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Volker Reinhardt

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Beschreibung

Die Borgia sind die unheimlichste, schrecklichste und auf jeden Fall umstrittenste Familie der italienischen Renaissance. Alexander VI. Borgia gilt vielen als Inbegriff eines korrupten und verweltlichten Papsttums. Seinen Sohn Cesare Borgia feierte Machiavelli als skrupellosen Machtpolitiker, und seine Tochter Lucrezia Borgia ist als männermordende Schönheit in die Geschichte eingegangen. Volker Reinhardt erzählt anschaulich die Entwicklung der Borgia von ihren Anfängen in Spanien über den ebenso glanzvollen wie rücksichtslosen Aufstieg zum Papsttum bis zum Zusammenbruch ihrer Macht. Er geht den Gerüchten über Orgien im Vatikan und geheime Giftmorde nach, prüft erneut die widersprüchlichen Quellen und macht deutlich, was wir über die berüchtigte Familie heute wissen

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Volker Reinhardt

DIE BORGIA

Geschichte einer unheimlichen Familie

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Die Borgia sind die unheimlichste, schrecklichste und auf jeden Fall umstrittenste Familie der italienischen Renaissance. Alexander VI. Borgia gilt vielen als Inbegriff eines korrupten und verweltlichten Papsttums. Seinen Sohn Cesare Borgia feierte Machiavelli als skrupellosen Machtpolitiker, und seine Tochter Lucrezia Borgia ist als männermordende Schönheit in die Geschichte eingegangen. Volker Reinhardt erzählt anschaulich die Entwicklung der Borgia von ihren Anfängen in Spanien über den ebenso glanzvollen wie rücksichtslosen Aufstieg zum Papsttum bis zum Zusammenbruch ihrer Macht. Er geht den Gerüchten über Orgien im Vatikan und geheime Giftmorde nach, prüft erneut die widersprüchlichen Quellen und macht deutlich, was wir über die berüchtigte Familie heute wissen.

Über den Autor

Volker Reinhardt, geb.1954, ist Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Die Macht der Schönheit. Kulturgeschichte Italiens» (2. Aufl. 2020), «Alexander VI. Borgia. Der unheimliche Papst» (2. Aufl. 2011) sowie in C.H.Beck Wissen «Geschichte Italiens» (5. Aufl. 2019), «Geschichte Roms» (3. Aufl. 2019) und «Die Renaissance in Italien» (4. Aufl. 2019).

Inhalt

Einleitung: Legenden und Fakten

1. Die spanischen Borja: Herkunft und Aufstieg

2. Der erste Borgia-Papst: Machtgenuss und Machtverlust

3. Das Papsttum am Scheideweg

4. Kardinal Rodrigo Borgia im Kreis der Seinen

5. Aus Rodrigo Borgia wird Alexander VI.

6. Der zweite Borgia-Papst und sein Vormund

7. Der Zug des französischen Königs und die Bedrängnis des Papstes

8. Der Kampf gegen Savonarola und die römischen Barone

9. Wer ermordete Giovanni Borgia?

10. Der entfesselte Papst

11. Cesare und Lucrezia: Neue Ehen, neue Allianzen, neue Macht

12. Cesare Borgias Kriege für ein eigenes Fürstentum

13. Der Ausbau des Familienstaats

14. Der Schrecken Italiens

15. Cesare Borgia als Fuchs und Löwe

16. Vabanque-Spiel und Zusammenbruch der Borgia-Macht

17. Untergang und Neuanfang

Zeittafel

Literaturhinweise

Personenregister

Stammbaum der Borgia

Karte Italien in der Renaissance

Einleitung: Legenden und Fakten

Der Name Borgia weckt unheimliche Assoziationen: Gift, das in funkelnde Wein-Pokale geschüttet und bei glänzenden Banketten ältlichen Kardinälen lächelnd verabreicht wird; Leichen, die aus dem Tiber gezogen werden; Orgien im Vatikan, bei denen die römischen Luxus-Prostituierten Hauptrollen übernehmen; Treibjagd auf unliebsame Konkurrenten, die erbarmungslos in ihren letzten Verstecken aufgespürt und zu Tode gehetzt werden; Inzest zwischen einem Papst und seiner Tochter. Sex and crime in allen nur denkbaren Spielarten zieht sich wie ein blutroter Faden durch das Bild dieser Familie. Ein heidnischer Genießer auf dem Thron Petri: Wer wollte, konnte das auch positiv sehen. Für Friedrich Nietzsche, den Umwerter aller Werte, war Cesare Borgia der Triumph des Lebens in all seiner ruchlosen Herrlichkeit über die Sklavenmoral des Christentums. Doch überwiegend diente der «Erinnerungsort» namens Borgia dazu, die Angstvorstellungen der verschiedenen Epochen zu bündeln: Alexander VI., der Antichrist als Papst; sein Sohn Cesare Borgia, der Brecher aller Verträge und Verderber der Politik; seine Tochter Lucrezia, die männermordende Femme fatale, schön, doch tödlich wie eine Schlange, das ewig ins Verderben lockende Weib. Auf diese Weise wurden die Borgia schnell zum Mythos.

Aus diesem Fundus der Klischees kann man sich bis heute bedienen. Dabei kommt es immer wieder zu überraschenden Kombinationen: Alexander VI. wird als der Papst dargestellt, der ein Dutzend Nachkommen zeugte, als gemütvoller Familienmensch, der das widernatürliche Zölibat aufbrach und die Kirche im trauten Kreise der Seinen lenkte. Lucrezia Borgia, die dreimal zwangsverheiratete dynastische Handelsware, wird zur ersten emanzipierten Frau erhoben. In Sachen Borgia-Bilder gibt es nichts, was es nicht gibt.

Schon zu Lebzeiten der Hauptpersonen rief der Name Borgia Angst und Schrecken hervor. Und das sollte auch so sein. Die Borgia, vor allem Papst Alexander VI. und sein Sohn Cesare, hatten dieses Image planvoll aufgebaut. Ihre Feinde sollten sie so sehr fürchten, dass sie jederzeit mit dem Schlimmsten rechnen mussten, und auf diese Weise gefügig wurden. Ein solcher Ruf musste nicht nur gepflegt, sondern auch täglich inszeniert werden. Wie das geschah, lässt sich aus den Berichten zeitgenössischer Gesandter entnehmen. Die zwei klügsten dieser Diplomaten, der Venezianer Girolamo Donato und der Florentiner Niccolò Machiavelli, haben scharfsinnige Charakterstudien von Vater und Sohn Borgia vorgelegt.

Donato hatte es als Vertreter der Lagunen-Republik mit Papst Alexander VI. zu tun. Sein Fazit: Dieser ewig lächelnde Pontifex maximus ist von seltener Verschlagenheit. Er lügt, wenn es ihm und seiner Familie nützt, denn die Größe der Seinen geht ihm über alles. Machiavelli traf Cesare, den Sohn, auf dem Höhepunkt seiner kriegerischen Eroberungen als Herzog der Romagna. Aus dieser starken Position heraus drohte er der Republik Florenz mit massiver militärischer Intervention, wenn sie ihm bei seinen Plänen nicht zu Willen sein würde. Machiavelli sollte herausfinden, wie stark dieser Fürst wirklich war, und mehr noch: wie er wirklich war. Machiavellis Diagnose fiel differenziert aus: Cesare Borgia war mutig bis zur Tollkühnheit, willensstark, zu allem entschlossen, schnell in seinen Aktionen, bei seinen Soldaten geachtet, bei seinen Untertanen so gefürchtet, dass sie ihm gehorsam waren – und zugleich ein Aufschneider und Aufsteiger mit dem dazugehörigen Imponiergehabe. Doch was würde aus diesem Glücksritter werden, wenn ihn das Glück einmal verließ?

Beide Diplomaten standen vor derselben Aufgabe, die sich der Geschichtswissenschaft bei der Beschäftigung mit den Borgia stets aufs Neue stellt: Sie mussten hinter die kunstvoll erzeugten Fassaden der Propaganda blicken, um nicht nur die Absichten, sondern auch das wahre Gesicht der Borgia zu erkennen. Dabei wurden sie durchaus fündig: Die Macht der Familie rechtfertigte alles, auch Heimtücke und Mord. Sie war das alles beherrschende Ziel Alexanders VI. Sein Pontifikat von 1492 bis 1503 stand ganz und gar im Zeichen der Familienerhöhung, dieser Zweck heiligte alle Mittel. Das galt sogar für die große Politik. Als der Borgia-Papst 1493 die von Kolumbus neu entdeckte Welt zwischen Spanien und Portugal aufteilte, ließ er sich diese Grenzziehung von den spanischen Monarchen durch reiche Geschenke für seine Familie honorieren. Auch was Vater und Sohn im Vatikan konkret planten und strategisch umsetzen wollten, steht im Großen fest: Ziel war ein erbliches Familienfürstentum im Norden des Kirchenstaats, von wo aus sich dauerhafter Einfluss auf die Besetzung des Heiligen Stuhls ausüben und damit eine dauerhafte Oberhoheit über das Papsttum durchsetzen ließ.

Andere Fragen können nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit beantwortet werden: Wie haben die Borgia Mord und Vertreibung ihrer Gegner vor ihrem Gewissen und damit vor Gott gerechtfertigt? Denn dass sie fromm waren, an Christus und die Fürsprache der Heiligen glaubten, ist ebenfalls gesichert. Kann man als gläubiger Christ solche Verbrechen begehen und zugleich auf das Paradies hoffen? Die Borgia konnten es offenbar.

Wo die Fakten enden und die Legenden einsetzen, ist gleichwohl nicht immer mit letzter Gewissheit zu bestimmen. Weil sie den Borgia so gut wie alles, auch das Ungeheuerliche, zutrauten, haben nicht wenige zeitgenössische Chronisten vieles dazu erfunden. Wenn diese Familie die eine Grenze überschritten hatte, war zu vermuten, dass sie auch ein anderes Tabu gebrochen hat. Auch in dieser Grauzone zwischen Fakten und Legenden kann die Quellenkritik vieles erhellen. Wenn zum Beispiel ein Prälat über Orgien im Vatikan schreibt, von denen er nach eigenem Eingeständnis zu seinem Bedauern ausgeschlossen war, so liegt der Verdacht nahe, dass seine lüsterne Phantasie mit ihm durchgeht und zudem ein gleichgestimmtes Publikum mit den neuesten Sensationsnachrichten aus dem römischen Sündenpfuhl versorgt werden sollte. Oft lassen sich solche Vermutungen dann durch weitere Unstimmigkeiten der Berichterstattung erhärten.

Skepsis ist auch dann angebracht, wenn solche Nachrichten von den zahlreichen Feinden der Borgia stammen. Da sie alle Macht, allen Reichtum und allen Genuss für sich wollten, blieb für ihre wechselnden Alliierten von der gemeinsam gewonnenen Beute so gut wie nichts übrig; und wenn doch, dann mussten diese Kurzzeit-Verbündeten stets damit rechnen, die nächsten Opfer zu sein. Die Folge war, dass kein Zeitgenosse mit der leidenschaftslosen Objektivität, wie sie dem Historiker zukommt, über die Borgia schrieb. Jeder Text über sie ist von starken, fast immer hasserfüllten Emotionen erfüllt.

Kaum weniger problematisch ist die Quellen-Hinterlassenschaft der Borgia selbst. Liest man ausschließlich die vielen tausend Seiten diplomatischer Korrespondenz, die Alexander VI. als Haupt der Kirche geführt hat, so wäre man geneigt, daraus auf einen ganz normalen Pontifikat zu schließen. Denn auch unter diesem Ausnahmepapst liefen die Geschäfte der Kurie, der obersten päpstlichen Verwaltung, weiter. So wurden kirchliche Streitfälle kompetent geschlichtet, die Interessen der Bischöfe gegenüber der weltlichen Macht gewahrt, Güter verwaltet und Gnaden erteilt – kirchliches business as usual, geleitet und gelenkt von einem scharfsinnigen Juristen und gewieften Politiker, der die Interessen der Kirche geschickt zu wahren wusste. So kann, wer seine Blickrichtung bewusst auf diese Aktivitäten beschränkt, den Papst, seine Herrschaft und seine Familie «freisprechen». Alexander VI. erscheint dann als frommer, um Witwen und Waisen besorgter Muster-Pontifex, dem böswillige Feinde die abscheulichsten Missbräuche und Unsittlichkeiten andichten. Dass Alexander VI. unbestreitbar auch Gutes im Sinne der Kirche getan hat, heißt jedoch nicht, dass er «unschuldig» ist – dieser Denkfehler wird in Sachen der Borgia allzu oft begangen, so wie umgekehrt irrt, wer alle Anschuldigungen für bare Münze nimmt.

Doch Alexander VI., der umsichtige Herr des Klerus, ist nur die eine Seite der Medaille. Wer ihn «reinwaschen» will, muss die Echtheit weiterer Dokumente leugnen, die nach dem Urteil der seriösen Geschichtswissenschaft unzweifelhaft authentisch sind; damit wäre die Grenze zur Geschichtsklitterung definitiv überschritten. Diese Dokumente stammen von Notaren, die bezeugen, dass Kardinal Rodrigo Borgia, der spätere Papst Alexander VI., seine Lieblingskinder als seine leiblichen Nachkommen anerkannte. Darüber hinaus lässt sich anhand von unbestreitbar echten Verleihungen von Titeln, Herrschaftsrechten und Vollmachten an Familienmitglieder minutiös nachvollziehen, mit welcher Intensität die Borgia den Aufbau ihres Imperiums betrieben. Ebenfalls über jeden Zweifel erhabene Prozessakten belegen, wie Alexander VI. und sein Sohn Cesare zumindest einen Giftmord präzise geplant, vollzogen und ausgenutzt haben. Und dann gibt es noch die bereits angesprochenen Berichte der Botschafter, die mit den Borgia von Angesicht zu Angesicht diskutiert, verhandelt, gestritten und Verträge ausgehandelt haben. Wie die Beispiele Donatos und Machiavellis zeigen, vertraten sie gewiss die Interessen ihrer Auftraggeber und waren deshalb nicht völlig unvoreingenommen. Ihnen jedoch in ihrer Gesamtheit zu unterstellen, das Bild der Borgia böswillig zu verfälschen, heißt, eine Verschwörung zu konstruieren, für die es keinen Anlass und auch keine organisatorische Basis gab.

Alle diese Quellen bilden zusammen ein Fundament gesicherten Wissens, auf dem sich aufbauen lässt. Auf diese Weise lässt sich belegen, dass die Borgia bei allen Tabubrüchen und Normenverletzungen zugleich Kinder ihrer Zeit waren. Ihr Aufstieg im Rom der Renaissance spiegelt die Regeln, Werte, Karrieremuster, Institutionen, Machtverhältnisse und inneren Widersprüche des Papsttums wider. Die Geschichte der Borgia führt also mitten hinein in eine gärende, expandierende Stadt, in der Altes und Neues, Christliches und Heidnisches aufeinanderprallen, in der neue künstlerische Ausdrucksformen gefunden und Wege zu einer Reform der Kirche gesucht werden. Eine kollektive Biographie der Borgia weitet sich so zu einem Spaziergang durch ein Zeitalter von einzigartiger künstlerischer und kultureller Vielfalt, in dem die Medien und der von ihnen erzeugte schöne Schein erstmals konsequent als Instrumente der Politik eingesetzt wurden.

So haben die Borgia nicht nur geschriebene, sondern auch gemalte Quellen hinterlassen: Sie haben im wörtlichen Sinne ein Bild von sich zeichnen lassen, so wie es die Außen- und Nachwelt sehen und akzeptieren sollte. Pintoricchios Fresken in den Borgia-Appartements des Vatikanischen Palastes sollten nicht nur die Gesichtszüge Alexanders VI., sondern auch die Wesenszüge seiner Familie veranschaulichen; sie senden also eine Botschaft aus, die sich bis heute an die Rombesucher und Borgia-Spurensucher richtet. Auch sie gilt es zu dechiffrieren, um das Selbstverständnis der legendenumwobenen Familie zu entschlüsseln.

Der einzige Weg, das «Geheimnis» der Borgia zu lüften, führt somit in ihre Zeit zurück: zu den achtbaren, aber unauffälligen Ursprüngen im Spanien des 14. Jahrhunderts, in das Neapel unter der aragonesischen Monarchie, in das Rom der Wendejahrzehnte zwischen 1455 und 1503 – und danach wieder zurück nach Spanien und von dort aus wieder in das Italien der Katholischen Reform. Denn die Geschichte der Borgia war mit dem plötzlichen Tod Alexanders VI. im fieberheißen Rom des Jahres 1503 und dem kurz darauf besiegelten Sturz seines Sohnes Cesare nicht zu Ende. Aus dem Blickwinkel frommer Katholiken betrachtet, nahm sie jetzt erst ihren eigentlichen Aufschwung: Mit Francesco Borgia (1510–1572) wurde ein Urenkel des «unheimlichen Papstes» der dritte General des Jesuitenordens und später sogar heilig gesprochen. Und auf dem Höhepunkt des Dreißigjährigen Krieges drohte ein Borgia-Kardinal dem allzu frankreichfreundlichen Papst Urban VIII. im Namen der spanischen Krone mit Konzil und Absetzung. Hemmungsloser Lebensgenuss und geistliche Disziplin, Ausschweifung und Askese folgen in dieser einzigartigen Familiengeschichte nahtlos aufeinander.

1. Die spanischen Borja: Herkunft und Aufstieg

Auf dem Höhepunkt ihrer Macht haben die Borgia triumphierend auf ihre Ursprünge zurückgeblickt und diese so ruhmvoll wie nur möglich gezeichnet: Auf der vergoldeten Kassettendecke der Basilika Santa Maria Maggiore schmückt sich der Stier, das Wappenemblem der Familie, mit der Doppelkrone der Könige von Aragón. Diese Herleitung aus einer Seitenlinie des illustren Königshauses darf getrost als Erfindung abgetan werden, und zwar nach dem für die Zeitgenossen eingängigen Muster: Was heute vornehm ist, muss es immer schon gewesen sein.

Vornehm war die Vorgeschichte der Familie de Borja, wie sie sich in ihrem Heimatstädtchen Játiva bei Valencia nannte, zwar nicht, doch achtbar allemal. Über Generationen hinweg bekleideten die Angehörigen des verzweigten Geschlechts Führungspositionen in der lokalen Verwaltung und Justiz; auf der Stufenleiter der kirchlichen Karriere brachten sie es regelmäßig zu einem Kanonikat an der Kathedrale von Lérida, dem nächstgelegenen Bischofssitz. Damit wiesen sich die de Borja als Angehörige der örtlichen Honoratiorenschicht aus. Bei großzügiger Einstufung ließen sie sich dem Landadel zurechnen. Ihr Aufstieg zu einer der mächtigsten und am meisten gefürchteten Familien Europas aber war an die Karriere eines einzigen Mannes geknüpft. Der am letzten Tag des Jahres 1378 als Spross eines verarmten Seitenzweigs geborene Alonso de Borja machte sich als Jurist in Kirchen- und Staatsdiensten einen Namen und erhielt 1411 das familienübliche Kanonikat von Lérida. Dass es damit nicht wie bisher sein Bewenden hatte, hing mit außergewöhnlichen Zeitumständen zusammen, die Alonso besondere Bewährungschancen boten.

1378 war ein Unheilsjahr für die Kirche gewesen. Kurz nacheinander waren zwei Päpste gewählt worden, Urban VI. mit den Stimmen der italienischen Kardinäle, sein Rivale Clemens VII. mit Unterstützung der französischen Kirchenfürsten. So gab es jetzt zwei Päpste und zwei Kurien, die eine in Rom, die andere in Avignon. Parallel dazu spaltete sich die Christenheit in Obödienzen, das heißt Gefolgschaften, auf. Für die Kleriker hatte dieses Schisma eine peinvolle Rechtsunsicherheit zur Folge: Pfründen wurden jetzt doppelt vergeben, wer den einen Prozess verlor, wandte sich an den konkurrierenden geistlichen Gerichtshof. Für die Gläubigen insgesamt war die Lage nicht weniger beängstigend: Welcher Papst hatte sein Amt von Gott und welcher vom Teufel, wer führte seine Schäfchen in die Hölle, wer ins Paradies – falls dieses in den Zeiten der allgemeinen Verwirrung überhaupt noch offenstand? Die Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung der Kirche nahm daher immer mehr zu. Nach mehr als dreißigjähriger Spaltung schien es 1409 endlich soweit zu sein: Ein Reformkonzil wählte in Pisa einen Papst, der dem Schisma ein Ende bereiten sollte. Doch die beiden anderen Päpste dachten nicht an Abdankung; so hatte die Christenheit jetzt gleich drei Prätendenten, die allesamt die Nachfolge Petri beanspruchten, die es doch nur ungeteilt geben konnte.

In dieser verfahrenen Situation hatten erfahrene Rechtsspezialisten wie Alonso de Borja optimale Profilierungschancen. So stieg der Mann aus Játiva im Gefolge «seines» Papstes Benedikt XIII. zu immer höheren Positionen auf – um kurz danach während des Konzils von Konstanz (1414–1418) einen regelrechten Karriereeinbruch zu erleben. Sein Protektor wurde von dieser Kirchenversammlung, die jetzt die Oberhoheit über die Kirche und das Papsttum innehatte, kurzerhand abgesetzt. Zu dem in Konstanz neu gewählten Papst Martin V. aus der römischen Adelsfamilie Colonna hatte de Borja keinerlei Beziehungen; seine so verheißungsvoll begonnene Laufbahn schien jäh beendet. Dass sie weiter nach oben führte, hatte mit kluger Planung und historischen Zufällen gleichermaßen zu tun. Alonso wechselte nämlich in die Dienste König Alfonsos V. (1396–1458) von Aragón über. Dieser junge Monarch war mit seinem ausgedehnten Herrschaftsgebiet in Nordspanien und dessen Vorposten Sardinien und Korsika ein europäischer Machtfaktor ersten Ranges, doch mit dieser herausgehobenen Stellung keineswegs saturiert. Bei seinen ehrgeizigen Unternehmungen stand ihm Alonso de Borja als kluger und verlässlicher Ratgeber zur Seite. Als Lohn für diese treuen Dienste erhielt er 1429 das reiche Bistum Valencia und besiegelte damit eine weitere Etappe des Familienaufstiegs. Die de Borja waren von der Peripherie ins Zentrum gelangt, und selbst diese Position musste noch nicht das Ende bedeuten. Die enge Anlehnung an den umtriebigen König trug jedoch nicht nur Früchte, sondern hatte auch ihren Preis. Für die Verleihung der ertragreichen Diözese verlangte Alfonso Gegenleistungen, nicht zuletzt finanzieller Art. In Valencia residierte der neue Bischof jedoch nicht. Er war bei Hofe als Ratgeber unabkömmlich.

Auch bei Papst Martin V., der 1420 nach Rom zurückgekehrt war und den weitgehend zerfallenen Kirchenstaat zu konsolidieren begann, erwarb sich de Borja Verdienste. So war er wesentlich daran beteiligt, den letzten spanischen Gegenpapst zur Aufgabe zu bewegen.

Dass Alonso seine Tage nicht als Bischof von Valencia beschloss, sondern noch viel höher emporkam, hatte mit den weiterhin ungestillten Ambitionen seines königlichen Herrn zu tun. Dessen Begierde richtete sich in den 1430er Jahren auf das dreihundert Jahre zuvor von den Normannen gegründete Königreich Neapel, das 1189 an die Staufer und 1266 an die Anjou, eine Seitenlinie des französischen Königshauses, übergegangen war. Nach schweren Kämpfen und einigen Rückschlägen hatte Alfonso dieses Ziel 1437 weitgehend erreicht. Es war nun an der Zeit, den Hof nachkommen zu lassen, denn der Eroberer hatte die Absicht, auf Dauer in Neapel zu bleiben. Die 1443 in Besitz genommene Stadt am Vesuv wurde zum Zentrum des aragonesischen Großreichs auserkoren und Alonso de Borja zu dessen wichtigstem Minister. Als solcher hatte er bedeutsame diplomatische Aufgaben zu bewältigen.

Das Königreich Neapel war ein Lehen der Kirche, das heißt, der Papst hatte als Oberherr sein Plazet zum Herrschaftswechsel zu erteilen. Doch dazu war Eugen IV., der Nachfolger Martins V., nicht ohne weiteres bereit. Ein so mächtiger Herrscher im Süden der Halbinsel musste – so seine Befürchtungen – das mühsam ausbalancierte Gleichgewicht zwischen den Hauptmächten empfindlich stören. Dazu gehörten außer Neapel die Republik Venedig mit ihren frisch eroberten Festlandbesitzungen im Nordosten, das Herzogtum Mailand unter der Familie Visconti, die Republik Florenz, die den nördlichen und zentralen Teil der Toskana beherrschte, sowie der Kirchenstaat unter seinem geistlichen Wahlmonarchen.

Nach schwierigen Verhandlungen gelang es Alonso de Borja, den Papst von seinem Widerstand gegen die aragonesische Nachfolge in Neapel abzubringen und zu einer wohlwollenden Neutralität zu bewegen. Damit hatte der Mann aus Játiva nicht nur seinem Herrn einen wichtigen Dienst erwiesen, sondern durch seine geschickte Verhandlungsführung auch in Rom Ansehen erworben. Einen ähnlichen Erfolg konnte der oberste Ratgeber des Königs in Neapel verbuchen, wo er einen Modus vivendi mit den führenden Baronen aushandelte. Als Gegenleistung für die Anerkennung von Alfonsos Königswürde verlangten diese mächtigen Feudalgeschlechter Bestandsgarantien für ihre weitgehend unumschränkte Herrschaft auf dem Lande. Dort sprachen sie nicht nur Recht, sondern zogen auch Steuern ein und stellten eigene Heere auf. An diese Vormachtstellung sollte auch der neue, ehrgeizige Monarch nicht rühren; überschritt er diese Grenze, musste er mit Aufständen rechnen. Auch bei dieser Vermittlung zwischen Herrscher und Eliten war de Borja erfolgreich. Die Barone konnten ihre Forderungen weitgehend durchsetzen, der König seinerseits behielt sich die Ernennung der wichtigsten Hof- und Verwaltungsämter vor und gewann eine unumschränkte Verherrlichungshoheit.

Alfonso zog führende Gelehrte wie den Humanisten Lorenzo Valla an seinen Hof in Neapel, die nicht nur mit historischen Schriften seinen Ruhm zu mehren hatten, sondern auch politische Kämpfe für ihren Herrn austrugen. So widerlegte Valla die Konstantinische Schenkung, mit der das Papsttum seinen Anspruch auf Oberhoheit über alle Herrscher der Christenheit untermauerte, als Fälschung. Diese Polemik zeigt, wie spannungsreich sich das Verhältnis zwischen Neapel und Rom trotz aller Vermittlungen gestaltete.