlang und scheuchten einen Hasen auf, der aber nicht Koljaiczek hieß. Am Feuer fanden sie wieder die mehligen, heißduftenden Bulven und entschlossen sich friedfertig, auch etwas abgekämpft, die rohen Bulven in jene Körbe wieder zu sammeln, welche umzustürzen zuvor ihre Pflicht gewesen war.

Erst als der Abend dem Oktoberhimmel einen feinen schrägen Regen und tintige Dämmerung ausquetschte, griffen sie noch rasch und lustlos einen entfernten, dunkelnden Feldstein an, ließen es dann aber, nachdem der erledigt, genug sein. Noch etwas Beinevertreten und Hände segnend übers verregnete, breit und lang qualmende Feuerchen halten, noch einmal Husten im grünen Qualm, ein tränendes Auge im gelben Qualm, dann hüstelndes, tränendes Davonstiefeln in Richtung Bissau. Wenn der Koljaiczek nicht hier war, mußte Koljaiczek in Bissau sein. Feldgendarmen kennen immer nur zwei Möglichkeiten.

Der Rauch des langsam sterbenden Feuers hüllte meine Großmutter gleich einem fünften und so geräumigen Rock ein, daß sie sich in ihren vier Röcken, mit Seufzern und heiligen Vornamen, ähnlich dem Koljaiczek, unterm Rock befand. Erst als die Uniformen nur noch wippende, langsam im Abend zwischen Telegrafenstangen versaufende Punkte waren, erhob sich meine Großmutter so mühsam, als hätte sie Wurzeln geschlagen und unterbräche nun, Fäden und Erdreich mitziehend, das gerade begonnene Wachstum.

Dem Koljaiczek wurde es kalt, als er auf einmal so ohne Haube klein und breit unter dem Regen lag. Schnell knöpfte er sich jene Hose zu, welche unter den Röcken offen zu tragen ihm Angst und ein grenzenloses Bedürfnis nach Unterschlupf geboten hatten. Er fingerte eilig, eine allzu rasche Abkühlung seines Kolbens befürchtend, mit den Knöpfen, denn das Wetter war voller herbstlicher Erkältungsgefahren.

Es war meine Großmutter, die noch vier heiße Kartoffeln unter der Asche fand. Drei gab sie dem Koljaiczek, eine gab sie sich selbst und fragte noch, bevor sie zubiß, ob er von der Ziegelei sei, obgleich sie wissen mußte, daß der Koljaiczek sonstwoher aber nicht von den Ziegeln kam. Sie gab dann auch nichts auf seine Antwort, lud ihm den leichteren Korb auf, beugte sich unter dem schwereren, hatte noch eine Hand frei für Krautrechen und Hacke, wehte mit Korb, Kartoffeln, Rechen und Hacke in ihren vier Röcken in Richtung Bissau-Abbau davon.

Das war nicht Bissau selbst. Das lag mehr Richtung Ramkau. Da ließen sie die Ziegelei links liegen, machten auf den schwarzen Wald zu, in dem Goldkrug lag und dahinter Brentau. Aber vor dem Wald in einer Kuhle lag Bissau-Abbau. Dorthin folgte meiner Großmutter klein und breit Joseph Koljaiczek, der nicht mehr von den Röcken lassen konnte.

Unterm Floß

Es ist gar nicht so einfach, hier, im abgeseiften Metallbett einer Heil- und Pflegeanstalt, im Blickfeld eines verglasten und mit Brunos Auge bewaffneten Guckloches liegend, die Rauchschwaden kaschubischer Kartoffelkrautfeuer und die Schraffur eines Oktoberregens nachzuzeichnen. Hätte ich nicht meine Trommel, der bei geschicktem und geduldigem Gebrauch alles einfällt, was an Nebensächlichkeiten nötig ist, um die Hauptsache aufs Papier bringen zu können, und hätte ich nicht die Erlaubnis der Anstalt, drei bis vier Stunden täglich mein Blech sprechen zu lassen, wäre ich ein armer Mensch ohne nachweisliche Großeltern.

Jedenfalls sagt meine Trommel: An jenem Oktobernachmittag des Jahres neunundneunzig, während in Südafrika Ohm Krüger seine buschig englandfeindlichen Augenbrauen bürstete, wurde zwischen Dirschau und Karthaus, nahe der Ziegelei Bissau, unter vier gleichfarbigen Röcken, unter Qualm, Ängsten, Seufzern, unter schrägem Regen und leidvoll betonten Vornamen der Heiligen, unter den einfallslosen Fragen und rauchgetrübten Blicken zweier Landgendarmen vom kleinen aber breiten Joseph Koljaiczek meine Mutter Agnes gezeugt.

Anna Bronski, meine Großmutter, wechselte noch unterm Schwarz der nämlichen Nacht ihren Namen: ließ sich also mit Hilfe eines freigiebig mit Sakramenten umgehenden Priesters zur Anna Koljaiczek machen und folgte dem Joseph, wenn nicht nach Ägypten, so doch in die Provinzhauptstadt an der Mottlau, wo Joseph Arbeit als Flößer und einstweilen Ruhe vor der Gendarmerie fand.

Nur um die Spannung etwas zu erhöhen, nenne ich den Namen jener Stadt an der Mottlaumündung noch nicht, obgleich sie als Geburtsstadt meiner Mama jetzt schon nennenswert wäre. Ende Juli des Jahres nullnull – man entschloß sich gerade, das kaiserliche Schlachtflottenbauprogramm zu verdoppeln – erblickte Mama im Sternzeichen Löwe das Licht der Welt. Selbstvertrauen und Schwärmerei, Großmut und Eitelkeit. Das erste Haus, auch Domus vitae genannt, im Zeichen des Aszendenten: leicht zu beeinflussende Fische. Die Konstellation Sonne in Opposition Neptun, siebentes Haus oder Domus matrimonii uxoris, sollte Verwirrungen bringen. Venus in Opposition zu Saturn, der bekanntlich Krankheit an Milz und Leber bringt, den man den sauren Planeten nennt, der im Steinbock herrscht und im Löwen seine Vernichtung feiert, dem Neptun Aale anbietet und den Maulwurf dafür erhält, der Tollkirschen, Zwiebeln und Runkelrüben liebt, der Lava hustet und den Wein säuert; er bewohnte mit Venus das achte, das tödliche Haus und ließ an Unfall denken, während die Zeugung auf dem Kartoffelacker gewagtestes Glück unter Merkurs Schutz im Haus der Verwandten versprach.

Hier muß ich den Protest meiner Mama einschieben, denn sie hat immer bestritten, auf dem Kartoffelacker gezeugt worden zu sein. Zwar habe ihr Vater – soviel gab sie zu – es dort schon versucht, allein seine Lage und gleichviel die Position der Anna Bronski seien nicht glücklich genug gewählt gewesen, um dem Koljaiczek die Voraussetzungen fürs Schwängern zu schaffen.

»Es muß in der Nacht auf der Flucht passiert sein oder in Onkel Vinzents Kastenwagen oder sogar erst auf dem Troyl, als wir bei den Flößern Kammer und Unterschlupf fanden.«

Mit solchen Worten pflegte meine Mama die Begründung ihrer Existenz zu datieren, und meine Großmutter, die es eigentlich wissen mußte, nickte dann geduldig und gab der Welt zu verstehen: »Jeweß Kindchen, auf Kastenwagen wird jewaisen sein oder auf Troyl erst, nur nich auf Acker: weil windig war und hat auch jeregnet wie Deikert komm raus.«

Vinzent hieß der Bruder meiner Großmutter. Nach dem frühen Tode seiner Frau war er nach Tschenstochau gepilgert und hatte von der Matka Boska Czestochowska Weisung erhalten, in ihr die zukünftige Königin Polens zu sehen. Seitdem kramte er nur noch in merkwürdigen Büchern, fand in jedem Satz den Thronanspruch der Gottesgebärerin auf das Reich der Polen bestätigt, überließ seiner Schwester den Hof und die paar Äcker. Jan, sein damals vierjähriger Sohn, ein schwächliches, immer zum Weinen bereites Kind, hütete Gänse, sammelte bunte Bildchen und, verhängnisvoll früh, Briefmarken.

In jenes der himmlischen Königin Polens geweihte Gehöft brachte meine Großmutter die Kartoffelkörbe und den Koljaiczek, daß der Vinzent erfuhr, was geschehen, nach Ramkau lief und den Priester heraustrommelte, damit der ausgerüstet mit Sakramenten komme und die Anna dem Joseph antraue. Kaum hatte Hochwürden schlaftrunken seinen durchs Gähnen in die Länge gezogenen Segen ausgeteilt und mit einer guten Seite Speck versehen den geweihten Rücken gezeigt, spannte Vinzent das Pferd vor den Kastenwagen, packte das Hochzeitspaar hinten darauf, bettete es auf Stroh und leeren Säcken, setzte seinen frierenden, dünn weinenden Jan neben sich auf den Bock und gab dem Pferd zu verstehen, daß es jetzt geradeaus und scharf in die Nacht hineingehe: Die Hochzeitsreisenden hatten es eilig.

In immer noch dunkler, doch schon verausgabter Nacht erreichte das Gefährt den Holzhafen der Provinzhauptstadt. Befreundete Männer, die gleich dem Koljaiczek den Beruf der Flößer ausübten, nahmen das flüchtende Paar auf. Vinzent konnte wenden, das Pferdchen wieder gen Bissau treiben; eine Kuh, die Ziege, die Sau mit den Ferkeln, acht Gänse und der Hofhund wollten gefüttert, der Sohn Jan ins Bett gelegt werden, denn er fieberte leicht.

Joseph Koljaiczek blieb drei Wochen lang verborgen, gewöhnte seinem Haar eine neue, gescheitelte Frisur an, nahm sich den Schnauz ab, versorgte sich mit unbescholtenen Papieren und fand Arbeit als Flößer Joseph Wranka. Warum aber mußte Koljaiczek mit den Papieren des bei einer Schlägerei vom Floß gestoßenen, ohne Wissen der Behörden oberhalb Modlin im Fluß Bug ertrunkenen Flößers Wranka in der Tasche bei den Holzhändlern und Sägereien vorsprechen? Weil er, der eine Zeitlang die Flößerei aufgegeben, in einer Sägemühle bei Schwetz gearbeitet, dort Streit mit dem Sägemeister wegen eines von Koljaiczeks Hand aufreizend weißrot gestrichenen Zaunes bekommen hatte. Gewiß um der Redensart recht zu geben, die da besagt, man könne einen Streit vom Zaune brechen, brach sich der Sägemeister je eine weiße und eine rote Latte aus dem Zaun, zerschlug die polnischen Latten auf Koljaiczeks Kaschubenrücken zu soviel weißrotem Brennholz, daß der Geprügelte Anlaß genug fand, in der folgenden, sagen wir, sternklaren Nacht die neuerbaute, weißgekälkte Sägemühle rotflammend zur Huldigung an ein zwar aufgeteiltes, doch gerade deshalb geeintes Polen werden zu lassen.

Koljaiczek war also ein Brandstifter, ein mehrfacher Brandstifter, denn in ganz Westpreußen boten in der folgenden Zeit Sägemühlen und Holzfelder den Zunder für zweifarbig aufflackernde Nationalgefühle. Wie immer, wenn es um Polens Zukunft geht, war auch bei jenen Bränden die Jungfrau Maria mit von der Partie, und es mag Augenzeugen gegeben haben – vielleicht leben heute noch welche –, die eine mit Polens Krone geschmückte Mutter Gottes auf den zusammenbrechenden Dächern mehrerer Sägemühlen gesehen haben wollen. Volk, das bei Großbränden immer zugegen ist, soll das Lied von der Bogurodzica, der Gottesgebärerin, angestimmt haben – wir dürfen glauben, es ging bei Koljaiczeks Brandstiftungen feierlich zu: Es wurden Schwüre geschworen.

So belastet und gesucht der Brandstifter Koljaiczek war, so unbescholten, elternlos, harmlos, ja beschränkt und von niemandem gesucht, kaum gekannt hatte der Flößer Joseph Wranka seinen Kautabak in Tagesrationen eingeteilt, bis ihn der Fluß Bug aufnahm und drei Tagesrationen Kautabak in seiner Joppe mit den Papieren zurückblieben. Und da der ertrunkene Wranka sich nicht mehr melden konnte und niemand nach dem ertrunkenen Wranka peinliche Fragen stellte, kroch Koljaiczek, der die ähnliche Statur und den gleichen Rundschädel wie der Ertrunkene hatte, zuerst in dessen Joppe, sodann in dessen amtlich papierene, nicht vorbestrafte Haut, gewöhnte sich die Pfeife ab, verlegte sich auf Kautabak, übernahm sogar vom Wranka das Persönlichste, dessen Sprachfehler, und gab in den folgenden Jahren einen braven, sparsamen, leicht stotternden Flößer ab, der ganze Wälder auf Njemen, Bobr, Bug und Weichsel zu Tal flößte. So muß auch gesagt werden, daß er es bei den Leibhusaren des Kronprinzen unter Mackensen zum Gefreiten Wranka brachte, denn Wranka hatte noch nicht gedient, Koljaiczek jedoch, der vier Jahre älter war als der Ertrunkene, hatte in Thorn bei der Artillerie ein schlechtes Zeugnis hinterlassen.

Der gefährlichste Teil aller Räuber, Totschläger und Brandstifter wartet, während noch geraubt, totgeschlagen und in Brand gesteckt wird, auf die Gelegenheit eines solideren Metiers. Manchen zeigt sich gesucht oder zufällig die Chance: Koljaiczek war als Wranka ein guter und vom hitzigen Laster so kurierter Ehemann, daß ihn der bloße Anblick eines Streichholzes schon zittern machte. Streichholzschachteln, die frei und selbstgefällig auf dem Küchentisch lagen, waren vor ihm, der das Streichholz hätte erfunden haben können, nie sicher. Zum Fenster warf er die Versuchung hinaus. Mühe hatte meine Großmutter, das Mittagessen rechtzeitig und warm auf den Tisch zu bekommen. Oft saß die Familie im Dunkeln, weil der Petroleumlampe das Flämmchen fehlte.

Dennoch war Wranka kein Tyrann. Am Sonntag führte er seine Anna Wranka zur Kirche in die Niederstadt und erlaubte ihr, die ihm standesamtlich angetraut war, wie auf dem Kartoffelacker vier Röcke übereinanderzutragen. Im Winter, wenn die Flüsse vereist waren und die Flößer magere Zeit hatten, saß er brav im Troyl, wo nur Flößer, Stauer und Werftarbeiter wohnten, und paßte auf seine Tochter Agnes auf, die von der Art des Vaters zu sein schien, denn wenn sie nicht unter das Bett kroch, dann steckte sie im Kleiderschrank, und wenn Besuch da war, saß sie unter dem Tisch und mit ihr ihre Kodderpuppen.

Es kam dem Mädchen Agnes also darauf an, versteckt zu bleiben und im Versteck ähnliche Sicherheit, wenn auch anderes Vergnügen zu finden, als Joseph unter den Röcken der Anna fand. Koljaiczek der Brandstifter war gebrannt genug, um das Schutzbedürfnis seiner Tochter verstehen zu können. Deshalb baute er ihr, als auf dem balkonähnlichen Vorbau der Eineinhalbzimmerwohnung ein Kaninchenstall gezimmert werden mußte, einen extra für ihre Maße gedachten Verschlag. In solch einem Gehäuse saß meine Mama als Kind, spielte mit Puppen und wurde größer dabei. Später, als sie schon zur Schule ging, soll sie die Puppen verworfen und mit Glaskugeln und farbigen Federn spielend den ersten Sinn für zerbrechliche Schönheit gezeigt haben.

Man mag mir, der ich darauf brenne, den Beginn eigener Existenz anzeigen zu dürfen, erlauben, die Wrankas, deren Familienfloß ruhig dahinglitt, bis zum Jahre dreizehn, da die »Columbus« bei Schichau vom Stapel lief, unbeobachtet zu lassen; da kam nämlich die Polizei, die nichts vergißt, dem falschen Wranka auf die Spur.

Es begann damit, daß Koljaiczek, wie in jedem Spätsommer so auch im August des Jahres dreizehn, das große Floß von Kijew über den Pripjat, durch den Kanal, über den Bug bis Modlin und von dort die Weichsel herunterflößen sollte. Sie fuhren, insgesamt zwölf Flößer, mit dem Schlepper »Radaune«, der im Dienste ihrer Sägerei dampfte, von Westlich Neufähr gegen die Tote Weichsel bis Einlage, dann die Weichsel herauf an Käsemark, Letzkau, Czattkau, Dirschau und Pieckel vorbei und machten am Abend in Thorn fest. Dort kam der neue Sägemeister an Bord, der den Holzeinkauf in Kijew überwachen sollte. Als die »Radaune« um vier Uhr früh loswarf, hieß es, er sei an Bord. Koljaiczek sah ihn erstmals beim Frühstück auf der Back. Sie saßen sich kauend und Gerstenkaffee schlürfend gegenüber. Koljaiczek erkannte ihn sofort. Der breite, oben schon kahle Mann ließ Wodka kommen und in die leeren Kaffeetassen eingießen. Mitten im Kauen, während am Ende der Back noch eingeschenkt wurde, stellte er sich vor: »Damit ihr Bescheid wißt, ich bin der neue Sägemeister, heiße Dückerhoff, bei mir herrscht Ordnung!«

Die Flißacken nannten auf Verlangen der Reihe nach, wie sie saßen, ihre Namen und kippten die Tassen, daß die Adamsäpfel ruckten. Koljaiczek kippte erst, sagte dann »Wranka« und fixierte den Dückerhoff dabei. Der nickte, wie er zuvor genickt hatte, wiederholte das Wörtchen Wranka, wie er auch die Namen der anderen Flißacken wiederholt hatte. Dennoch wollte es Koljaiczek vorkommen, als habe Dückerhoff den Namen des ertrunkenen Flößers besonders, nicht etwa scharf, eher nachdenklich betont.

Die »Radaune« stampfte, Sandbänken geschickt unterm Beistand wechselnder Lotsen ausweichend, gegen die lehmtrübe, nur eine Richtung kennende Flut. Links und rechts lag hinter den Deichen immer dasselbe, wenn nicht flache, dann gehügelte, schon abgeerntete Land. Hecken, Hohlwege, eine Kesselkuhle mit Ginster, plan zwischen Einzelgehöften, geschaffen für Kavallerieattacken, für eine links im Sandkasten einschwenkende Ulanendivision, für über Hecken hetzende Husaren, für die Träume junger Rittmeister, für die Schlacht, die schon dagewesen, die immer wieder kommt, für das Gemälde: Tataren flach, Dragoner aufbäumend, Schwertritter stürzend, Hochmeister färbend den Ordensmantel, dem Küraß kein Knöpfchen fehlt, bis auf einen, den abhaut Masowiens Herzog, und Pferde, kein Zirkus hat solche Schimmel, nervös, voller Troddeln, die Sehnen peinlich genau und die Nüstern gebläht, karminrot, draus Wölkchen, durchstochen von Lanzen, bewimpelt, gesenkt und den Himmel, das Abendrot teilend, die Säbel und dort, im Hintergrund – denn jedes Gemälde hat einen Hintergrund – fest auf dem Horizont klebend, schmauchend ein Dörfchen friedlich zwischen den Hinterbeinen des Rappen, geduckte Katen, bemoost, strohgedeckt; und in den Katen, das konserviert sich, die hübschen, vom kommenden Tage träumenden Panzer, da auch sie ins Bild, hinausdürfen auf die Ebene hinter den Weichseldeichen, gleich leichten Fohlen zwischen der schweren Kavallerie.

Bei Wloclawek tippte der Dückerhoff dem Koljaiczek gegen den Rock: »Sag’n Se mal, Wranka, ham Se nich vor sounsovüll Jahre uff de Mühle in Schwetz jearbeitet? Is dann hintaher abjebrannt, die Mühle?« Koljaiczek schüttelte zäh, wie gegen einen Widerstand den Kopf, und es gelang ihm dabei, traurige und müde Augen zu bekommen, daß Dükkerhoff, solchem Blick ausgesetzt, weitere Fragen bei sich hielt.

Als Koljaiczek, wie alle Flißacken es taten, bei Modlin, wo der Bug in die Weichsel mündet und die »Radaune« einbog, über die Reling gelehnt dreimal spuckte, stand Dückerhoff mit einer Zigarre neben ihm und wollte Feuer haben. Dieses Wörtchen und das Wörtchen Streichholz gingen Koljaiczek unter die Haut. »Mann, brauchen Se doch nich rot zu werden, wenn ich Feuer haben will. Sind doch kein Mädchen, oder?«

Sie hatten Modlin schon hinter sich, da erst verging dem Koljaiczek jene Röte, die keine Schamröte war, sondern ein später Abglanz von ihm in Brand gesteckter Sägemühlen.

Zwischen Modlin und Kijew, also den Bug hinauf, durch den Kanal, der Bug und Pripjat verbindet, bis die »Radaune«, dem Pripjat folgend, den Dnjepr fand, passierte nichts, was sich als Wechselrede zwischen Koljaiczek-Wranka und Dückerhoff wiedergeben ließe. Auf dem Schlepper, zwischen den Flößern, zwischen den Heizern und Flößern, zwischen Steuermann, Heizern und Kapitän, zwischen dem Kapitän und den ständig wechselnden Lotsen wird sich natürlich, wie es zwischen Männern üblich sein soll, vielleicht sogar ist, mancherlei ereignet haben. Ich könnte mir Händel zwischen den kaschubischen Flißacken und dem aus Stettin gebürtigen Steuermann vorstellen, vielleicht den Anflug einer Meuterei: Versammlung auf der Back, Lose werden gezogen, Parolen ausgegeben, die Poggenkniefe geschliffen.

Lassen wir das. Weder kam es zu politischen Händeln, deutsch-polnischen Messerstechereien, noch zur Milieuattraktion einer handfesten, aus sozialen Mißständen geborenen Meuterei. Brav Kohlen fressend machte die »Radaune« ihren Weg, lief einmal – es war, glaub ich, kurz hinter Plock – auf eine Sandbank, konnte aber mit eigener Kraft wieder freikommen. Ein kurzer, bissiger Wortwechsel zwischen dem Kapitän Barbusch aus Neufahrwasser und dem ukrainischen Lotsen, das war alles – und das Bordbuch wüßte kaum mehr zu berichten.

Müßte und wollte ich ein Bordbuch für Koljaiczeks Gedanken oder gar ein Journal des Dückerhoffschen sägemeisterlichen Innenlebens führen, gäbe es Wechsel und Abenteuer genug, Verdacht und Bestätigung, Mißtrauen und fast gleichzeitiges eiliges Beschwichtigen des Mißtrauens zu beschreiben. Angst hatten alle beide. Dückerhoff mehr als Koljaiczek; denn man befand sich in Rußland. Dückerhoff hätte, wie einst der arme Wranka, über Bord fallen können, hätte – und jetzt sind wir schon in Kijew – auf den Holzplätzen, die so groß und unübersichtlich sind, daß man seinen Schutzengel in solch hölzernem Irrgarten verlieren kann, unter einen Stoß sich plötzlich lösende, durch nichts mehr aufzuhaltende Langhölzer geraten – oder auch gerettet werden können. Gerettet von einem Koljaiczek, der den Sägemeister zuerst aus dem Pripjat oder Bug gefischt, der den Dückerhoff im letzten Augenblick auf dem schutzengelarmen Holzplatz in Kijew zurückgerissen und dem Verlauf der Langholzlawine entzogen hätte. Wie schön wäre es, jetzt berichten zu können, wie der halbertrunkene oder fast zermalmte Dückerhoff noch schwer atmend und eine Spur Tod im Auge bewahrend dem angeblichen Wranka ins Ohr geflüstert hätte: »Dank Koljaiczek, Dank!« dann, nach der notwendigen Pause: »Jetzt sind wir quitt – Schwamm drüber!«

Und sie hätten sich herb freundschaftlich, verlegen lächelnd und fast mit Tränen zwinkernd in die Männeraugen gesehen, hätten einen scheuen aber schwieligen Händedruck gewechselt.

Wir kennen diese Szene aus betörend gut fotografierten Filmen, wenn es den Regisseuren einfällt, famos schauspielernde feindliche Brüder zu fortan durch dick und dünn gehenden, noch tausend Abenteuer bestehenden Spießgesellen zu machen.

Koljaiczek aber fand weder Gelegenheit, den Dückerhoff ertrinken zu lassen, noch ihn den Klauen des rollenden Langhölzertodes zu entreißen. Aufmerksam und um den Vorteil seiner Firma bedacht, kaufte Dückerhoff in Kijew das Holz ein, überwachte noch die Zusammenstellung der neun Flöße, teilte, wie üblich, unter den Flißacken ein ordentliches Handgeld russischer Währung für die Talfahrt aus und setzte sich dann in die Eisenbahn, die ihn über Warschau, Modlin, Deutsch-Eylau, Marienburg, Dirschau zu seiner Firma brachte, deren Sägerei im Holzhafen zwischen der Klawitterwerft und der Schichauwerft lag.

Bevor ich die Flößer nach Wochen ernsthaftester Arbeit von Kijew die Flüsse, den Kanal und endlich die Weichsel bergab kommen lasse, überlege ich mir, ob Dückerhoff sicher war, im Wranka den Brandstifter Koljaiczek erkannt zu haben. Ich möchte sagen, solange der Sägemeister mit dem harmlosen, gutwilligen, trotz seiner Beschränktheit allgemein beliebten Wranka auf einem Dampfer saß, hoffte er, einen zu allem Frevel entschlossenen Koljaiczek nicht zum Reisegenossen zu haben. Diese Hoffnung gab er erst in den Polstern des Eisenbahncoupés auf. Und als der Zug sein Ziel erreichte, im Hauptbahnhof Danzig – jetzt sprech ich es aus – einrollte, hatte Dückerhoff seine Dückerhoffschen Beschlüsse gefaßt, ließ seine Koffer in eine Kutsche packen, nach Hause rollen, ging forsch, weil ohne Gepäck, zum nahen Polizeipräsidium am Wiebenwall, nahm dort springend die Treppen zum Hauptportal, fand nach kurzem sensiblem Suchen jenes Zimmer, welches sachlich genug eingerichtet war, dem Dückerhoff einen knappen, nur Tatsachen nennenden Bericht abzunötigen. Nicht etwa, daß der Sägemeister Anzeige erstattete. Schlicht bat er, den Fall Koljaiczek-Wranka zu prüfen, was ihm von der Polizei versprochen wurde.

Während der folgenden Wochen, da das Holz mit den Schilfhütten und den Flößern langsam flußabwärts glitt, wurde auf mehreren Ämtern viel Papier beschrieben. Da gab es die Militärakte des Joseph Koljaiczek, gemeiner Kanonier im soundsovielten westpreußischen Feldartillerieregiment. Zweimal drei Tage mittleren Arrest hatte der üble Kanonier wegen im Zustand der Trunkenheit lauthals geschrieener, halb polnischer, halb deutscher Sprache zugeordneter anarchistischer Parolen absitzen müssen. Schandflecke waren das, die in den Papieren des Gefreiten Wranka, gedient beim zweiten Leibhusarenregiment in Langfuhr, nicht zu entdecken waren. Rühmlich hervorgetan hatte sich der Wranka, war dem Kronprinzen als Bataillonsmelder beim Manöver angenehm aufgefallen, hatte von jenem, der immer Taler in der Tasche trug, einen Kronprinzentaler geschenkt bekommen. Letzterer Taler war jedoch nicht in der Militärakte des Gefreiten Wranka vermerkt, den gestand vielmehr laut jammernd meine Großmutter Anna, als sie mit ihrem Bruder Vinzent verhört wurde.

Nicht nur mit jenem Taler bekämpfte sie das Wörtchen Brandstifter. Papiere konnte sie vorzeigen, die mehrmals besagten, daß Joseph Wranka schon im Jahre nullvier der Freiwilligen Feuerwehr Danzig-Niederstadt beigetreten und während der Wintermonate, da alle Flößer Pause machten, als Feuerwehrmann manch kleinem und großem Brand begegnet war. Auch eine Urkunde gab es, die bekundete, daß der Feuerwehrmann Wranka während des Großbrandes im Eisenbahnhauptwerk Troyl, anno nullneun, nicht nur gelöscht, sondern auch zwei Schlosserlehrlinge gerettet hatte. Ähnlich sprach der als Zeuge geladene Hauptmann der Feuerwehr Hecht. Der gab zu Protokoll: »Wie soll der Brandstifter sein, der da löscht! Seh ich ihn nicht immer noch auf der Leiter, da die Kirche in Heubude brannte? Ein Phönix aus Asche und Flamme tauchend, nicht nur das Feuer, den Brand dieser Welt und den Durst unseres Herrn Jesus löschend! Wahrlich ich sage Euch: Wer da den Mann mit dem Feuerwehrhelm, der die Vorfahrt hat, den die Versicherungen lieben, der immer ein wenig Asche in der Tasche trägt, sei es zum Zeichen, sei’s von Berufs wegen, wer ihn, den herrlichen Phönix, einen roten Hahn heißen will, er verdient, daß man ihm einen Mühlstein um den Hals...«

Sie werden es bemerkt haben, der Hauptmann Hecht der Freiwilligen Feuerwehr war ein wortgewaltiger Pfarrer, stand Sonntag für Sonntag auf der Kanzel seiner Pfarrkirche St.Barbara auf Langgarten und verschmähte es nicht, solange die Untersuchungen gegen Koljaiczek-Wranka betrieben wurden, mit ähnlichen Worten Gleichnisse vom himmlischen Feuerwehrmann und dem höllischen Brandstifter seiner Gemeinde einzuhämmern.

Da jedoch die Beamten der Kriminalpolizei nicht in Sankt Barbara zur Kirche gingen, auch aus dem Wörtchen Phönix eher eine Majestätsbeleidigung denn eine Rechtfertigung des Wranka herausgehört hätten, wirkte sich Wrankas Tätigkeit als freiwilliger Feuerwehrmann belastend aus.

Zeugnisse verschiedener Sägereien, Beurteilungen der Heimatgemeinden wurden eingeholt: Wranka erblickte in Tuchel das Licht dieser Welt; Koljaiczek war ein geborener Thorner. Kleine Unstimmigkeiten bei den Aussagen älterer Flößer und entfernter Familienangehöriger. Der Krug ging immer wieder zum Wasser; was blieb ihm übrig, als zu brechen. Als die Verhöre soweit gediehen waren, erreichte das große Floß gerade das Reichsgebiet und wurde ab Thorn unauffällig kontrolliert und bei den Anlegeplätzen beschattet.

Meinem Großvater fielen erst hinter Dirschau seine Beschatter auf. Er hatte sie erwartet. Eine ihm zeitweilig anhaftende Trägheit, die an Schwermut grenzte, mag ihn daran gehindert haben, bei Letzkau etwa oder Käsemark einen Ausbruchsversuch zu wagen, der in so vertrauter Gegend mit Hilfe einiger ihm gewogener Flißacken noch möglich gewesen wäre. Ab Einlage, als sich die Flöße langsam und einander stoßend in die Tote Weichsel schoben, lief auffällig unauffällig ein Fischerkutter, der viel zuviel Besatzung an Bord hatte, neben den Flößen her. Kurz hinter Plehnendorf schossen die beiden Motorbarkassen der Hafenpolizei aus dem Schilfufer und rissen, beständig kreuz und quer hetzend, das immer brackiger den Hafen ankündigende Wasser der Toten Weichsel auf. Hinter der Brücke nach Heubude begann die Absperrkette der »Blauen«. Holzfelder gegenüber der Klawitterwerft, die kleineren Bootswerften, der immer breiter werdende, zur Mottlau hindrängende Holzhafen, die Anlegebrücken verschiedener Sägereien, die Brücke der eigenen Firma mit den wartenden Angehörigen und überall »Blaue«, nur drüben bei Schichau nicht, da war alles geflaggt, da war etwas anderes los, da sollte wohl etwas vom Stapel laufen, da war viel Volk, das regte die Möwen auf, da wurde ein Fest gegeben – ein Fest für meinen Großvater?

Erst als mein Großvater den Holzhafen voller blau Uniformierter sah, als die Barkassen immer unheilverkündender ihren Kurs nahmen und Wellen über die Flöße warfen, erst als er den ganzen kostspieligen Aufwand begriff, der ihm zuteil wurde, da erst erwachte sein altes Koljaiczeksches Brandstifterherz, und er spuckte den sanften Wranka aus, entschlüpfte dem freiwilligen Feuerwehrmann Wranka, sagte sich lauthals und ohne Stocken vom stotternden Wranka los und floh, floh über die Flöße, floh über weite, schwankende Flächen, barfuß über ein ungehobeltes Parkett, von Langholz zu Langholz Schichau entgegen, wo die Fahnen lustig im Winde, über Hölzer vorwärts, wo etwas auf Stapel lag, Wasser hat dennoch Balken, wo sie die schönen Reden hielten, wo niemand Wranka rief oder gar Koljaiczek, wo es hieß: Ich taufe dich auf den Namen SMS Columbus, Amerika, über vierzigtausend Tonnen Wasserverdrängung, dreißigtausend PS Seiner Majestät Schiff, Rauchsalon erster Klasse, zweiter Klasse Backbordküche, Turnhalle aus Marmor, Bücherei, Amerika, Seiner Majestät Schiff, Wellentunnel, Promenadendeck, Heil dir im Siegerkranz, die Göschflagge des Heimathafens, Prinz Heinrich steht am Steuerrad und mein Großvater Koljaiczek barfuß, die Rundhölzer kaum noch berührend, der Blasmusik entgegen, ein Volk das solche Fürsten hat, von Floß zu Floß, jubelt das Volk ihm zu, Heil dir im Siegerkranz, und alle Werftsirenen und die Sirenen der im Hafen liegenden Schiffe, der Schlepper und Vergnügungsdampfer, Columbus, Amerika, Freiheit und zwei Barkassen vor Freude irrsinnig neben ihm her, von Floß zu Floß, Seiner Majestät Flöße und schneiden ihm den Weg ab und machen den Spielverderber, so daß er stoppen muß, wo er so schön im Schwung war, und steht ganz einsam auf einem Floß und sieht schon Amerika, da sind die Barkassen längsseit, da muß er sich abstoßen – und schwimmen sah man meinen Großvater, auf ein Floß schwamm er zu, das in die Mottlau glitt. Und mußte tauchen wegen Barkassen und unten bleiben wegen Barkassen, und das Floß schob sich über ihn und wollte nicht mehr aufhören, gebar immer ein neues Floß: Floß von deinem Floß, in alle Ewigkeit: Floß.

Die Barkassen stellten ihre Motoren ab. Unerbittliche Augenpaare suchten auf der Wasseroberfläche. Doch Koljaiczek hatte sich endgültig verabschiedet, hatte sich der Blechmusik, den Sirenen, den Schiffsglocken und Seiner Majestät Schiff, der Taufrede des Prinzen Heinrich und den irrsinnigen Möwen Seiner Majestät, hatte sich Heil dir im Siegerkranz und der Schmierseife Seiner Majestät für den Stapellauf Seiner Majestät Schiff, hatte sich Amerika und der »Columbus«, hatte sich allen Nachforschungen der Polizei unter dem endlosen Holz entzogen.

Man hat die Leiche meines Großvaters nie gefunden. Ich, der ich fest daran glaube, daß er unter dem Floß seinen Tod schaffte, muß mich, um glaubwürdig zu bleiben, hier dennoch bequemen, all die Versionen wunderbarer Rettungen wiederzugeben.

Da hieß es, er habe unter dem Floß eine Lücke zwischen den Hölzern gefunden; von unten her gerade groß genug, um die Atmungsorgane über Wasser halten zu können. Nach oben hin soll sich die Lücke dergestalt verengt haben, daß es den Polizisten, die bis in die Nacht hinein die Flöße und sogar die Schilfhütten auf den Flößen absuchten, unsichtbar blieb. Dann, im Schutz der Dunkelheit – so hieß es weiter –, habe er sich treiben lassen, habe zwar erschöpft, doch mit einigem Glück das andere Mottlauufer und das Gelände der Schichauwerft erreicht, habe dort im Schrottlager Unterschlupf gefunden und sei später, wahrscheinlich mit Hilfe griechischer Matrosen, auf einen jener schmierigen Tanker gelangt, die schon manch einem Flüchtling Schutz geboten haben sollen.

Andere behaupteten: Koljaiczek, der ein guter Schwimmer mit einer noch besseren Lunge war, unterschwamm nicht nur das Floß; auch die beträchtliche restliche Breite der Mottlau durchtauchte er, schaffte mit Glück das Festgelände der Schichauwerft, mischte sich dort, ohne Aufsehen zu erregen, unter die Werftarbeiter und schließlich unters begeisterte Volk, sang mit dem Volk »Heil dir im Siegerkranz«, hörte sich noch beifallsfreudig des Prinzen Heinrich Taufrede auf Seiner Majestät Schiff »Columbus« an, verdrückte sich nach geglücktem Stapellauf mit der Menge in halb getrockneten Kleidern vom Festgelände und avancierte am nächsten Tag schon – hier trifft sich die erste mit der zweiten Rettungsversion – zum blinden Passagier auf einem der berühmt-berüchtigten griechischen Tanker.

Der Vollständigkeit halber sei hier noch die dritte unsinnige Fabel erwähnt, die meinen Großvater gleich Treibholz in die offene See treiben ließ, wo ihn prompt Fischer aus Bohnsack auffischten und außerhalb der Dreimeilenzone einem schwedischen Hochseekutter übergaben. Dort, auf dem Schweden, ließ ihn die Fabel dann langsam und wunderbarerweise wieder zu Kräften kommen, Malmö erreichen – und so weiter und so weiter.

Das alles ist Unsinn und Fischergeschwätz. Auch gebe ich keinen Pfifferling für die Aussagen jener in allen Hafenstädten gleich unglaubwürdigen Augenzeugen, welche meinen Großvater kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Buffalo USA gesehen haben wollen. Joe Colchic soll er sich genannt haben. Holzhandel mit Kanada gab man als sein Gewerbe an. Aktien bei Streichholzfirmen. Begründer von Feuerversicherungen. Schwerreich und einsam beschrieb man meinen Großvater: in einem Wolkenkratzer hinter riesigem Schreibtisch sitzend, Ringe mit glühenden Steinen an allen Fingern tragend, mit seiner Leibwache exerzierend, die Feuerwehruniform trug, polnisch singen konnte und Phönixgarde hieß.

Falter und Glühbirne

Ein Mann ließ alles zurück, fuhr über das große Wasser, kam nach Amerika und wurde reich. – Ich will es genug sein lassen mit meinem Großvater, ob er sich nun polnisch Goljaczek, kaschubisch Koljaiczek oder amerikanisch Joe Colchic nannte.

Es bereitet Schwierigkeiten, auf einer simplen, in Spielzeugläden und Kaufhäusern erhältlichen Blechtrommel hölzerne, mit dem Fluß fast bis zum Horizont hinlaufende Flöße abzutrommeln. Dennoch ist es mir gelungen, den Holzhafen, alles Treibholz, in Flußbuchten schlingernd, im Schilf verfilzt, mit weniger Mühe die Hellingen der Schichauwerft, der Klawitterwerft, der vielen, teilweise nur Reparaturen ausführenden Bootswerften, das Schrottlager der Waggonfabrik, die ranzigen Kokoslager der Margarinefabrik, alle mir bekannten Schlupfwinkel der Speicherinsel abzutrommeln. Er ist tot, gibt mir keine Antwort, zeigt kein Interesse für kaiserliche Stapelläufe, für den oft Jahrzehnte währenden, mit dem Stapellauf beginnenden Untergang eines Schiffes, das in diesem Fall »Columbus« hieß, auch der Stolz der Flotte genannt wurde, selbstverständlich Kurs auf Amerika nahm und später versenkt wurde oder sich selbst versenkte, vielleicht auch gehoben und umgebaut, umgetauft oder verschrottet wurde. Womöglich tauchte sie nur, die »Columbus«, machte es meinem Großvater nach und treibt sich heute noch mit ihren vierzigtausend Tonnen, mit Rauchsalon, Turnhalle in Marmor, Schwimmbassin und Massagekabinen in, sagen wir, sechstausend Meter Tiefe des Philippinengrabens oder Emdentiefs herum; man kann das nachlesen im »Weyer« oder in Flottenkalendern – ich glaube, die erste oder zweite »Columbus« versenkte sich selbst, weil der Kapitän irgend eine mit dem Krieg zusammenhängende Schande nicht überleben wollte.

Einen Teil der Floßgeschichte habe ich Bruno vorgelesen, dann, um Objektivität bittend, meine Frage gestellt.

»Ein schöner Tod!« schwärmte Bruno und begann sofort meinen ertrunkenen Großvater mittels Bindfaden in eine seiner Knotengeburten zu verwandeln. Ich sollte mit seiner Antwort zufrieden sein und nicht mit tollkühnen Gedanken nach USA auswandern und ein Erbe erschleichen wollen.

Meine Freunde Klepp und Vittlar besuchten mich. Klepp brachte eine Jazzplatte mit zweimal King Oliver, Vittlar reichte geziert tuend ein am rosa Band hängendes Schokoladenherz. Sie trieben allerlei Unsinn, parodierten Szenen aus meinem Prozeß, und ich zeigte mich, um ihnen eine Freude zu machen, wie an allen Besuchstagen aufgeräumt und selbst den dümmsten Scherzen gegenüber eines Gelächters fähig. So unter der Hand und bevor Klepp seinen unvermeidlichen Lehrvortrag über die Zusammenhänge zwischen Jazz und Marxismus starten konnte, erzählte ich die Geschichte eines Mannes, der im Jahre dreizehn, also kurz bevor es losging, unter ein schier endloses Floß geriet, nicht mehr hervorkam; selbst seine Leiche habe man nicht gefunden.

Auf meine Frage hin – ich stellte sie zwanglos, betont gelangweilt – drehte Klepp mißmutig den Kopf über verfettetem Hals, knöpfte sich auf und zu, machte Schwimmbewegungen und tat so, als wäre er unter dem Floß. Schließlich schüttelte er meine Frage ab und gab dem zu frühen Nachmittag die Schuld an der ausbleibenden Antwort.

Vittlar hielt sich steif, schlug die Beine, dabei den Bügelfalten Sorge tragend, übereinander, zeigte jenen feingestreiften, bizarren Hochmut, der nur noch Engeln im Himmel geläufig sein mag: »Ich befinde mich auf dem Floß. Hübsch ist es auf dem Floß. Mücken stechen mich, das ist lästig. – Ich befinde mich unter dem Floß. Hübsch ist es unter dem Floß. Keine Mücke sticht mich, das ist angenehm. Es ließe sich, glaube ich, leben unter dem Floß, wenn man nicht gleichzeitig die Absicht hätte, auf dem Floß weilend sich von Mücken stechen zu lassen.«

Vittlar machte seine bewährte Pause, musterte mich, hob dann, wie immer, wenn er einer Eule gleichen will, seine von Natur aus schon hohen Augenbrauen und betonte scharf theatralisch: »Ich nehme an, daß es sich bei dem Ertrunkenen, bei dem Mann unter dem Floß, um deinen Großonkel, wenn nicht sogar Großvater handelte. Da er sich als Großonkel und in weit größerem Maße als Großvater dir gegenüber verpflichtet fühlte, ist er zu Tode gekommen; denn nichts wäre dir lästiger, als einen lebenden Großvater zu haben. Du bist nicht nur der Mörder deines Großonkels, du bist der Mörder deines Großvaters! Da jener dich jedoch, wie es jeder echte Großvater gerne tut, ein wenig strafen wollte, ließ er dir nicht die Genugtuung eines Enkelkindes, das auf eine aufgedunsene Wasserleiche stolz hinweist und Worte gebraucht wie: Seht meinen toten Großvater. Er war ein Held! Er ging ins Wasser, als sie ihn verfolgten. – Dein Großvater unterschlug der Welt und seinem Enkelkind die Leiche, damit sich die Nachwelt und das Enkelkind noch lange mit ihm befassen mögen.«

Dann, aus einem Pathos ins andere springend, ein listiger, leicht vorgebeugter, Versöhnung gaukelnder Vittlar: »Amerika, freue dich, Oskar! Du hast ein Ziel, eine Aufgabe. Man wird dich hier freisprechen, entlassen. Wohin, wenn nicht nach Amerika, wo man alles wiederfindet, selbst seinen verschollenen Großvater!«

So höhnisch und anhaltend verletzend die Antwort Vittlars auch sein mochte, gab sie mir dennoch mehr Gewißheit als das zwischen Tod und Leben kaum unterscheidende Geraunze meines Freundes Klepp oder die Antwort des Pflegers Bruno, der den Tod meines Großvaters nur deshalb einen schönen Tod nannte, weil kurz nach ihm »SMS Columbus« vom Stapel lief und Wellen machte. Da lobe ich mir doch Vittlars Großväter konservierendes Amerika, das angenommene Ziel, das Vorbild, an dem ich mich aufrichten kann, wenn ich europasatt die Trommel und Feder aus der Hand legen will: »Schreib weiter, Oskar, tu es für deinen schwerreichen aber müden, in Buffalo USA Holzhandel treibenden Großvater Koljaiczek, der im Inneren seines Wolkenkratzers mit Streichhölzern spielt!«

Als sich Klepp und Vittlar verabschiedeten und endlich gingen, wies Bruno durch kräftiges Lüften allen störenden Geruch der Freunde aus dem Zimmer. Darauf nahm ich wieder meine Trommel, trommelte aber nicht mehr die Hölzer todverdeckender Flöße ab, sondern schlug jenen schnellen, sprunghaften Rhythmus, dem alle Menschen vom August des Jahres vierzehn an gehorchen mußten. So wird es sich nicht vermeiden lassen, daß auch mein Text, bis zur Stunde meiner Geburt, nur andeutend den Weg jener Trauergemeinde nachzeichnen wird, welche mein Großvater in Europa zurückließ.

Als Koljaiczek unter dem Floß verschwand, ängstigten sich zwischen den Angehörigen der Flößer auf der Anlegebrücke der Sägerei meine Großmutter mit ihrer Tochter Agnes, Vinzent Bronski und dessen siebzehnjähriger Sohn Jan. Etwas abseits stand Gregor Koljaiczek, der ältere Bruder des Joseph, den man anläßlich der Verhöre in die Stadt gerufen hatte. Jener Gregor hatte vor der Polizei allzeit dieselbe Antwort bereitzuhalten gewußt: »Kenne ja meinen Bruder kaum. Weiß im Grunde nur, daß er Joseph heißt, und als ich ihn letztes Mal sah, war er vielleicht zehn oder sagen wir, zwölf. Die Schuhe hat er mir geputzt und Bier geholt, falls Mutter und ich Bier wollten.«

Wenn sich auch herausstellte, daß meine Urgroßmutter eine Biertrinkerin war, konnte der Polizei mit der Antwort des Gregor Koljaiczek nicht geholfen werden. Dafür aber half die Existenz des älteren Koljaiczek um so mehr meiner Großmutter Anna. Gregor, der in Stettin, Berlin, zuletzt in Schneidemühl Jahre seines Lebens zugebracht hatte, blieb in Danzig, fand Arbeit auf der Pulvermühle bei »Bastion Kaninchen« und heiratete nach Jahresfrist, nachdem alles Komplizierte, wie die Ehe mit dem falschen Wranka, geklärt und zu den Akten gelegt worden war, meine Großmutter, die nicht von den Koljaiczeks lassen wollte, die den Gregor nie oder nicht so schnell geheiratet hätte, wenn er nicht ein Koljaiczek gewesen wäre.

Die Arbeit auf der Pulvermühle bewahrte Gregor vor dem bunten und bald darauf grauen Rock. Zu dritt wohnten sie in derselben Eineinhalbzimmerwohnung, die dem Brandstifter jahrelang Unterschlupf geboten hatte. Es zeigte sich jedoch, daß ein Koljaiczek nicht wie der nächste Koljaiczek zu sein braucht, denn meine Großmutter sah sich nach einem knappen Jahr Ehe gezwungen, den gerade leerstehenden Kellerladen des Mietshauses im Troyl zu mieten und Krimskrams von der Stecknadel bis zum Kohlkopf verkaufend, Verdienst zu suchen, weil der Gregor bei der Pulvermühle zwar eine Stange Geld verdiente, dennoch nicht das Nötigste nach Hause brachte, sondern alles vertrank. Während Gregor, wahrscheinlich von meiner Urgroßmutter her, ein Trinker war, war mein Großvater Joseph ein Mann, der ab und zu gerne einen Schnaps trank. Gregor trank nicht, weil er traurig war. Selbst wenn er fröhlich zu sein schien, was selten bei ihm vorkam, weil er der Melancholie anhing, trank er nicht um der Lustigkeit willen. Er trank, weil er allen Dingen auf den Grund ging, so auch dem Alkohol. Niemand hat Gregor Koljaiczek zu Lebzeiten ein halbvolles Gläschen Machandel stehenlassen sehen.

Meine Mama, damals ein rundliches, fünfzehnjähriges Mädchen, machte sich nützlich, half im Geschäft, klebte Lebensmittelmarken, trug am Sonnabend die Ware aus und schrieb ungelenke doch phantasievolle Mahnbriefe, die die Schulden der Pumpkundschaft eintreiben sollten. Schade, daß ich keinen dieser Briefe besitze. Wie schön wäre es, an dieser Stelle einige halb kindliche, halb mädchenhafte Notschreie aus den Episteln einer Halbwaise zitieren zu können, denn der Gregor Koljaiczek gab keinen vollwertigen Stiefvater ab. Vielmehr hatten meine Großmutter und ihre Tochter Mühe, ihre zumeist mit Kupfer und wenig Silber gefüllte Kasse, die aus zwei übereinandergestülpten Blechtellern bestand, vor dem melancholischen Koljaiczekschen Blick des immer durstigen Pulvermüllers zu bewahren. Erst als Gregor Koljaiczek im Jahre siebzehn an der Grippe starb, steigerte sich die Verdienstspanne des Trödelladens etwas, doch nicht viel; denn was konnte man im Jahre siebzehn schon verkaufen?

Die Kammer der Eineinhalbzimmerwohnung, die seit dem Tod des Pulvermüllers leer stand, weil meine Mama, die Hölle fürchtend, dort nicht einziehen wollte, bezog Jan Bronski, der damals etwa zwanzigjährige Cousin meiner Mama, der Bissau und seinen Vater Vinzent verlassen hatte, um mit einem guten Abschlußzeugnis der Mittelschule Karthaus und nach abgeschlossener Lehrzeit auf der Post des Kreisstädtchens nun auf der Hauptpost Danzig I die mittlere Verwaltungslaufbahn einzuschlagen. Jan brachte außer seinem Koffer auch seine umfangreiche Briefmarkensammlung in die Wohnung seiner Tante. Er sammelte schon seit frühester Jugend, hatte also zur Post nicht nur ein berufliches, sondern auch ein privates, immer behutsames Verhältnis. Der schmächtige, leicht gebückt gehende junge Mann zeigte ein hübsches, ovales, vielleicht etwas zu süßes Gesicht und blaue Augen genug, daß sich meine Mama, die damals siebzehn war, in ihn verlieben konnte. Man hatte den Jan schon dreimal gemustert, ihn aber bei jeder Musterung wegen seines miesen Zustandes zurückgestellt; was in jenen Zeiten, da man alles nur einigermaßen gerade Gewachsene nach Verdun schickte, um es auf Frankreichs Boden in die ewige Waagrechte zu bringen, allerlei über die Konstitution des Jan Bronski besagte.