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Adam und Elisa versuchen herauszufinden, was mit Elisas Mutter geschah. Sie ist nur wenige Jahre nach Elisas Geburt von einer Reise in die Bücher nicht mehr zurückgekehrt und verschwand spurlos in einer Geschichte. Was hat das mit den Figuren zu tun, die offenbar aus den Büchern in die reale Welt gebracht werden? Längst wissen Adam und Elisa, dass sie bei Libronautic Inc. niemandem mehr vertrauen können. Jemand scheint ihre Recherchen unbedingt verhindern zu wollen - koste es, was es wolle ...
Eine mitreißende Geschichte voller Büchermagie und Abenteuer.
Abschluss der magischen Dilogie um die Buchreisenden von Libronautic Inc.
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Seitenzahl: 455
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Über das Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
Der Plan
Heimaturlaub
Puck
Ein unverhoffter Abschied
Ratlos
Mr Jeremias
Tod
Eine kleine Geschichte
Der Kern des Geheimnisses
Ein Zwerg auf Camelot
Wahnsinn
Die Tafelrunde
Eine Stimme im Kopf
Pläne
Die blutige Hochzeit
Das letzte Schloss
Mr Jeremias’ Welt
Elfenkrieger und ein Kobold
Gewissen
Zurück
Epilog
Über das Buch:
Adam und Elisa versuchen herauszufinden, was mit Elisas Mutter geschah. Sie ist nur wenige Jahre nach Elisas Geburt von einer Reise in die Bücher nicht mehr zurückgekehrt und verschwand spurlos in einer Geschichte. Was hat das mit den Figuren zu tun, die offenbar aus den Büchern in die reale Welt gebracht werden? Längst wissen Adam und Elisa, dass sie bei Libronautic Inc. niemandem mehr vertrauen können. Jemand scheint ihre Recherchen unbedingt verhindern zu wollen - koste es, was es wolle ...
Eine mitreißende Geschichte voller Büchermagie und Abenteuer.
Abschluss der magischen Dilogie um die Buchreisenden von Libronautic Inc.
Über den Autor:
Akram El-Bahay hat seine Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf gemacht: Er arbeitet als Journalist und Autor. Für seinen Debütroman FLAMMENWÜSTE wurde er mit dem SERAPH Literaturpreis und dem silbernen RPC Award ausgezeichnet. Auch Folgeromane waren jeweils für den SERAPH nominiert.
Als Kind eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter ist er mit Einflüssen aus zwei Kulturkreisen aufgewachsen und lässt sich ebenso von der bunten Mythenwelt des Orients wie von westlichen Fantasytraditionen inspirieren. Zudem zieht sich die Magie der Sprache wie ein roter Faden durch alle seine Romane. Er ist Mitglied des Phantastik-Autoren-Netzwerkes PAN. Der Autor lebt mit seiner Familie in Nordrhein-Westfalen.
Titel des Autors:
Die Flammenwüste-Trilogie
Die Vorgeschichte: Flammenwüste – Das Geheimnis der goldenen Stadt
Band 1: Flammenwüste
Band 2: Flammenwüste – Der Gefährte des Drachen
Band 3: Flammenwüste – Der feuerlose Drache
Die Bibliotheks-Trilogie
Band 1: Die Bibliothek der flüsternden Schatten – Bücherstadt
Band 2: Die Bibliothek der flüsternden Schatten – Bücherkönig
Band 3: Die Bibliothek der flüsternden Schatten – Bücherkrieg
Die Ministry-of-Souls-Dilogie
Band 1: Ministry of Souls – Das Schattentor
Band 2: Ministry of Souls – Die Schattenarmee
Die Magische-Bilder-Dilogie
Band 1: Magische Bilder – Die verschollenen Meister
Band 2: Magische Bilder – Der Meister der siebten Familie
Die Buchreisenden-Dilogie
Band 1: Die Buchreisenden – Ein Weg aus Tinte und Magie
Band 2: Die Buchreisenden – Eine Tür aus Silber und Lügen
sowie folgende Kinderbücher:
Fabula – Das Portal der dreizehn Reiche
Fabula – Der Schatten der Nachtfee
Alma und die Landkarte der Zeit
Foxfighter – Angriff des Schattens
Akram El-Bahay
Die Buchreisenden
Eine Tür aus Silber und Lügen
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Copyright © 2025 by Akram El-Bahay
Copyright Deutsche Originalausgabe © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Katja Hildebrandt, Mahlow
Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com und shutterstock.com
Covermotiv: © stock.adobe.com: Be Naturally | senadesign | Klavdiya Krinichnaya | pornsawan | Anna | angkhan | senadesign | Varun | Luc Pro | Prasanth | Sanja | kharom; © shutterstock.com: Reinhold Leitner
E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN978-3-7517-7627-1
Sie finden uns im Internet unter http://luebbe.deLesejury.de
Aus der Bibliothek der ungeschriebenen Bücher
»Das klappt auf keinen Fall.« Luthin, der Kobold, zupfte an seinem Smoking und richtete so gekonnt seine Fliege, als hätte er zeit seines Lebens nie etwas anderes gemacht.
»Nur nicht so optimistisch«, erwiderte Adam. Er hatte Mühe, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Dies hier war Wahnsinn. Völlig irre. Sie würden es vermutlich nie schaffen, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Auch er zog an seinem Smoking, der sich wie ein Kostüm anfühlte.
»Jungs, ganz ruhig.« Elisa an seiner Seite wirkte im Gegensatz zu ihm und dem Kobold so entspannt, als würden sie wirklich nur die neue Shakespeare-Ausstellung im Londoner British Museum besuchen. Als wären sie tatsächlich nur geladene Gäste und damit Auserwählte, die sich langweilige Reden anhören durften, um dann in aller Ruhe die unbezahlbaren Exponate zu besichtigen. Vor allem die alte Ausgabe des Sommernachtstraums, die aus der Sammlung von Elisas Vater stammte.
Der Gedanke an Tristan schnitt Adam ins Herz. Elisas Vater war tot. Hatte das Abenteuer, in das er mit Elisa und Adam geraten war, mit dem Leben bezahlt. Ein Abenteuer, das sich wie ein Netz um die geheimnisvolle Buchhandlung Libronautic Inc. wob, die ihren ebenso zahlungskräftigen wie verschwiegenen Kunden Reisen in Geschichten anbot.
Als hätte sie Adams Gedanken gehört, legte sich ein Anflug von Traurigkeit über Elisas Gesicht, und sie presste die Lippen, die Adam so gerne lachen sah, hart aufeinander. Sie hatte Tristan erst vor wenigen Tagen kennengelernt. Doch Adam wusste, dass sie sein Ende dennoch schmerzte.
»Klar«, sagte Luthin. »Ich bin immer ruhig.« Er schien nun zufrieden mit dem Sitz seiner Fliege und streckte die Arme aus. »Na, wie sehe ich aus?«
»Wie ein Junge, der mit seinen Eltern abends rausdarf und sich in einen kleinen Anzug gezwängt hat«, meinte Adam und warf dem Kobold, der ihm gerade bis zum Bauchnabel reichte, einen Blick zu. »Ein ziemlich unansehnlicher Junge.«
Ehe Luthin etwas erwidern konnte, hatte Elisa ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. »Er ist Mamas Liebling. Und er sieht wunderschön aus.« Ihre Traurigkeit verblich für einen Moment.
»Oh, bitte hört auf«, stöhnte Luthin. »Das wird ja immer schlimmer. Also, Konzentration! Wir sind hier, um die Ausgabe des Sommernachtstraums an uns zu bringen, die Euer Vater dem Museum für die Ausstellung gestiftet hat, Herrin. Wenn wir sie haben, wird uns der gute Adam hier, der in seinem Smoking so elegant wie ein Hafenarbeiter am Ende seiner Schicht aussieht, in die Geschichte hineinlesen. Wir werden dort nach der geheimnisvollen Tür suchen und eines ihrer Schlösser öffnen. So weit ein Kinderspiel.« Er gab sich hörbar Mühe, gelassen zu wirken. Doch seine Leichtigkeit klang gespielt.
Kein Wunder, dachte Adam. Er gehört in den Sommernachtstraum. Und er hat Angst davor, dort hineinzugehen. Luthin hatte wie auch die anderen Fabelwesen, die in London aufgetaucht waren, keine Erinnerung an seine Vergangenheit. Aber alles deutete darauf hin, dass er in die Welt gehörte, die sich Shakespeare ausgedacht hatte. Und wenn sie es tatsächlich schafften, die alte Ausgabe des Sommernachtstraums an sich zu bringen, und Adam sie dank seiner einzigartigen Stimme in die Geschichte lesen würde, wäre Luthin wieder zu Hause.
»Ein Kinderspiel«, bestätigte Elisa, und Adam konnte ihr die Lüge mit Leichtigkeit vom Gesicht ablesen.
Die ersten Gäste kamen an. Teure Autos fuhren vor und spuckten nacheinander Damen und Herren aus, die sich für den exklusiven Abend hergerichtet hatten.
»Showtime«, sagte Luthin und straffte seinen Körper. Dann ging er los.
Während sie auf den Eingang zuschritten, erschien der Kobold Adam wie ein kleiner Mischlingshund mit dem Selbstbewusstsein eines ausgewachsenen Dobermanns.
Luthin warf dem Mann am Eingang, der die Einladungskarten kontrollierte und auf den Luthin wie ein entstellter, kleinwüchsiger Mann wirken musste, einen so abschätzigen Blick zu, dass dieser reflexartig eine Verbeugung andeutete, als der Kobold ihre Namen nannte, die sie als besondere Gäste auswiesen.
Um an die Einladungen zu kommen, hatte Adam das zerstörte Herrenhaus von Tristan mithilfe der Zwerge, die zu Elisas verrückter Gruppe von Buchwesen gehörten, besuchen müssen. Die Polizei hatte eine provisorische Tür anbringen lassen, um das Anwesen vor Dieben zu schützen.
»Keine gute Arbeit«, hatte einer der Zwerge bemerkt, einen langen Metallstift aus einer Tasche seiner Lederrüstung geholt und in das Schloss gesteckt. Als er ihn wieder herausgezogen hatte, war der Stift zum Schlüssel geworden. Der Zwerg hatte sein Zauberstäbchen Adam mit dem Hinweis gegeben, dass er es gebrauchen könne, falls er mal durch eine Tür müsse.
In aller Heimlichkeit hatten sie das Haus durchsucht. Der Tod und die Zerstörung hatten sich mit der Stille verwoben, die alle Räume nun füllte. Adam hatte so schnell wie möglich weggewollt. Tristans Leichnam war längst von einem Bestatter fortgebracht worden. Thors Körper hingegen lag zerbrochen in einer Ecke. Zuletzt hatte Adam den Troll mit zahlreichen Rissen auf dem Leib gesehen. Adam konnte nur vermuten, dass der Troll an jenem Tag zerstört worden war. Und dass jemand seine steinernen Reste zur Seite gekehrt hatte. Sicher die Leute, die hier aufgeräumt hatten.
Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis Adam die Nummer des Museumskurators in Tristans Unterlagen gefunden hatte. Dann war alles ganz einfach gewesen. Ein Anruf, bei dem sich Adam als Elisas Vater ausgegeben hatte. Drei Namen, die auf die Liste der Ehrengäste gesetzt wurden. Und der Hinweis, dass Tristan selbst aufgrund einer Unpässlichkeit vermutlich nicht würde kommen können.
»Mr Higgs wird Sie gleich persönlich begrüßen«, sagte der Mann am Eingang nun eilfertig, während Luthin so hochnäsig an ihm vorbeischritt, als wäre dies hier sein Museum.
»Vielen Dank«, erwiderte Elisa und nahm den Arm, den Adam ihr anbot.
Sie tauchten in den Strom der Menschen ein, die mit ihnen zusammen das Museum betraten.
»Wir müssen in den ersten Stock«, meinte Adam. Dort hatten Luthin und er den Hinweis darauf gefunden, dass der Sommernachtstraum eines der Bücher war, in denen die geheimnisvolle Tür erschien, die Elisa so unbedingt öffnen wollte. Die Tür, hinter der sie ihre verschwundene Mutter wähnte.
Adam wollte ihr unbedingt helfen. Vielleicht würde es die Trauer um den Vater verblassen lassen, wenn sie die Mutter fand. Und wenn Elisas Mutter nicht dort ist, Adam? Willst du ihr dann die Traurigkeit mit dem nehmen, was du für sie fühlst? Warum nicht? Sie waren beide in diesem Abenteuer verloren gegangen. Er, der ehemalige Mitarbeiter der Buchhandlung Libronautic, der Menschen in Geschichten lesen konnte. Und sie, die in einem alten Theater in London Fabelwesen versteckte. Manchmal glaubte Adam, dass sie alle in einem Sommernachtstraum steckten. Und er hoffte, dass ihr Erwachen kein böses sein würde.
Während Adam einen Kellner, der mit einem Tablett voller Gläser zwischen den Gästen umherlief, zu sich winkte, blickte er sich um. Die große Halle. Die Treppe, die hinaufführte. Er prägte sich alles ein. Vielleicht hatte ihn das Abenteuer, das hinter ihnen lag, paranoid werden lassen, aber er hatte das Gefühl, vorbereitet sein zu müssen, falls eine Flucht angeraten war. Er entdeckte einen kleinen Notausgang an der Seite, der von der Treppe aus schneller zu erreichen war als der Hauptausgang.
Er fischte für Elisa, Luthin und sich drei Gläser vom Tablett, ehe die Menge sie mit sich auf die Stufen zuschob und dann die Treppe hinauf. Im oberen Stock würde eine der ersten Ausgaben des Sommernachtstraums von Shakespeare ausgestellt werden. Außerdem, das hatten Adam und Luthin bei ihrem früheren Besuch von einem Museumsmitarbeiter erfahren, würde man mittels einer VR-Brille in die Geschichte eintauchen können. Adam lächelte bei dem Gedanken. Wenn die Leute nur ahnen könnten, dass es eine ganz andere Möglichkeit des Eintauchens gab. Dass die Buchhandlung Libronautic ein Ort war, an dem man wirklich und wahrhaftig mitten zwischen die Worte reisen konnte. Eine Reise, die indes nur äußerst gut betuchten Menschen möglich war. Und vielleicht war sogar der ein oder andere Kunde von Libronautic hier anwesend. Reich genug sahen die Gäste zumindest aus.
Unter anderen Umständen hätte Adam eine der Brillen ausprobiert. Doch heute hatte er nur eines im Sinn: den Sommernachtstraum in die Finger zu bekommen. Das Buch zu stehlen. Er atmete tief durch, als ihm bewusst wurde, wie schwer es werden würde. Doch noch schwerer wäre es gewesen, wenn sie bis zum normalen Museumsbetrieb gewartet hätten. Er blickte zu Luthin an seiner Seite. Der Kobold hatte den Plan ausgeheckt. Er schien nicht nur ausgesprochen mürrisch und mutig zu sein, sondern auch dermaßen verschlagen, dass Adam glücklich darüber war, dieses Geschöpf auf seiner Seite zu wissen und nicht auf der seiner Gegner. Hätten die Libronauten, seine einstigen Freunde und jetzigen Gegner, einen solchen Verbündeten gehabt, hätte es schlecht für Adam und Elisa ausgesehen. Dafür haben sie ein Wesen an ihrer Seite, das dir mit Leichtigkeit den Tod bringen kann, erinnerte er sich, als er an ihren Verfolger dachte. Ein Wesen, das ebenso in der echten Welt wie auch in der Welt der Geschichten agieren konnte. Es trieb seinen Feinden den Frost auf die Haut und war … unsterblich? Noch hatte Adam keinen Weg gefunden, es zu vernichten.
Wieder sah er sich um.
Diesmal wollte er sichergehen, dass kein Libronaut den Weg in die Ausstellungseröffnung gefunden hatte. Oder ihr finsterer Kämpfer. Du wirst wirklich paranoid, wies er sich zurecht. Die Libronauten, die genauso dringend wie Elisa und Adam hinter die geheimnisvolle Tür in den Geschichten gelangen wollten, besaßen den Sommernachtstraum bereits. Sie würden für das Buch nicht herkommen. Aber vielleicht für euch, Adam.
Den Raum, in dem die Shakespeare-Exponate ausgestellt waren, hatte man für den heutigen Abend umgebaut. Statt der Glaskästen standen dort Stühle vor einer kleinen Bühne. Und während sich die Gäste ihre Plätze suchten, liefen Kellner so eilfertig mit ihren Tabletts umher, als hätten sie das Ziel, die Besucher betrunken zu machen.
Adams Glas war noch beinahe voll, ebenso wie Elisas. Luthin aber winkte einen der Kellner herbei und tauschte sein leeres Glas gegen ein neues.
»Hey«, raunte Adam. »Du musst nüchtern bleiben, wenn wir … du weißt schon was tun.«
»Hä?«, knurrte Luthin. »Bist du meine Kobold-Mutter? Dann wärst du ganz schön hässlich. Junge, ich bin schon mal in dieses Museum eingestiegen. Hast du das vergessen? Ich bin gewissermaßen ein Fachmann.«
»Ein kleiner Fachmann«, korrigierte Adam. Aber er musste zugeben, dass Luthin in der Tat der Erfahrenste von ihnen war, wenn es darum ging, etwas Verbotenes anzustellen. Er hatte vor Jahren auf Anweisung von Elisas Mutter zusätzliche Worte in die älteste Ausgabe des Sommernachtstraums eingefügt. Und war dafür in das Museum eingebrochen, in dem dieses unbezahlbare Buch damals als Leihgabe zu besichtigen gewesen war. Die ganze Sache war eher zufällig ans Licht gekommen, denn Luthin konnte nicht wirklich schreiben und erst recht nicht lesen. Die Worte hatte er sich als Muster eingeprägt. Und nicht nur der Sommernachtstraum war von ihm auf diese Weise ergänzt worden. Auch die ersten Ausgaben anderer Klassiker hatten von seiner Hand zusätzliche Worte erhalten. Adam und Elisa vermuteten, dass diese Worte etwas mit der geheimnisvollen Tür und ihren Schlössern zu tun hatten.
»Die Betonung liegt auf Mann«, grollte Luthin und entblößte seine nadelspitzen Zähne. Dann marschierte er selbstbewusst zur ersten Reihe und setzte sich genau in die Mitte. Adam blieb am Rand der Stuhlreihen stehen und beobachtete die Gäste. Dabei entging es ihm nicht, dass Luthin eine Frau anfuhr, die sich neben ihn setzen wollte und dann erkennbar empört einen anderen Platz wählte.
»Nervös?«, fragte Elisa und nippte an ihrem Glas.
»Ich?« Adam zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Wieso? So etwas wie heute mache ich ständig.« Sein Lächeln schien auf sie überzugehen, und erneut verschwand für einen Augenblick die Trauer, die Elisa seit dem Tod ihres Vaters wie einen schwarzen Schleier trug.
»Und William kriegt das mit dem Auto hin?« Elisas Cousin, den Adam als ängstlichen Mann kennengelernt hatte, saß in diesem Moment in ihrem Fluchtfahrzeug, das an der Straße auf sie wartete.
»Seit unserem Ausflug in Tausendundeine Nacht ist er ein anderer«, erwiderte sie mit leiser Stimme. »Er hat einen unerwarteten Mut in sich gefunden.«
Tausendundeine Nacht. Adam hatte seine Freunde in die arabischen Märchen gelesen, damit sie dort ebenso wie zuvor in der Nibelungensage ein Schloss der Tür hatten öffnen können. Beinahe hätten sie den kleinen Ausflug allesamt mit dem Leben bezahlt. Doch den einzigen Menschen, der gestorben war, hatte es eigentlich nicht wirklich gegeben. Die Erzählerin mit der Augenklappe war nur eine Figur des Märchens gewesen. Und doch hatte ihr Tod etwas in William verändert. Ihm eine neue, zusätzliche Seite beschert, die von seinem plötzlichen Mut berichtete. Adam strich sich über die Smoking-Jacke. Auch er hatte neue Seiten erhalten. Aus dem knapp zwanzigjährigen Libronauten, der von den anderen Mitgliedern der geheimnisvollen Buchhandlung ernst genommen werden wollte, war ein Abenteurer geworden, der sich, ohne nachzudenken, in Gefahr begab, um einer Frau, die er kaum kannte, zu helfen. Längst war er zum Teil einer Geschichte geworden, die er nicht beeinflussen konnte. Und Adam, hättest du es lieber, wenn William damals nicht mit dir in den Vampyr gereist wäre? Er sah zu Elisa. Um keinen Preis der Welt, gab er sich selbst die Antwort.
Eine Glocke kündigte den baldigen Beginn der Eröffnungsveranstaltung an. Die Reihen füllten sich nun schnell, und Adam begleitete Elisa zu den Plätzen neben Luthin in der ersten Reihe und übersah dabei geflissentlich mehrere vorwurfsvolle Blicke. Offenbar hatte der Kobold noch weitere Gäste mit seiner schroffen Art beglückt. Kaum hatten sie sich gesetzt, als auch schon der Kurator des Museums die kleine Bühne betrat. Der Mann war ebenso hager wie grau und trug eine so große Brille, als hätte das Lesen in alten Büchern ihm einen gehörigen Teil seiner Sehkraft geraubt.
Adam folgte der Begrüßungsrede mit nur einem Ohr, und das höfliche Klatschen der Anwesenden, das sie dem Besitzer der alten Ausgabe des Sommernachtstraums spendeten, nahm er bloß am Rande wahr. Er wusste schmerzlich gut, dass Elisas Vater der Eröffnung nicht aufgrund einer Unpässlichkeit fernblieb, wie der Kurator sagte – und damit nur die Lüge wiedergab, die Adam ihm am Telefon aufgetischt hatte.
Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis die Rede vorüber war und endlich ein Mitarbeiter, dessen Anzug so schlecht saß, als hätte er sich ein Kostüm angezogen, mit dem Buch auf die Bühne kam. Es befand sich in einem Glaskasten, der es vor Luftfeuchtigkeit und gierigen Fingern schützen sollte.
Ein Raunen ging durch die Menge, obwohl bereits ab der dritten Reihe kaum erkennbar sein durfte, wie das Buch im Kasten aussah. Doch die anwesende Gesellschaft spielte die Rolle der Kunstkenner, wenngleich Adam sicher war, dass nicht mal die Hälfte von ihnen wusste, worum es in der Geschichte von Shakespeare eigentlich ging.
Adam sah das Buch eindringlich an und hörte ganz leise die Worte auf den Seiten. Ein weiteres Talent der Libronauten.
Während der Kurator einen, selbst für Buchkenner, äußerst zähen Monolog über die Entstehung des Buches, frühere Ausgaben und den Weg, den es bis ins British Museum genommen hatte, hielt, überlegte Adam fieberhaft, wie Luthin das Buch stehlen wollte.
»Lass das mal meine Sorge sein«, hatte der Kobold jedes Mal geraunt, wenn Adam ihm vor dem Betreten des Museums die Frage gestellt hatte.
Und auch jetzt lag sie ihm auf der Zunge, wenngleich es keinen schlechteren Ort als diesen gab, um sie zu stellen. Er sah den Kobold daher nur an, und dieser verzog die schartigen Lippen zu einem spöttischen Lächeln, als würde ihn Adams Unwissenheit amüsieren.
»Und leider ist der edle Stifter dieser einmaligen Ausgabe heute nicht unter uns«, wiederholte der Kurator in diesem Moment die Lüge.
Adam wurde aus seinen Gedanken gerissen und blickte auf die Bühne.
»Der Sammler, dessen Namen wir aus Gründen der Diskretion unausgesprochen lassen, hat uns, wie ich bereits sagte, über seine plötzliche Unpässlichkeit informiert. Doch zu unserer Freude hat er persönliche Gäste entsandt, denen ich meinen Dank mitgeben will, auf dass sie ihn an unseren edlen Spender weitertragen.«
Adam wurde übel. Und das lag nicht nur an der mittelmäßigen Rhetorik des Kurators. Mit einem Mal waren sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Genau das, was sie nicht gebrauchen konnten. Er bemerkte erst im nächsten Augenblick, dass eine Pause eingetreten war. Verwirrt blickte er zu dem hageren Mann am Mikrofon und erkannte, dass dieser auf etwas wartete.
Neben Adam strich sich Elisa das Kleid glatt und setzte ein künstliches Lächeln auf. Sie schien verstanden zu haben, worauf der Kurator wartete, und erhob sich. Dann wandte sie sich zu den Anwesenden und nickte in die Runde. Höflicher Applaus füllte den Raum, und Adam verfluchte den Mann, der sie ins Rampenlicht gezerrt hatte.
»Woher wusste er, wer wir sind?«, flüsterte er Luthin zu, kaum dass sich Elisa gesetzt hatte und der Kurator wieder in einem Monolog versank. »Ich hatte ihm nur gesagt, dass wir zu dritt kommen werden.«
»Er stand in der Nähe des Eingangs, als wir unsere Einladung vorgezeigt haben«, sagte Elisa anstelle des Kobolds. »Da muss er uns bemerkt und sich unsere Gesichter eingeprägt haben.«
Oder ihm war Luthins geringe Größe im Gedächtnis geblieben. Es war gleich. Nun mussten sie doppelt vorsichtig sein, wenn sie nicht auffliegen wollten.
Nach weiteren Minuten des Plapperns entließ der Kurator seine Gäste endlich, um ihnen die virtuelle Attraktion der Ausstellung zu zeigen. Dazu bat er die Anwesenden, sich zu erheben und ihm in den angrenzenden Raum zu folgen.
»Ich hoffe, du hast einen Plan«, raunte Adam dem Kobold zu. Angesichts des anschwellenden Geräuschpegels, genährt aus Gesprächen und Stühlerücken, war nicht davon auszugehen, dass jemand in ihrer Nähe auch nur ein Wort verstanden hatte.
»Natürlich«, gab Luthin zurück und zuckte mit den schmächtigen Schultern. »Ich klaue das verfluchte Buch.«
»Wir sollten zusehen, dass wir hierbleiben«, meinte Adam. »Wenn alle anderen nebenan sind, wird keiner auf das Buch achten.«
»In Ordnung«, sagte Elisa, die dem Kurator nachsah, während dieser die kleine Treppe von der Bühne herabstolperte.
»Hast du gehört?«, fragte Adam und sah zu Luthin. Oder besser: dorthin, wo der Kobold eben noch gestanden hatte. Doch jetzt war er fort. Unwillkürlich blickte Adam zu dem Buch, das nun auf einem Tisch auf der Bühne lag. Der Museumsmitarbeiter, der es hereingetragen hatte, stand mit nervöser Miene daneben. Vom Kobold aber entdeckte Adam keine Spur.
»Oh nein«, entfuhr es Elisa. Sie blickte zum Nebenraum. Und obwohl noch einige Gäste die Sicht behinderten, sah Adam, wie der Kurator gerade die erste VR-Brille über Luthins Kopf zog. Ein kleiner Kreis aus Besuchern bildete sich um den Kobold, und das Letzte, das Adam von ihm sah, ehe sich der Kreis schloss, war, wie Luthin begann, mit den Armen zu rudern, als müsste er das Gleichgewicht halten. Offenbar bewegte er sich gerade durch den künstlichen Sommernachtstraum.
»Also bleibt es doch an uns hängen«, brummte Adam. »Ich wusste, dass auf den Kobold kein Verlass ist.«
»Auf Fabelwesen ist nie Verlass.« Die Stimme ließ Adam herumfahren.
Für einen Moment war er sprachlos, als er dem jungen Mann mit den asiatischen Zügen ins Gesicht blickte. »Timotheus.« Mehr brachte er vor Überraschung nicht über die Lippen.
Der Mann nickte. »Wie schön, dass du dich erinnerst. Wie lebt es sich außerhalb von Libronautic?«
»Was willst du hier?« Nur mit Mühe gewann Adam seine Fassung zurück.
»Lass die Spielchen«, erwiderte Timotheus ruhig, während sich der Raum endgültig leerte, und nur noch Elisa, der Libronaut und Adam zwischen den Stuhlreihen standen. »Ich bin nicht allein. Du hast keine Chance.«
»Ich bin ebenfalls nicht allein«, entgegnete Adam. Er gab sich keine Mühe, den Zorn zu unterdrücken. Timotheus hatte er ohnehin nie leiden können. Die ständige Selbstbeherrschung des Mannes hatte ihn schon immer nervös gemacht. Der Libronaut schien keinerlei Leidenschaft in sich zu tragen.
»Deine Mannschaft ist bemerkenswert.« Auch ohne jede Betonung war der Spott deutlich aus Timotheus’ Worten herauszuhören.
Adam blickte kurz zu Elisa und dann zum Nebenraum. Doch die Gäste versperrten ihm die Sicht, und Adam konnte nur vermuten, dass der Kobold dort noch immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. »Wie viele hast du dabei?«
»Genug.« Timotheus sah auf seine Hand, als hielte er eine Waffe zwischen den Fingern. »Wir haben geahnt, dass du kommen würdest. Ich soll dir ein Angebot unterbreiten.«
»Ein Angebot?«
»Du kommst mit uns. Und die Frau. Dafür dürfen eure Haustiere unbehelligt weiterleben.«
Für einen kurzen Moment war Adam sprachlos. Nicht dass ihn die Kälte des Libronauten überraschte. Er hatte sich längst damit abgefunden, dass er anscheinend in einer Lüge aufgewachsen war. Dass er die Menschen, mit denen er seit seiner Kindheit zusammengelebt hatte, im Grunde nicht kannte. Doch Timotheus’ Abfälligkeit war so widerlich, dass er unwillkürlich die Hand zur Faust ballte. »Ganz schön mutig«, bemerkte er mit hörbar unterdrückter Wut. »Ich sehe nur dich. Und wir sind zwei. Sogar drei.« Der Kobold war nun wieder zwischen den Gästen zu erkennen. Er wedelte gerade mit den Händen durch die Luft und schlug dabei, scheinbar zufällig, einer Dame auf das Gesäß. »Sagen wir, zweieinhalb.«
»Du bist zu naiv, Adam.« Timotheus deutete zur Treppe, und Adam erkannte dort zwei weitere bekannte Gesichter. Michael, der vermutlich aus Osteuropa stammte, und Samuel, von dem Adam wusste, dass er in Australien aufgewachsen war. Die beiden Libronauten waren fast ebenso groß, wie Gabriel es gewesen war. Adams bester Freund unter den Libronauten, der sich als Verräter wie sie alle erwiesen und in einer der Geschichten den Tod gefunden hatte. »Letzte Chance. Du und die Frau. Und deine … Freunde dürfen leben.«
Es war eine Lüge. Oder? In Adams Kopf überschlugen sich die Gedanken. Gingen Elisa und er mit den Libronauten, hätten sie bessere Chancen, die Tür zu öffnen. Aber könnten sie dann auch Elisas Mutter retten, die sie dahinter wähnten? Noch immer hatte Adam keine Ahnung, weshalb die Libronauten so unbedingt hinter die Tür gelangen wollten. Weshalb sie Fabelwesen aus Geschichten holten, um die Sätze zu erfahren, die als Schlüssel für die Tür fungierten. Und dies hier war ganz sicher nicht der richtige Moment, um sie danach zu fragen. Adam wechselte einen stummen Blick mit Elisa, die Timotheus kaum beachtete. »Glaubst du wirklich, wir sind so weit gegangen, um uns jetzt gefangen nehmen zu lassen?«, fragte Adam.
Und schlug zu. Bevor Adam Elisa und Luthin und den ängstlichen William kennengelernt hatte, war er nie in eine Prügelei verwickelt gewesen. Doch nun lagen einige Reisen hinter ihm, in denen er hatte kämpfen müssen. Und es fiel ihm überraschend leicht, anzugreifen.
Timotheus war so überrascht, dass er sich weder ducken noch die Hände hochreißen konnte. Adams Faust traf ihn mitten ins Gesicht.
»Meine Herren!«, rief der Mitarbeiter des Museums entsetzt. »Ich muss doch sehr bitten. Dies ist kein Pub, in dem Sie auf diese Weise Ihre Streitigkeiten lösen können.«
Aus dem Augenwinkel sah Adam, dass die anderen beiden Libronauten auf ihn zuliefen, wodurch sie ihm und Elisa den Weg versperrten. Verdammt, dachte Adam und bedeutete ihr, in den Nebenraum zu flüchten. Vielleicht würden die Menschen ihnen Deckung geben.
Michael und Samuel versuchten, Adam in die Zange zu nehmen, während Timotheus stöhnend auf einem Stuhl zusammensank. Offenbar hatte Adam ihn härter getroffen als gedacht.
»Wo ist Luthin?«, rief Elisa, die schon fast am Nebenraum angekommen war.
Einige der Gäste bemerkten, dass etwas Ungewöhnliches geschah. Stimmen erhoben sich, und Adam wollte gerade Elisa hinterherlaufen, als das Licht ausging.
Schlagartig war es so dunkel, dass Adam glaubte, blind geworden zu sein. Mit dem Licht waren für einen kurzen Moment auch alle Geräusche verschwunden. Es war ganz still. Und im nächsten Augenblick erhoben sich ebenso überraschte wie ärgerliche Rufe.
Adam fühlte eine Hand am Kragen seiner Smoking-Jacke. Ohne nachzudenken, rammte er den Ellenbogen nach hinten und hörte einen Mann erstickt aufkeuchen. Er tastete beim Laufen blind durch die Luft und bekam jemanden zu fassen. »Elisa?«
»Ich muss doch sehr bitten«, rief eine Frau, die der Stimme nach sicher vierzig Jahre älter als Elisa war.
Adam zog seine Hände sofort zurück und fühlte erneut jemanden nach ihm greifen. Eine Hand packte ihn am Revers der Jacke, und Adam schlug zu. Er traf … nichts. Da war niemand vor ihm. Aber wer …
»Ganz ruhig, Kleiner«, hörte er eine Stimme etwas unter Brusthöhe. »Sonst triffst du noch eine der alten Schachteln.«
»Luthin?«
»Der Einzige mit Verstand, wie mir scheint.« Der Kobold zog an ihm, und er stolperte hinter Luthin her. Ganz langsam gewöhnten sich Adams Augen an die Dunkelheit, und das wenige Licht, das durch die Fenster fiel, ließ ihn zumindest die Umrisse der Leute erkennen. Wie Scherenschnitte erschienen sie ihm.
»Warte einen Moment.«
Die Hand zog sich zurück, und Adam ballte unwillkürlich beide Fäuste.
»Wo ist er?«
Elisas Stimme ließ Adam herumwirbeln. Vage erkannte er ihre Gestalt vor sich. »Keine Ahnung«, erwiderte er über das Gewirr aufgebrachter Rufe hinweg.
»Der Kurator braucht Sie.« Luthins Stimme erklang links von Adam.
»Aber ich kann doch nicht das Buch unbeaufsichtigt lassen.« Dies musste der Museumsmitarbeiter sein, der den Sommernachtstraum bewachte.
»Er hat nach Ihnen verlangt. Sie müssen die Gäste beruhigen, während er die Stromversorgung wiederherstellt.«
»Los! Der Kobold will das Buch.« Die genäselten Worte stammten von Timotheus. Der Libronaut begriff offenbar, was Luthin vorhatte.
»Nun gehen Sie schon!« Wieder Luthin.
»Komm«, raunte Elisa, und die Gestalt vor Adam verschwand dorthin, wo er die Treppe vermutete.
Halb blind stolperte er hinter ihr her und wich einem größeren Umriss aus, der sich ihm in den Weg schob. Zu seinem eigenen Erstaunen erreichten sie tatsächlich den Treppenabsatz, ohne dass einer der Libronauten ihn oder Elisa aufhielt. Von unten drang ein heller Lichtschein herauf. Dennoch war Adam mehr als einmal kurz davor zu fallen, während er die Stufen hinablief. Stolpernd erreichte Adam das Erdgeschoss. Elisa war nur wenige Schritte vor ihm. Und am Ausgang stand, einen Glaskasten in den Händen, Luthin und sah aus, als würde er sich furchtbar langweilen, während er auf seine Freunde wartete.
»Das wurde aber auch Zeit«, meinte der Kobold. »Gehen wir?«
Adam schluckte die Erwiderung, die ihm auf die Zunge sprang, hinunter und deutete auf den Notausgang. Er hoffte, dass die Libronauten ihn nicht bemerkten und stattdessen durch den Haupteingang die Verfolgung aufnehmen würden.
»Ja«, sagte Adam und richtete sich die Smoking-Jacke. »Übrigens«, fügte er hinzu, als er Luthin und Elisa die Tür des Notausgangs öffnete. »Ist das dein Plan gewesen?«
Der Kobold grinste ihn an. »Ja, genauso habe ich es vorhergesehen.«
»Wieso wussten die, dass wir dort hingehen wollten?«, rief Elisa, während sie auf das rote Auto zuliefen, das wenig dezent mitten auf der Great Russell Street im Halteverbot parkte. Der Fahrer hatte es so ungeschickt platziert, dass die übrigen Autos wegen Platzmangel nur äußert langsam an ihm vorbeikamen. Die Behinderung wurde mit lautstarkem Hupen quittiert.
»Sie wussten es nicht«, gab Adam zurück. »Sie haben es vermutet. Und jetzt haben wir ein Problem.«
»Vor allem ist der da ein Problem«, meinte Luthin. Während ihrer Flucht hatte er den Glaskasten gegen eine der hohen Steinsäulen vor dem Eingang des British Museum geschlagen und sich das so befreite Buch unter die Smoking-Jacke gesteckt. »Wer hatte eigentlich die Idee, dass er unser Fluchtfahrer sein sollte?«, fragte er mit Blick auf das Auto, in dem William saß.
»Die Zwerge haben keinen Führerschein«, gab Adam genervt zurück. Allerdings wären sie dennoch wahrscheinlich bessere Fahrer als William, dachte er bei sich.
Aus dem Museum ertönte ein schriller Alarm. Vielleicht hatte einer der Gäste beschlossen, dass es Zeit war, Hilfe zu holen. Oder der Kurator hatte den Diebstahl bemerkt.
William lächelte ihnen erleichtert zu, als sie das Auto erreichten. »Endlich. Ihr wisst nicht, wie viele Nerven ich hier schon ver…« Er brach mitten im Wort ab, als er den Alarm bemerkte. »Seid ihr entdeckt worden?«
Elisa warf ihm zur Antwort einen gehetzten Blick zu, als sie auf der Beifahrerseite einstieg. Adam und Luthin nahmen hinten Platz.
»Los!«, riefen die drei beinahe zur selben Zeit.
Hinter ihnen hupte ein Lkw, der zu breit war, um an dem roten Fluchtauto vorbeizukommen.
William trat aufs Gaspedal.
Und würgte den Motor ab.
»Himmel«, entfuhr es Luthin. »Wir hätten doch die Zwerge nehmen sollen.«
Als hätte er mit dieser Bemerkung William daran erinnert, dass er seit Tausendundeiner Nacht ein anderer war, wandte sich dieser um und sah den Kobold ärgerlich an. »Schnall dich lieber an. Diese Fahrt wird holprig.«
Später konnte Adam nicht sagen, wie es William gelungen war, den Wagen beinahe zeitgleich wieder zu starten und aus dem Stand heraus so zu beschleunigen, dass sie nur einen Moment später die nächste Straßenecke erreichten. Mit quietschenden Reifen bogen sie mit so hohem Tempo in die Bloomsbury Street ein, dass Adam sicher war, sie würden in eine der Hausfassaden krachen. Doch entgegen seiner Befürchtung blieben sie auf der Fahrbahn. Weiteres Hupen und die wütenden Rufe einiger zur Seite springender Leute begleiteten sie noch eine Weile. Nach ein paar Minuten legte Elisa die Hand auf den Arm ihres Cousins, der mittlerweile drei rote Ampeln missachtet hatte.
»Wenn du so weiterfährst, wird noch jemand sterben«, sagte sie so beruhigend wie eine Mutter zu ihrem aufgeregten Kind. »Etwas langsamer, bitte.«
Williams Fingerknöchel traten weiß hervor, und es fiel ihm erkennbar schwer, sich zu entspannen. Doch er reduzierte die Geschwindigkeit ein wenig und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Gut«, sagte er so hastig atmend, als sei er die Strecke bislang gerannt und nicht gefahren. »Ihr habt das Buch?«
Zur Antwort zog Luthin es unter seiner Jacke hervor. »Augen auf die Straße!«, rief er, als sich William umwandte. »Wir haben es.«
»Gut«, sagte Elisas Cousin noch einmal. »Dann fahren wir jetzt nach Hause.«
Nach Hause. Das alte, vermeintlich leer stehende Theater, das Elisa zusammen mit einem beträchtlichen Vermögen vor Jahren von ihrer Mutter erhalten hatte und das als Rückzugsort der Fabelwesen diente, die von den Libronauten aus ihren Geschichten entführt worden waren. Das Theater, in dessen Zuschauerraum ein Zauberwald wuchs, dessen Ausmaße die des Theaters auf wundersame Weise übertrafen.
»Nein«, sagte Adam.
Alle Augen richteten sich auf ihn.
»Schau gefälligst nach vorne«, ermahnte Luthin ihren Fahrer.
»Hier sind überall Kameras«, erklärte er. »Sicher sind wir bald im Visier der Polizei. Wir müssen das Auto aufgeben und, keine Ahnung, auf eine andere Weise zum Theater kommen.«
»Gar nicht mal so dumm«, kommentierte Luthin, was sicher als Kompliment gemeint war. »Er hat leider recht. Wir müssen raus aus dem Zentrum. Versuch, auf die Seven Sisters Road zu kommen. Richtung Enfield Town. Dann steigen wir um.«
»Und in was?«, wollte William wissen.
»In eine Pferdekutsche«, antwortete Luthin. »Keine Ahnung«, fügte er ärgerlich hinzu. »Ich bin heute auch das erste Mal auf der Flucht. Wir werden schon was finden. Nicht wahr, Junge? Junge?«
Adam hörte, dass Luthin ihn ansprach. Doch er hatte den Blick starr nach hinten aus dem Auto gerichtet.
»Oh, oh«, entfuhr es dem Kobold, als er Adams Blick folgte. »Das ist …«
»… bestimmt Timotheus«, beendete Adam den Satz. »Der Wagen folgt uns schon eine Weile. Ich kenne ihn nicht. Muss gemietet sein.«
»Ein schwarzer Porsche«, murmelte Luthin. »Das ist ein Fluchtauto. Und was fahren wir? Irgendetwas Rotes, das völlig stillos ist.«
»Es ist gemietet«, rief William entschuldigend.
Luthin winkte ab. »Neuer Plan. Wir fahren nun schneller.«
»Und wohin?«, fragte William, dessen Fingerknöchel wieder weiß hervortraten.
»Weg!«, knurrte Luthin. »Einfach nur weg.«
Adam zählte die roten Ampeln nicht mehr, die William auf ihrer halsbrecherischen Flucht überfuhr. Er klammerte sich an seinen Sicherheitsgurt, als könnte dieser ihn so besser schützen. Die Richtung konnte er nicht ausmachen, denn es gab im Grunde keine.
William bog ohne erkennbares Ziel immer wieder ab, meist dann, wenn sich der Abendverkehr vor ihnen staute.
Elisa versuchte, sie irgendwie Richtung Norden zu führen, doch Adam war sicher, dass sie das Zentrum nicht verließen.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Libronauten sie stellen würden. Oder bis jemand zu Schaden kam. Oder bis die Polizei sie anhielt. Das durfte auf keinen Fall passieren. Adam war sicher, dass dann alles aufflog. Luthin würde als das erkannt, was er war: ein Wesen, das es nicht geben durfte. Und die Polizei würde anfangen zu ermitteln. Vielleicht das Theater finden.
»Halt an«, sagte er unvermittelt.
»Hast du einen Plan?«, fragte Elisa.
»Bist du verrückt?«, wollte Luthin wissen.
»Ja«, antwortete Adam. »Und nein. Gib mir das Buch.«
Der Kobold stöhnte. »Oh verdammt, du bist verrückt. Und dein Plan ist sch…«
»Das Buch!«
Widerwillig gab Luthin es ihm, und Adam schlug es auf.
»Anhalten.«
William wechselte einen Blick mit Elisa, und als sie nickte, fuhr er an die Seite und stoppte den Wagen.
»Wir wollten doch sowieso in den Sommernachtstraum, oder?«, fragte Adam.
»Ja, aber nicht so ungeplant«, erwiderte Luthin. »Als wären wir auf der Flucht.«
»Wir sind auf der Flucht«, belehrte ihn Elisa, während Adam tief durchatmete und nichts mehr sagte, damit seine normale Stimme ganz und gar verklang.
»Vor wem eigentlich?«, wollte William wissen. »Ach, sagt nichts. Dieser Timotheus ist ein Libronaut? Aber dieses Monster ist nicht dabei, oder?«
»Nein, es ist nicht hier«, sagte Elisa. »Nur die Libronauten sind uns auf den Fersen.«
»Sie halten übrigens auch gerade. Dein Einsatz, Junge. Ich leuchte dir.« Der Kobold hatte sein Handy hervorgezogen und die Taschenlampe eingeschaltet.
Wie immer, wenn er einen Spalt in eine Geschichte öffnen wollte, begann Adam mit dem Beginn der Erzählung. Es reichten schon einige Sätze, um den Durchgang entstehen zu lassen. Seine Stimme sorgte dafür, dass alle anderen Geräusche erstarben. »Nun rast die Hochzeit mit Hast heran«, begann er zu lesen. Normalerweise würde er nun zu einer Stelle wechseln, die er zuvor für den Übergang vorbereitet hatte. Der Anfang des Sommernachtstraums eignete sich nicht sonderlich als Start ihrer Buchreise. Doch dies hier war ein Notfall. Er konnte diesen Ausflug zwischen die Worte weder vorbereiten, noch konnten sie ihren Verfolgern in dieser Welt entkommen. Die Gefahr, dass Timotheus am Ende von seiner Waffe Gebrauch machte, war zu groß. Und das Buch durften sie nicht aus den Händen geben. Zu viel stand für Elisa auf dem Spiel. Also führst du alle in eine noch tödlichere Gefahr, Adam?, fragte er sich stumm, während er hastig eine andere Seite aufschlug, in der Hoffnung, spontan eine Stelle der Geschichte zu finden, die halbwegs ungefährlich war. »Weil sie die Schande der Reinheit bekümmert. Verschließt ihr den Mund und nun ganz vorsichtig.« Perfekt war diese Stelle nicht. Aber dies markierte das Ende einer Szene, und sie wären hoffentlich alleine an diesem Punkt der Geschichte.
Das Auto verblasste. Adam sah durch das Seitenfenster eine Gestalt. Sie kam zu spät, um sie noch am Übergang zu hindern. Adams Stimme löschte die Wirklichkeit aus und führte sie in eine erdachte Welt. Über ihnen schwand das Dach, und der Abendhimmel wurde so schwarz, als wäre Tinte über ihnen ausgelaufen. Mehr Sterne, als Adam je gesehen hatte, leuchteten auf, wie Blüten, die sich allesamt zur gleichen Zeit öffneten. Auch die Tür neben ihm verblasste. Adam sah noch, wie jemand sie aufriss, doch dann verging auch die Gestalt, und um Adam und die anderen herum wuchsen Bäume. Die Luft roch so betörend, dass Adam schwindlig wurde. Eine fremde Welt, dachte er, in der wir alle fremd sind. Dann fiel sein Blick auf Luthin, der neben ihm auf der Rückbank des Autos saß und sich sprachlos umsah. Nein, korrigierte sich Adam. Einer ist nicht fremd.
Alles hier schien wundersam. Ein besseres Wort fiel Adam nicht ein. Er hatte schon zahllose Geschichten besucht. Aus jedem Genre war etwas dabei gewesen. Doch egal, ob er mit Buchreisenden heimlich zugesehen hatte, wie Frankenstein seinen modernen Prometheus zum Leben erweckte, oder mit ihnen einem gewissen Mr Darcy durch Stolz und Vorurteil gefolgt war: Nie hatte sich eine Welt so angefühlt wie diese. Selbst in Mittelerde hatte die Magie nicht so schwer in der Luft gehangen. Es schien fast, als könnte Adam sie riechen, während er vier Gestalten der Geschichte dabei zusah, wie sie verschwanden.
Jemand hatte etwas zu ihm gesagt, als er sich ebenso sprachlos wie Luthin umsah. Verwirrt blinzelte er. Sie saßen noch auf den Autositzen. Die Rückbank und die beiden Vordersitze standen mitten auf einer Waldlichtung. Die Bäume erhoben sich beinahe kreisrund um sie herum, und zwischen ihren Stämmen erkannte Adam Lichter. Es war eine Sommernacht, und sie waren alleine.
»Hört ihr?« Elisa stand von ihrem Sitz auf und rüttelte an William, der mit einem heiseren Schrei in die Höhe fuhr. Offensichtlich war auch er dem Zauber dieser Welt erlegen. Kaum standen die beiden, da lösten sich ihre Sitze auf. »Sind wir sicher?«, fragte Elisa. Sie sah dabei Adam an, der sich nur mit Mühe auf sie konzentrieren konnte.
»Ich war noch nie hier«, brachte er hervor. Verdammt, dachte er. Der Zauber dieser Welt ist unglaublich. Als sich Adam der Gefahr wieder bewusst wurde, verging die Wirkung dieses Zaubers, und er wurde klar im Kopf. »Und nein, wir sind nicht sicher«, brachte er heiser hervor. »Sie können uns folgen. Die Worte. Meine Worte. Ein Libronaut kann sie noch hören. So kann er uns folgen.«
»Also werden sie kommen?« Elisa sah sich hastig um. »Da sind Lichter. Ist das gut?«
Adam erhob sich und zog Luthin mit sich, der sich stumm umsah, als könnte er nicht glauben, dass er gewissermaßen auf Heimaturlaub war. Das Buch aber legte Adam nicht aus den Händen. Normalerweise verblieb es auf dem Sessel, auf dem der Buchreisende anfangs saß, damit es nicht in der Welt verloren ging, von der es erzählte. Doch diesmal würde Adam es mitnehmen, damit es ihre Verfolger nicht in die Finger bekamen.
»Licht klingt gut«, meinte er.
Auch die Rückbank verging, und sie machten einige unsichere Schritte über das Gras, dann liefen sie zwischen die Bäume. Sie hatten noch keine zwanzig Meter zurückgelegt, als die Rückbank wieder erschien. Drei Gestalten saßen auf ihr. Das Licht der Sterne reichte nicht aus, um sie deutlich zu zeigen, doch Adam wusste auch so, wer da seinen Worten gefolgt war. Zwei große und ein etwas kleinerer Umriss. Die drei saßen nur da und bewegten sich nicht.
Der Zauber dieser Welt hatte auch sie gefangen genommen. Doch schon im nächsten Moment regte sich die kleinere Gestalt und stieß die anderen an. Das Leben erwachte wieder in ihnen.
»Schneller!«, drängte Elisa, und Adam wandte sich nach vorne in Richtung der Lichter.
Aus einem Grund, den er nicht klar benennen konnte, erschien ihm der Wald beruhigend, kaum dass er einen Fuß zwischen die Bäume gesetzt hatte. Er hatte schon viele literarische Wälder betreten. Zuletzt war er unter Bäumen im Vampyr, in der Nibelungensage und in Alice im Wunderland gegangen. Oder besser: gerannt, denn meistens hatten seine Ausflüge in einer Flucht geendet. Doch dieser Wald war so anders.
Sie liefen einfach los. Einen Weg gab es nicht, und Adam setzte sich an die Spitze, das Buch dieser Geschichte fest in den Händen. Hinter ihnen erklangen Stimmen.
Einen Plan. Du brauchst einen Plan, Adam, sagte er sich. Denk nach! Aber das war gar nicht so leicht, wenn man verfolgt wurde. Über ihnen bildeten die Äste und Blätter der Bäume ein dichtes Dach und verbargen den Nachthimmel. Es wurde still um sie herum. Der weiche Boden federte ihre Schritte fast vollständig ab und nur ihr hastiges Atmen war zu hören. Ihre Verfolger blieben stumm.
Adam fluchte innerlich. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit sie hatten, bis sich der Durchgang schloss. Der Sommernachtstraum war länger als die Nibelungensage. Also blieben ihnen hier vielleicht sogar Stunden. Aber Stunden wollte Adam in dieser Erzählung nicht verbringen. Je eher sie wieder nach Hause kamen, desto besser. Vielleicht konnten sie …
Ein Schuss zerriss seinen Gedanken. Er klang so laut, dass er Adam noch Sekunden später in den Ohren dröhnte.
Timotheus musste geschossen haben. Hastig wandte sich Adam um. Er blickte an Elisa, William und Luthin vorbei auf die Gestalten, die erschreckend nahe waren. So laut, wie der Schuss geklungen hatte, musste Timotheus ihn nur knapp verfehlt haben.
»Hast du auch hierfür einen Plan?«, knurrte Luthin, während sie anfingen zu rennen.
Adam riss den Blick von seinen Verfolgern los und sah wieder nach vorne. Timotheus wollte Adam und Elisa. Die anderen beiden würde er sicher erschießen. Also brauchten sie Hilfe. Verbündete. Adam sah zu den Lichtern. Sie waren nun näher. Innerlich verfluchte er sich dafür, dass er den Sommernachtstraum noch nicht gelesen hatte. Aber es war einfach keine Zeit dafür geblieben. Sie hatten ihren Diebstahl und die Flucht planen müssen. Und dieser Plan hatte nicht vorgesehen, dass sie dabei sofort in das Buch eintauchen würden.
Die Lichter kamen immer näher, und hinter ihnen ertönte ein weiterer Schuss, scharf wie ein brechender Ast. Näher als der erste. Um Luthins Frage zu beantworten, deutete Adam auf die Lichter.
»Auf die Idee wäre ich nie gekommen«, keuchte der Kobold bissig.
Adam verkniff sich eine Erwiderung. Die Lichter gehörten zu den Bewohnern dieses Waldes. Auch wenn Adam den Inhalt des Buches nicht sonderlich gut kannte, wusste er, dass hier nicht nur Elfen, sondern auch Kobolde lebten. Gehörten die Lichter zu ihnen? Oder zu anderen Geschöpfen, die in diesem Wald zu finden waren und von denen er noch nicht gehört hatte?
Ein dritter Schuss erklärte diese Fragen als unwichtig. Vor ihnen drängten sich die Bäume enger aneinander, und Adams Jacke riss auf, als er sich zwischen zwei von ihnen hindurchzwängte. Und dann mussten sie stehen bleiben. Die Bäume bildeten hier eine Mauer, so eng standen sie zusammen. Nicht mal eine schmale Katze hätte einen Weg hinter diese Mauer gefunden.
Bislang waren sie in gerader Linie gerannt, und Adam zögerte, zur Seite auszuweichen. Überhaupt, es gab keine Seite. Auch links und rechts standen die Bäume dicht beisammen, und Adam und die anderen hätten kreuz und quer laufen müssen, um voranzukommen. Und dabei sicher die Orientierung verloren.
»Adam.« Timotheus klang so beherrscht, als wäre zwischen ihrem Treffen im Museum und dem Ende der Flucht nichts Besonderes geschehen. »Es ist sinnlos.«
In einem Anflug von trotziger Wut ballte Adam eine Hand zur Faust. Eine alberne Geste angesichts der Waffe in Timotheus’ Händen.
»Gib dieses lächerliche Schauspiel auf. Die Frau und du kommen mit. Und diese beiden dort, nun, ich bin sicher, niemand wird sie sonderlich vermissen.« Der Libronaut richtete die Waffe auf William und Luthin.
»Du willst sie einfach erschießen?«, rief Adam. Er war nicht an der Antwort interessiert. Er wollte nur mehr Zeit gewinnen, um einen Ausweg zu finden. Doch jede Idee in seinem von Aufregung erfüllten Kopf klang unsinniger als die vorherige.
»Das habe ich vor.« Der Libronaut offenbarte eine Mordlust, die Adam ihm nicht zugetraut hatte.
Um sie herum leuchtete das Licht, auf das Adam zugelaufen war. Der warme Schein floss über die Verfolger. Samuel und Michael hatten sich schwer atmend neben Timotheus aufgebaut und schienen darauf zu warten, dass er ihnen gleich neue Anweisungen gab.
Das Licht. Es musste zu jemandem gehören. Also musste jemand hier sein.
»Hilfe!«, schrie Adam. »Wir brauchen Hilfe!«
Einen Moment sagte niemand etwas. Timotheus sah sich um, und Samuel hob erschrocken den Kopf, als über ihnen die Äste knackten. Doch sonst geschah nichts, und der Libronaut mit der Waffe in den Händen schüttelte den Kopf. »Adam. Was soll das? Wen willst du uns hier auf den Hals hetzen? Komm, wir beenden das jetzt, ehe wir noch hier festsitzen. Wen soll ich zuerst erschießen? Wie wäre es mit dem Kobold? Er passt doch gut hierher. Ich war nicht an seiner Entführung beteiligt. Aber vielleicht stammt er ja von hier. Wer weiß? Er sollte den Anfang machen.«
Timotheus richtete die Waffe auf Luthin.
Adam machte sich für einen Sprung bereit. Er würde angreifen. Auch wenn es Luthin sicher nicht das Leben retten würde.
Ein leichter Wind kam auf und trug etwas mit sich, das Adam an feinen Pollen erinnerte.
Und in diesem Moment gefror alles um sie herum.
Die Gestalten, die sich im nächsten Augenblick zeigten, kamen Adam bekannt vor. Schlanke, wunderschöne Gestalten. Sie waren zu fünft und traten so plötzlich zwischen den Bäumen hervor, als hätte die Nacht sie geboren. Obwohl es schien, als wäre die Zeit stehen geblieben, vermochten sie sich zu bewegen. Adam konnte sich nicht erklären, wie sie es schafften, sich zwischen den eng beieinanderstehenden Stämmen hindurchzuzwängen. Sie fanden einfach genug Platz, auch wenn dies eigentlich unmöglich war.
Langsam kamen sie auf ihn und die anderen zu. Adam versuchte vergeblich, einen Schritt fort von ihnen zu machen. Doch er konnte seine Beine nicht rühren. Er sah zu Elisa und Luthin und erkannte, dass es ihnen ebenso ging. Auch die Libronauten waren wie festgewurzelt.
»Wer wagt es, die Kreise des Elfenkönigs zu stören?« Das Wesen, das gesprochen hatte, war wie seine Begleiter selbst ein Elf. Und sie glichen denen, die in London im Zauberwald lebten, so sehr, als gehörten sie alle zu einer großen Familie.
Der Elfenkönig. Oberon. Dessen Streit mit der Feenkönigin Titania ein Liebesdurcheinander auslöst, das diese ganze Nacht in ein großes Chaos stürzen würde. So viel wusste Adam von dieser Geschichte. Verdammt, dachte er. Wenn sie wirklich dem Elfenkönig nahe waren, so waren sie unter Umständen auch dem Haupterzählstrang nahe. »Wir sind …«
»Was soll das?«, rief Timotheus. »Was für ein Zauber ist das?«
Der Narr richtete die Waffe auf den Elfen, der bislang das Wort geführt hatte.
»Ist dies euer Freund oder euer Feind?«, wollte der Elf wissen, den die Waffe nicht im Mindesten beunruhigte.
»Unser Feind«, sagte Adam sofort.
Der Elf trat nahe an ihn heran, als wollte er aus dem Nachklang der Worte heraushören, ob Adam gelogen hatte. »Stimmt dies? Er ist auf jeden Fall euer Feind. Alles an ihm sagt mir das. Doch wenn deine Worte die Unwahrheit sind, so seid auch ihr unsere Feinde.«
»Soweit ich weiß, können Elfen die Wahrheit herausfinden, wenn sie einem Menschen den Stängel eines Blattes in die Brust stoßen.« Adam erinnerte sich nur ungern an den Moment im Theater, als er auf diese Weise geprüft worden war. »Ich wäre bereit.«
Der Elf legte den Kopf schief und sah zu Adam hinauf, der ihn um wenigstens einen Kopf überragte. »Gut«, sagte er bloß. »Um die Feinde kümmern wir uns auf unsere Weise. Ihr …«
Auch der Elf kam nicht dazu, den Satz zu beenden.
Timotheus schoss.
Tod. Das Wort erfüllte Adams Kopf, kaum dass er den Knall gehört hatte. Doch weder er noch einer der Umstehenden starb. Hatte der Libronaut sein Ziel verfehlt? Adam brauchte einen Moment, ehe er begriff, dass die Kugel unsagbar langsam durch die Luft flog.
Der Elf deutete mit einem Finger auf die drei Libronauten, und ebenso viele seiner Elfen bewegten sich auf sie zu. Sie waren so schnell, dass sie die Entfernung binnen eines Lidschlags überbrückten. Timotheus wurde die Waffe entrissen. Dann zogen die Elfen aus den Roben, die sie am Leib trugen, Seile hervor, die aussahen, als bestünden sie aus Ranken, und wickelten sie um die Männer.
»Danke«, brachte Adam hervor.
Der Elf, der das Wort führte, wandte sich wieder Adam zu. »Ich heiße Rindenhaut. Der Schutz des Königs obliegt mir. Alleine ich entscheide, wer ihm nahe kommen darf und wer nicht. Wer hier leben darf und wer nicht.«
»Ach komm schon, wir sind nicht wie die drei Irren dahinten.« Luthin machte einen Schritt auf den Elfen zu, der daraufhin eine Augenbraue in die Höhe drückte.
»Ein Kobold.«
»Du kannst gehen?«, raunte Adam.
Luthin zuckte mit den schmalen Schultern, als würde ihn dies nicht sonderlich überraschen. »Ja, ein Kobold«, antwortete er Rindenhaut.
»Ein Diener des Puck?« Der Elf betrachtete Luthin eingehend. »Seltsam gewandet.«
»Puck und ich sind Familie«, log der Kobold munter drauflos. »Und ich komme von weit her, um dem König der Elfen meine Aufwartung zu machen. Dort ist man so gewandet.«
Hatte der Kobold den Verstand verloren? Adam hätte ihm am liebsten eine Hand auf den Mund gepresst, doch dazu hätte er einige Schritte machen müssen, und seine Beine gehorchten ihm noch immer nicht.
»Ich will dir glauben, Kobold, denn ich erkenne die Verwandtschaft zum Narren unseres Königs in deinen Zügen. Dann sind dies hier wohl deine Diener?«, wollte der Elf wissen.
»Sie sind es in der Tat«, erwiderte Luthin, der hörbar Gefallen an dem Gespräch bekam. »Zumindest die Männer. Sie stehen in meinen Diensten, um mir die alltägliche Plackerei zu ersparen. Adam, der Tumbe. Und William, der Ängstliche.« Luthin lachte heiser. »Doch die Frau ist von einer anderen Natur. Lady Elisa, die Herrin. Eine …« Luthin stockte kurz, als er wohl hinter seiner runzeligen Stirn nach einem passenden Gedanken suchte. »… Athenerin des alten Adels.«
»Eine Athenerin? Weshalb führst du eine Athenerin an diesen Ort?«, fragte Rindenhaut. In seiner schönen Stimme klang der Ärger wie ein schiefer Ton. »Keinem Menschenauge ist es gestattet, einen Blick auf unser Reich zu werfen. Kennst du nicht die Regeln?«
Adam war sicher, dass Luthin keine Ahnung von den Regeln hatte, auch wenn er sich offenbar schlau über diese Welt gemacht hatte. Nur wie? Soweit Adam wusste, konnte der Kobold nicht lesen.
»Ich tat es auf eine Anweisung meines Höchsten«, erwiderte der Kobold so selbstbewusst, dass Adam ihm die Lüge beinahe geglaubt hätte. »Der edle Puck hat mich damit beauftragt, denn in dieser Sommernacht soll der Wille Oberons geschehen. Und wir dienen dem Willen Oberons. Der König wünscht die Anwesenheit meiner Herrin.«
Der Elf war sichtbar hin- und hergerissen. Vermutlich hätte er sie alle unter normalen Umständen mit Gewalt und gegen ihren Willen fortgeführt. Zurück in die nächste Stadt oder Siedlung der Menschen. Doch der Klang des Namens seines Herrn ließ ihn innerlich gerade stehen.
Adam hätte dem Kobold am liebsten anerkennend zugezwinkert, um ihm zu seiner gelungenen Lüge zu gratulieren. Doch er musste seine Rolle weiterspielen. Eine Rolle, von der er nicht wusste, wie sie lautete.
»Und die beiden?«, fragte der Elf und musterte Adam und William dabei misstrauisch. Ganz wollte er nicht von seinem Argwohn ablassen. »Weshalb begleiten sie dich? Welche Plackerei sollten sie dir hier im Wald abnehmen?«
»Sie stehen im Dienst der Herrin aus Athen«, log Luthin weiter. »Die Blumenmädchen der wunderbaren Elisa sind zu ängstlich, um in den Wald zu gehen. Da habe ich ihr diese beiden Esel an die Seite gestellt.« Der Kobold genoss das Ganze hier. Und Adam schwor sich, dass er sich jedes Wort merken würde, um es Luthin an geeigneter Stelle zurückzuzahlen. Esel. Er sah ihn finster an, doch der Kobold tat, als bemerkte er dies nicht.
Der Elf ließ den Blick noch einen Moment länger auf Adam und William ruhen, und sein spöttischer Gesichtsausdruck zeigte, dass er den Begriff Esel offenbar sehr passend fand. »Dann seid willkommen im Reich der Elfen, Herrin aus Athen.« Er drehte seine Hand mit der Innenfläche nach oben und pustete über die Haut. Es schien, als würde daraufhin feiner Sand oder Pollen in die Luft aufsteigen. Im nächsten Moment konnten sich Adam und die anderen wieder voll und ganz rühren. Die Libronauten indes blieben starr stehen. »Wenn unser Herr Oberon Euch und Eure Begleiter erwartet, so will ich selbst Euch zu ihm führen. Doch es ist, wie der Kobold sagt: In dieser Nacht soll der Wille Oberons geschehen. Und er geschieht. Wir spüren es überall und in jedem Augenblick. Nichts ist heute so wie sonst. Und unser Herr ist auf eigenen Wegen unterwegs. Es mag also dauern, bis Ihr ihm gegenübertreten könnt. Was aber ist der Grund dafür, dass Ihr und die Euren verfolgt werdet? Solch eine Waffe habe ich noch nie zu Gesicht bekommen.«
Elisa blickte zu den Libronauten. »Glaubt ihnen kein Wort«, rief Timotheus. »Das sind Diebe, die …«
Weiter kam er nicht. Erneut hatte der Elf über seine Hand gepustet. Was immer er da auch in die Luft steigen ließ, legte sich binnen eines Lidschlags so zielsicher auf die Münder der Libronauten, dass diese kein Wort mehr hervorbrachten, auch wenn Timotheus es erkennbar versuchte.
»Sie sind Häscher meines Cousins«, behauptete Elisa.
William runzelte bei diesen Worten die Stirn, sagte aber nichts.
