Die Blumenmalerin - Laila El Omari - E-Book
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Laila El Omari

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Beschreibung

Eine rebellische junge Frau, eine Zeit im Umbruch und eine Liebe gegen alle Widerstände: In "Die Blumenmalerin" verknüpft Laila El Omari die historische Familien-Saga um eine Porzellan-Manufaktur mit einer fesselnden Liebes-Geschichte. Bonn zur Zeit des Kaiserreichs: Die aufmüpfige Victoria soll von ihrer Großtante Josefa gebändigt werden. Doch diese erkennt sich in ihrer Nichte wieder und führt sie in ihre Manufaktur ein, wo Victoria schon bald als Porzellanmalerin auf sich aufmerksam macht. Als sie sich jedoch in den verarmten Adligen Leonhard von Rothenberg verliebt, hat sie gleich beide Familien gegen sich: Während Josefa in Leonhard einen Mitgiftjäger vermutet, ist die skandalumwitterte Victoria für die von Rothenbergs absolut unstandesgemäß. Und so kommt es, dass Victoria in einer Zeit des Umbruchs ihren eigenen Weg wählt ... »Laila El Omari nimmt die Leser von der ersten Seite an gefangen.« Love Letter Magazin »Laila El Omari versteht es, ganz großes Lesekino entstehen zu lassen.« Denglers-Buchkritik.de

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Seitenzahl: 482

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Laila El Omari

Die Blumenmalerin

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Bonn zur Zeit des Kaiserreichs: Die aufmüpfige Victoria soll von ihrer Großtante Josefa gebändigt werden. Doch diese erkennt sich in ihrer Nichte wieder und führt sie in ihre Manufaktur ein, wo Victoria schon bald als Porzellanmalerin auf sich aufmerksam macht. Als sie sich jedoch in den verarmten Adligen Leonhard von Rothenberg verliebt, hat sie gleich beide Familien gegen sich: Während Josefa in Leonhard einen Mitgiftjäger vermutet, ist die skandalumwitterte Victoria für die von Rothenbergs absolut unstandesgemäß. Und so kommt es, dass Victoria in einer Zeit des Umbruchs ihren eigenen Weg wählt …

Inhaltsübersicht

Teil 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Teil 2

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Teil 1

1

März 1908

Victoria Dormbachs tiefem gesellschaftlichem Fall ging ein »Ja« zur falschen Zeit voraus. Dies und den buchstäblichen Schritt über eine Schwelle hatte es gebraucht, damit aus dem Debüt einer begehrten jungen Dame der Skandal der Saison wurde. Ihre Mutter geriet darüber so außer sich, dass man einige Tage lang mehr um ihre Gesundheit als um Victorias Ruf bangte. »Sie muss fort!«, rief Victorias Mutter immerzu, als sei ihre Tochter mit einer ansteckenden Krankheit behaftet. Ihr Vater reagierte besonnener. Er schrieb verschiedene Verwandte an und entschied nach dem Prinzip der Schnelligkeit. Der Erste, der antwortete, würde Victoria unter seine Fittiche nehmen. Wie bei jenem Pferd, das er damals unbedingt hatte loswerden wollen, das hatte auch der Erste, der Interesse signalisierte, gekriegt. Aber für das Pferd hatte Wilhelm Dormbach wenigstens noch Geld erhalten.

Und nun saß Victoria im Zug, der sie aus dem mondänen München nach Bonn bringen würde. Nach Victorias Dafürhalten tiefste Provinz, und somit verbrachte sie die ganze Zugfahrt damit, Fluchtgedanken zu schmieden, nur um diese kurz vor Einfahrt in den Bahnhof zu verwerfen. Wo sollte sie denn hin? Nach Hause? Ihr Vater würde sie umgehend zurückschicken.

Da man ihr Gepäck vorausgeschickt hatte, reiste sie nur mit einer kleinen Tasche und brauchte sich nicht um einen Kofferträger zu bemühen, als sie auf den Bahnsteig trat. Der den Lokomotiven so eigene Geruch von Qualm und Eisen lag in der Luft, etwas, das Victoria an Bahnhöfen liebte und das stets ihre Reiselust entfachte. Jetzt jedoch verursachte er ihr geradezu Übelkeit, indes ihr Herz das Wort Exil in stetem Takt gegen die Rippen hämmerte. Ihr Blickfeld zersplitterte in Tränen, die ihr der Qualm in die Augen trieb. Sie zog ein Taschentuch hervor und betupfte sich die Lider, dann sah sie sich um.

Menschen hasteten vorbei, fielen wartenden Freunden und Angehörigen um den Hals. Ein kleiner Junge schrie »Papa!« und rannte Victoria fast um, als er auf einen Mann zustürmte, der ihn hochhob und im Kreis wirbelte, ehe er die Frau, die dem Jungen gefolgt war, küsste. Victoria wandte sich ab.

Fahrgäste stiegen in den Zug, Gepäckträger eilten vorbei, Koffer wurden gereicht, Fenster gesenkt, um noch letzte Abschiedsworte zu wechseln. Im nächsten Moment ertönte unmittelbar neben Victoria ein schriller Pfiff, und sie fuhr heftig zusammen.

Der Schaffner stand in der offenen Zugtür und zwinkerte Victoria, deren Erschrecken ihm nicht entgangen sein konnte, frech zu. Dann brüllte er: »Einsteigen! Türen schließen!«

Kräftige Dampfwolken speiend, setzte sich die Lok ächzend und ratternd in Bewegung, und kurz darauf rollte der Zug aus dem Bahnhof. Der im Übrigen klein war. Sehr klein. Und wieder fühlte Victoria sich, als habe man sie in die hinterste Provinz verbannt. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, suchte mit Blicken den Bahnsteig ab, der sich langsam leerte. Da war niemand, der zu warten schien. Kein Schild mit ihrem Namen wurde in die Luft gehalten. Dieses Mal waren die Tränen nicht dem Qualm geschuldet.

Eine Frau betrat den Bahnsteig, hochgewachsen und mit resoluten Schritten, das dunkle, von Silber durchwirkte Haar hochgesteckt. Ein durchdringender Blick traf Victoria, dann kam die Frau näher.

»Victoria Dormbach?«

Das »Ja« kam Victoria erst nach dreimaligem Räuspern über die Lippen.

»Entschuldige bitte, ich wurde aufgehalten.« Die Frau taxierte Victoria aus leicht zusammengekniffenen Augen. »Heulst du etwa?«

Irritiert tupfte Victoria sich erneut die Augen ab. »Nein, ich vertrage nur den Qualm nicht.«

Die Frau wirkte skeptisch, nickte jedoch. »Dann ist ja gut. Ich kann Heulsusen nicht ausstehen.« Sie streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin deine Großtante Josefa.«

Immer noch verwirrt reichte Victoria ihr die Hand. Die Frau war jünger als erwartet, zwar durchaus alt – mindestens Mitte vierzig –, aber eben nicht so, wie sie sich die Schwester ihrer Großmutter vorgestellt hatte.

»Du erinnerst mich an deine Mutter«, sagte Josefa, während sie in die Bahnhalle gingen. Es klang nicht so, als sei es ein Kompliment, und so entgegnete Victoria nichts, sondern hielt nur den Griff ihrer Handtasche umklammert, während sie ihrer Großtante aus dem Bahnhof folgte. Hier würde sie nicht bleiben, das wusste sie jetzt schon. Sie würde zurück zu ihrem Vater fahren und ihn anbetteln, sie woanders hinzuschicken. Egal wer und wohin, schlimmer konnte es nicht sein.

Vor dem Bahnhof stand am Fuß der Treppe ein Automobil, schwarz und glänzend im Licht der Märzsonne. Zielstrebig hielt Josefa darauf zu und beugte sich zu der Kurbel hinunter, dann blickte sie zu Victoria hoch, die stehen geblieben war.

»Was ist los? Soll ich dich die Treppe hinuntertragen?«

Victoria beeilte sich, die letzten Stufen zu nehmen, und trat an die Beifahrerseite des Wagens. »Hast du keinen Chauffeur?«, wagte sie zu fragen.

»Doch, aber es macht zu großen Spaß, um es jemand anderem zu überlassen.«

Zögernd öffnete Victoria die Tür und ließ sich in dem bequemen ledernen Sitz nieder. Sie war noch nie mit einem Automobil gefahren, ihr Vater hielt nicht viel von dieser Art Neuerung.

»Wir bleiben bei der Kutsche«, sagte er stets. »Ein Pferd kann man wenigstens unter Kontrolle halten.« Er glaubte nicht, dass sich diese Karossen durchsetzen würden. »Allein der Gedanke, dass hier jeder mit halsbrecherischen zwanzig oder gar dreißig Kilometern pro Stunde über die Straßen fährt – unvorstellbar! Man käme kaum mehr sicher von einer Straßenseite auf die andere!«

Sicherheitshalber legte Victoria die Hand um den Griff auf der Türinnenseite. Ein wenig Angst hatte sie schon. Josefa betätigte die Kurbel, dann stieg sie ein und drückte einen Knopf. »Der Anlasser«, erklärte sie, als habe Victoria Interesse bekundet. Der Wagen machte hustende Geräusche, die zu einem gleichförmigen Brummen wurden, dann legte Josefa einen Schalter um, griff nach dem Lenkrad und fuhr los.

Die Geschwindigkeit war in der Tat berauschend, und Victoria stellte fest, dass es ihr gefiel, wie ihr der Fahrtwind ins Gesicht wehte. Natürlich musste sie ihren Hut festhalten, damit er ihr nicht vom Kopf geweht wurde, aber dennoch – es hatte was.

Nach gut zehn Minuten fuhren sie durch eine Allee, die schnurgerade zwischen hochherrschaftlichen Villen verlief, und der Wagen ruckelte über das Kopfsteinpflaster. Schließlich verlangsamte Josefa das Tempo und drückte auf etwas, das wie ein Ball mit einem Trichter aussah und einen hohen, lauten Ton von sich gab, unter dem Victoria zusammenzuckte. Zu ihrer Rechten befand sich eine hohe Backsteinmauer, die durchbrochen war von einem schwarzen schmiedeeisernen Portal, und dahinter verlief ein gepflasterter Weg zu einem Hof, in dessen Mitte ein Brunnen stand. Wiederum dahinter erhob sich eine weiße, säulenbestandene Villa, deren schwarze Tür sich nun öffnete. Ein Mann in Dienstbotenuniform verließ das Haus und eilte zum Portal, dessen beide Flügel er rasch öffnete.

Josefa lenkte den Wagen in den Hof hinein, umkreiste den Brunnen und fuhr in eine Remise, die früher wohl einmal Kutschen beherbergt hatte und in der ein weiterer Wagen stand, cremeweiß mit schwarzen Kotflügeln.

»So, da wären wir«, sagte sie und schaltete den Motor aus. »Herzlich willkommen in der Villa Arndt.«

Victoria stellte fest, dass es gar nicht so einfach war, den Wagen zu verlassen, ohne zu viel Bein zu zeigen, was ein junger Mann, den sie erst jetzt am offenen Fenster lehnend bemerkte, interessiert beobachtete. Rasch stieg sie aus und zupfte ihr Kleid zurecht. Der junge Mann grinste.

»Der Flegel dort«, erklärte Josefa, »ist dein Vetter Rudolf.«

Der Genannte neigte höflich den Kopf. »Es ist mir eine Freude und ein großes Vergnügen.«

»Das glaube ich dir aufs Wort«, antwortete Josefa. »Wo ist dein Bruder?«

»Zur Stelle, Mutter.« Ein Mann, ein wenig älter als jener am Fenster, kam aus dem Haus und lief die Treppe hinunter in den Hof. Er streckte Victoria die Hand entgegen. »Constantin, zu deinen Diensten, Cousinchen. Gepäck hast du nicht?«

»Nein«, antwortete Victoria. »Nur meine Handtasche.«

»Ist die Kaffeetafel schon gedeckt?«

»Wie gewünscht, Mutter. Ich sage Alice Bescheid, dass sie den Kuchen jetzt auftragen kann.« Der Mann nickte ihnen freundlich zu, dann eilte er ihnen voran ins Haus.

»Das sind deine Söhne?« Konnte die Frau denn schon so alt sein?

Offenbar deutete sie Victorias Blick richtig, denn um ihren Mund zeigte sich ein Zug unverhohlener Erheiterung. »Ich habe früh angefangen, genau wie du. Nur habe ich da bereits jung geheiratet.«

Victoria spürte, wie ihr die Wärme vom Hals ins Gesicht kroch. Wieder zuckte es amüsiert um Josefas Mund, während sie die breite Treppe zum Haupteingang hochgingen. Da Victoria selbst einem hochherrschaftlichen Haus entstammte, war es schwer, sie diesbezüglich zu beeindrucken. Die Eingangshalle gefiel ihr jedoch durchaus, sie war zwar nicht groß, wirkte aber durch geschickt platzierte Spiegel so, als wäre sie es. Der Boden war in schwarz-weißem Mosaikmuster gefliest, und eine breite Treppe führte hoch zu einer Galerie.

»Ich nehme an, du möchtest dich frisch machen, ehe wir uns zum Kaffee setzen«, sagte Josefa. »Henriette wird dir dein Zimmer zeigen.«

Wie aus dem Nichts stand plötzlich eine junge Frau in Dienstbotenuniform vor Victoria und knickste höflich. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, gnädiges Fräulein«, sagte sie und ging voran zur Treppe. Auf der Galerie warf Victoria einen Blick in die Halle und bemerkte, dass Josefa dort stand und ihr nachsah. »Die Patriarchin« hatte ihr Vater seine Tante genannt, hatte es in einem Ton ausgesprochen, als wolle er Victoria prophezeien, was sie zu erwarten hatte.

»Hier ist Ihr Zimmer, gnädiges Fräulein«, sagte das Stubenmädchen und öffnete eine Tür am Ende des Korridors. »Es hat einen hübschen Blick auf den Garten.«

Zögernd trat Victoria ein. Der Raum war nicht besonders groß, viel kleiner als ihr Zimmer daheim. Aber er war sehr schön eingerichtet mit Möbeln aus Kirschbaumholz, luftigen Gardinen und sattgrünen Vorhängen. Es gab ein breites Bett mit hohen Pfosten, einen Sekretär, vor dem ein Stuhl stand, eine breite Kommode, einen Frisiertisch mit einem Hocker und einen sehr bequem aussehenden Sessel, der mit geblümter Chenille bezogen war. Davor stand ein Fußhocker mit demselben Bezug, daneben ein kleiner Tisch, und unmittelbar darüber war ein Licht an der Wand angebracht. Wer den Raum eingerichtet hatte, las offenbar gern und ging davon aus, dass andere diese Leidenschaft teilten.

»Wo ist mein Gepäck?«, fragte Victoria und sah sich suchend um.

»Die Koffer wurden bereits ausgepackt.« Henriette ging an Victoria vorbei und öffnete eine Tür zu ihrer Linken, die Victoria erst nicht wahrgenommen hatte, da sie ebenfalls mit Tapete überzogen war. »Hier ist das Ankleidezimmer, gnädiges Fräulein.«

Langsam durchquerte Victoria den Raum und sah sich das Ankleidezimmer an. Es befanden sich Schränke darin, ein hoher Spiegel und ein samtbezogener Hocker. Kein Vergleich zu dem großen Raum, der ihr daheim zur Verfügung gestanden hatte. Unvermittelt kamen Victoria erneut die Tränen, und sie wandte sich rasch ab.

»Danke«, sagte sie. »Du kannst mich jetzt allein lassen.«

»Wie Sie wünschen, gnädiges Fräulein.« Henriette knickste und verließ den Raum. Kurz darauf fiel die Tür des Zimmers sacht ins Schloss.

Die Verzweiflung wand sich in Victoria wie eine mit Widerhaken versehene Schlange. Seufzend ging sie zum Fenster und sah hinunter in den Garten, und nun, da sie allein war und den Tränen endlich freien Lauf lassen konnte, kam keine einzige mehr. Der Garten, in den sie blickte, war groß und gepflegt, aber Victoria vermisste den heimatlichen mit seinen vertrauten lauschigen Ecken.

Sie drehte sich um, knöpfte die Jacke ihres Reisekostüms auf und wollte sich den Staub der Reise abwaschen, als ihr bewusst wurde, dass sie gar nicht wusste, wo das Bad war. Daheim hatte sie ihr eigenes gehabt, aber es sah nicht so aus, als verberge sich in der Tapete eine weitere Tür. Sollte sie nun gar auf dem Korridor jede Tür öffnen und nachsehen? Victoria sah sich um, suchte den Klingelstrang, um einen Dienstboten zu rufen, und entdeckte ihn neben der Tür. Nach einem kurzen Moment des Zauderns zog sie daran, und kurz darauf erschien Henriette.

»Ach je, gnädiges Fräulein, entschuldigen Sie bitte«, sagte sie, als Victoria ihr Anliegen vorgetragen hatte. »Das Bad liegt gegenüber, es ist sehr klein, aber dafür können Sie es allein nutzen. Ansonsten gibt es noch ein größeres am anderen Ende des Korridors. Das hier ist der Gästetrakt, daher verfügen die Räumlichkeiten über keine eigenen Bäder. Ich werde nachher kommen und Ihnen beim Frisieren und Ankleiden helfen, wenn Sie das wünschen.«

»Danke«, antwortete Victoria und seufzte. Dann ging sie ins Ankleidezimmer, suchte ein Nachmittagskleid heraus und war mehr denn je entschlossen, hier nicht zu bleiben, gleich, wie sehr ihr Vater toben würde.

 

»Sie ist hübsch«, urteilte Rudolf, als er sich im Salon einfand, wo Kaffee und Kuchen serviert wurden.

»Sie ist vor allem kapriziös und verwöhnt«, entgegnete Josefa.

»Und das wird sich hier ändern?« Constantin hatte sich in einem Sessel niedergelassen und schlug entspannt ein Bein über das andere.

»Ihr Vater wird sich etwas dabei gedacht haben, als er sie mir geschickt hat.«

»Vermutlich war sein Gedanke, sie so weit wie möglich zu entfernen«, vermutete Constantin.

»Das mag auch eine Rolle gespielt haben. Wie dem auch sei, ihr werdet sie wie eine Schwester behandeln.«

»Natürlich, Mutter«, erwiderte Constantin.

Das Lächeln, das Rudolfs Lippen umspielte, barg hingegen zu viel träge Wollust, um als geschwisterliche Aufmerksamkeit aufgefasst zu werden.

»Ich warne dich, mein Lieber«, sagte Josefa an ihren jüngsten Sohn gewandt.

»Ich werde mich benehmen«, versprach er und schien noch etwas hinzufügen zu wollen, als Schritte zu hören waren, und da sein Blick anerkennend an der Tür verharrte, wusste Josefa, dass ihr Gast den Weg in den Salon gefunden hatte.

Sie war in der Tat hübsch, das kam nun, da sie ihr Reisekostüm gegen ein pastellblaues Nachmittagskleid getauscht hatte, das wunderbar mit der Farbe ihrer Augen harmonierte, noch mehr zur Geltung. Anstelle des praktischen Haarknotens trug sie ihr goldbraunes Haar locker aufgesteckt, sodass sich wie zufällig einzelne Locken verspielt um ihren Hals und ihr Gesicht schmiegten. Für den geübten Blick hingegen war klar, dass sie sich nicht aus der Frisur gelöst, sondern absichtlich hervorgezupft worden waren, um gefälliger zu wirken. Die Wirkung auf Josefas Söhne war unübersehbar, selbst auf den stets so distanzierten Constantin. Wundern musste einen der Ursprung des Skandals wohl nicht.

»Setz dich, mein Kind«, sagte Josefa und bot ihr einen Sessel an, auf dem sie sich anmutig niederließ. Victorias Mutter war sehr erfolgreich darin gewesen, ihrer Tochter ein Benehmen anzuerziehen, mit dem sie auf jedem gesellschaftlichen Ereignis Erfolge verbuchen konnte. Jede Bewegung, jedes Lächeln, jede Neigung des Kopfes war bewusst gesetzt, und Josefa war sich sicher, dass Victoria keine Reaktion auf ihr Auftreten entging. Die junge Frau tauschte einen Blick mit Rudolf, der ihr zuzwinkerte, was ihr eine leichte Röte in die Wangen trieb.

»Alice, trag den Kuchen auf«, wies Josefa das Stubenmädchen an, nachdem sie ihren Sohn warnend taxiert hatte.

Alice stellte einen Butterkuchen auf den Tisch, schnitt ihn an und verteilte die Stücke auf die Porzellanteller. Hernach schenkte sie Kaffee ein. Die Gewohnheiten der Herrschaften kannte sie, die des Gastes waren ihr fremd.

»Sahne und Zucker, gnädiges Fräulein?«

»Nur Sahne«, antwortete Victoria, die das Kinn kaum merklich anhob, gerade ausreichend, um zu zeigen, dass die Frau, mit der sie sprach, ihr nicht ebenbürtig war. Dienstboten waren unsichtbar, im Hause Dormbach hatte man das von jeher so gehalten. Im Hause Arndt jedoch hatte Josefa dergleichen nicht erlaubt.

Josefa ahnte, was in ihrer Großnichte vorging, ahnte, wie es sein musste, eine Demütigung zu erfahren, von der jeder wusste, und trotzdem gezwungen zu sein, Haltung zu bewahren. Das war der Grund, warum sie zugestimmt hatte, sie zu sich zu holen. Eigentlich stand ihr nicht der Sinn danach, ein verwöhntes Kind unter ihre Fittiche zu nehmen, gerade sie, die immer froh darum gewesen war, nur Söhne zu haben, da sie mit Jungen und Männern seit jeher besser auskam. Sie erschienen ihr geradliniger, einfacher zu durchschauen und zu steuern, während sie dachten, sie seien es, die den Ton angaben.

Den Appetit hatte es Victoria aber offenbar nicht verschlagen, denn sie hatte ihr Stück Kuchen so schnell vertilgt, wie es damenhaft überhaupt nur möglich war. Dabei hatte sie immer wieder unter den Wimpern hervor zu Rudolf und Constantin gesehen, um sicherzugehen, dass diese zuerst aufgegessen hatten und sie somit nicht als gierig dastand.

»Möchtest du noch ein Stück, meine Liebe?«, fragte Josefa, die die Begehrlichkeit in dem Blick richtig deutete. »Du hattest außer dem Frühstück heute sicher noch nichts«, fügte sie hinzu, um der Angesprochenen das Ja leichter zu machen. Und so erhielt Victoria ein weiteres, recht großzügig bemessenes Stück.

Nach dem Kaffee und ein bisschen höflicher Konversation erhob Josefa sich und bedeutete ihren Söhnen damit, dass diese entlassen waren. »Komm, mein Kind, ich führe dich durch das Haus.«

Victoria stand ebenfalls auf, strich ihr Kleid glatt, erwiderte Rudolfs und Constantins Lächeln, das diese ihr zum Abschied schenkten, und wandte sich dann Josefa zu, indes ihr Lächeln zerfiel. Offenbar waren auch ihr Männer leichter zugänglich als Frauen.

»Wir haben zwei Stubenmädchen, eine Köchin, einen Lakai, einen Chauffeur und eine Haushälterin«, erklärte Josefa, während sie mit der jungen Frau durch das Haus ging. »Außerdem eine Küchenmagd und zwei Zugehfrauen, die das Haus reinigen. Die Wäscherin kommt einmal die Woche. Ich weiß, das ist weit weniger, als deine Eltern beschäftigen, aber ich halte nichts von unnützen Ausgaben. Tagsüber bin ich nicht da, da ich im Werk stets vor Ort sein möchte.«

»Im Werk?«

»Unsere Porzellanmanufaktur. Wusstest du das nicht?«

»Doch, schon …« Sie zögerte. »Aber was tust du dort?«

»Arbeiten.«

Victoria krauste kaum merklich die Stirn.

»Constantin ist der Haupterbe, ihm gehört das Werk, offiziell zumindest. Aber solange ich arbeiten kann und möchte, leite ich es. Das mag ungewöhnlich anmuten, aber keiner würde es wagen, mir diesen Anspruch streitig zu machen.«

»Ich verstehe.«

Josefa bezweifelte, dass sie das tat. »Komm, ich zeige dir den Rest des Hauses.«

Eine ganze Weile schwieg Victoria, und dann kam ihr die Frage über die Lippen, die sie offenbar die ganze Zeit beschäftigte. »Und was tue ich hier den ganzen Tag?«

»Dir wird schon etwas einfallen, nicht wahr?«

 

Leonhard von Rothenberg konnte sich an keine Zeit erinnern, in der seine Eltern sich nicht des Geldes wegen gestritten hatten. Man sollte andere Kindheitserinnerungen haben, dachte er, während er an seinem Schreibtisch saß, die Akten eines Mandanten las und dabei hörte, wie seine Mutter und sein Vater sich gegenseitig die Schuld an unbezahlten Rechnungen gaben, indes seine Schwester Alma das alles am Klavier mit Beethovens Neunter untermalte. Die Stimmen schraubten sich hoch, insbesondere Elsa von Rothenberg schaffte es in beeindruckende Höhen, aber auch ihr Mann hielt gut mit. Etwas ging mit lautem Klirren zu Bruch. Verdammt noch mal, wie sollte man da arbeiten?

Leonhard stieß seinen Stuhl so ruckartig zurück, dass er mit einem hässlichen Ton über den Boden schrammte und beinahe hintenüberkippte, dann stürmte er zur Tür, riss diese auf und brüllte: »Ruhe!«

Seine Eltern verstummten.

»Alma!«, rief seine Mutter dann aus dem Salon. »Sei leise, dein Bruder muss arbeiten.«

»Was sagtest du?«, kam es von Alma aus dem großen Salon, wo der Flügel stand, aus einer Zeit, als man dies hier noch einen hochherrschaftlichen Familiensitz genannt hatte.

»Alma ist die Einzige, die hier momentan überhaupt noch einen Laut von sich geben darf!«, schimpfte Leonhard.

»Wie redest du denn mit deinen Eltern?«, empörte sich sein Vater.

»Vor dem Personal!«, fügte seine Mutter hinzu.

Mit Personal meinte sie Ina, die Köchin, die gleichzeitig als Stubenmädchen und Putzfrau fungierte, sowie den Lakai, der gleichzeitig Kammerherr war. Wenn diese bis jetzt noch nicht gemerkt hatten, in welchem Haushalt sie gelandet waren, war ihnen ohnehin nicht mehr zu helfen. Abgesehen davon war die Halle, durch die die Familie sich anbrüllte, leer.

»Wenn hier nicht augenblicklich Ruhe einkehrt«, rief Leonhard, »ziehe ich aus und richte mich woanders ein.« Diese Drohung half immer, denn das Geld, das Leonhard verdiente, rettete die Familie vor dem endgültigen Ruin. Er wartete einen Moment lang, dann setzte Alma ihr Klavierspiel fort – der Flügel musste dringend gestimmt werden –, im Salon jedoch herrschte Stille. Na also.

Leonhard kehrte zurück an seinen Schreibtisch und ging die Unterlagen durch, die sich dort stapelten. An zwei Tagen die Woche bot er eine Rechtsberatung für Frauen an. Nun jedoch wurde es ein wenig heikel, da sich der Mann einer der Frauen, die sich bei ihm Beistand holten, als sein Mandant herausstellte. Ein gut zahlender Mandant. Natürlich wahrte Leonhard über die Anliegen, die ihm vorgetragen wurden, Stillschweigen, aber es war nicht ganz einfach, dem jeweils anderen zu verschweigen, dass er ebenfalls für diesen tätig war. Glücklicherweise gerieten die Angelegenheiten nicht in Konflikt miteinander.

Obwohl es an diesem Tag für März recht warm war, herrschte im Haus eine ständige klamme Kälte, als hielten die Mauern den Winter das ganze Jahr über gefangen. Im Sommer mochte das noch recht angenehm sein, aber schon ab September brauchte man einen warmen Schal in den Räumen, und ab Oktober wurde es bitterkalt. Geheizt wurde sparsam, was bedeutete, die von Rothenbergs bewohnten in den Herbst- und Wintermonaten eigentlich nur den Salon, was der familiären Harmonie nicht unbedingt diente. Nicht einmal Leonhards Arbeitszimmer wurde geheizt, was angesichts dessen, dass er das Heizmaterial bezahlte, an und für sich schon ein starkes Stück war. Aber es war stets dieselbe Diskussion. Warum sollte der Rest der Familie frieren, damit er es in seinem Raum angenehm warm hatte? Tja, warum? Leonhard fielen da auf Anhieb so einige Gründe ein, aber keiner davon war dazu angetan, laut ausgesprochen zu werden.

Sein Vater, Artur von Rothenberg, hatte das gesamte – nicht unerhebliche – Familienvermögen durchgebracht. Irgendwann war ihm aufgegangen, dass die Mittel der von Rothenbergs nicht unerschöpflich waren. Dabei war das simple Mathematik. Wenn man stetig etwas abzog, aber nichts dazurechnete, blieb am Ende nichts übrig. Aber die von Rothenbergs arbeiteten nicht, betonte Artur von Rothenberg stets, das hatten sie nie getan. Ihr Geld arbeitete für sie. Dass es das bereits seit Jahren nicht tat, hätte man merken müssen, spätestens jedoch, als Leonhards Großvater – Gott sei seiner Seele gnädig – gesagt hatte: »Schon wieder Geld auf ein sinkendes Schiff gesetzt.« Was so viel bedeutete, dass die Investition seinerzeit in eine marode Reederei, die sich jedoch euphorisch als neue Handelslinie in die Kolonien angepriesen hatte, gescheitert war.

Nachmittags brachte Alma ihrem Bruder eine Tasse Kaffee, die er mit einem Niesen entgegennahm. Vermutlich hatte er sich in diesem unterkühlten Feuchtbiotop von einem Arbeitszimmer mal wieder erkältet.

»Gesundheit«, sagte Alma und wirkte recht ungerührt, als sie sich ihm gegenüber auf dem Besucherstuhl niederließ.

»War noch was?«, fragte er. »Ich bekomme gleich Besuch von einer Mandantin.«

»Wenn sie kommt, gehe ich«, versprach Alma. Sie hatte sich einen wollenen Schal um die Schultern geschlungen, und Leonhard vermutete, dass der Kaffee nicht gänzlich ohne Gegenleistung gebracht worden war.

»Was gibt es denn?«

»Die Familie von Wallenstein gibt in zwei Wochen eine Soiree.«

»Hmhm. Und?«

»Ich möchte hin, und ich weiß, dass du eine Einladung bekommen hast.«

Er hatte die Tochter der Familie von Wallenstein juristisch beraten und ihr in einer Notsituation geholfen, da ihr Ehemann gegenüber ihr und dem Kind oft handgreiflich wurde. Das und der Name von Rothenberg, der nach wie vor Gewicht hatte, führten dazu, dass er oft Einladungen zu Gesellschaften erhielt. Er nahm gerade ausreichend davon an, um nicht als Eigenbrötler zu gelten, denn das würde ihm die Arbeit als Jurist erschweren. Allerdings schuf sein Verhalten auch eine gewisse geheimnisvolle Aura, und so war er bei nicht wenigen Töchtern aus gutem Haus Gegenstand romantischer Gedanken, die sie ihm mehr oder weniger unverhohlen darlegten.

»Ich weiß noch gar nicht, ob ich gehe.«

»Ach, bitte, Leon.«

Er seufzte, konnte dem Blick jedoch nicht widerstehen. Schon als Kleinkind hatte sie mit ihren samtbraunen Augen jeden um den Finger gewickelt, eine Fähigkeit, die sie zunehmend geschickter einzusetzen wusste. »Also gut«, antwortete er, und sie jubelte.

»Jetzt brauche ich nur noch ein neues Kleid.«

Er hob eine Braue.

»Ach, komm schon, du willst dich doch nicht schämen für mich, oder?«

»Fahr nach Köln zu Tietz.«

»Ich soll von der Stange kaufen?«

»Macht es den Eindruck, als könnten wir einen Schneider bezahlen?«

Sie knabberte an ihrer Unterlippe. »Na gut.«

Der Türgong wurde angeschlagen. »Das ist meine Klientin.«

»Ich bin schon weg.« Sie warf ihm eine Kusshand zu und war zur Tür hinaus.

***

Ihrer Bitte, sie woanders unterzubringen, setzte Victorias Vater ein kategorisches »Nein« entgegen. Im Grunde genommen hätte sie damit rechnen müssen, aber es traf sie dennoch, denn das besiegelte die Verbannung.

Da es jedoch nicht Victorias Charakter entsprach, lange niedergeschlagen zu sein, regten sich Neugierde und ihr abenteuerlustiger Geist, wenngleich gänzlich gegen ihren Willen. Viel lieber wollte sie allen zeigen, dass es ihr hier nicht gefiel, dass sie dem Ganzen nichts, aber auch gar nichts Gutes abgewinnen konnte. Es war ungerecht, dass ihre Cousins ein amouröses Abenteuer nach dem anderen haben konnten, während man sie für ein einziges bestrafte. Und da war sie noch nicht einmal auf ihre Kosten gekommen.

Allerdings fiel es ihr zunehmend schwerer, sich gleichgültig und distanziert zu geben. Großtante Josefas Haus mochte kleiner sein als der pompöse Wohnsitz der Dormbachs, dafür war er allerdings sehr modern. Es gab elektrisches Licht, Victoria hatte zunächst fast ein wenig Furcht gehabt, den Schalter in ihrem Zimmer zu betätigen. Eine faszinierende Art der Beleuchtung, viel heller als das Gaslicht. Außerdem hatte die Villa Arndt einen Telefonanschluss, und das war nun eine wahrhaft beeindruckende Erfindung, bei der man den Gesprächspartner hörte, als stünde er neben einem, obwohl er eine Tagesreise entfernt war. Ihr Vater besaß seit Kurzem selbst einen, und Victoria war aus dem Staunen nicht herausgekommen. Selbst Josefas Automobil rang Victoria Bewunderung ab, wie es glänzend und elegant dastand.

»Meinst du, ich kann das Fahren lernen?«, fragte sie Constantin eines Morgens, als dieser sich zur Arbeit verabschiedete.

»Ich kann es dir beibringen«, schlug Rudolf vor.

»Nein, das mache ich. Ich bin der Ältere«, widersprach Constantin.

»Mit Verlaub«, unterbrach Josefa die beiden. »Keiner von euch wird ihr irgendetwas beibringen. Ich werde es tun. Wenn du es wirklich lernen willst und das nicht nur eine Laune ist.«

Victoria versicherte ihr, dass dem so war, und Josefa nickte nur. Damit war Victoria wieder sich selbst überlassen, denn auch Rudolf, mit dem es sich immerhin recht nett und lustig plaudern ließ, musste mit ins Werk. Sie verbrachte die Tage damit, in der Bibliothek zu sitzen, im Garten spazieren zu gehen und sich in ermüdender Langeweile zu ergehen.

Eines Vormittags wurde ihr bewusst, dass es so nun nicht mehr weitergehen konnte, und sie verließ das Haus – dieses Mal nicht über die Veranda, sondern durch die Vordertür. Sie ging über den Hof die Auffahrt entlang, trat durch das hohe Tor hinaus und stand einen Moment lang ideenlos auf der Straße. Dann marschierte sie einfach los, am ersten Tag noch nahe dem Haus, aber sie vergrößerte den Radius stetig, sodass sie irgendwann an der Rheinpromenade stand.

Langsam schlug sie den Weg am Rhein entlang ein, wo Frauen in eleganten Kleidern flanierten, Männer in dunklen Gehröcken, einige mit Hut und Spazierstock, Kindermädchen mit ihren Schützlingen. Träge wälzte sich der Rhein dahin, Lastkähne ließen das Wasser aufschäumen, schufen Strömungen und kleine Strudel. Ein leichter Wind wehte, und das Wasser am Ufer kräuselte sich in kleinen Wellen. Victoria fröstelte und wünschte, sie hätte sich einen dickeren Mantel angezogen, aber die Sonne und der klare Himmel hatten Wärme an diesem Vorfrühlingstag vorgegaukelt, was sich so nahe dem Wasser als trügerisch herausstellte. Da Victoria aber keine Lust hatte, unverrichteter Dinge zurückzugehen, setzte sie ihren Spaziergang fort, und schon bald sorgte die Bewegung dafür, dass sie die Kälte nicht mehr so sehr spürte.

Im Grunde genommen wunderte es sie, dass ihr Vater sie ausgerechnet zu Josefa geschickt und nicht doch noch weitere Möglichkeiten ausgelotet hatte. Berufstätige Frauen rangierten für ihn auf derselben Stufe wie Kommunisten und Suffragetten. Ausschlaggebend war wohl tatsächlich die Entfernung sowie die Tatsache, dass Josefa als ausreichend streng erachtet wurde, die auf Abwege geratene Tochter wieder auf den richtigen Kurs zu bringen. Als habe Victoria je offen gegen die Gesellschaft rebelliert. Sie war geradezu die Vorzeigetochter gewesen, hatte sich auf ihr Debüt gefreut und die Saison in vollen Zügen genossen – vor allem die Aufmerksamkeit der Männer, die ihr so unverhohlen dargebracht worden war. Letzten Endes hatte ihr Leben jedoch aus einem sehr unbefriedigenden Herumgetändel bestanden, was wohl der Grund dafür gewesen war, sich so freimütig und, ohne zu zögern, auf ein Wagnis einzulassen.

Zwei streitende Männer erregten in diesem Augenblick ihre Aufmerksamkeit, der eine etwas untersetzt, blond und mit einem buschigen Schnurrbart, der andere dunkelhaarig, hochgewachsen und schlank, von einer fast schon lässigen Eleganz. Der Untersetzte ereiferte sich über etwas, das Victoria aus der Entfernung nicht verstehen konnte, aber es wirkte, als sei er kurz davor, auf den anderen loszugehen. Sein Gegenüber hingegen blieb ruhig, gab knappe Antworten und schien seinen Weg fortsetzen zu wollen. Langsam, wie zufällig, schlenderte Victoria näher heran. Endlich ein wenig Abwechslung im eintönigen Allerlei. Elegant gekleidete Menschen, die sich auf offener Straße stritten, hatten schon etwas Faszinierend-Vulgäres, und diesem Potenzial an Klatschgeschichten konnte keiner, der gesellschaftlich etwas auf sich hielt, widerstehen. Wer konnte schon wissen, wo sich die Gelegenheit ergab, dergleichen in Gesellschaftspopularität umzusetzen?

»Es steht Ihnen frei, einen Termin in meiner Kanzlei zu vereinbaren«, sagte der Dunkelhaarige und ließ den Untersetzten stehen.

Der hingegen hatte wohl keineswegs die Absicht, sich einfach so abservieren zu lassen. »Meine Frau ist zu ihren Eltern gezogen. Ihretwegen.«

»Ich habe damit nichts zu tun.«

»Sie haben sie über ihre Rechte aufgeklärt.«

»Was hätte ich denn Ihrer Meinung nach tun sollen?«

»Sie zur Vernunft bringen!«

»Sie war sehr vernünftig, und ich habe sie rechtlich darin bestärkt. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen? Oder möchten Sie sich hier auf offener Straße mit mir prügeln?«

Der Schnurrbart des Untersetzten zitterte. »Das wird ein Nachspiel haben!« Die Schärfe in seiner Stimme, die die Drohung begleiten sollte, zerfiel noch beim Reden. Mit einem letzten bösen Blick wandte er sich ab und ging mit ausgreifenden Schritten davon.

Der Dunkelhaarige machte nun seinerseits Anstalten, weiterzugehen, als er Victoria bemerkte, die eilig so tat, als sei sie mit einem Band an ihrem Kleid beschäftigt. Als sie vorsichtig den Blick hob, sah sie sein spöttisches Lächeln, dann zwinkerte er ihr zu und setzte seinen Weg fort. Victoria blieb stehen und sah ihm nach, stirnrunzelnd, irritiert. Ein Mann, der für Frauenrechte stritt, rangierte für ihren Vater vermutlich gleichauf mit Suffragetten. Vielleicht sogar ein wenig schlimmer, denn er betrieb Verrat am eigenen Geschlecht.

 

»Sehr hübsch«, sagte Leonhard, als Alma ihm ihr neues Kleid präsentierte. Preislich war es auch noch im Rahmen dessen, was er sich leisten konnte, was wohl daran lag, dass man im Hause Tietz beim Namen »von Rothenberg« bereits wusste, in welchem Rahmen man sich zu bewegen hatte. Anschreiben ließ Leonhard ebenfalls nie, da er dem Personal die Peinlichkeit ersparen wollte, ihm sich windend zu erklären, dass man für dergleichen Summen gewisse finanzielle Sicherheiten bräuchte. Und nun ja …

»Ich war mir nicht sicher, ob mir die Farbe steht.«

Tatsächlich sah sie entzückend aus in dem smaragdgrünen Kleid, das wunderbar mit ihrem dunklen Haar harmonierte.

»Du weißt selbst, dass du hinreißend aussiehst.« Leonhard fand, dass ein Kompliment reichte, er mochte es nicht beständig wiederholen.

»Ach, du hast leicht reden. Ihr Männer zieht euch einen Smoking an und seht perfekt aus. Aber bei uns Frauen wird sehr genau darauf geachtet, was wir tragen.«

Leonhard warf einen Blick in den Salon, wo seine Eltern saßen, sein Vater mit einem Buch, seine Mutter mit einer Stickarbeit. Er hatte sie gefragt, ob sie ihn begleiten wollten, aber sie hatten beide abgewinkt. »Du weißt, dass ich Heidrun von Wallenstein nicht mag«, hatte seine Mutter erklärt, was auch seinem Vater Grund genug sein musste, sich von dieser Zerstreuung fernzuhalten.

»Bis später«, verabschiedete er sich, dann reichte er seiner Schwester galant den Arm und verließ mit ihr das Haus. Da seine Mittel es nicht erlaubten, einen eigenen Wagen zu kaufen, hatte er für diesen Abend eine Mietkutsche bestellt. Es mochte etliche Einschränkungen geben, aber Leonhard würde gewiss nicht zu Fuß zu einer Soiree gehen, gleich, ob die Kosten für einen Abend sich somit auf das beliefen, was er sonst für eine Woche veranschlagte. Aber er war einer der wenigen Anwälte, die von sehr gutbetuchten Frauen aufgesucht wurden, und diesen Umstand wollte er beibehalten, denn das bot ihm die Möglichkeit, Frauen aus ärmeren Familien kostenlos zu beraten. Die Rechtsberatung für Frauen lief neben seiner normalen Tätigkeit als Anwalt, mit der er seinen Lebensunterhalt finanzierte.

Einmal die Woche arbeitete er zudem in einem Rechtsschutzverein, wo man Frauen in rechtlichen Notlagen beistand. Nach seinem Dafürhalten war das alles zwar gut und schön, aber letzten Endes waren es wieder einmal nur die Männer, an die sich Frauen in delikaten Angelegenheiten wenden konnten, denn Frauen war das Jurastudium verwehrt. Allerdings munkelte man, dass sich das ab diesem Jahr ändern würde.

Das Haus der von Wallensteins war ein herrschaftliches Anwesen, zu dem von der Straße aus eine kurze Allee führte. Auf dem Hof standen bereits Kutschen und Automobile, denen Gäste in Abendgarderobe entstiegen. Kutscher und Chauffeure hatten sich in der Remise eingefunden, plauderten und bekamen aus der Küche heiße Getränke serviert, denn zum Abend hin war es immer noch sehr kalt.

Leonhard bemerkte die besorgten Blicke, mit denen Alma ihr Kleid musterte. »Du siehst hinreißend aus«, beruhigte er sie. Sie sah ihn an, lächelte und straffte sich kaum merklich. Der Kutscher öffnete den Schlag, und Leonhard stieg aus, ehe er seiner Schwester hinaushalf. »Also, auf in den Jahrmarkt der Eitelkeiten«, scherzte er.

Ein Dienstbote war an diesem Tag als Portier an der Tür abgestellt worden und ließ sie ein, nachdem Leonhard seine Einladung vorgezeigt hatte. Sie betraten eine sehr großzügige Eingangshalle, wo Frau von Wallenstein zusammen mit ihrem Mann stand und die Gäste begrüßte.

»Ich habe mich sehr über Ihre Zusage gefreut«, sagte sie, ehe ihr Mann Leonhard mit Handschlag begrüßte. »Und wie schön, dass Sie Ihre reizende Schwester mitgebracht haben. Meine Liebe, Sie werden sicher schon vor Ihrer ersten Saison Eroberungen machen.«

Alma lächelte und wurde tatsächlich rot, was Leonhard mit einem amüsierten Zucken um die Mundwinkel zur Kenntnis nahm. Er reichte ihr den Arm und ging mit ihr zu dem großen Salon, der zum Tanzsaal umfunktioniert worden war. Flügeltüren führten in einen angrenzenden kleineren Salon, wo sich das Büfett befand, außerdem gab es noch einen Wintergarten mit Clubsesseln, umgeben von Farnen und üppig wuchernden Grünpflanzen, die der Atmosphäre den trügerischen Anstrich von intimer Abgeschiedenheit verliehen.

Leonhard wusste, dass von ihm erwartet wurde, eine Frau mit großzügiger Mitgift an Land zu ziehen. Dass er derzeit keineswegs zu heiraten beabsichtigte, war ein Umstand, den seine Mutter geflissentlich ignorierte. Alma hingegen hatte keine nennenswerte Mitgift zu bieten, sie musste durch Charme und Schönheit brillieren. Nun, damit konnte sie durchaus aufwarten. Ebenso mit einem Namen, der immer noch etwas wert war.

Das Orchester, das für diesen Abend bestellt worden war, hatte eine leise Hintergrundmusik angestimmt, noch war der Tanz von den Gastgebern nicht eröffnet worden. Kristalllüster ließen den Parkettboden honigbraun schimmern, warmes Licht brach sich in Edelsteinen, die an den Hälsen, Ohrläppchen und Armen der Frauen glänzten. Ein Gewirr von Stimmen war zu hören, durch das dann und wann ein Lachen schwappte. Alma sah sich um, lächelte, und Leonhard bemerkte, dass erste Blicke der Gäste an ihr hängen blieben, ebenso, dass sich in das Lächeln seiner Schwester nun eine gewisse Gefallsucht schlich.

»Ich behalte dich im Auge, meine Liebe«, ließ er sie wissen.

»Um was wetten wir, dass du von uns beiden als Erster auf Abwege gerätst?« Sie löste die Hand aus seiner Armbeuge, verengte in einer spöttisch anmutenden Geste kurz die Augen, dann tauchte sie in der Menge unter.

 

Diese Soiree, das musste Victoria einräumen, konnte mit den Veranstaltungen, die sie mit ihren Eltern besucht hatte, durchaus mithalten. Als Josefa ihr eröffnet hatte, dass sie ausgehen würden, hatte Victoria vor Freude kaum an sich halten können. Endlich gab es Abwechslung und die Möglichkeit, unter Leute zu kommen. Zudem tanzte Victoria gern und hatte bereits die Befürchtung gehegt, dass ein Teil ihrer Verbannung darin bestehen würde, sich der Gesellschaft fernzuhalten. Glücklicherweise schien Josefa gar nicht auf die Idee gekommen zu sein, so an ihr zu handeln.

»Die von Wallensteins sind eine angesehene Familie«, erklärte sie. »Außerdem sind sie sehr kunstbegeistert und richten einmal die Woche einen Künstlersalon aus.«

Bei diesen Worten konnte Victoria ihren Vater förmlich hören. »Bohemiens!« Er würde es vielleicht eine Spur weniger verächtlich sagen als »Kommunisten«, denn er schätzte die Kunst grundsätzlich und konnte sich für klassische Literatur und Kunstwerke begeistern, nur der Moderne konnte er nichts abgewinnen. Als sei es nicht immer schon so gewesen, dass jede Generation ihre eigene Kunst schuf und als seien die Klassiker zu ihrer Zeit nicht auch moderne Kunst gewesen.

Nachdem sie die Gastgeber begrüßt hatte, ging sie mit Josefa, Constantin und Rudolf in den Tanzsaal. Hier war sie in ihrem Element, und obwohl die Tanzmusik noch nicht aufgespielt hatte, reichte der Anblick der Kapelle und des glänzenden Parketts, dass es in ihren Füßen kribbelte. Oh, wie sehr sie das vermisst hatte. Nach jenem Eklat kurz nach Neujahr hatte man sie aus allen Ballsälen verbannt und daheim versteckt gehalten.

Ob man hier von der Sache gehört hatte? Gesellschaftlicher Tratsch verbreitete sich schnell. Andererseits waren die Dormbachs über München hinaus wohl nicht bedeutend genug, dass sich der Fall der einzigen Tochter gleich über das gesamte Deutsche Reich verbreitete. Allerdings galten die Arndts hier etwas, jene Familie, die es mit Porzellan zu immensem Reichtum gebracht hatte. Und über kurz oder lang würde man erfahren, was es mit dem Schützling Josefas auf sich hatte. Die Gesellschaft war verzweigt, und irgendwer kannte immer irgendwen, der dann wiederum jemanden kannte – bis man letzten Endes bei den Dormbachs in München angelangt war. »Da war doch dieser Skandal …« Und ab da gäbe es kein Halten mehr. Aber noch war es nicht so weit, und solange wollte Victoria die Zeit genießen.

Josefa ging nun durch den Tanzsaal zu einigen Freundinnen, Damen mittleren Alters, und stellte Victoria als ihre Großnichte aus München vor. Die Gesichter der Damen zeigten nichts als Entzücken, was Victoria bewies, dass in der Tat noch kein Flüstern über sie laut geworden war. Sie wechselte ein paar höfliche Worte, dann ging es weiter zu einem jungen Ehepaar, das mit Josefas Sohn Constantin gut bekannt war. Namen wurden genannt, die Victoria sich in Zusammenhang mit den Gesichtern rasch einzuprägen versuchte, ehe ihr die nächsten Freunde und Bekannten vorgestellt wurden. In München hatte sie zu ihrer ersten Saison bereits viele Familien gekannt, hatte sich von Kindesbeinen an in der Gesellschaft bewegt. Hier jedoch waren es alles Fremde.

Als die Gastgeber endlich den Ball eröffneten, atmete Victoria auf. Das hier war ein Gebiet, auf dem sie sich auskannte, und Rudolf war so reizend, sie zum ersten Tanz aufzufordern. Hernach löste ihn Constantin ab, danach ein junger Mann, der sich mit »Tobias Imhoff, Leutnant der preußischen Garde« vorstellte und den ganzen Tanz lang nur über sich sprach. Der nächste Tanz ging an einen Mann, der zwar wirklich attraktiv war, aber beim Tanzen über seine eigenen Füße stolperte. Der Leutnant hatte wenigstens tanzen können. Victoria jedoch lächelte fortwährend, denn auch mit schlechten Tänzern wusste sie umzugehen. Die Kunst bestand stets darin, den anderen nicht bloßzustellen, und so fing sie geschickt jeden verpatzten Takt ab. Danach war ihr allerdings erst einmal nach einer Erfrischung, und sie ging in den angrenzenden Salon, um sich eine Kaltschale vom Büfett zu nehmen.

Im kleinen Salon standen die Gäste in Gruppen beisammen, plauderten, lachten. Während Victoria das sämige Fruchtdessert löffelte, betrachtete sie die Leute, bemerkte versteckte Eitelkeiten, offen dargebrachte Antipathie, Blicke zu Damen, die schon vergeben waren und neben ihren Männern standen, das Lächeln eine Maske über blasierter Langeweile. Andere wiederum kokettierten miteinander, junge Paare, die sich hier gerade neu fanden oder aber die Gelegenheit zur überaus willkommenen Zusammenkunft nutzten. Victoria seufzte und stellte die leere Schale auf einem Tablett ab. So unglaublich fern schien ihr das alles auf einmal, diese Unbefangenheit, die von keinem Skandal überschattet wurde.

Ein Mann fiel ihr ins Auge, der die Szene ebenso beobachtete wie sie, wobei sich auf seinen Zügen ein Anflug zynischer Belustigung spiegelte. Im nächsten Moment wusste Victoria, warum er ihr so bekannt vorkam. Es war der Mann von der Rheinpromenade, der Frauenrechtler. Sie beobachtete ihn, fragte sich, ob er von der Gesellschaft geschnitten wurde oder ob er sich freiwillig für den Moment des Alleinseins entschied. Unvermittelt, als habe er ihre Blicke gespürt, drehte er den Kopf und sah ihr einen kurzen Moment lang in die Augen, ehe Victoria sich rasch abwandte, es wirken ließ, als wären ihre Blicke durch den Raum geschweift. Als sie das nächste Mal wie zufällig in seine Richtung blickte, bemerkte sie, dass der Mann auf sie zukam, und sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Sie langte hinter sich, wollte nach einem Glas greifen, stieß dabei jedoch zwei weitere Gläser um, was die Dame neben ihr erschrocken aufschreien ließ. Victorias eigenes Kleid in pastellblassem Rosa hatte nichts abbekommen, dafür prangten auf dem cremeweißen Kleid der Dame Rotweinspritzer.

»Es tut mir furchtbar leid«, versicherte Victoria, und nun brannten ihr die Wangen wahrhaftig.

»Wenn Sie mir den Hinweis erlauben«, sagte der Mann, der nun bei ihnen angelangt war. »Natron soll helfen. Vielleicht hat man in der Küche etwas vorrätig.«

»Danke, Herr von Rothenberg«, antwortete die Dame und warf Victoria einen giftigen Blick zu. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.«

»Frau von Wallensteins Zofe kann sicher helfen«, kam es von einer anderen jungen Frau.

»So ein Missgeschick«, fügte eine weitere hinzu.

»Es war sicher keine Absicht«, sagte eine Ältere und lächelte Victoria wohlwollend an.

Die hingegen konnte nur mehrmals versichern, dass es ihr furchtbar leidtat, und war froh, als die Frau mit einem Tross an Begleiterinnen den Salon verließ und das Zeugnis des peinlichen Missgeschicks gleich mit ihr, indes einer der Dienstboten den verschütteten Rotwein aufwischte.

Mit einem tiefen Seufzer stieß Victoria den Atem aus und hielt im nächsten Moment ein Glas in der Hand, das ihr der Fremde gereicht hatte.

»Ich nehme an, das war es, wonach Sie gegriffen haben, während Sie Ihre Blicke nicht von mir lösen konnten.«

Wieder stieg ihr Hitze ins Gesicht, dieses Mal jedoch vor Ärger. »Ich habe lediglich überlegt, woher wir uns kennen«, antwortete sie, wobei ihr die Selbstsicherheit auf den Lippen zerbrach.

»Wir sind uns heute Vormittag begegnet.«

»Ja, mittlerweile bin ich auch darauf gekommen. Frauenrechtler, die lautstark in der Öffentlichkeit streiten, sind sehr einprägsam.«

Jetzt sah er sie einen Moment lang erstaunt an, dann lachte er. »Frauenrechtler? Lassen Sie das nicht meinen Vater hören. Damit wäre ich praktisch dasselbe wie eine Suffragette.«

Sie taxierte ihn, dann antwortete sie trocken: »Nun, zumindest unsere Väter würden sich mögen.«

»Das ist ja schon mal ein vielversprechender Anfang.«

Schweigend hob sie die Brauen.

»Tanzen Sie mit mir?«, fragte er.

Mit einem kaum merklichen Lächeln stellte sie ihr halbvolles Glas ab. »Aber unbedingt.«

Er reichte ihr den Arm und führte sie in den angrenzenden Saal. »Ich habe mich nicht vorgestellt. Mein Name ist Leonhard von Rothenberg.«

»Victoria Dormbach.«

»Sie sind nicht von hier?«

»Nein. Ist das offensichtlich?«

»Eine Familie Dormbach ist mir hier aus der Region nicht bekannt. Außerdem haben Sie einen leichten süddeutschen Akzent.«

Sie beließ es bei einem hintergründigen Lächeln. Lieber nicht zu früh die Karten offenlegen, er würde schon früh genug darauf kommen. Victoria Dormbach aus München. Ach, die Dormbachs? Die mit dem Skandal? Die entehrte Tochter? Und dann würde man über sie reden, als tauge sie allenfalls als Bettgespielin.

»Habe ich Sie verärgert?«

Sie zauberte das Lächeln erneut auf ihre Lippen. »Ganz und gar nicht.« Entschlossen schob sie jeden düsteren Gedanken von sich und genoss den Tanz, denn mehr als einer durfte es nicht sein, wollte sie nicht auf ihrer ersten Soiree ins Gerede kommen. Bedauerlich, denn Leonhard von Rothenberg konnte wirklich tanzen. Viel zu schnell war es vorbei, und er führte sie von der Tanzfläche.

»Nun, dann auf bald, hoffe ich«, verabschiedete er sich.

»Auf bald«, erwiderte Victoria. Auf sehr bald, hoffte sie im Stillen.

Josefa gesellte sich zu ihr. »Meine Liebe, ich freue mich, wenn du deine Zeit hier genießt, und ich gönne dir wahrhaftig jede Eroberung, solange du dich im Rahmen dessen bewegst, was sich gehört. Diesen Mitgiftjäger allerdings werde ich dir nicht erlauben.«

2

April 1908

Ich finde ja schlechte Gewinner noch schlimmer als schlechte Verlierer«, bemerkte Leonhard.

Alma legte die verschränkten Arme auf den Schreibtisch und ahmte einen schmelzenden Blick nach. »So hat sie dich angesehen.« Sie grinste. »Ich habe doch gesagt, du gerätst als Erster auf Abwege.«

Er antwortete nicht, sondern hob nur die Brauen.

»Das heißt, ich habe die Wette gewonnen. Keine Sorge, du kommst einigermaßen günstig davon.«

»Was du nicht sagst.«

»Du hättest Mamas Gesicht sehen sollen, als Wilma von Teltz ihr haarklein erzählt hat, wie du Josefa Arndts gefallene Großnichte umworben hast.«

»Ich habe mit ihr getanzt, das ist etwas anderes als umwerben.«

Diese Feinheiten waren Alma nur ein knappes Wedeln mit der Hand wert. »Also, was ist?«

»Ich gehe mit dir Eis essen.«

»Das ist alles?«

»Was hättest du mir denn als Gewinn gegeben, wenn ich dich auf Abwegen erwischt hätte?«

»Ach, Leonhard, wir wissen beide, dass du mir in dem Fall eine solche Standpauke gehalten hättest, dass ich dich dafür nicht auch noch mit einem Gewinn hätte belohnen können.«

Wieder hob er die Brauen.

»Also gut, dann gehen wir eben Eis essen.« Sie seufzte, als habe sie ihm diese Zusage mühsam abgerungen. »Soll ich dich jetzt allein lassen?«

»Wenn du so freundlich wärst. Ich erwarte jeden Moment einen Mandanten.«

Nachdem seine Schwester gegangen war, vergewisserte Leonhard sich, dass die richtige Akte vor ihm auf dem Tisch lag, dann wanderte sein Blick aus dem Fenster hinaus in den blühenden Garten. Josefa Arndts gefallene Großnichte. Leonhard hatte mittlerweile von zu vielen Schicksalen junger Frauen durch gerichtliche Akten erfahren, als dass er ein solches Urteil nicht mit Vorsicht genießen würde. Was genau sie sich hatte zuschulden kommen lassen, wusste er nicht, und im Grunde genommen wollte er es auch nicht wissen, denn im Gegenzug zu dem, was seine Schwester vermutete, interessierte ihn Victoria Dormbach nicht im Geringsten. Nun, zumindest nicht auf romantische Art. Er hatte nicht all die Jahre – den Bemühungen seiner Mutter zum Trotz – an seinem Junggesellentum festgehalten, um sich dann doch in den Fängen einer Ehe wiederzufinden.

Das Eintreffen seines Mandanten hielt ihn von weiteren Überlegungen bezüglich Victoria Dormbach ab. Die Angelegenheit des Mannes – Walter Gromsch – schien auf den ersten Blick nur eine Banalität zu sein, stellte sich aber doch als recht diffizil heraus.

»Angenehm kühl ist es hier«, sagte Herr Gromsch.

Ja, so konnte man es natürlich nennen. Leonhard nahm die wärmende Hülle von der Teekanne und goss erst seinem Gast, dann sich selbst Tee ein. »Sahne? Zucker?«

»Beides bitte.«

Nachdem sein Gast versorgt war, schlug Leonhard die Mappe auf. Die Sache hatte damit begonnen, dass eine Frau bei ihm, Leonhard, mit der Behauptung aufgetaucht war, man habe sie fälschlicherweise des Diebstahls bezichtigt. Dies hatte sich als wahr herausgestellt, und die Arbeitskollegin, die ihr den Diebstahl untergeschoben hatte, war überführt worden, als sie sich in Widersprüche verstrickte. Allerdings war durch diese Angelegenheit herausgekommen, dass die Frau ohne die Einwilligung ihres Mannes arbeitete, und der ging nun gegen den Arbeitgeber vor, der die Frau eingestellt hatte. Die Frau wiederum hatte versucht, ihren rechtlichen Rahmen auszuschöpfen, um die Arbeit zu behalten. Aber wie sagte Paragraph 1354 aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch: Dem Manne steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu. Diesbezüglich gab es also wenig Spielraum. Leonhard konnte der Frau nicht helfen – zu seinem großen Bedauern, denn jetzt hatte er es zudem mit ihrem wütenden Ehemann zu tun.

»Ich habe mit dem Anwalt der Gegenseite gesprochen«, sagte er nun. »Man ist bereit, Ihnen die Hälfte der Summe, die Ihre Frau erarbeitet hat, zu bezahlen, wenn Sie dafür im Gegenzug die Klage fallen lassen.«

Walter Gromsch verschränkte die Arme vor der Brust. »Das werde ich nicht. Wo soll das enden, wenn die Leute denken, sie könnten verheiratete Frauen ohne Einwilligung ihrer Männer beschäftigen? Frauen, die hingehen und ohne das Wissen ihrer Männer Geld anhäufen, mit dem sie dann was eigentlich zu tun gedenken? Die Kinder nehmen und davonlaufen?«

Möglicherweise wollen sie auch einfach nicht um jede Kleinigkeit, die sie sich gönnen, feilschen müssen, dachte Leonhard. »Die Anzahl an Frauen, die dergleichen tun, erscheint mir recht überschaubar«, sagte er. »Ich würde Ihnen raten, das Angebot anzunehmen. Es bringt niemandem etwas, wenn Sie diesen Mann nun ruinieren.«

Störrisch lehnte sich Walter Gromsch zurück und zog die Brauen zusammen. »Mit mir nicht, mein Freund.«

Leonhard neigte nicht zur Gewalt, aber jetzt hatte er den dringenden Wunsch, den Mann zu schlagen. »Ich befürchte, in diesem Fall kann ich das Anliegen nicht weiter vertreten. Ich würde Sie gerne an einen befreundeten Anwalt weitergeben.«

»Wie bitte?«

»Ich befürchte, ich bin aufgrund der Vorgeschichte des Falls zu befangen. Wenn Sie die bestmögliche Betreuung in der Sache wünschen, würde ich Ihnen empfehlen, meinen Freund aufzusuchen.« Mit einem gewinnenden Lächeln reichte Leonhard ihm die Visitenkarte. »Ich überstelle ihm die Unterlagen und setze ihn ins Bild.«

»Ja, aber …« Walter Gromschs Ausdruck kindischer Bockigkeit wich Verwirrung. »Hm, dann …«

Leonhard gab ihm keine Zeit, sich weiterhin in eloquentem Widerspruch zu ergehen. »Ich kann ihn direkt anrufen, wenn Sie möchten.« Er deutete auf das Telefon.

»Hm, ja, also wenn Sie meinen, dass das das Beste ist …« Walter Gromsch nippte an seinem Tee, schaufelte Zucker nach und nippte erneut daran, dieses Mal mit einer etwas gefälligeren Miene.

Leonhard nahm die Hörmuschel des Telefons zur Hand und ließ sich mit der Kanzlei Windeck und Partner verbinden. Sein Freund, Raidar Windeck, ließ sich rasch ins Bild setzen und sagte, ihm zuliebe würde er den Mann in seinen gut gefüllten Terminkalender quetschen. »Sie können direkt hinfahren«, sagte Leonhard, nachdem er aufgelegt hatte, und reichte ihm die Aktenmappe.

»Und die Adresse?«

Leonhard lächelte. »Steht auf der Karte.«

»Gut, dann mache ich mich auf den Weg.« Walter Gromsch erhob sich und war kaum zur Tür raus, als Leonhard sich daranmachte, ihm die gesamte Beratung seiner Frau und auch die Stunden, die er für ihn aufgewendet hatte, großzügig in Rechnung zu stellen. Wenn seine Frau nicht arbeiten durfte, konnte dieser Kerl ja wohl auch nicht verlangen, dass sie ihre Rechnung selbst bezahlte.

 

Victoria saß beim Frühstück, als Josefa Arndt verkündete, mit dem Müßiggang sei nun Schluss. Zunächst blickte sie nicht einmal auf, dachte, Josefa spreche mit ihren Söhnen. Erst als ihre Großtante sich mehrfach räusperte, wurde ihr bewusst, dass sie, Victoria, die Angesprochene war. Sie blickte auf, stirnrunzelnd, verständnislos. Von welchem Müßiggang sprach ihre Tante da bloß? Victoria tat genau das, was sie daheim immer schon getan hatte, nur mit der Einschränkung, dass es hier weniger Möglichkeiten der Zerstreuung gab.

»Du wirst nicht weiterhin einfach nur in den Tag hineinleben«, erklärte Josefa. »Zeit zum Eingewöhnen hattest du nun ausreichend, es wird Zeit, sich sinnvoll zu betätigen.«

»Ich habe Mutter gesagt, es sei zu hart, dich die Töpfe schrubben zu lassen«, erklärte Rudolf. »Aber sie hat mich kaum zu Wort kommen lassen.«

Victoria starrte ihn entsetzt an.

»Lass den Unsinn«, sagte Constantin zu seinem Bruder und fuhr an Victoria gewandt fort: »Natürlich schickt dich kein Mensch in die Küche.«

»Na, unsere Köchin würde sich bedanken«, fügte Josefa trocken hinzu. »Eine unfähigere Küchenmagd hätte sie wohl auch nie zuvor gehabt.«

Dass man sie nicht einmal für fähig hielt, als Küchenmagd zu arbeiten, gefiel Victoria nicht, aber sie konnte nun auch nicht gut widersprechen und behaupten, sie tauge durchaus zur Magd.

»Ich nehme dich heute mit ins Werk«, sagte Josefa.

Diese Aussicht erschien Victoria kaum erbaulicher als die Arbeit in der Küche. Vermutlich war es in einer Fabrik – und nichts anderes konnte dieses Werk sein, immerhin wurde dort etwas hergestellt – derart dreckig und laut, dass die Küche beinahe vorzuziehen war. Victoria spürte einen Klumpen in ihrem Hals, der stetig anwuchs, während sie an ihrem Toast würgte und mit Tee nachspülte. Sie wollte heim, wollte es so unbedingt, dass es kaum auszuhalten war.

»Wenn du jetzt heulst, lasse ich dich sämtliche Böden in diesem Haus auf Knien schrubben«, sagte Josefa. Rudolf lachte, und das aufkeimende Melodram zerbrach in Stücke.

Victoria stellte ihre Tasse ab und hob den Blick. Dann ging sie eben mit in dieses Werk. Niemand konnte sie jedoch dazu zwingen, in einer Fabrik zu arbeiten, gar mit all den niedrigen Arbeiterinnen. Was sollte Josefa schon tun, wenn sie sich weigerte? Sie vor die Tür setzen? Na, das wäre doch bestens, dann könnte sie wenigstens heim.

Nach dem Frühstück ging Victoria in ihr Zimmer, um einen Hut aufzusetzen – ein kunstvolles, mit Blumen verziertes Gebilde –, der hervorragend zu ihrem Kleid aus blassrosa Seide passte. Sie zog einen Mantel und Handschuhe an, dann ging sie in die Halle, wo Josefa bereits wartete. Ihr Blick streifte Victorias zu städtischen Vergnügungen entworfene Aufmachung, und eine Andeutung von Überdruss zeichnete sich auf ihren Zügen ab. Mit leicht geschürzten Lippen erwiderte Victoria ihren Blick.

Rudolf lächelte anerkennend und reichte ihr seinen Arm. »Wenn ich dich zum Wagen begleiten darf, Prinzessin?«

»Setz ihr keine Rosinen in den Kopf«, sagte Josefa. »Prinzessinnen können wir hier nicht gebrauchen.«

Rudolf hielt ihr die Tür des Wagens auf und nahm hernach vorne neben seiner Mutter Platz.

»Fährt Constantin nicht mit?«, fragte Victoria.

»Der muss erst noch zur Bank und nimmt seinen eigenen Wagen«, erklärte Rudolf, der sich so hingesetzt hatte, dass er die hinter Josefa sitzende Victoria ansehen konnte und ihr auf diese Weise die Zeit während der Fahrt mit Geplauder vertrieb.

Die Porzellanmanufaktur war ein großer, fabrikartiger Backsteinbau, der U-förmig um einen Hof herum angelegt worden war. Victoria stieg aus dem Wagen, legte den Kopf zurück, und beim Anblick der hohen Schornsteine, aus denen Rauch quoll, sank ihr der Mut. Man wollte, dass sie in einer Fabrik ihr Dasein fristete. Als sie den Blick wieder senkte, bemerkte sie, dass Josefa sie prüfend taxierte, und sie blinzelte. Bloß nicht weinen.

»Komm«, sagte Rudolf und reichte ihr den Arm. »Am ersten Tag ist es noch schlimm, so nah bei den Öfen, aber mit der Zeit gewöhnst du dich daran. Und unter dem Ruß fällt der braune Teint dann nicht mehr auf.«

Victoria schnappte nach Luft, und seine Mutter verpasste ihm einen derben Klaps auf den Hinterkopf. »Lass den Blödsinn.« Entschieden schritt sie voran. Der Wachhabende am Eingang grüßte höflich, als sie durch das breite, zweiflüglige Tor schritten. Die Eingangshalle war mit Marmor ausgelegt, und in Schauvitrinen war ausgesuchtes Porzellan ausgestellt. Eine breite Treppe führte nach oben auf eine Galerie.

Erstaunt blickte Victoria sich um, dann ging sie zögernd zu einem der Schaukästen und sah sich das Gedeck aus hauchdünnem Porzellan an, das mit filigranen Blüten bemalt war. In dem Kasten daneben stand eine Kaffeekanne mit Motiven aus Blattgold. Victoria ging weiter und sah sich ein Teegedeck an, dessen bauchige Kanne mit chinesisch anmutenden Motiven verziert war.

»Victoria.« Josefa winkte sie zu sich. »Komm, ich zeige dir erst einmal mein Bureau, danach gehen wir in die Herstellung.«

Sie gingen die breite Treppe hoch zur Galerie, wo sich offenbar die Bureauräume befanden. Rudolf verabschiedete sich und ging in die entgegengesetzte Richtung.

»Was arbeitet er hier?«, fragte Victoria.

»Er macht die Buchhaltung und beaufsichtigt die Kontoristen«, antwortete Josefa. Sie stieß die Tür zu einem großen, lichtdurchfluteten Raum auf, der sehr zweckmäßig und gleichzeitig doch recht hübsch eingerichtet war mit einem großen Schreibtisch, hinter dem ein lederbezogener Sessel stand. Die Besucherstühle davor waren aus Wurzelholz, ebenso wie der Schreibtisch. Eine Wand war bedeckt mit einem Regal, in dem sich Bücher und Porzellan offenbar gegenseitig den Platz streitig machten. Victoria ging hin, um die Titel zu lesen, aber es war keinerlei schöngeistige Literatur darunter, sondern ausschließlich Werke, die von Porzellan und Wirtschaft handelten. Wie langweilig. Victoria seufzte und ging weiter. Es gab vier gemütlich aussehende Sessel, die sich um einen niedrigen Tisch gruppierten. Ein großes Bild vom Rhein, der sich zwischen bewaldeten Hügeln wand, hing hinter dem Schreibtisch. Schön waren die hohen Fenster, die jedoch nur einen recht tristen Blick auf die Straße boten.

»So«, sagte Josefa. »Dann wollen wir mal sehen, was wir mit dir machen.«

»Muss ich in die Herstellung?«, fragte Victoria vorsichtig.

»Gewiss nicht, du würdest nur jedem im Weg stehen. Nein, ich denke, ich weiß schon, wo ich dich unterbringe.« Sie ging an Victoria vorbei zur Tür, öffnete sie und verließ den Raum. Victoria folgte ihr hinaus auf die Galerie, und sie gingen an einer Reihe Türen vorbei, bis sie am Ende der Galerie einen Raum betraten, in dem – überwiegend junge – Frauen an Tischen saßen und schrieben. Sie blickten auf.

»Guten Morgen, meine Damen«, sagte Josefa. »Lassen Sie sich bitte nicht stören.«

Die Köpfe senkten sich wieder, und die Frauen schrieben weiter.

»Du kannst Mantel und Hut hier ablegen«, sagte Josefa und deutete auf eine Garderobe, an der einfache Mäntel und Hüte hingen, zwischen denen Victorias Kleidungsstücke wirkten wie eine überkandidelte Dame auf einem Bettelbasar. Zögernd ging Victoria zu einem leeren Tisch, den ihr Josefa zuwies.

»Wenn deine Erziehung ein Gutes hatte, dann wohl deine schöne Handschrift. In dem Pult findest du Blätter und Stifte, und hier sind die Unterlagen zum Kopieren.« Josefa ging zu einem Tisch, auf dem sich Papiere stapelten, nahm einen kleinen Stapel und legte ihn auf Victorias Tisch. »Es darf nichts durcheinandergebracht werden. Achte darauf, dass du sorgsam kopierst und die Nummerierung nicht vergisst.«

Diese Aufgabe schien Victoria nicht so furchtbar schwer zu bewältigen, und so nickte sie nur.

»Pause ist um ein Uhr, also in dreieinhalb Stunden. Danach geht es ab zwei weiter bis sechs Uhr.«

Nun kam Victorias Nicken zögerlicher.