Die Chroniken der Reisenden. Staub-Kristall - Carsten Zehm - E-Book

Die Chroniken der Reisenden. Staub-Kristall E-Book

Carsten Zehm

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Beschreibung

Karen und Mihai wollten einfach nur durch die Berge wandern, ein leichtes Training im Erzgebirge vor einer größeren Tour im nächsten Jahr. Als Karen ihren Mann Mihai dann in der Höhle sieht, traut sie ihren Augen nicht: Sein Arm steckt bis zum Ellenbogen in einer Felswand. Im nächsten Moment macht er einen Schritt und verschwindet im Felsen. Weil Karens Angst um ihren Mann größer ist als die vor der Felswand, folgt sie ihm. Die Felswand entpuppt sich als Schwelle zu einer Parallelwelt der Erde, bevölkert ausschließlich von Insekten, Vögeln und Echsen in allen Größen und vorstellbaren Erscheinungsformen. Ehe sich die zwei Menschen versehen, werden sie durch vernunftbegabte Echsen gefangen genommen und verschleppt. Schnell aber wird klar, dass die Echsen, die sich Krex nennen, nicht ihre Feinde sind. Eine der Echsen, die sich als 'Hüter der Schwelle' bezeichnet, erklärt ihnen, dass sie hier sind, um eine Aufgabe zu erfüllen. Die Echsen leiden unter einer Veränderung des Sonnenlichtes, die alles Leben auf der Ebene der Krex bedroht. Hervorgerufen wird das 'Graue Licht' durch eine Waffe, den Staub-Kristall, der sich im Besitz des geheimnisvollen Schattenherrn befindet. Karen und Mihai, die als einzige nicht von dem Grauen Licht beeinflusst werden, müssen den Schattenherrn finden und besiegen. Gelingt es ihnen nicht, ihn aufzuhalten, wird er sich nach der Zerstörung dieser Welt mit dem Staub-Kristall und einer Armee seiner Geschöpfe aufmachen, um andere Ebenen anzugreifen. Auf dieser Reise müssen sich die beiden Menschen ihren größten Ängsten und Problemen stellen: Mihai seiner überwunden geglaubten Drogensucht und Karen ihrer fast schon krankhaften Angst, Mihai zu verlieren. Nur wenn sie gemeinsam kämpfen, nur wenn sie aneinander glauben, kann ihnen die Erfüllung ihrer Aufgabe gelingen … Die Chroniken der Reisenden: Was, wenn unsere Erde nur eine Erscheinungsform von vielen ist, nur eine Ebene von scheinbar unendlich vielen Parallelwelten? Was, wenn diese Welten durch ein System miteinander verbunden sind? Es ist die 'Schwelle', welche Reisenden auswählt und diese auf andere Ebenen der Erde schickt, weil sie dort eine Aufgabe zu erfüllen haben. Ihre Abenteuer sind festgehalten in den 'Chroniken der Reisenden'.

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Seitenzahl: 411

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Carsten Zehm

DIE CHRONIKEN DER REISENDEN

Zehm, Carsten: Die Chroniken der Reisenden. Staub-Kristall, Hamburg, ACABUS Verlag 2010

1. Auflage

ISBN: 978-3-941404-05-2

Die Buch-Ausgabe dieses Titels trägt die ISBN 978-3-941404-04-5 und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Lektorat: Daniela Bach, ACABUS Verlag

Umschlagsdesign: grafikdesign-silva.de

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2010

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Meinem Vater!

Geheimnisvoll am lichten Tag

Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben

Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,

Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.

aus: „Faust I“, Johann Wolfgang von Goethe

Ist es das Dunkel, ist es die Helle,

ist es dein seltsamer Blick?

Leicht sind die Nebel, nah ist die Schwelle,

leise verweht mein Geschick.

aus: „Abend“, Paul Celan

I. DAS ZELT - DONNERSTAG

II. DIE ANKUNFT - MITTWOCH (AM TAG ZUVOR)

III. GEFANGEN - ERSTER TAG (DONNERSTAG?)

IV. DAS DORF

V. DIE BESTIMMUNG

VI. VORBEREITUNG

VII. DIE SALZWASSERSEEN

VIII. AN DEN QUELLEN DES SALZFLUSSES

IX. ALLEIN

X. SCHATTENHERR

XI. MIHAI

XII. „NIEMAND NIMMT MIR MEINEN MANN!“

XIII. NUR EIN TAG IM LEBEN

I. DAS ZELT – DONNERSTAG

Die junge Füchsin witterte, wurde unruhig und blieb nervös stehen. Sie erstarrte, horchte. Aber die Geräusche passten nicht zu dem Geruch. Menschen mussten dort gewesen sein, zu hören war jedoch nichts. Geduckt schlich sie langsam vorwärts. Da war noch ein anderer, verlockender Duft, der ihr in die Nase stieg. Vorsichtig betrat sie den kleinen Talkessel und lauschte.

Der vor ihr liegende Grund wurde fast vollständig von einem Teich eingenommen. Rechts neben der Füchsin schoben Weißdornbüsche ihre stacheligen Äste über das Wasser, blickdicht und undurchdringlich. Links von ihr erstreckte sich eine Wiese, die auf der einen Seite vom Wasser, auf zweien vom Wald und auf der ihr gegenüberliegenden Seite von einer Felswand begrenzt wurde. Das nahezu senkrecht aufragende Gestein beherrschte auch das andere Ufer des Weihers. Munter ergossen sich mehrere Bäche über den Granit in den Teich. Zwischen den Weißdornbüschen verlor sich ein aus dem Weiher kommendes Rinnsal.

Mitten auf der Wiese stand eine uralte, kolossale Eiche, die fast den gesamten Talgrund beschattete. Ihr ausgedehntes Astwerk erreichte die Weißdornbüsche am anderen Ufer. Einer der größten Äste überbrückte den Abstand bis zum Felsen und wuchs dann, von ihm in seinem waagerechten Wachstum aufgehalten, wie ein eigenständiger Baum am Stein nach oben und bildete sogar eine unabhängige, auffällige Krone. Direkt unter dieser prangte ein mannshohes Loch im Gestein, von großen starken Bohlen seit vielen Jahren versperrt.

Langsam stieg die Vormittagssonne so hoch, dass sie an einigen wenigen Stellen durch das Eichenlaub drang und den Grund des kleinen Talkessels erreichte. Am Teich stand ein Zelt, offen. Zwei aufgerollte, aber nicht benutzte Schlafsäcke lagen darin, davor ein größerer und ein kleinerer Rucksack, beide geöffnet und zum Teil ausgeräumt: Wäsche, Handtücher … Die Füchsin schnupperte zwischen den Sachen, steckte die Nase neugierig in eine Plastiktüte und zog sie sogleich leise schnaubend wieder heraus – getragene Socken …

Sie blieb stehen und sah sich um. Auf zwei niedrigen Ästen hingen zum Trocknen aufgehängte Handtücher, feucht vom Tau des Morgens genau wie die auf der Wiese herumliegende Kleidung und die Schlafsäcke. Direkt am Wasser stand ein vor vielen Jahren abgesägter Baumstumpf. Darüber lag ein Geschirrtuch, darauf jeweils paarweise Frühstücksbrettchen, Messer und Becher. Ein kleiner Gaskocher neben dem gedeckten „Tisch“ musste schon vor Stunden sein letztes Gas verströmt haben. Ein verbeulter Aluminiumtopf mit einem darin festgesinterten Rest, dem Versuch einer Beutelsuppe, lag umgekippt daneben. Wahrscheinlich hatten ein paar Krähen den Inhalt geprüft. Darauf wiesen auch die weit um den Baumstumpf verstreuten, taufeuchten, angefressenen Brotreste hin.

Keine Menschen im Talkessel, nur das war wichtig für die Füchsin. Krähen zählten nicht. Die Füchsin sprang zu dem provisorischen Frühstücksplatz der abwesenden Camper. Neben dem Kocher lag eine halbe Salami – die Quelle des Geruches, der sie in den Talkessel gelockt hatte. Für die Krähen zu groß, aber für sie gerade richtig! Sie leckte ein paar Mal daran, biss anschließend vorsichtig hinein und schnappte sich dann kühn die ganze Wurst.

Ein roter Blitz und weg war die Füchsin, auf dem Weg zu ihrem Bau und den darin wartenden drei kleinen Welpen.

Bis zum Nachmittag passierte nichts auf der Lichtung vor dem Teich. Dann trat ein alter Mann, auf einen Stock gestützt, auf die Wiese und sah sich um. Grüne Cordhosen mit deutlichen Spuren jahrelangen Gebrauches und ein fast gleichfarbiges Hemd wurden durch einen langen, braunfleckigen Mantel nahezu verdeckt. Ein großer Schlapphut beschattete das faltige Gesicht mit dem grauen Schnurrbart, dem unrasierten Kinn und den tiefliegenden, wasserklaren Augen. Lange und gründlich musterte er den verlassenen Rastplatz.

„So, sind sie schon drüben?“, murmelte er. „Das ging aber schnell diesmal.“

Danach humpelte er zur Felswand und betrachtete den mit dicken, alten Bohlen gesicherten Eingang einer seit mehreren hundert Jahren verlassenen Silbermine. Im Staub davor konnte er deutlich die Abdrücke von Trecking-Schuhen erkennen. Sacht strich er mit den Fingerspitzen über einen größeren und einen kleineren Abdruck. Er richtete sich wieder auf und prüfte den Eingang. Die zweite Bohle von unten hing schräg bis auf die Erde und zeigte Spuren von Axthieben. Da, wo sie in der Barriere vor der Höhle befestigt gewesen war, war ein schmaler Spalt entstanden, groß genug, einem schlanken Menschen Durchlass zu gewähren. Ein Campingbeil lag daneben und einige verbogene Nägel, rund herum mehrere große und kleine Holzsplitter, denen anzusehen war, dass sie von der Bohle stammten. Deutlich erkannte der Alte vor den Bohlen auf der Erde die Spuren von Füßen und Knien.

Gestern. Es muss schon gestern passiert sein.

Der Mann schüttelte unzufrieden den Kopf. Er zauberte eine Taschenlampe aus den weiten Taschen seiner Hose hervor, kniete sich ächzend hin und leuchtete in die Mine.

„Hallo?“

„Lo-lo“, zitterte das Echo aus der Höhle zurück. Sonst kam keine Antwort, nur das ferne Tröpfeln von Wasser, irgendwo.

„Seid ihr noch da?“

„Da-da“ – und Ruhe.

Er stöhnte und richtete sich langsam wieder auf, eine Hand auf der Bohle, mit der anderen die Taschenlampe und seinen Stock haltend. Danach lehnte er den Stock an den Fels, ließ die Lampe wieder verschwinden und hob die Bohle mühsam hoch. Knirschend stemmte er sie in die Lücke und hieb mit der Rückseite der kleinen Campingaxt behelfsmäßig einen der krummen Nägel in das Holz.

Nur provisorisch, ich will euch nicht einsperren.

Danach ging er mit seinem Stock zum Zelt.

Und was mach ich jetzt damit?

Mühevoll sammelte er die herumliegenden Sachen ein und verpackte sie so gut er konnte. Die Handtücher, die Kleider und das, was er etwas abfällig als „den ganzen Essenskram“ bezeichnete, kamen in die beiden Rucksäcke. Schwierigkeiten hatte er, die Schlafsäcke wieder in die zugehörigen Beutel zu verstauen.

Worin die jungen Leute heute so schlafen. Er brummelte etwas ungehalten, während er sich mit schmerzenden Knien nach dem zweiten Schlafsack bückte.

Als alles fertig war, verstaute er die gesamte Ausrüstung im Zelt.

Ich denke, so zwei, drei Tage kann ich das hier stehen lassen. Wenn sie bisdahin nicht wieder da sind, dann kommt das Zeug in meine Scheune.

Er war der Hüter. Er wusste, wann es soweit war, dass jemand „rüber“ gehen sollte und er musste diese Menschen darauf vorbereiten, aber dieses Mal war er von den Ereignissen überrascht worden.

Sie sind unvorbereitet, das ist nicht gut. Er schüttelte den Kopf. Das ist gar nicht gut!

II. DIE ANKUNFT – MITTWOCH (AM TAG ZUVOR)

Die Spätnachmittagssonne erreichte den Wiesengrund schon lange nicht mehr. Sie wurde von den umstehenden Bergen abgeschirmt, so dass sich eine leichte Dämmerung im Tal ausbreitete, obwohl es noch mehr als vier Stunden bis zum Sonnenuntergang waren. Zwei müde, verschwitzte Wanderer erreichten den Teich, sahen sich um und grinsten.

„Cool“, sagte sie. „Hier bleiben wir mindestens zwei Tage.“ Mit dieser Bemerkung wischte sie wie beiläufig das Lächeln von seinem Gesicht.

Sie ließ bestimmt ihren Rucksack fallen, kramte ein Handtuch hervor und begann sich auszuziehen, dabei bewusst seine finstere Mine ignorierend. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und er musste sich danach richten. Schließlich hatte sie sich bei der Planung ihres Urlaubs nach ihm gerichtet, da konnte er ihr mit ein bis zwei Tagen schon entgegenkommen.

„Ich muss erst einmal baden.“

„Karen! Zwei Tage! Wir wollen doch noch nach Dresden!“

Er gönnte sich nur einen kurzen Blick auf die schlanke, nackte Frau, ließ dann missmutig seinen Rucksack ins Gras gleiten, holte jedoch kein Handtuch hervor, sondern begann, wie jeden Abend das Zelt unter seinem Rucksack abzuschnallen und einen Platz dafür zu suchen. Wahrscheinlich würde er sie nicht umstimmen können, dazu war Karen viel zu willensstark, aber ein Versuch konnte nicht schaden.

Karen planschte bereits im Wasser. Wegen der Kälte des Gewässers hatte sie laut gejauchzt, als der junge Mann seine Bedenken geäußert hatte. „Was hast du gesagt, Mihai?“

„Wir hatten doch bereits zwei Ruhetage in den letzten beiden Wochen. Und das hier ist nur das Erzgebirge. Was willst du denn im nächsten Jahr machen, wenn wir ins Wettersteingebirge fahren? Meinst du wirklich, das Höllental oder die Zugspitze sind so erholsam wie diese Wiese hier?“

„Oh Mann! Fang doch nicht wieder damit an.“ Karen kam schnaufend und prustend aus dem Wasser. „Buh – das ist kalt.“ Sie nahm ihr Handtuch und begann sich abzurubbeln.

Mihai blickte erneut kurz hin und wandte sich wieder dem Zelt zu. Toll, wieder ein Tag Pause! Das passte ihm gar nicht.

Seit zwei Wochen wanderten sie jetzt schon durch den Thüringer Wald und das Erzgebirge, ab und an unterstützt von einer kleinen Bustour oder einer kurzen Eisenbahnfahrt. Dresden und die Sächsische Schweiz standen noch auf seinem Plan für die letzten sieben Tage und schon wieder einen freien Tag wollte er sich nicht gönnen. Aber wie sollte er seine Freundin von diesem Platz weg bekommen? Schatten, sicherlich auch Sonne tagsüber, Felsenwand, Bäume, Wiese und dieser wunderbare Teich – in dem er dann auch dringend baden musste – luden geradezu zum Verweilen ein. Aber die Zeit!

Das war genau die Situation, in der er zur Entspannung einen Joint gebraucht hätte. Aber nein! Seit zwei Jahren war er darüber hinweg. So dachte er. Er ahnte nicht, dass seine Sucht sie beide in wenigen Tagen in eine schier ausweglose Situation bringen sollte.

„Nun schau nicht so grimmig drein.“ Karen kam von hinten zu ihrem Freund, wrang sich ihre Flut ungebändigter, mahagoniroter Locken aus und drehte sie zu einem dicken Zopf zusammen. Anschmiegsam kuschelte sie sich an seinen Rücken und umschlang ihn mit dem Handtuch. „Dresden läuft uns nicht weg und die Sächsische Schweiz auch nicht.“ Sie hatte seinen blonden Zopf zur Seite geschoben und küsste seinen Nacken.

Mihai hieb verbissen mit seiner Axt auf einen Hering ein.

„Hallo, großer Meister. Der Zelthaken kann nichts dafür. Aber schau doch mal. Ich bin sicher, dass wir hier in den nächsten 48 Stunden keine Menschenseele treffen werden. Der Pfad war total zugewuchert, kaum zu erkennen. Und sieh dich mal um.“ Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände, so dass er notgedrungen mit dem Einhämmern auf den Hering aufhören musste.

„Sieh mich mal an.“ Sie sprach augenblicklich ruhiger, sanfter. „Ich bin doch deine Frau jetzt, seit sechzehn Tagen. Gönn mir das Plätzchen hier. Nächstes Jahr in den Alpen, da ziehen wir richtig durch, versprochen. Auch wenn ich solche Urlaube nicht mag, aber ich habe es dir zugesichert. Doch in etwas mehr als einer Woche bin ich wieder bei meinen behinderten Kindern und du bei deinen Zweitklässlern.“

Sie zog ihm das verschwitzte T-Shirt aus der Hose, fuhr mit ihren Lippen sacht über seinen Mund, der schon nicht mehr so verkniffen war wie noch wenige Sekunden zuvor, stupste mit ihrer Nase leicht gegen seine Wangen. Zugleich ließ sie ihre Hände sanft unter sein T-Shirt wandern und spürte seine Gänsehaut.

„Und bis dahin, mein lieber Mihai, möchte ich meinen Urlaub, unsere Hochzeitstour, genießen …“ Der Rest versank in einem langen Kuss.

Etwa eine Stunde später stand das Zelt. Mihai war bereits frisch gebadet und abgetrocknet und zog sich an. Im Bauch hatte er ein wohlig-ruhiges Gefühl, wie immer wenn er mit Karen geschlafen hatte. Karen hatte einen alten Baumstumpf zu einem provisorischen Tisch umfunktioniert und bereitete das Abendbrot zu.

„Hering!“, sagte er, wog die Campingaxt in der Hand und blickte sich um.

„Was sagst du?“

„Hering! Es war ein Hering, kein Zelthaken!“

Karen grinste. „Ja, Herr Lehrer.“ Sie wusste genau, dass er das nicht leiden konnte, aber sie war nicht in der Stimmung, auf jedes kleine Wehwehchen von Mihai einzugehen, dazu war es einfach zu schön hier. „Sammle doch bitte noch ein wenig Holz, ich hätte gern ein kleines Feuer heute Abend.“

Mihai überlegte. Vielleicht konnte er von den Bohlen am Höhleneingang ein paar trockene Scheite abschlagen?

Karen sagte, dass sie noch eine Beutelsuppe kochen wolle, und fragte, ob er Tomaten- oder Nudelsuppe wünsche.

Tomatensuppe wäre okay, antwortete er, schwang die Axt in der Hand und ging zum Eingang der Höhle hinüber. Ob das eine alte Mine ist?

Und plötzlich fühlte er den Ruf!

Während sie das Abendbrot vorbereitete, sah Karen ab und an zu Mihai herüber. Er schlug mit der kleinen Axt auf einen der unteren, waagerechten Balken ein. Splitter sprangen ab, dann machte er sich an der Seite der Bohle zu schaffen. Es knirschte, Mihai zog das Ende des Balkens herunter und legte es auf die Erde. Die andere Seite blieb in der Verankerung des Höhleneinganges.

„So viel Holz wollte ich doch gar nicht.“

Staunend bemerkte sie, dass er auf ihren scherzhaften Zuruf nicht reagierte. Er spähte in das Dunkel des jetzt nicht mehr abgesperrten Schachtes und holte sich mit wenigen schnellen Schritten eine Taschenlampe aus seinem Rucksack, den er geöffnet und halb ausgeleert vor dem Zelt liegen ließ.

„Mihai? Was machst du da?“ Wenn der denkt, ich räume das alles wieder ein …

Während Karen die allmählich auf dem Gaskocher zum Kochen kommende Tomatensuppe rührte, beobachtete sie ihren Mann, der nun vor dem Loch in der Bohlenwand kniete und mit der Lampe in den Schacht leuchtete.

„Kriech da bloß nicht rein!“

Als hätte er nur auf diese Warnung gewartet, steckte er zuerst den Kopf und den Arm mit der Taschenlampe in den Spalt, zwängte den gesamten Oberkörper nach und war kurz darauf völlig verschwunden.

Karen hatte aufgehört im Topf zu rühren und die Vorgänge am Stolleneingang mit offenem Mund und bangem Erstaunen verfolgt. Spinnt der?

Sie ließ die Suppe Suppe sein, sprang auf und rannte zur Mine. Als sie hineinspähte, konnte sie im Halbdunkel nicht viel mehr sehen als den Widerschein der sich entfernenden Taschenlampe an der unebenen Decke. Anscheinend nahm ihr ein Geröllhaufen hinter dem Eingang die Sicht.

„Mihai, bist du bescheuert? Komm zurück!“

Nur die leiser werdenden Schritte auf dem mit Geröll übersäten Boden der Höhle waren zu hören.

„Mihai?“

„Hai-hai“, antwortete die Mine.

Karen rannte aufgeregt zu ihrem Rucksack, wühlte darin herum und warf ebenfalls achtlos Wäsche und Ausrüstung auf die Wiese, bis sie ihre Taschenlampe fand. Keuchend stolperte sie zum Eingang zurück und zwängte sich durch den engen Spalt. Dabei zerschrammte sie sich den rechten Ellenbogen.

„Noch dicker darf mein Hintern nicht werden“, knurrte sie, obwohl keine Gefahr bestand, mit dem erwähnten Körperteil stecken zu bleiben. Sie wusste um ihre gute Figur, fand aber, dass ihr Po viel zu gewaltig für ihren schlanken Körper sei. Obwohl Mihai – und seine „Vorgänger“ – ihr immer wieder das Gegenteil beteuert hatten.

„Mihai?!“

Keine Antwort.

Was macht der Blödmann hier drinnen?

Schon nach ein paar Schritten musste sie ihre Taschenlampe einschalten. Der schmale waagerechte Lichtspalt von außen wurde durch einen fast zwei Meter hohen Geröllhaufen verschluckt, der sich wohl aus einem Bruch an der rechten Wand ergossen hatte. Beim Klettern über die schlüpfrigen Steine rutschte sie mehrmals weg und schlug dabei erneut auf den rechten Ellenbogen.

„Verdammter Mist! Was mache ich hier eigentlich?“, fluchte sie – und dann lauter: „Scheiße, Mihai, was soll das? Komm zurück!“

Unruhig huschte der gelbe Fleck ihrer Taschenlampe über die unebenen Wände der Höhle. Von der Decke tröpfelndes Wasser durchnässte sie. Kalt und ungemütlich war es. Zitternd leuchtete Karen in die Mine, nachdem sie den Geröllhaufen überwunden hatte. Schwarze Schemen krochen scheinbar von den Wänden und griffen nach ihren Füßen.

Der kann was erleben! Was fällt dem bloß ein?

Langsam ging sie vorwärts, trotzdem hob sich ihr Brustkorb heftig und schnell. Aufgeregt schwenkte sie die Taschenlampe umher. Ihre Fantasie gaukelte ihr Spalten im Boden vor, von der Decke herabhängende Felszacken, riesige Spinnen mit behaarten Beinen und glitschige Molche an den Wänden. All diese Gestalten entpuppten sich jedoch als Schatten, hervorgerufen durch Unebenheiten im Gestein.

Die Höhle selber gab sich jetzt eindeutig als alte Mine zu erkennen. Große, schwere Stützbalken, die locker hundert oder mehr Jahre alt waren, hielten den Berg über ihr fest.

Wenige Meter hinter dem Geröllhaufen gabelte sich der Gang. Wo lang jetzt? Links konnte sie, als sie ihre Taschenlampe gelöscht hatte, den schwachen Abglanz von etwas Hellem wahrnehmen.

„Mihai, du Idiot. Na warte, wenn ich dich erwische. Du schläfst heute Nacht draußen!“

Fahrig hetzte der Strahl ihrer Taschenlampe über die Wände der alten Mine. Hier muss schon seit mehreren hundert Jahren kein Mensch mehr gearbeitet haben. Warum hat man sie dann nicht völlig zugeschüttet? Wahrscheinlich mangelt es mal wieder am Geld, frei nach dem Motto: Es ist doch bisher nichts passiert. Warum sollen wir dann etwas tun? Wütend erinnerte sie sich an die Diskussion in ihrem Heimatort, als Anwohner an einer stark befahrenen Straße eine Ampel für die Schulkinder gefordert hatten. Die Verantwortlichen hatten mit genau demselben Argument abgelehnt.

Karen schnaufte. „Noch nichts passiert!“ Vor einem halben Jahr war dann an jener Stelle ein zehnjähriges Mädchen überfahren worden.

Der Boden war mit Pfützen und Steinen übersät, die mit schmierigen Flechten bewachsen waren. Rechts und links zweigten Seitengänge ab. Bei einigen konnte Karen deutlich Geröll erkennen, welches die Gänge auf ewig versperrte. War sie sich unsicher, welchen Stollen sie wählen sollte, schaltete sie ihre Taschenlampe ab und wartete einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Geräusche der Mine schienen in der Finsternis lauter zu werden, tröpfelndes Wasser, rieselnder Staub, knirschender Fels und natürlich Mihais Schritte irgendwo weit vor ihr. Echos machten es unmöglich, die Entfernung oder die Richtung zu bestimmen, sie verließ sich lieber auf ihre Augen. Es dauerte immer nur wenige Atemzüge, bis sie den Widerschein von Mihais Taschenlampe sah. Wieder sicherer geworden, folgte sie ihm.

Zwei, drei Mal vollzog sie diese Prozedur, bis sie das Licht seiner Lampe nicht mehr erkennen konnte, selbst als sie länger wartete. Panik stieg in Karen auf und griff mit langen Krallen nach ihrem Magen, Panik, die sie bis dahin tapfer unterdrückt hatte. Sehr verunsichert lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die unebene, feuchte Wand aus kaltem Stein. Sie wartete auf etwas, von dem sie befürchtete, dass es nicht geschehen würde.

Warum tut er das? Mihai war nicht der Typ, der grundlos in irgendwelche alten, baufälligen Bergwerke einbrach, um sich darin verschütten zu lassen.

Sie stand mit ausgeschalteter Taschenlampe in der völligen Finsternis, lauschte auf seine Schritte, die nicht mehr zu hören waren und suchte sein Licht, das nicht mehr zu sehen war.

„Mihai?“ Nicht länger laut und wütend, sondern angstvoll klang der Ruf nach ihrem Freund.

Mann! Er ist mein Mann!

Sie verlor das Zeitgefühl. Stand sie schon zehn Minuten hier oder erst eine? Was sollte sie tun, wenn sie Mihai nicht fand? War er irgendwo in dieser Höhle in einen tiefen Spalt gestürzt? In der Dunkelheit konnte man Spalten im Boden leicht übersehen, da die Höhle nur unzureichend durch ihre mittelmäßigen Taschenlampen aufgehellt wurde. Oder lag er vergiftet von irgendeinem ominösen Bergwerksgas in der Ecke, keuchte und hoffte auf sie, dass sie ihn wieder einmal aus seinen Schwierigkeiten herausholte?

Und draußen brennt mir die Suppe an.

Sie hatte es bestimmt schon eine ganze Weile gesehen, bevor ihr überhaupt bewusst wurde, dass sie etwas sah. Einige Meter vor ihr schien ein schwaches, bläuliches Licht direkt aus der rechten Wand zu kommen. Sich mit der einen Hand am Fels entlang tastend, schritt sie, ohne ihre Lampe wieder anzuschalten, langsam und vorsichtig auf das Licht zu. Es kam nicht aus der Wand, sondern aus einer nur spaltbreiten, aber scheinbar sehr tiefen Öffnung im Fels.

„Mihai? Bist du da drin?“ Sie hatte nicht wirklich mit Antwort gerechnet, umso mehr erschrak sie, als sie seine Stimme hörte.

„Karen“, schallte es dumpf und echoverzerrt aus dem Spalt, etwas seltsam im Tonfall, aber eindeutig Mihai.

Er war also dort. Karen zwängte sich durch den Fels, murmelte noch etwas von „wirklich-nicht-zunehmen-dürfen“ und wollte schon mit einem Riesendonnerwetter über Mihai herziehen, als sie erstarrte.

Der Raum, den sie betreten hatte, maß etwa zehn Meter im Durchmesser, war bedeutend höher als der Rest der Mine und nicht durch Stützbalken befestigt. Seltsamerweise fiel ihr zuerst auf, dass der Fußboden völlig eben und trocken war, keine glitschigen Pfützen, kein von der Decke gefallenes Geröll, nichts. Dann sah sie endlich Mihai – und dann sah sie auch, wo er stand. Eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herz …

Das undefinierbare bläuliche Licht in diesem Raum schien keine Quelle zu haben, es herrschte im ganzen Raum vor, ohne Schattenwurf. So beklemmend allein diese Tatsache war, so beunruhigend war allerdings das eindeutige Zentrum dieses Raumes, die dem Eingang gegenüberliegende Felswand. Sie erstreckte sich über die gesamte Höhe und Breite der Höhle und Karen hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Wand der eigentliche Zweck dieses Raumes, ja vielleicht sogar des gesamten Bergwerkes war. Auf den ersten Blick konnte sie keine Unebenheiten an ihr erkennen. Allerdings schien sie von einer leichten, hauchfeinen Schicht aufwallenden Nebels bedeckt zu sein.

Und dann begriff Karen endlich, was sie die ganze Zeit schon gesehen hatte, aber nicht wahrnehmen wollte. Mihai stand direkt vor dieser Nebel-Stein-Wand – und sein linker Arm steckte bis zum Ellenbogen im Felsen. Karen keuchte erschrocken auf und die Hand, die sich um ihr Herz gelegt hatte, griff erbarmungslos zu.

„Mihai!“

Er drehte sich um und sah sie mit seltsam verklärtem Blick an. Wie in Trance sagte er: „Sie hat mich gerufen, Karen.“

Dann drehte er sich wieder zum Fels, machte einen Schritt nach vorn und war im Gestein verschwunden.

„MIHAI!“ Karens panischer Schrei gellte so laut echowerfend durch die Mine, dass ein paar Kohlmeisen, die sich am Höhleneingang zu schaffen gemacht hatten, erschrocken aufflogen und in den Wald flüchteten.

„Mihai! Nein! Scheiße!“

Sie rannte zu der Felswand und stoppte knapp einen Schritt davor, ohne den Stein zu berühren. Nervös wippte sie auf den Zehenspitzen, pulte mit dem linken Daumennagel unter dem des rechten Zeigefingers und kaute auf ihrer Unterlippe.

Verdammt, was soll das? Es kann doch niemand in einem Felsen verschwinden! Ihr Herz pochte bis zum Hals, die Knie waren wie Butter und im Magen schien sie einen ganzen Wespenschwarm zu haben. Bin ich in einem schlechten Film?

Was zum Teufel passierte hier? Mihai hatte einen Schritt gemacht und war in einem Felsen verschwunden. Und das war ganz eindeutig ein Felsen hier vor ihrer Nase. Karen konnte genau die steinerne Struktur der Nebel-Stein-Wand erkennen. Sie machte einen unruhigen Schritt nach hinten, nur um im gleichen Moment wieder nach vorn zu gehen. Aber nur einen Schritt, bloß nicht diesen Mihai-verschluckenden Felsen berühren.

Entgeistert blickte sie den Stein an, in dem ihr Freund verschwunden war. Wieso „gerufen“? Und wieso „sie“?

„Sie hat mich gerufen!“, hatte er gesagt. Aufgeregt und fahrig lief sie in der Höhle auf und ab. Es hieß der Fels, oder der Stein, aber nicht die! Wie kam Mihai also auf sie? Was hatte er gemeint?

Leicht wallte der Nebel vor der Wand. Sollte sie damit gemeint sein? Die Wand?

Wie kam dieser Nebel hierher und wieso hielt er sich so hartnäckig an der senkrechten Fläche? Karen schnupperte sehr vorsichtig mit der Nase dicht am Stein, ängstlich bemüht, nur nicht den Fels zu berühren. Nein, zu riechen war hier wirklich nichts. Sie fühlte auch keinen aufkommenden Kopfschmerz oder beginnenden Schwindel, der auf giftiges Gas hingedeutet hätte.

Warum konnte Mihai plötzlich durch Felsen gehen? Und warum sollte er das tun? Er war ein ganz normaler Unterstufenlehrer, bisher jedenfalls. Mit dem üblichen Stress auf der Arbeit und einer ganz gewöhnlichen Kindheit. Sein Vater war vor dreißig Jahren aus Rumänien gekommen und hatte eine deutsche Frau, seine Mutter, geheiratet. Von ihr hatte er sein blondes Haar geerbt, wenn sein ganzes restliches Gesicht auch eindeutig auf seine südländische Herkunft wies. Seine Eltern hatten viele Jahre lang in Bukarest gelebt, waren dann nach Berlin gezogen und führten eine ruhige, glückliche Ehe. Mihai hatte noch zwei Schwestern. Grundschule, Gymnasium, Zivi, Studium, Job – alles hatte bei ihm gut geklappt, alles normal. Deswegen wurde niemand „gerufen“, ging keiner durch einen Felsen!

Immer heftiger ging ihr Atem. Sie wusste, was sie tun musste, sie wusste es genau. Und sie hatte riesengroße Angst davor. Dass sie es nicht wollte, war in diesem Moment völlig nebensächlich. Mihai war weg, da durch, was immer das auch bedeuten mochte. Und sie würde ihn nicht alleine lassen, das hatte sie bisher noch nie getan. Karen blieb mitten vor der Wand stehen.

„Okay, du … Ding!“, stieß sie hervor. „Ich weiß nicht, was du bist. Aber ich lasse mir meinen Mihai nicht wegnehmen, nicht von einer Frau, nicht von einem Mann, nicht von irgendwelchen beschissenen Drogen und schon gar nicht von einer steinernen Wand!“ Sie sprach, als würde sie hinter jedes Wort ein Ausrufezeichen setzen.

Mihai hatte einmal gesagt, dass sie die bewundernswerte Gabe besäße, Ausrufezeichen sogar ohne Worte sprechen zu können. Natürlich hatte er es ironisch gemeint. Aber jetzt, in diesem Moment, hatte Karen nicht nur Angst. Vorhin hatte sie den Eindruck gehabt, dass Mihai nicht aus eigenem Willen handelte. Er hatte geredet wie damals, als er sich die von der Loveparade mitgebrachten Pillen „eingeworfen“ hatte, wie er sagte. Langsam, überdeutlich, wie im Rausch. Und das machte sie wütend, richtig wütend.

Sie holte tief Luft – oh Mann, hatte sie eine Scheißangst – machte einen Schritt und verschwand im Fels.

Das Erste, was sie fühlte, war eine nie gekannte Leichtigkeit und ein angenehmes, fast schon erotisches Kribbeln im ganzen Körper. Sie schämte sich erst ein wenig für dieses Gefühl. Aber Quatsch eigentlich, vor wem sollte sie sich denn hier im Felsen schämen?

Hier im Felsen? Da machte sie einen zweiten Schritt.

Jetzt hatte sie plötzlich das Gefühl, unwahrscheinlich schnell von innen her auseinandergerissen zu werden. So ungefähr musste es sich anfühlen, wenn man eine Handgranate im Bauch hatte und diese explodierte, nur wahrscheinlich schmerzhafter und nicht so …? Wohlig! Ja, wohlig war das richtige Wort.

Nein, nicht Handgranate, ihr Körper wurde nicht zerfetzt, ihr Körper wurde größer, länger, dicker.

Dicker?! Karen machte einen dritten Schritt.

Schneller, als sie beim vorigen Schritt auseinander gedriftet war, schrumpfte sie jetzt wieder. Wenn das Tempo bliebe, dann würde sie ganz schnell das Kinn in Höhe ihrer Waden haben. Und obwohl ihr Kopf immer kleiner wurde, war er doch gefüllt mit einer nicht unangenehmen Kaskade aus bunten Blitzen, nie gesehenen Farben und unbekannten Tönen. Komischerweise fühlte sie trotzdem noch den festen Boden unter ihren Füßen und sie wusste, dass sie jederzeit umkehren und zurückgehen konnte. Aber sie wollte nicht. Karen wollte zu Mihai.

Also machte sie einen vierten Schritt.

Endlose Dunkelheit war um sie herum und füllte sie aus, genau wie absolute Stille. Größer hätte der Gegensatz zur vorherigen Licht- und Tonsymphonie nicht sein können. Jetzt, das merkte sie, war eine Umkehr unmöglich.

Und so machte sie den fünften und letzten Schritt.

III. GEFANGEN – ERSTER TAG (DONNERSTAG?)

Die Sonne ging über einer kleinen Lichtung am steilen Hang eines einsam stehenden Berges auf. Gelblich-grünes, hüfthohes Gras wogte im Morgenwind, am allmählich blauer werdenden Himmel verblassten die letzten Sterne. Bäume mit fast schwarzer Rinde und karmesinroten, 15 bis 20 Zentimeter langen, hängenden Nadeln umstanden die Lichtung in einem dichten Wald. Aus dem Unterholz tönte das vielfältige Summen einer reichen Insektenwelt und die Waldlichtung hallte wieder von den fremdartigen Gesängen der hiesigen Vögel.

Weit über Karen zog ein riesiger Vogel seine Kreise am Himmel, die gerade über den Bäumen aufsteigende Morgensonne warf ein rotes Licht auf ihn. Karen machte ein paar zögernde Schritte auf die Wiese. Staunend wie ein kleines Kind ließ sie das fremdartige, weiche Gras durch ihre Finger gleiten, atmete tief die aromatische, warme Luft ein und schien vergessen zu haben, weswegen sie hier war. Wo immer dieses Hier auch sein mochte …

Plötzlich sah sie Mihai vor einer Grotte in der an dieser Stelle steilen Wand des Berges im Gras liegen und mit einem Schreckensschrei sprang sie zu ihm, fiel auf die Knie und zog seinen Kopf auf ihren Schoß. „Mihai! Oh mein Gott, Mihai! Was ist mit dir?“

„Hm?“, schlaftrunken öffnete er die Augen. Seine Hände griffen nach ihren Haaren. Unsicher blickte er sich um, schien im ersten Moment nicht zu wissen, wo er war. Aber dann zog ein Ausdruck des Erinnerns über sein Gesicht. „Karen? Da bist du ja endlich.“

Überglücklich bedeckte sie sein Gesicht mit Küssen, die Anspannung der letzten halben Stunde löste sich in einem Bach von Tränen, die auf sein Gesicht tropften und in einem Schwall von Worten, die aus ihr hervorsprudelten: „Wie konntest du nur in diese Höhle gehen? Was hast du dir dabei gedacht? Bist du verletzt? Als ich dich in der Wand verschwinden sah, bin ich fast durchgedreht. Wo sind wir hier? Das Licht ist irgendwie komisch, findest du nicht auch? Und diese Bäume mit den riesigen Nadeln und die Farbe von dem Gras hab ich auch noch nie gesehen …“ Plötzlich stockte sie, sah ihn an und fragte dann in einem deutlich frostigen Ton: „Was heißt überhaupt: ‚Da bist du ja endlich?‘“

Mihai hatte sich aufgerappelt, rieb sich die Augen, gähnte gelassen und blickte in die Runde. „Na, ich habe Stunden auf dich gewartet. Warum hat das so lange gedauert, bis du über die Schwelle gekommen bist?“

Karen setzte sich steif auf, als hätte sie den Lieblingsbesen ihrer Schwiegermutter anstelle ihrer Wirbelsäule. „Stunden? Du machst wohl Witze? Ich bin durch dieses verdammte Bergwerk hinter dir her gekrochen, habe mir dabei meinen Ellenbogen aufgeschlagen, weil du ohne ein Wort los musstest. Ich finde dich wie im Vollrausch vor einer Steinwand stehen, mit dem Arm im Felsen, du faselst etwas von ‚gerufen‘, machst dann einen Schritt und verschwindest in einer Wand …“

„In der Schwelle.“

„Scheißegal, ob …“, sie stockte. „In der ‚Schwelle‘?“

„Diese Wand ist eine Schwelle, eine Art Tor hierher. Und sie hat mich gerufen. Ich musste einfach durch.“

„Verflucht, Mihai. Du verziehst dich ohne ein Wort und wir sind erst sechzehn Tage verheiratet. Wie soll das in zehn Jahren werden?“

„Karen, verstehst du nicht? Diese Felsenwand, die Schwelle, wollte, dass ich hierher komme!“

„Hörst du dich eigentlich selber reden? Eine Wand will, dass du durch sie hindurch gehst! Mal ehrlich, was hast du geschluckt vorher?“

„Du weißt, dass ich seit zwei Jahren nichts mehr nehme. Karen, hör mir doch mal zu …“

Karen kreischte hysterisch auf und trommelte mit ihren Fäusten auf Mihais Brust. „NEIN! Ich will zurück mit dir. Und! Zwar! Jetzt! Gleich!“

Mihai packte sie an der Schulter und zog sie sanft, aber bestimmt an sich. „Ruhig, mein Schatz. Ganz ruhig!“

Karen begann zu schluchzen, schnaubte. „Wir sind durch einen Felsen gegangen … durch einen Felsen!“ Und nach einer Weile: „Eine Schwelle? Meinst du so ein Tor wie das Stargate aus der Science-Fiction-Serie?“

„Nein. Das hier ist anders. Ich kann es nicht besser erklären. Sie hat mich gerufen, sie wollte, dass ich durchgehe. Sie hat es mir erlaubt. Ich hatte das Gefühl, dass sie das nicht jedem erlauben würde.“

„Aber mir auch.“ Karen schniefte und sah auf.

„Ja, weil ich dich brauche.“

Sie sah sich um. „Ich begreife das nicht. Wo sind wir hier? Auf einem anderen Planeten?“ Ein Schauer lief ihr bei den Worten über ihren Rücken.

„Nein. Wir sind auf jeden Fall auf der Erde. Als ich vor ein paar Stunden hier ankam …“

„Mihai“, unterbrach sie ihn. „Du bist nur wenige Minuten vor mir über die Schwelle gegangen!“

„Ich kann es mir auch nicht erklären, aber ich bin vor Stunden hier angekommen, es muss sechs oder sieben Stunden vor dir gewesen sein. Bist du sicher, dass du gleich hinter mir in den Stollen gekrochen bist?“

Karen wurde wieder wütend. „Du bist wie ein liebeskranker Teenager der Stimme dieser Wand gefolgt, um es mal so auszudrücken. Und ich bin dir sofort hinterher. Ich habe kein Nickerchen gemacht, kein Abendbrot gegessen und kein weiteres Bad genommen, obwohl ich all das im Moment recht gut vertragen könnte.“

„Schon gut, reg dich bitte nicht wieder auf.“

Sie atmete tief durch. „Okay, ich bin ganz ruhig. Lass uns zurückgehen, mir ist es unheimlich hier.“

Wieder blickte sie umher. Karen konnte ein Gefühl der Unruhe nicht unterdrücken, obwohl der sie umgebende Wald alles andere als bedrohlich wirkte. Eher im Gegenteil, die Bäume und Sträucher strahlten Ruhe und Frieden aus, etwas, was so gar nicht zu dem Gefühl passte, das mehr und mehr von Karen Besitz ergriff. Dies war wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, so dachte sie, dass sie eben eine Reise unternommen hatten, die sie nur aus dem Fernsehen kannte.

Eine Art Flug durch die dritte Dimension oder so ein ähnlicher Quatsch.

„Wir können nicht zurück“, sagte Mihai etwas zerknirscht. „Ich habe es probiert, als du nicht kamst. Der Fels ist steinhart – die Tür ist zu.“

„Vielleicht habe ich diese Wand blockiert. Möglicherweise ist sie jetzt wieder offen. Komm, wir probieren es noch einmal.“

„Karen …“

„Mihai, bitte. Mir ist es unheimlich hier. Diese Bäume, das Gras, und irgendwie ist das Licht so … so … grau. Komm schon, wir probieren es. Ich will zurück zu unserer Lichtung. Bitte!“

Karen hatte Recht. Auf den ersten Blick schien die jetzt voll aufgegangene Sonne dasselbe Licht auszustrahlen wie zu Hause. Wenn man aber genauer darauf achtete, konnte man etwas wie einen leichten Schleier vor der Sonne sehen. Eine Art graues Licht lag über der Landschaft, das aber eindeutig nicht von der Sonne zu kommen schien. Mihai war es bisher noch nicht aufgefallen.

Und Karen hatte Unrecht. Sie kamen nicht über die Schwelle zurück. Als sie eine Viertelstunde später deprimiert die geräumige Grotte verließen, in der sich eine ähnliche Nebel-Stein-Wand wie in der alten Silbermine im Erzgebirge befand, ließen beide die Köpfe hängen. Der Rückweg war versperrt.

„Was jetzt?“, flüsterte Karen. „Und wo sind wir hier?“

Mihai sah sich um, dann blieb sein Blick am fast wolkenlosen Himmel hängen. „Zumindest auf der Erde.“

Und als Karen ihn fragend ansah, zeigte er nach Westen, auf eine Stelle kurz über den Bäumen. Dort war der Mond, ihr Mond, den sie von zu Hause aus kannten, klein, blass und schmal verschwand er zwischen den Zweigen. Der Horizont war von ihrer Position auf der Lichtung aus nicht zu erkennen. Um sich einen Überblick zu verschaffen, müssten sie diesen Platz verlassen und sich zu deutlich höher gelegenen Bereichen des Berges begeben.

„Gut.“ Karen richtete sich auf. „Dann lass uns Hilfe suchen. Es muss irgendwo Menschen geben, wir sind hier nicht in einer Wüste. Und dann gibt es unter Garantie auch eine deutsche Botschaft hier, wo immer wir auch sind. Ja, und wenn wir dort sind, dann sollen sich die Wissenschaftler um dieses Ding, diese … durchlässige Nebel-Stein-Wand, kümmern.“

Tief holte sie Atem, sah sich dabei um und wies dann auf eine Stelle am Waldrand, etwas seitwärts von ihnen. „Dort vorn scheint ein Pfad zu sein. Den nehmen wir!“

Nicht dass sie eine große Auswahl gehabt hätten, der von ihr gemeinte Pfad war der einzige, der auf die Lichtung führte.

Mihai folgte ihr schulterzuckend. „Die Wissenschaftler?“, murmelte er. „Na, ob das so eine gute Idee ist?“

Zwei Stunden später rasteten sie verschwitzt, erschöpft, zerkratzt und sehr verunsichert am Ufer eines kleinen, klaren Baches. Weit überhängende Zweige beschatteten eine kleine Wiese und dankbar nutzten die Wanderer diesen natürlichen Sonnenschutz. Beide hatten in langen Zügen getrunken, sich die Gesichter und die Oberkörper gewaschen und lagen jetzt halbnackt auf dem Rücken im weichen, gelblich-grünen Gras. Verspielte Sonnenflecken, die sich durch das dichte Baumdach stahlen, tanzten auf ihren Körpern. Karen war mit der Bemerkung „Wenn ich daran denke, dass unser komplettes Abendbrot im Erzgebirge herumliegt und von irgendwelchen Vögeln gefressen wird …“ eingeschlafen.

In den letzten beiden Stunden hatten sie sich durch den dichten Wald gekämpft. Der von Karen entdeckte Pfad war wirklich nicht mehr als das, ein zugewachsener, kleiner, gewundener Pfad, der stetig bergauf führte. Anfangs hatten sie überlegt, ob bergab vielleicht günstiger wäre. Mihai meinte, dass ihre Chancen besser stünden, unten auf Straßen und Siedlungen zu treffen. Karen dagegen glaubte, dass es anstelle blinden Herumwanderns unten im Urwald sicherer sei, sich von der Bergspitze erst einmal einen Überblick zu verschaffen.

„Vielleicht können wir von dort oben schon eine Stadt oder zumindest ein Dorf oder eine Straße sehen.“

Sie einigten sich auf Karens Vorschlag – das heißt, Mihai gab nach. Vielleicht war ein Rundblick vom Gipfel ja wirklich besser. Und der Aufstieg war auch nicht allzu schwer.

Mit der steigenden Sonne stieg auch die Temperatur. Der Wind ließ nach, verebbte zu einem lauen Lüftchen, welches kaum mehr die Zweige bewegte, und unter den Bäumen breitete sich eine drückende Schwüle aus, so dass die beiden beschlossen, für einige Stunden Rast zu machen. Karen war müde, war es doch früher Abend gewesen, als sie im Erzgebirge über die Schwelle gegangen waren.

Gott sei Dank waren sie nicht irgendwo in Skandinavien angekommen, so dass sie sich wenigstens nicht auch noch Sorgen wegen der Temperatur machen mussten. Beide waren aufgrund des überhasteten Aufbruches nur mit Jeans, Shirt und Trecking-Schuhen bekleidet. Mihai tippte auf das südamerikanische Hochland, während Karen eher Asien vermutete. Keiner von beiden konnte jedoch erklären, wie dieses seltsame Tor funktionierte. Oder warum Mihai sich so intensiv gerufen gefühlt hatte, während Karen dieses Gefühl völlig fehlte.

Etwas, das sie beide neben der ungewöhnlichen Farbe des Grases und der Nadeln an den Bäumen sehr stark beunruhigte, war dieses Licht. Es schien ein seltsamer Schleier vor der Sonne zu liegen, als wenn irgendetwas die Sonnenstrahlen abschirmen würde, etwas wie eine ganz feine, nicht weiter wahrnehmbare Ascheschicht in der Luft. Die Vermutung, dass sie sich eventuell in der Nähe eines vor kurzem ausgebrochenen Vulkans befinden könnten, lag nahe. Aber weder Karen noch Mihai konnten sich erinnern, irgendetwas über einen größeren Ausbruch in der Zeitung gelesen oder im Radio gehört zu haben. Nun hatte das aber auch nicht besonders viel zu sagen, da sie sich seit Tagen nur noch mit den notdürftigsten Informationen versorgten. Denn eine Prämisse setzten beide im Urlaub, egal wo sie diesen durchführten: Der ganze Müll in den Zeitungen sollte ihnen ihre Urlaubslaune nicht verderben, also wurden diese so wenig wie möglich gelesen.

Hunger war eine weitere Schwierigkeit. Nun wühlte er natürlich noch nicht schlimm in ihren Eingeweiden, bisher war ja nur das Abendbrot (hier also das Frühstück?) ausgefallen, aber etwas nagte da schon irgendwo im Inneren. Der Hunger konnte also ein Problem werden. Viel Essbares hatten sie bislang nicht gefunden. Es gab schon eine Menge Früchte hier im Wald, die Schwierigkeit war aber, dass weder Mihai noch Karen auch nur eine einzige der hier vorkommenden Pflanzen kannten. Wegen der relativ hohen Temperatur einigten sie sich, dass sie wohl irgendwo in den Tropen oder Subtropen gelandet waren. Aber sie konnten keine ihnen bekannte Pflanzenart entdecken. Der Wald wurde durch diese Kiefern mit der schwarzen Rinde und den ungewöhnlich langen, roten Nadeln beherrscht. Im kräftig entwickelten Buschwerk gab es verschiedene Nadel- und Laubgehölze. Wollten Karen und Mihai in ihrer Ernährung nicht auf kleine, harzige Kiefernzapfen umsteigen, mussten sie sich früher oder später an eine der unbekannten Beerenarten wagen.

Sie hatten eine kleine Echse beobachtet, die sie auch nicht kannten, fast ganz rot mit blauen Streifen auf dem schmalen Rücken und einem doppelten Zackenkamm vom Kopf bis zum langen, beweglichen Schwanz. An einer der größeren, blauen Beeren tat sie sich gütlich, benagte sie und ließ nur den kleinen Kern übrig. Nach einem kurzen Streit darüber, wer denn nun als erster ganz vorsichtig und ganz wenig von der Beere probieren sollte, wobei jeder dem anderen dies ersparen wollte, kürzte Karen den Disput kurzerhand ab, indem sie in eine der pfirsichgroßen Beeren hinein biss.

In der folgenden Stunde lauschte sie aufmerksam in sich hinein. Sollte dort ein Magenkrampf im Anmarsch sein? War das eben eine normale Blähung oder bereitete sich ein Durchfall vor? Kündigte sich hier Schwindel oder Übelkeit an? Nichts. Zur Rast am Bach aßen alle beide vier dieser großen, saftigen, leicht herb schmeckenden Beeren und spuckten die kleinen Kerne in das Wasser.

Kurz bevor er vor Müdigkeit einschlief, rappelte sich Mihai auf und setzte sich an einen kräftigen Baum. Sollte Karen schlafen, er hatte ja schon ein paar Stunden Schlaf gehabt. Und da sie nicht einmal ahnten, wo sie sich nun eigentlich befanden, war es besser, wenn einer von ihnen wach blieb. Wer wusste schon, was für Tiere sich hier in diesem Urwald herumtrieben?

Mihai bereute jetzt, dass er sich nie sonderlich für die Tier- und Pflanzenwelt interessiert hatte. Gut, er sah sich im Fernsehen gerne Dokumentationen über interessante Tiere an: Löwen, Elefanten, Delphine, Wale, Haie – nichts, was ihm hier wirklich weiterhelfen würde. Selbst auf seinen Bergtouren durch die Alpen war er in der Artenkenntnis nie über Latschenkiefern, Bergdohlen, Murmeltiere und Gämsen hinausgekommen. Und als Deutsch- und Mathematiklehrer in einer Grundschule waren diese Kenntnisse auch nicht gerade bitter nötig.

Trotzdem, es sah ganz so aus, als ob sie sich hier einige Tage durch diesen seltsamen Wald kämpfen mussten, bevor sie auf Menschen trafen. Also brauchten sie irgendetwas, das sie ruhigen Gewissens essen konnten. Mihai hatte, ganz gegen seine Überzeugung, sogar ein kleines Vogelnest geplündert, aber alle Eier, die sie ausschlürfen wollten, erwiesen sich als faul.

Von der Tierwelt selber hatten sie bis auf die sehr abwechslungsreiche Geräuschkulisse bisher noch nicht viel mitbekommen. Einige ihnen unbekannte, bunte Vögel, kleinere, ebenfalls unbekannte Echsen, eine Menge, bisher aber nicht stechende, Insekten, damit war die Liste bereits vollständig.

Seltsam erschien ihm sowohl die völlige Abwesenheit irgendwelcher Blutsauger als auch das Nichtvorhandensein von Ameisen. Selbst mit seinem spärlichen, zusammengekratzten, biologischen Restwissen wusste er, dass es in den Tropen von blutsaugenden Insekten und Ameisen nur so wimmeln musste. Aber hier? Nichts! Pflanzen- und Tierwelt erschienen ihm äußerst mannigfaltig. Da waren verschiedenste Gräser und Büsche, wenn auch momentan fast nur eine Baumart – gut, das gab es wohl woanders auch. Ähnlich reichhaltig kam ihm die Tierwelt vor. Größere Tiere hatten sie zwar noch nicht bemerkt, abgesehen von dem einen großen Vogel, der seit den frühen Morgenstunden den Berg umkreiste, ohne auch nur einmal mit den Schwingen zu schlagen. Aber kleine, schreiend bunte Vögel und Echsen gab es in schier unglaublicher Zahl. Der Wald hallte wider von einer außerordentlichen Vielzahl von Vogelstimmen. Und gerade hier am Bach flogen Schmetterlinge und Insekten umher, die jedes Naturforscherherz zum Überschlag gebracht hätten, vermutete Mihai. Er strich das weiche Gras zur Seite und entdeckte eine Menge kleiner, flinker Krabbelwesen auf der kräftig schwarzen Erde. Schnell schnappte er sich eines von ihnen und betrachtete das Insekt genauer. Metallisch schimmerte der grünliche Panzer unter durchsichtigen Flügeln. Mit vier Beinchen versuchte es von seiner Hand zu krabbeln, gab dann aber auf, als der Mensch seine Hand immer wieder so drehte, dass das Insekt oben blieb. Es pumpte kurz, flog dann summend ein paar Meter zur Seite und ließ sich wieder auf einem Halm nieder, den es geschickt hinab kletterte.

Mihai bog das Gras erneut zur Seite. So viele kleine Krabbler, und nicht einer hat Appetit auf mich. Dann stutzte er. Moment mal, vier Beine? Vier?

Selbst mit seinen rudimentären biologischen Kenntnissen wusste er eines hundertprozentig genau: Insekten hatten sechs Beine! Immer und überall! Spinnen hatten acht Beine, Säugetiere vier und Insekten sechs. Wahllos griff er sich mehrere verschiedene Insekten vom Boden auf. Ein kleiner roter Käfer mit blauen Punkten, da war der Kopf, der Hinterleib und das Mittelteil – mit vier Beinen. Ein Tierchen, ähnlich einer Stubenfliege mit Stummelflügeln – vier Beine. Zwei, wahrscheinlich in Paarung verbundene, gelbliche Käfer – vier Beine! Der Schmetterling neben ihm auf der roten Doldenblüte – vier Beine. Er konnte es nicht überprüfen, aber wenn er es geschafft hätte, eine der schnell fliegenden Libellen zu fangen, dann würde er wahrscheinlich auch dort vier Beine entdecken.

Wieso haben die Insekten nur vier Beine?

Er sah auf, betrachtete den unmerklich verschleierten Himmel, die rötlichen Kiefernnadeln und die vierbeinigen Insekten, und da kam ihm ein Gedanke, der ihm eiskalte Schauer des Schreckens über den Rücken jagte.

Mihai sprang auf, hockte sich neben Karen hin und schüttelte heftig ihre Schultern. „Karen! Karen! Wach auf! Komm schnell!“

„Was’n los?“, murmelte sie schlaftrunken.

„Karen, steh auf, wir müssen so schnell wie möglich hier weg!“ Er warf ihr das T-Shirt über das Gesicht und zog sich seines an. „Zieh dich an, schnell. Wir müssen verschwinden. Wir sind wahrscheinlich in einem Testgelände, vielleicht radioaktiv verseucht oder so.“

„Was?“ Karen konnte so schnell keinen klaren Gedanken fassen. „Weg? Testgelände? Wie jetzt?“

Er schilderte seine Beobachtung bei den Insekten, zeigte ihr zur Bestätigung dessen einen wahllos gefangenen Käfer, zog den Bogen zu den rötlichen Kiefernnadeln und dem unmerklich verschleierten Himmel und endete mit den Worten: „Ich denke, dass das hier alles Mutationen sind, vielleicht ausgelöst durch Radioaktivität oder eine Chemikalie. Das Ganze kann ein riesengroßes Testgelände irgendeines Staates, einer Armee oder eines Konzerns sein. Du weißt, was das alles für Verbrecher sind …“

Karen hatte sich das T-Shirt übergezogen und sah sich unsicher um. „Meinst du wirklich?“

„Karen, es gibt keine vierbeinigen Insekten auf der Erde!“

„Und wenn wir nun doch nicht auf der Erde sind?“

„Du hast den Mond gesehen. Das war eindeutig unser Mond! Die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwo im Weltall noch einmal einen Mond gibt, der genauso aussieht wie unser Mond, dass der um einen Planeten mit für uns atembarer Luft kreist, der noch dazu genau so groß wie die Erde ist und das Ganze bei einer Sonne, die genau so aussieht wie unsere … Die Wahrscheinlichkeit ist sehr, sehr klein.“

Karen nickte ängstlich. „Verflucht, Mihai, in was für eine Scheiße sind wir da nur rein geraten?“

Rasch folgten beide dem Pfad bergaufwärts und etwa eine Stunde später erreichten sie heftig keuchend das Gipfelplateau. Die verschwitzten T-Shirts klebten an der Haut und nasse Haarsträhnen hingen in die Gesichter der beiden Gestrandeten.

Hier oben hatten sie das erste Mal einen weiten Blick über die Landschaft. Und der war nicht sehr ermutigend. Im Norden und in Richtung Sonnenaufgang schien sich derselbe Wald, durch den sie den ganzen Tag gewandert waren, endlos in leichten Wellen bis zum Horizont hin zu ziehen, kraftvoll, lebendig und rotbraun. Da sie selber von der Ostseite des Berges aus aufgestiegen waren, hatten sie diesen Ausblick auf ihrer Seite bereits mehrfach in Ausschnitten durch die Bäume hindurch erahnen können, jedoch nicht in dieser gewaltigen Größe und Geschlossenheit.

„Das geht ja endlos so weiter“, staunte Mihai fassungslos.

Fast genau aus Richtung Norden kam ein großer Fluss, der weit westlich an ihrem einsam stehenden Berg vorbeiströmte. Im Südwesten vereinigte er sich mit einem zweiten, etwa gleich großen Fluss, welcher in einem weiten Bogen aus dem Süden kam. Der neu entstandene, gewaltige Strom floss in majestätischen Kurven fast genau Richtung Westen. Dort, ganz weit hinten, verlor er sich vor einer großen, glitzernden Wasserfläche in einem unüberschaubaren Delta. Hinter dem aus dem Norden kommenden Fluss breitete sich eine Grassteppe aus, an die sich wiederum Wald anschloss, in dem sich der einzige andere Berg erhob, den sie rundherum sehen konnten. Eigentlich war Berg nicht die richtige Bezeichnung, es schien eher eine kolossale Felsensäule zu sein, ein gigantischer Zeigefinger aus Stein, dessen Mittelteil bedeutend schmaler als Basis und Gipfel aussah.

Im Süden stieg das Land allmählich an, wurde differenzierter mit bunteren Wäldern und Seen, bis sich ganz weit am Horizont kaum erkennbar und blass die Silhouette eines mächtigen Gebirges abzeichnete.

„Was ist das hier nur? Mihai, was soll das? Wir sind hier in keinem Hochland, weder in Südamerika noch in Asien. Und das ist auch kein Testgelände, nicht so riesig groß! Solche Berge wie den dort“, Karen wies auf den steinernen Finger im Westen, „gibt es in Nordamerika, nur dass du dort Dutzende von der Sorte findest, nicht nur einen einzelnen. Der Fluss da ist so groß wie der Amazonas. Aber im südamerikanischen Regenwald gibt es keine Kiefern mit roten Nadeln …“

Mihai hatte aufgeregt abgewunken und war an den Rand des Plateaus getreten, ließ sich dann schnell auf alle Viere nieder und bedeutete Karen mit einer Geste, dasselbe zu tun und leise zu ihm zu kommen. Vorsichtig schob sie sich neben ihren Mann. Dummerweise legte sie sich dabei unbequem auf einen sperrigen Ast, wagte aber nicht mehr sich zu bewegen, denn sie folgte mit den Augen Mihais Hand, die auf eine Lichtung etwas unterhalb des Gipfelplateaus wies.

Hinter einem einzelnen Busch auf der kleinen Lichtung, etwa zwanzig Meter unter ihnen, konnte sie die Umrisse von drei Menschen wahrnehmen. Eine kurz hinter dem Gebüsch auftauchende, rotbraune Schulter mit dazugehörigem gleichfarbigen Arm, die gewaltigen Stahlhelme auf den Köpfen, die sie im Umriss erkennen konnten, und ein Krächzen wie aus einem schlechten Funkgerät verleiteten Mihai zu der geflüsterten Bemerkung: „Soldaten!“

„Dann lass uns zu ihnen runtergehen!“