Die Chroniken von Araluen - Der große Heiler - John Flanagan - E-Book

Die Chroniken von Araluen - Der große Heiler E-Book

John Flanagan

4,8
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein mitterlalterliches Königreich, bedroht von bösen Kräften und ungeheuerlichen Kreaturen, verteidigt von einem jungen Waldläufer und seinen Freunden - willkommen in Araluen!

Walt, Horace und Will sind dem Banditen Tennyson und seiner Truppe auf den Fersen. Bevor er für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden konnte, ist der betrügerische Sektenführer aus Clonmel geflüchtet und Walt ist wild entschlossen, ihn zu stoppen bevor er die Grenze nach Araluen überquert. Als Walt und Will ihr Geschick als Bogenschützen unter Beweis stellen müssen, erleidet Wills Mentor eine lebensgefährliche Verletzung, die nur der geheimnisvolle Heiler aus dem Grimsdellwald kurieren kann …

Spannende und actionreiche Abenteuer in einem fantastisch-mittlalterlichen Setting – tauche ein in »Die Chroniken von Araluen«!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 449

Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DER AUTOR

John Flanagan arbeitete als Werbetexter und Drehbuchautor, bevor er das Bücherschreiben zu seinem Hauptberuf machte. Den ersten Band von »Die Chroniken von Araluen« schrieb er, um seinen 12-jährigen Sohn zum Lesen zu animieren. Die Reihe eroberte in Australien in kürzester Zeit die Bestsellerlisten.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungEinsZweiDreiVierFünfCopyright

Für Miyuki Sakai-Flanagan, damit Konanstets daran erinnert wird,wie tapfer und liebenswert seine Mutter war.

In dem kleinen Hafen wehte ein rauer Wind. Er trug das Salz des Meeres mit sich und den Geruch nach bevorstehendem Regen. Der einsame Reiter hatte dafür nur ein Schulterzucken übrig. Auch wenn es noch Sommer war, schien es doch während der vergangenen Woche unentwegt geregnet zu haben. Vielleicht regnete es in diesem Land ständig, egal zu welcher Jahreszeit.

»Sommer wie Winter, nichts als Regen«, sagte er zu seinem Pferd. Es war nicht überraschend, dass das Pferd nichts erwiderte.

»Außer natürlich, wenn es schneit«, fuhr der Reiter fort. »Und das passiert wahrscheinlich nur, damit man weiß, dass es Winter ist.« Diesmal schüttelte das Pony die Mähne und seine Ohren zuckten. Der Reiter lächelte. Sie waren alte Freunde.

»Du bist ein Pferd der wenigen Worte, Reißer«, sagte Will. Aber das galt wohl für die meisten Pferde. In letzter Zeit war Will aufgefallen, dass er sich angewöhnt hatte, mit seinem Pferd zu sprechen. Als er das eines Nachts am Lagerfeuer Walt gegenüber erwähnte, erfuhr er, dass das unter Waldläufern ein recht verbreitetes Phänomen war.

»Natürlich reden wir mit ihnen«, hatte sein alter Freund und Lehrmeister geantwortet. »Unsere Pferde sind viel vernünftiger als die meisten Menschen. Und außerdem …«, hatte er etwas ernsthafter hinzugefügt, »verlassen wir uns schließlich auch auf unsere Pferde. Wir vertrauen ihnen und sie vertrauen uns. Mit ihnen zu reden, stärkt unsere Verbundenheit.«

Will sog die Luft ein. Jetzt stiegen ihm auch noch andere Gerüche in die Nase: Es roch nach Teer, nach Seilen und getrockneten Algen. Ein Geruch fehlte jedoch  – ein Geruch, den er in einem Hafen an der Ostküste von Hibernia erwartet hätte.

Es fehlte der Geruch nach Fisch. Und es roch auch nicht nach Netzen, die getrocknet wurden.

»Wenn sie nicht fischen, was tun sie dann?«, fragte er sich verwundert. Abgesehen vom Klappern der Hufe auf den unebenen Pflastersteinen, das durch die engen Straßen am Hafen hallte, war sein Pony ganz still. Aber Will kannte die Antwort ja bereits. Und genau deshalb war er hier. Port Cael war ein Schmugglernest.

Anders als die breiten übersichtlichen Straßen in der Stadt waren die Hafengassen schmal und verwinkelt. Nur gelegentlich erleuchtete eine Laterne vor einem Haus den Weg. Die Gebäude waren überwiegend zweistöckig, mit Ladeluken im ersten Stock und mit Ladekränen, damit Ballen und Fässer aus den Fuhrwerken nach oben geschafft werden konnten. Es waren Speicher mit Lagerraum für die Güter, die im Hafen verschifft wurden.

Will war schon fast am Kai angelangt. Weiter vorn, am Ende der Straße, konnte er die Umrisse kleiner Schiffe ausmachen, die dort vor Anker lagen. Sie schaukelten unruhig in den letzten Ausläufern der schweren See, die bis in die Hafenmündung gebrandet war.

»Es müsste irgendwo hier in der Gegend sein«, murmelte er. Und endlich entdeckte er es. Ein einstöckiges Gebäude mit einem tief nach unten gezogenen Dach. Die einst weiß verputzten Wände waren jetzt schmutzig grau. Ein unruhiges gelbliches Licht fiel durch die schmalen Fenster auf die Straße und ein Schild über der niedrigen Tür schaukelte knarrend im Wind. Die Abbildung stellte offenbar einen Seevogel dar.

»Sieht aus wie ein Reiher«, meinte Will und sah sich neugierig um. Die anderen Gebäude waren alle dunkel und ohne Namensschild. Die Geschäfte dort waren für den Tag erledigt, wohingegen sie in einer Taverne gerade erst anfingen.

Will stieg vor dem Wirtshaus ab und tätschelte gedankenverloren Reißers Hals. Das Pony betrachtete die nicht gerade einladend aussehende Spelunke und rollte die Augen.

Willst du da wirklich rein?

Sogar für ein Pferd der wenigen Worte gab es Zeiten, in denen es sich klar und deutlich ausdrückte. Will lächelte zuversichtlich.

»Ich komme schon zurecht. Ich bin inzwischen ein großer Junge, weißt du.«

Reißer schnaubte höhnisch. Er hatte den schmalen Hof vor den Stallungen neben dem Gasthaus gesehen und wusste, dass er dort warten musste. Er war immer unruhig, wenn er nicht bei seinem Herrn sein konnte, um ihn vor Schwierigkeiten zu bewahren. Will führte ihn durch das schief hängende Tor in den Hof. Dort waren ein Pferd und ein müdes altes Maultier angebunden. Will hingegen brauchte sich nicht die Mühe zu machen, Reißer anzubinden. Er wusste, sein Pferd würde ausharren, bis er zurückkam.

»Warte dort drüben, da ist es windgeschützt«, sagte er und deutete auf die gegenüberliegende Mauer. Reißer sah ihn an, schüttelte resigniert den Kopf und trottete auf die von Will gezeigte Stelle zu.

Ruf mich, wenn du mich brauchst. Ich bin sofort da.

Einen Augenblick lang fragte sich Will, ob vielleicht seine Fantasie mit ihm durchging und er sich die Antwort seines Pferdes so zurechtlegte. Er sah es schon förmlich vor sich, wie Reißer durch die niedrige Tür in die Taverne preschte und sämtliche Gäste beiseite schob, um seinem Herrn zu Hilfe zu kommen. Bei diesem Gedanken grinste er, dann hob er das Gatter an, das auf dem groben Pflaster klemmte, und schloss es wieder. Zielstrebig ging er zum Eingang der Taverne.

Will war nicht gerade groß, trotzdem musste er bei der niedrigen Tür den Kopf einziehen. Drinnen wurde er von einer Vielzahl von Sinneseindrücken überfallen. Hitze. Der Geruch nach Schweiß. Rauch. Vergossenes, schales Bier.

Als der Wind durch die offene Tür fuhr, flackerten die Laternen, und das Torffeuer in der Feuerstelle loderte plötzlich auf. Will sah sich zögernd um. Der Rauch und das flackernde Licht erschwerten die Sicht.

»Tür zu, du Tölpel«, bellte eine raue Stimme.

Will trat ein, sodass die Tür hinter ihm zufallen konnte. Das Feuer in Kamin und in den Laternen brannte wieder ruhiger. Dichter Rauch vom Feuer und von Dutzenden von Pfeifen hing in der Luft bis unter die Zimmerdecke. Will fragte sich, ob der Rauch wohl jemals abziehen konnte oder ob er einfach von einem Tag zum nächsten hier hängen blieb und mit jedem Abend dichter wurde. Die meisten Gäste in der Taverne beachteten den Neuankömmling nicht, lediglich das eine oder andere unfreundliche Gesicht wandte sich ihm zu.

Diejenigen, die ihn argwöhnisch musterten, sahen eine schlanke Gestalt in einem graugrünen Umhang, deren Gesicht unter einer weiten Kapuze verborgen war. Und als die Kapuze zurückgeschoben wurde, erblickten sie ein noch recht jugendliches Gesicht. Doch dann bemerkten sie das schwere Sachsmesser an seinem Gürtel, dazu ein kleineres Messer in der Doppelscheide und den massiven Langbogen in seiner linken Hand. Über der Schulter sah man die gefiederten Enden von mehr als einem Dutzend Pfeilen, die in dem Köcher auf seinem Rücken steckten.

Der Fremde mochte wie ein Junge aussehen, doch er trug die Waffen eines Mannes. Und das ganz selbstverständlich und ohne jede prahlerische Zurschaustellung.

Der Reisende schaute sich im Raum um und nickte jenen grüßend zu, die sich umgedreht hatten, doch sein Blick ging rasch über sie hinweg. Die Männer kamen zu dem Schluss, dass er keine unmittelbare Bedrohung darstellte. Die leichte Anspannung, die in der Gaststube spürbar gewesen war, ließ nach, und die Leute beugten sich wieder über ihr Getränk. Auch Will sah nach dieser kurzen Musterung keine Bedrohung für sich und trat an die Theke, die aus drei schweren ungeschliffenen Planken bestand, die über zwei riesigen Fässern lagen.

Der Gastwirt, ein drahtiger Mann, der mit seiner spitzen Nase in dem rundlichen Gesicht, den abstehenden Ohren und einem hohen Haaransatz irgendwie an eine Ratte erinnerte, sah Will an und trocknete dabei geistesabwesend einen Krug mit einem schmutzigen Tuch ab. Will hätte darauf wetten mögen, dass das Tuch den Krug noch schmutziger machte.

»Was trinken?«, fragte der Wirt. Er setzte den Krug ab, um ihn bei Bedarf sofort zu füllen.

»Nicht daraus«, sagte Will gleichmütig und deutete mit dem Daumen auf den Krug.

Rattengesicht zuckte mit den Schultern, schob den Krug zur Seite und holte einen anderen von einem Regal über der Theke.

»Meinetwegen. Bier oder Brannt?«

Brannt, das wusste Will, war ein hochprozentiges Getränk aus gemälzter Gerste, das in Hibernias Brennereien »gebrannt« wurde. In einer Taverne wie dieser wäre es sicher besser zum Rost ablösen geeignet als zum Trinken.

»Ich möchte lieber Kaffee«, sagte er, denn er hatte den eingedellten Topf am Feuer bemerkt.

»Ich hab Bier oder Brannt, kannst dir’s aussuchen«, erwiderte Rattengesicht barsch. Will deutete auf den Kaffeetopf. Der Gastwirt schüttelte den Kopf.

»Keiner fertig«, sagte er. »Ich mach nicht extra für dich ’nen neuen.«

»Aber er trinkt auch Kaffee«, sagte Will und deutete auf einen Gast in der Nähe.

Natürlich drehte sich der Gastwirt in die Richtung, um nachzusehen, wen Will meinte. Im selben Moment spürte er auch schon einen eisernen Griff an seinem Hemdkragen, der ihm die Luft abwürgte und ihn zugleich nach vorn zog. Die Augen des Fremden waren plötzlich ganz nahe vor ihm. Er sah nicht länger jungenhaft aus. Die dunkelbraunen Augen wirkten in dem schwachen Licht fast schwarz und der Gastwirt erkannte Gefährlichkeit darin. Sehr große Gefährlichkeit sogar. Er hörte ein leichtes Zischen, und als er auf die Faust schielte, die ihn festhielt, bemerkte er die schwere, blitzende Klinge des Sachsmessers, das der Fremde auf die Theke zwischen sie beide gelegt hatte.

Der Wirt bekam fast keine Luft mehr und schielte verzweifelt nach Hilfe. Aber es stand niemand an der Theke und keiner der Gäste an den Tischen hatte bemerkt, was vor sich ging.

»Aach … mach …ka’ee«, stieß er hervor.

Die Spannung um seinen Kragen ließ nach und der Fremde fragte leise: »Wie war das?«

»Ich … mach … Kaffee«, wiederholte er und schnappte nach Luft.

Der Fremde lächelte. Es war ein freundliches Lächeln, aber der Gastwirt bemerkte auch, dass es die dunklen Augen nicht erreichte.

»Das ist wirklich nett. Ich warte hier.« Will löste seinen Griff um den Hemdkragen des Gastwirts, sodass Rattengesicht wieder von der Theke zurückrutschte. Will tippte an den Griff seines Sachsmessers. »Du wirst doch deine Meinung nicht ändern, oder?«

Neben der Feuerstelle hing ein großer Wasserkessel an einem schwenkbaren Eisenarm, mit dem man ihn übers Feuer und wieder zurück bewegen konnte. Der Gastwirt schwenkte ihn nun ins Feuer und machte sich am Kaffeetopf zu schaffen, maß gemahlenen Kaffee ab und kippte ihn hinein, dann goss er das inzwischen kochende Wasser darüber. Der verführerische Kaffeeduft erfüllte die Luft und verdrängte für den Augenblick die weniger angenehmen Gerüche, die Will beim Eintreten bemerkt hatte.

Der Gastwirt stellte den Kaffeetopf vor Will und holte einen Becher hinter der Theke vor. Er wischte mit seinem Tuch darüber. Will runzelte die Stirn, wischte noch einmal mit einer Ecke seines Umhangs darüber und goss sich dann Kaffee ein.

»Ich nehme Zucker, wenn du welchen hast«, sagte er. »Auch gern Honig.«

»Zucker.« Der Gastwirt drehte sich weg, um die Zuckerschale und einen Messinglöffel zu holen. Als er sich wieder dem Fremden zuwandte, blinzelte er verblüfft. Auf der Theke zwischen ihnen funkelte eine schwere Goldmünze. Sie war mehr wert, als er am ganzen Abend verdienen würde, und er zögerte, danach zu greifen, schon allein deshalb, weil das Sachsmesser immer noch griffbereit daneben lag.

»Der Kaffee kostet zwei Kupferne«, sagte er vorsichtig.

Will nickte, griff in seine Börse, holte zwei Kupfermünzen heraus und ließ sie auf die Theke fallen. »Das ist nur recht und billig. Der Kaffee ist gar nicht schlecht«, fügte er hinzu.

Der Gastwirt nickte und schluckte, immer noch unsicher. Vorsichtig fegte er die beiden Kupfermünzen in seine Hand und achtete dabei auf jegliches Zeichen der Missbilligung von dem rätselhaften Fremden. Einen Augenblick lang schämte er sich fast, dass er sich von jemand einschüchtern ließ, der so jung war. Doch ein weiterer Blick in diese Augen und auf die Waffen und er schämte sich nicht. Er war Gastwirt. Sein Körpereinsatz beschränkte sich meist darauf, einem aufsässigen betrunkenen Gast einen Knüppel über den Kopf zu ziehen, und das erfolgte gewöhnlich von hinter der Theke hervor.

Er steckte die Münzen ein und blickte zögernd auf die große Goldmünze, die im Schein der Laternen funkelte. Er räusperte sich.

Der Fremde hob eine Augenbraue. »Ist noch was?«

Der Gastwirt legte die Hände auf den Rücken, um nicht den geringsten Anschein zu erwecken, er wolle sich etwa das Goldstück aneignen, und deutete einige Male mit dem Kopf darauf.

»Das … Gold. Ich überleg bloß … ist es … für irgendwas Bestimmtes?«

Der Fremde lächelte. Wieder erreichte das Lächeln nicht seine Augen.

»Ja, das ist es tatsächlich. Es ist für Auskünfte.«

Und in diesem Moment löste sich die Anspannung des Gastwirts. Diese Antwort verstand er. Die Leute zahlten in Port Cael oft, um Auskünfte zu bekommen. Und in der Regel kam derjenige, der diese Auskünfte gab, ungeschoren davon.

»Auskünfte, ja?«, fragte er nach und gestattete sich ein Lächeln. »Tja, da seid Ihr genau am richtigen Ort und ich bin der richtige Mann für Euch. Was wollt Ihr denn wissen, mein Herr?«

»Ich möchte wissen, ob Black O’Malley heute Abend hier ist«, sagte der junge Mann.

Und plötzlich war die Anspannung wieder da.

O’Malley? Und warum sucht Ihr nach ihm?«, fragte der Gastwirt.

Der Blick aus den dunklen Augen war durchdringend, die Botschaft darin klar und deutlich. Die Hand des Fremden legte sich über die Goldmünze, aber er machte keine Anstalten, sie von der Theke wegzunehmen.

»Hm«, sagte er leise. »Nun habe ich doch glatt überlegen müssen, wessen Goldmünze das hier ist. Hast du sie vielleicht zufällig hierher gelegt?« Noch bevor der Wirt antworten konnte, fuhr er fort. »Nein. Daran kann ich mich nicht erinnern. Soweit ich mich erinnere, war ich derjenige, der sie hierher gelegt hat, als Lohn für Auskünfte. Siehst du das nicht auch so?«

Der Gastwirt räusperte sich nervös. Die Stimme des jungen Mannes war ruhig und leise, aber dennoch bedrohlich.

»Ja. Das stimmt«, erwiderte er.

Der Fremde nickte einige Male, als ob er über seine Antwort nachdächte. »Und korrigiere mich, falls ich mich täusche, aber normalerweise ist derjenige, der den Sänger bezahlt, auch derjenige, der sich das Lied wünscht. Oder in diesem Fall, die Fragen stellt. Würdest du das nicht auch so sehen?«

Insgeheim fragte sich Will, ob er es mit seinen Drohgebärden nicht ein wenig übertrieb. Aber nein  – bei einem Menschen, dessen Leben sich wahrscheinlich täglich um Auskünfte und Betrügereien drehte, musste er ein gewisses Maß an Autorität ausüben. Und die einzige Art von Autorität, die dieser rattengesichtige Kriecher verstand, gründete auf Furcht. Wenn Will es nicht schaffte, ihm Respekt einzuflößen, würde ihm der Gastwirt wahrscheinlich nur einen Sack voll Lügen erzählen.

»Ja, Sir. So sehe ich das auch.«

Das »Sir« ist schon mal ein guter Anfang, dachte Will und lächelte.

»Also, wenn du nicht meine Münze mit einer eigenen ergänzen willst, bleiben wir dabei, dass ich frage und du antwortest.«

Seine Hand glitt wieder von der Goldmünze herunter, die funkelnd auf dem groben Brett der Theke lag.

»Black O’Malley. Ist er heute da?«

Rattengesicht schaute sich im Gastraum um, obwohl er die Antwort bereits kannte. Er räusperte sich wieder. Eigenartig, wie die Gegenwart dieses jungen Mannes seine Kehle auszutrocknen schien.

»Nein, Sir. Noch nicht. Er kommt meistens erst später.«

»Dann warte ich«, sagte Will. Er sah sich um und sein Blick fiel auf einen kleinen Tisch abseits von den anderen Gästen. Er stand in einer Ecke an einem unauffälligen Platz, sodass nicht jeder, der hereinkam, ihn gleich bemerkte.

»Ich warte dort drüben. Wenn O’Malley kommt, dann sag nichts von mir und sieh mich auch nicht an. Du zupfst dir nur dreimal am Ohr, damit ich weiß, dass er hier ist. Ist das klar?«

»Ja, Sir. Ist es.«

»Gut. Und jetzt…« Will nahm die Münze und das Sachsmesser, und im ersten Moment dachte der Gastwirt, er würde das Gold wieder wegnehmen. Aber Will hielt es am Rand fest und schnitt es in der Mitte entzwei. Zwei Gedanken gingen dem Wirt durch den Kopf. Das Gold musste unglaublich rein sein, um sich so leicht trennen zu lassen, und das Messer musste erschreckend scharf sein.

Will schob eine Hälfte des Goldstücks über die Theke.

»Die Hälfte jetzt, als eine Geste des Vertrauens. Die andere Hälfte, wenn du getan hast, was ich möchte.«

Der Wirt zögerte eine Sekunde und nahm sich dann mit einem nervösen Schlucken das halbe Goldstück.

»Möchtet Ihr in der Zwischenzeit irgendwas essen, Sir?«, fragte er.

Will steckte die zweite Hälfte des Goldstücks in seine Gürteltasche, dann rieb er seine Finger aneinander. Sie waren allein von der kurzen Berührung der Theke fettig. Er warf noch einmal einen Blick auf das verdreckte Tuch über der Schulter des Wirts und schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht.«

Will trank seinen Kaffee, während er auf den Mann wartete, den er suchte.

Als Will in Port Cael angekommen war, hatte er sich ein Zimmer in einer der besseren Gegenden der Stadt genommen, weiter vom Hafen entfernt. Der Gastwirt war ein wortkarger Mann gewesen, keiner, der sich am Klatsch beteiligte, mit dem Leute seines Schlages normalerweise hausieren gingen. Klatsch war regelrecht eine Lebensart von Gastwirten, das hatte Will auf seinen Reisen oft erlebt. Doch dieser schien ganz anders. Was auch daran liegen konnte, dass Port Cael ein Ort war, dessen Einkünfte größtenteils auf Schmuggel und anderem illegalen Handel beruhte. Die Leute neigten dazu, in der Nähe von Fremden den Mund zu halten.

Außer ein Fremder bot Gold an, wie Will es getan hatte. Er hatte dem Gastwirt gesagt, er suche nach einem Freund. Einem Mann mit langen grauen Haaren, weiß gekleidet und mit etwa zwanzig Leuten unterwegs. Darunter befänden sich auch zwei in dunkelroten Umhängen.

Er hatte gesehen, wie die Augen des Wirts aufblitzten, als er Tennyson und die beiden Genovesen beschrieb. Also war Tennyson hier gewesen. Wills Puls hatte schneller geschlagen bei dem Gedanken, dass er immer noch hier sein könnte. Doch die nächsten Worte des Wirts hatten diese Hoffnung zunichte gemacht.

»Sie waren hier«, hatte er gesagt. »Aber sie sind schon wieder fort.«

Anscheinend war der Wirt der Meinung, dass er das gefahrlos weitererzählen konnte, da die Männer Port Cael sowieso schon verlassen hatten. Will hatte während ihres Gesprächs die Goldmünze über seine Fingerknöchel hüpfen lassen, ein Trick, den er zum Zeitvertreib oft stundenlang am Lagerfeuer geübt hatte. Das Gold hatte das Licht eingefangen und einladend geschimmert.

»Fort, wohin?«

Der Gastwirt hatte auf die Münze gestarrt. »Mit dem Schiff. Wohin weiß ich nicht.«

»Irgendeine Ahnung, wer es wissen könnte?«

Der Wirt hatte mit den Schultern gezuckt. »Black O’Malley vielleicht. Der könnte es wissen. Wenn jemand schnell verschwinden muss, hilft er oft dabei.«

»Eigenartiger Name. Wie kam er dazu?«

»Vor einigen Jahren gab es einen Kampf auf dem Meer. Sein Schiff wurde geentert von… von Piraten. Einer der Kerle stieß ihm eine Fackel ins Gesicht und er hat eine böse schwarze Brandwunde auf der linken Seite seines Gesichts abbekommen.«

Will hatte nachdenklich genickt. Wenn bei dem Kampf Piraten beteiligt gewesen waren, dann bestimmt auf O’Malleys Seite. Aber das war nicht weiter wichtig.

»Und wie finde ich diesen O’Malley?«, hatte er gefragt.

»Die meisten Abende ist er im Reiher, einer Taverne unten am Hafen.« Der Wirt hatte die Münze genommen, und als Will sich zum Gehen wandte, hatte er hinzugefügt: »Ist aber nicht ungefährlich. Vielleicht keine gute Idee, allein dorthin zu gehen  – als Fremder. Ich kenne ein paar kräftige Kerle, die gelegentlich für mich arbeiten. Vielleicht kann ich sie überreden, Euch gegen ein kleines Trinkgeld zu begleiten.«

Der junge Waldläufer hatte den Wirt angesehen, den Kopf zur Seite gelegt, als überlege er, und dann lächelnd den Kopf geschüttelt.

»Ich glaube, ich kann auf mich selbst aufpassen.«

Es war keine Überheblichkeit gewesen, die ihn das Angebot des Wirtes ablehnen ließ. Eine Taverne wie den Reiher mit ein paar Möchtegern-Raufbolden zu betreten, würde bei den harten Jungs, die sich dort aufhielten, lediglich Verachtung auslösen und allenfalls seine eigene Unsicherheit beweisen. Besser war es, allein zu gehen, und sich auf seine eigenen Fähigkeiten und seinen Einfallsreichtum zu verlassen.

Die Taverne war halb voll, als er ankam, es war noch zu früh am Abend für großen Betrieb. Aber während er wartete, begann sie sich zu füllen. Die Temperatur stieg mit der Anzahl der ungewaschenen Leiber, genau wie der säuerliche Geruch in der rauchgeschwängerten Wirtsstube. Der Geräuschpegel nahm ebenfalls zu.

Das war Will ganz recht. Je mehr Leute hier waren und je lauter es war, desto weniger fiel er auf. Bei jedem neuen Ankömmling blickte er zum Wirt.

Es war etwa zwischen elf Uhr und Mitternacht, als die Tür aufgerissen wurde und drei stämmige Männer eintraten und zur Theke drängten, wo der Wirt sofort drei große Krüge mit Bier einschenkte, ohne dass auch nur ein Wort gewechselt worden wäre. Als er den zweiten Krug gefüllt und auf die Theke gestellt hatte, hielt er kurz inne und zupfte mit gesenktem Blick dreimal heftig an seinem Ohr. Dann füllte er den dritten Krug.

Auch ohne das Zeichen hätte Will gewusst, dass dies der Mann war, nach dem er suchte. Das Brandmal auf der linken Gesichtshälfte zog sich vom Auge bis zum Kinn und war nicht zu übersehen. Will wartete, bis O’Malley und seine zwei Kumpane ihre Krüge nahmen und zu einem Tisch nahe am Feuer gingen. Dort saßen bereits zwei Männer, die verärgert aufsahen, als der Schmuggler sich näherte.

»Also hört mal«, begann einer aufgebracht, »wir sitzen hier schon seit…«

»Verschwindet!«

O’Malley machte eine Handbewegung mit ausgestrecktem Daumen und die beiden Männer nahmen ohne weiteren Protest ihre Getränke, standen auf und machten für die drei Schmuggler Platz. Die setzten sich nieder, sahen sich im Raum um und riefen einigen Männern Grüße zu. Die Reaktionen auf die drei waren eher wachsam als freundlich. O’Malley schien bei den anderen Gästen leichte Nervosität auszulösen.

O’Malleys Blick fiel auf die Gestalt im Umhang, die allein in einer Ecke saß. Er musterte Will ein paar Sekunden, dann wandte er den Blick wieder ab, zog seinen Stuhl nach vorne und steckte mit seinen Gefährten die Köpfe zusammen.

Will erhob sich von seinem Platz und ging auf sie zu. Er kam an der Theke vorbei und strich mit der Hand darüber, wobei er das halbe Goldstück zurückließ. Der Wirt schnappte es sich ohne ein Wort oder eine Geste des Dankes. Aber das hatte Will auch nicht anders erwartet. Es sollte natürlich niemand erfahren, dass er dem Fremden verraten hatte, wer O’Malley war.

O’Malley schien Will erst zu bemerken, als der vor seinem Tisch stand. Der Schmuggler hatte leise mit seinen Kumpanen geredet, jetzt schwieg er und musterte die schmale Gestalt.

»Käptn O’Malley?«, fragte Will schließlich.

Er selbst hatte den Schmuggler ebenfalls einer genauen Musterung unterzogen. Die Schultern des Kapitäns waren muskulös und die Hände voller Schwielen  – die Zeichen eines arbeitsreichen Lebens an Deck. Wohingegen sein Bauch Zeichen eines Lebens voller Trunksucht war. Er war übergewichtig, aber dennoch ein Mann, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Sein schwarzes Haar hing in unordentlichen Locken über seinen Kragen und er trug einen Bart  – ein vergeblicher Versuch, die entstellende Brandwunde auf seiner linken Wange zu verbergen. Seine Nase war anscheinend so oft gebrochen worden, dass sie überhaupt keine Form mehr hatte. Wahrscheinlich hatte er Schwierigkeiten, richtig zu atmen.

Seine beiden Begleiter waren nicht so interessant. Sie hatten zwar ebenfalls dicke Bäuche und breite Schultern und waren sogar größer und breiter als ihr Anführer, doch ihnen fehlte dessen Ausstrahlung.

»Käptn O’Malley?«, wiederholte Will und lächelte freundlich. O’Malley runzelte die Stirn.

»Nein!«, erwiderte er kurz und drehte sich wieder zu seinen Kumpanen.

»Oh doch«, sagte Will immer noch lächelnd.

O’Malley lehnte sich zurück und blickte hoch zu Will. Seine engstehenden Augen blitzten gefährlich auf.

»Jungchen«, sagte er absichtlich herablassend, »warum gehst du nicht wieder spielen?«

Es war still geworden im Raum, die meisten Gäste horchten auf, um die Auseinandersetzung zu verfolgen. Der junge Fremde war mit einem Langbogen bewaffnet, das konnten alle sehen. Aber in der beengten Taverne war das nicht gerade die nützlichste Waffe.

»Ich hätte gerne ein paar Auskünfte«, sagte Will, »und ich bin bereit, dafür zu bezahlen.«

Er berührte die Börse an seinem Gürtel. Ein leises Klimpern war zu hören. O’Malley kniff die Augen zusammen.

»Auskünfte, soso. Tja, vielleicht kommen wir doch ins Gespräch. Carew!«, blaffte er einen Mann am Nebentisch an. »Gib dem Jungen deinen Stuhl.«

Bezeichnenderweise hatte der Mann namens Carew nichts einzuwenden. Er sprang sofort auf und schob Will den Stuhl zu. Sein missmutiger Blick galt allein dem jungen Fremden, nicht O’Malley.

Will bedankte sich mit einem Nicken, erntete erneut einen missmutigen Blick und zog den Stuhl zu O’Malleys Tisch.

»Also, Auskünfte willst du?«, begann der Schmuggler. »Und was genau möchtest du wissen?«

»Ihr habt kürzlich einen Mann namens Tennyson übergesetzt«, sagte Will. »Ihn und etwa zwanzig weitere Personen.«

»Ach ja, hab ich das?« O’Malley zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Du scheinst ja schon eine ganze Menge zu wissen. Wer hat dir denn das erzählt?«

»Niemand hier«, sagte Will. Bevor O’Malley ihn noch weiter fragen konnte, fügte er hinzu: »Ich muss wissen, wohin Ihr ihn gebracht habt.«

Die Augenbrauen des Schmugglers hoben sich in gespielter Überraschung.

»Du musst das wissen? Und was, wenn ich dir das nicht sagen will? Vorausgesetzt, ich habe diesen Kerl überhaupt irgendwohin übergesetzt, was ich gar nicht habe.«

Will verzog gereizt das Gesicht, begriff jedoch sofort, dass dies ein Fehler war. »Ich sagte, ich bin bereit, für die Auskünfte zu bezahlen«, erklärte er möglichst gleichmütig.

»Und wärst du auch bereit, dafür noch mal ein Goldstück hinzulegen  – so eins, wie du Ryan gegeben hast, als du an der Theke vorbeigegangen bist?« O’Malley blickte wütend zum Gastwirt, der ein aufmerksamer Beobachter gewesen war, jetzt aber zurückzuckte. »Darüber werden wir uns noch unterhalten, Ryan«, fügte er zum Wirt gerichtet hinzu.

Will war erstaunt. Er hätte wetten mögen, dass O’Malley nicht auf ihn geachtet hatte, als er das halbe Goldstück auf die Theke gelegt hatte.

»Euch entgeht aber nicht viel, was?« Will ließ einen Hauch von Bewunderung in seinem Ton mitschwingen. Eine kleine Schmeichelei schadete nie.

Doch O’Malley fiel nicht darauf herein. »Mir entgeht gar nichts, Jungchen.« Der Schmuggler sah Will ungeduldig an und sein Blick besagte: Versuch gar nicht erst, mir Honig ums Maul zu schmieren.

Will lehnte sich zurück. Er musste aufpassen, dass er bei dieser Unterhaltung die Fäden in der Hand behielt. Nein, das stimmte nicht, O’Malley hatte von Anfang an die Richtung vorgegeben. Will versuchte es erneut.

»Tja, also gut. Ich bezahle mit Gold.«

»Ich wurde bereits bezahlt«, sagte O’Malley. Wenigstens tat er jetzt nicht mehr so, als hätte er Tennyson und seine Leute nicht übergesetzt.

»Dann werdet Ihr eben doppelt bezahlt. Das klingt für mich nach einem guten Geschäft«, sagte Will.

»Ach ja? Na, dann lass dir mal von mir etwas übers Geschäft erzählen. Also, erstens, könnte ich dir genauso gut die Kehle durchschneiden, um an deine Geldbörse zu kommen. Und dieser Tennyson, von dem du sprichst, der ist mir ziemlich egal. Ihm hätte ich auch die Kehle durchschneiden können, aber seine rot gekleideten Freunde haben mich nie aus den Augen gelassen. Ich erzähl dir das, um dir klarzumachen, dass Vertrauen mir nichts bedeutet. Überhaupt nichts.«

»Dann…«, begann Will, doch der Schmuggler schnitt ihm mit einer ungeduldigen Geste das Wort ab.

»Aber ich sag dir, worum es beim Geschäft geht, Jungchen. Ich habe Geld von diesem Mann bekommen, um ihn aus Clonmel rauszuschaffen. Das ist mein Geschäft. Wenn ich nun Geld von jemand anders nehme, damit ich auspacke, und alle hier kriegen das mit, wie lange glaubst du, wird mein Geschäft noch weiterlaufen? Die Leute kommen aus einem bestimmten Grund zu mir. Weil ich meinen Mund halten kann.«

Er machte eine Pause. Wills Hoffnung sank. Er wusste nicht mehr, was er sagen sollte.

»Ich glaube nicht an Ehrlichkeit«, fuhr O’Malley fort, »auch nicht an Vertrauen und Loyalität. Ich glaube an die klingende Münze. Und dazu gehört, dass ich meinen Mund halte, wenn es nötig ist.« Unvermittelt blickte er sich in der Taverne um. Jeder, der neugierig zugesehen und zugehört hatte, blickte schnell weg.

»Und alle hier drin sollten so schlau sein, sich auch daran zu halten«, sagte er mit lauter Stimme.

Will hob die Hände in einer Geste, die zeigte, dass er sich geschlagen gab. Er sah keine Möglichkeit mehr, diesen Mann zu überreden. Er wünschte sich, Walt wäre hier. Ihm fiele bestimmt etwas ein.

»Tja, dann mach ich mich wieder auf den Weg.« Will stand auf.

»Moment mal!« O’Malley schlug mit der Hand auf den Tisch. »Du hast mich nicht bezahlt.«

Will schnaubte ungläubig. »Wofür? Ihr habt meine Frage nicht beantwortet.«

»Oh doch, das habe ich. Es war nur nicht die Antwort, die du hören wolltest. Und jetzt zahl!«

Will sah sich in der Gaststube um. Alle hatten die Auseinandersetzung verfolgt und die meisten grinsten. O’Malley mochte ebenso gefürchtet wie unbeliebt sein, aber Will war ein Fremder, und es gefiel ihnen, wie er übers Ohr gehauen wurde. Will wurde klar, dass der Schmuggler diese Auseinandersetzung bewusst herbeigeführt hatte, um seinen eigenen Ruf zu festigen. Er versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen, griff in die Börse und holte ein weiteres Goldstück heraus. Die Sache wird langsam teuer, dachte er. Und dabei habe ich nichts Wesentliches herausgefunden.

Er schob die Münze über den Tisch. O’Malley schnappte sie sich, prüfte sie mit den Zähnen und grinste zufrieden.

»Hat mir gefallen, mit dir Geschäfte zu machen, Jungchen. Und jetzt verschwinde.«

Wills Gesicht brannte, so wütend war er. Abrupt stand er auf und der Stuhl fiel krachend um. Von irgendwo in der Gaststube kam ein leises Kichern. Will drehte sich um und eilte zur Tür.

Nachdem sie hinter ihm zugefallen war, beugte O’Malley sich zu seinen beiden Kumpanen und sagte leise: »Dennis, Nialls. Bringt mir diese Börse.«

Die beiden standen auf und folgten Will. Die anderen Gäste konnten sich denken, was sie vorhatten, und machten den Weg frei. Manche eher widerstrebend. Sie hatten selbst vorgehabt, den jungen Mann zu bestehlen.

Dennis und Nialls traten hinaus in die kalte Nacht, blickten nach beiden Seiten die schmale Straße entlang, um herauszufinden, wohin der Fremde gegangen war. Sie zögerten. Es gab mehrere schmale Seitenstraßen, wo er sich verstecken könnte.

»Versuchen wir es …«

Weiter kam Nialls nicht. Die beiden Halunken hörten ein drohendes Zischen, und dann flog etwas an Nialls Nase vorbei und blieb im Türrahmen stecken. Die beiden Männer fuhren erschrocken auseinander und starrten ungläubig auf den grauen Pfeil, der schwingend im Holz steckte. Von irgendwoher hörten sie eine Stimme.

»Noch einen Schritt und der nächste Pfeil steckt in deinem Herzen.«

»Wo ist er?«, flüsterte Dennis.

»Ich vermute, er ist in einer der Gassen«, antwortete Nialls. Die Drohung war unmissverständlich gewesen. Aber die beiden wussten auch, wie gefährlich es war, mit leeren Händen zu O’Malley zurückzukehren.

Ohne Vorwarnung zischte ein weiterer Pfeil an ihnen vorbei. Nur dass Nialls sich diesmal mit der Hand ans Ohr fasste, wo der Pfeil ihn gestreift hatte. Blut rann heiß über Nialls Wange. Plötzlich schien es die bessere Wahl zu sein, sich O’Malley zu stellen.

»Schnell weg hier!«, rief Nialls. Die beiden Männer rempelten einander an, so eilig hatten sie es, wieder durch die Tür hineinzukommen, die auch gleich hinter ihnen zuschlug.

Aus einer Nebenstraße tauchte eine dunkle Gestalt auf. Will schätzte, dass es einige Minuten dauern würde, bevor irgendjemand es wagte, wieder herauszukommen. Leichtfüßig rannte er zurück zur Wirtschaft, holte sich seine Pfeile und führte Reißer dann aus dem Stallhof. Im Handumdrehen hatte er sich aufs Pferd geschwungen und galoppierte davon. Die Hufe des Ponys klapperten auf dem Pflaster und das Geräusch verhallte in der Gasse.

Insgesamt war es ein sehr unbefriedigender Abend gewesen.

Walt und Horace waren einen kleinen Hügel hinaufgeritten und zogen die Zügel an. Kaum mehr eine Meile entfernt, breitete sich Port Cael vor ihnen aus. Weiß verputzte Gebäude schmiegten sich an einen Hügel, der bis zum Ufer reichte  – wo sich ein von Menschenhand erbauter Wasserbrecher rechtwinklig durchs Meer zog und so den Hafen bildete. Von ihrem Aussichtspunkt aus sahen sie die Schiffe nur als ein Meer von Masten, die im Einzelnen gar nicht unterschieden werden konnten.

Die Häuser am Hügel waren frisch gestrichen und schienen selbst im matten Licht noch zu leuchten. Weiter unten, Richtung Hafen, sahen die Gebäude weniger strahlend aus, sondern eher grau. Typisch für eine Hafengegend, dachte Walt. Die vornehmeren Leute wohnten weiter oben in ihren makellosen Häusern. Der Pöbel sammelte sich ums Wasser.

Dennoch hätte er darauf wetten mögen, dass auch die makellosen Häuser auf dem Hügel ihren Anteil an Gaunern und skrupellosen Geschäftemachern hatten. Die Leute, die dort lebten, waren gewiss nicht ehrlicher als die anderen  – nur erfolgreicher.

»Kennen wir den nicht?«, fragte Horace. Er deutete auf eine Gestalt, die an der Straße saß, die Arme um die Knie geschlungen. Daneben graste ein zottiges Pony am Wegesrand.

»Stimmt«, antwortete Walt. »Und er scheint Will mitgebracht zu haben.«

Horace warf ihm einen Blick zu und seine Laune stieg. Es war kein erstklassiger Witz gewesen, doch der erste, den Walt überhaupt gemacht hatte, seit sie vom Grab seines Bruders in Dun Kilty aufgebrochen waren. Der Waldläufer war nie besonders redselig, doch während der letzten Tage war er noch schweigsamer gewesen als sonst. Verständlicherweise, dachte Horace. Immerhin hatte er gerade erst seinen Zwillingsbruder verloren. Jetzt schien Walt jedoch entschlossen, die bedrückte Stimmung abzuschütteln.

»Sieht so aus, als wären ihm die Felle davongeschwommen«, sagte Horace und fügte dann unnötigerweise hinzu: »Will, meine ich.«

Walt drehte sich im Sattel und sah Horace mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Du magst mich vielleicht für ein wenig altersschwach halten, Horace, aber es ist nicht nötig, mir etwas völlig Offensichtliches zu erklären. Ich hätte kaum angenommen, dass du Reißer damit meinst.«

»Entschuldige, Walt.« Horace konnte sich ein Schmunzeln kaum verbeißen. Zuerst ein Scherz, dann eine bissige Bemerkung. Das war besser als dieses missmutige Schweigen, in das Walt sich seit dem Tod seines Bruders gehüllt hatte.

»Hören wir mal, was ihm Sorgen bereitet«, sagte Walt und gab seinem Pferd ein Zeichen zum Weitergehen, worauf Abelard sofort in einen langsamen Trab fiel. Horace gab Kobold leichten Fersendruck und das Schlachtross reagierte ebenfalls unmittelbar und hatte das Pony bald eingeholt. Seite an Seite ritten Walt und Horace weiter.

Als sie näher kamen, stand Will auf und klopfte seine Hose ab. Reißer wieherte einen Gruß und die zwei anderen Pferde antworteten gleichermaßen.

»Walt, Horace«, begrüßte Will seine Freunde. »Ich hatte gehofft, dass ihr heute zu mir stoßt.«

»Wir haben die Nachricht bekommen, die du für uns in Fingle Bay zurückgelassen hast«, sagte Walt, »also sind wir heute Morgen zeitig aufgebrochen.«

Fingle Bay war Tennysons ursprüngliches Ziel gewesen. Ein wohlhabender Handels- und Fischerhafen, einige Meilen südlich von Port Cael. Die meisten Schiffseigner dort waren ehrliche Männer, während Port Cael die Anlaufstelle für die zwielichtigeren Geschäftemacher war.

»Na, hattest du Glück?«, fragte Horace. Während Walt und er in Dun Kilty geblieben waren, um noch verschiedene Dinge zu regeln, war Will vorausgeritten, um Tennyson aufzuspüren und herauszufinden, wohin er wollte.

Der junge Waldläufer seufzte. »Ein bisschen. Aber nicht genug. Du hattest recht mit deiner Vermutung, Walt. Tennyson ist außer Landes geflohen.«

Walt nickte. »Und wohin?«

Will wechselte unruhig von einem Fuß auf den anderen. Walt musste innerlich lächeln. Er wusste, dass sein früherer Lehrling es hasste, irgendeine Aufgabe, die Walt ihm gegeben hatte, nicht zur vollsten Zufriedenheit erledigen zu können.

»Das konnte ich leider nicht herausfinden. Ich weiß, wer ihn befördert hat. Ein Schmuggler namens Black O’Malley. Aber er will mir nichts verraten. Es tut mir leid, Walt«, fügte er hinzu.

Walt zuckte mit den Schultern. »Ich bin sicher, du hast getan, was du konntest. Seeleute können ziemlich verschlossen sein. Vielleicht rede ich mal mit ihm. Wo finden wir diesen, wie heißt er noch gleich? O’Malley?«

»In einer Taverne am Hafen. Dort ist er normalerweise jeden Abend.«

»Dann werde ich ihn mir heute Abend mal vorknöpfen«, sagte Walt.

»Das kannst du gern versuchen«, sagte Will. »Aber er ist eine harte Nuss. Ich weiß nicht, ob du irgendetwas aus ihm herausbekommst. Mit Geld ist jedenfalls nichts zu machen. Das habe ich schon versucht.«

»Tja, dann tut er es vielleicht aus Herzensgüte. Ich bin jedenfalls sicher, er wird sich mir anvertrauen«, sagte Walt gelassen.

Horace bemerkte das Funkeln in Walts Augen. Die Aussicht, etwas zu tun zu bekommen, hatte Walts Lebensgeister geweckt. Walt hatte eine Rechnung offen, und Horace ahnte, dass dieser Black O’Malley nichts zu lachen hätte.

»Meinst du wirklich?«, fragte Will zweifelnd.

Walt lächelte. »Die Leute reden für ihr Leben gern mit mir«, sagte er. »Ich bin ein erstklassiger Plauderer und besitze eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Frag Horace, ich habe ihn den ganzen Weg von Dun Kilty hierher unterhalten, nicht wahr?«

Horace nickte. »Er hat mir den ganzen Weg über die Ohren voll gequasselt. Ich bin froh, wenn er sich endlich ein anderes Opfer aussucht.«

Will sah die beiden an und seufzte. Er hatte es gehasst, Walt sein Versagen einzugestehen. Doch seine beiden Kameraden schienen die ganze Sache für einen Witz zu halten, und er war einfach nicht in der Stimmung, darüber zu lachen. Er hätte gern irgendeine lockere Bemerkung gemacht, aber ihm fiel nichts ein. Schließlich schwang er sich in den Sattel, um mit ihnen weiterzureiten.

»Ich habe uns Zimmer in einem Gasthaus weiter oben am Hügel reserviert. Es ist sauber und einigermaßen günstig«, sagte er.

Damit hatte er Horace’ Aufmerksamkeit geweckt. »Und wie ist das Essen?«, fragte er sofort.

Sie standen am Ende der Straße im Schatten. Von hier hatten sie einen klaren Blick auf den Eingang der Taverne und konnten die Gäste kommen und gehen sehen, ohne selbst entdeckt zu werden. Bis jetzt hatten weder O’Malley noch seine beiden Kumpane sich blicken lassen.

Will wechselte unruhig von einem Bein auf das andere. Es ging bereits auf Mitternacht zu.

»Sie sind spät dran … wenn sie überhaupt noch kommen«, sagte er. »Gestern waren sie um diese Zeit schon längst da.«

»Vielleicht waren sie gestern einfach früh dran«, sagte Horace. Walt sagte gar nichts.

»Warum warten wir nicht drin, Walt?«, fragte Horace. Die Nacht war kühl, und er merkte, wie die feuchte Kälte durch die Schuhsohlen in seine Füße und Beine fuhr. Seine Waden schmerzten bereits. Kaltes, feuchtes Pflaster, dachte er, was für ein wunderbarer Platz, um sich die Füße in den Bauch zu stehen. Er hätte am liebsten aufgestampft, um seinen Blutkreislauf in Schwung zu bringen, aber damit würde er sich nur eine Rüge von Walt einhandeln.

»Ich will sie überraschen«, sagte Walt. »Wenn sie das Wirtshaus betreten und uns sehen, ist das Überraschungsmoment verloren. Wenn wir allerdings warten, bis sie Platz genommen haben, und dann eintreten, erwischen wir sie unvorbereitet. Außerdem umgehen wir damit die Gefahr, dass irgendjemand sich rausschleicht, während wir drinnen warten, und sie warnt.«

Horace nickte. Das konnte er nachvollziehen. Auch wenn er selbst nicht gerade besonders spitzfindig war, schätzte er diese Gabe doch bei anderen.

»Und Horace«, sagte Walt.

»Ja?«

»Wenn ich dir ein Zeichen gebe, dann möchte ich, dass du dich um die zwei Begleiter des Schmugglers kümmerst.«

Horace grinste breit. Es klang nicht so, als erwartete Walt von ihm, dabei besonders spitzfindig zu sein.

»Wird gemacht«, antwortete er und fragte dann: »Wie sieht das Zeichen denn aus?«

Walt zuckte mit den Schultern. »Ich sage wahrscheinlich etwas wie ›Horace‹.«

Der junge Ritter legte den Kopf schief.

»Horace … was?«

»Einfach nur Horace«, erklärte Walt.

Horace überlegte kurz, dann nickte er, als hätte er den tieferen Sinn erkannt.

»Gute Idee, Walt. Sir Rodney sagt immer, wir sollen alles möglichst einfach und geradeheraus angehen.«

»Und was ist meine Aufgabe?« wollte Will wissen.

»Sieh einfach zu und lerne daraus«, sagte Walt.

Will lächelte ironisch. Er hatte inzwischen seine Enttäuschung überwunden, dass er O’Malley nicht zum Reden gebracht hatte. Jetzt war er vor allem neugierig, wie Walt die Sache anpackte. Er hatte keine Zweifel, dass Walt es irgendwie zuwege bringen würde.

»Das ändert sich nie, oder?«, sagte er.

»Nur ein Narr denkt, er wüsste bereits alles«, erwiderte Walt. »Und du bist kein Narr.«

Bevor Will darauf antworten konnte, deutete Walt nach vorne. »Da sind ja unsere Freunde.«

O’Malley und seine beiden Kumpane kamen die Straße entlang gelaufen. Die drei Araluaner sahen zu, wie sie die Taverne betraten. Die beiden Handlanger rückten zur Seite, um dem Kapitän den Vortritt zu lassen. Kurzzeitig drangen Stimmengewirr und ein matter Lichtschein heraus auf die Straße, während die Tür offen stand. Dann verstummte der Lärm und das Licht verschwand, als die Tür sich hinter ihnen schloss.

Horace wollte losstürmen, aber Walt legte ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück.

»Lass ihnen ein paar Minuten Zeit«, sagte er. »Sie werden sich etwas zu trinken bestellen und dann jeden verjagen, der an ihrem Tisch sitzen könnte. Und wo genau sitzen sie, Will?«, fragte er.

Der junge Waldläufer verzog nachdenklich das Gesicht, während er sich den Grundriss der Gaststube in Erinnerung rief. Walt kannte die Antwort auf diese Frage bereits, denn er hatte Will am Nachmittag schon ausgefragt. Aber er wollte seinen jungen Freund beschäftigen.

»Weiter hinten, etwa zwei Schritte geradeaus und einen nach rechts. Ungefähr drei Schritte von der Tür entfernt, neben der Feuerstelle«, antwortete Will. »Pass auf deinen Kopf auf, wenn du durch die Tür gehst, Horace«, fügte er hinzu.

Horace nickte. Walt stand mit geschlossenen Augen da, stellte sich die Gaststube vor und schätzte die nötige Zeit ab. Will bewegte sich unruhig, er wollte die Sache endlich hinter sich bringen.

»Immer mit der Ruhe. Es besteht kein Grund zur Eile«, hörte er Walt leise sagen.

Will holte einige Male tief Luft und versuchte, seinen rasenden Puls zu verlangsamen.

»Du weißt, was ich von dir möchte?«, fragte Walt ihn. Er hatte seine beiden jungen Freunde am Nachmittag bereits auf diesen Moment vorbereitet. Aber nach dem lockeren Geplänkel schadete es nicht, den Plan noch einmal zu wiederholen.

Will schluckte. »Ich bleibe in Türnähe und behalte den Raum im Auge.«

»Aber nicht so nahe an der Tür, dass du umgestoßen wirst, wenn unerwartet jemand hereinkommt«, erinnerte Walt ihn.

»Verstanden«, sagte Will. Sein Mund war ein wenig trocken.

»Horace, ist bei dir alles klar?«, fragte Walt.

»Ich komme mit dir, bleibe stehen, wenn du dich setzt, behalte O’Malleys Spießgesellen im Auge, und wenn du ›Horace‹ sagst, zieh ich ihnen eins über.«

»Kurz und bündig«, sagte Walt. »Ich hätte es selbst nicht besser formulieren können.« Er wartete noch ein paar Sekunden, dann trat er aus dem Schatten.

Sie überquerten die Straße und Walt stieß die Tür auf. Als Will hinter Walt eintrat, schlug ihm wie beim letzten Mal ein Hitzeschwall entgegen, dazu lautes Stimmengewirr und grelles Licht. Hinter sich hörte er einen dumpfen Schlag und ein unterdrücktes Fluchen von Horace, der vergessen hatte, sich unter dem Türrahmen wegzuducken.

O’Malley, der mit dem Rücken zum Feuer saß, blickte zu den Neuankömmlingen. Er erkannte Will und das lenkte ihn ab, sodass er Walt erst bemerkte, als der mit schnellen Schritten auf ihn zugekommen war, sich einen Stuhl genommen hatte und ihm gegenübersaß.

»Guten Abend«, hörte O’Malley den bärtigen Fremden sagen. »Mein Name ist Walt, und es ist Zeit, dass wir uns mal unterhalten.«

Nialls und Dennis sprangen auf, doch O’Malley hob abwehrend die Hand. »Schon gut, Leute.«

Sie setzten sich nicht wieder, sondern stellten sich breitbeinig hinter ihn. O’Malley, der sich von seiner ersten Überraschung schnell erholt hatte, musterte den Mann, der ihm gegenübersaß.

Er war klein und sein Haar war eher grau als schwarz. Auf den ersten Blick niemand, der dem Schmuggler allzu großes Kopfzerbrechen bereiten würde. Doch O’Malley hatte Jahre damit verbracht, mögliche Gegner einzuschätzen. Der Fremde strahlte ein gewisses Selbstvertrauen aus. Er war gerade in die Höhle des Löwen gekommen und hatte ihn sozusagen einfach am Schwanz gezogen. Und jetzt saß er ihm gegenüber, ruhig wie ein Fels in der Brandung. Gelassen. Ungerührt. So jemand war entweder ein Narr oder ein sehr gefährlicher Mann. Und wie ein Narr sah der Fremde nicht gerade aus.

O’Malley musterte den Begleiter des Mannes. Groß, breitschultrig und athletisch. Doch das Gesicht war jung  – fast knabenhaft. Außerdem fehlte ihm die selbstbewusste Ausstrahlung des Älteren und er blickte ständig abschätzend zwischen O’Malley und seinen beiden Freunden hin und her. O’Malley kam zu dem Schluss, dass von dem jungen Mann nichts zu befürchten war. Das war ein Fehler, den schon viele vor ihm gemacht hatten  – und den sie stets irgendwann bereut hatten.

Der Schmuggler blickte zur Tür und sah den jungen Burschen dort stehen, mit dem er die Nacht zuvor gesprochen hatte. Er stand etwas abseits der Tür und hatte seinen Langbogen in der Hand. Ein Pfeil lag bereits an der Sehne, aber der junge Mann hielt den Bogen gesenkt und bedrohte niemanden. Das konnte sich natürlich in Sekundenschnelle ändern, das wusste auch O’Malley. Dennis und Nialls hatten ihm von den verblüffenden Fähigkeiten des jungen Bogenschützen erzählt. Nialls Ohr war immer noch bandagiert.

Dieser Kerl namens Walt hatte einen ganz ähnlichen Bogen bei sich. Und er trug auch einen ähnlichen Umhang, gesprenkelt und mit Kapuze. Die gleichen Waffen, die gleichen Umhänge. Das sah fast wie eine Art Uniform aus und das passte O’Malley ganz und gar nicht.

»Mann des Königs, oder was?«, sagte er zu Walt.

Walt zuckte mit den Schultern. »Nicht eures Königs.« Er sah das geringschätzige Grinsen des Schmugglers und unterdrückte den Ärger auf seinen verstorbenen Bruder, der das Ansehen des Königshauses so beschädigt hatte. Äußerlich ließ er sich jedoch nichts anmerken.

»Ich komme aus Araluen«, sagte er.

O’Malley verzog abfällig das Gesicht. »Jetzt soll ich wohl mächtig beeindruckt sein, was?«, fragte er spöttisch.

Walt antwortete nicht sofort. Er blickte seinem Gegner in die Augen.

»Das liegt bei dir«, sagte er kühl. »Mir ist das egal. Ich erwähne

cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage Deutsche Erstausgabe Oktober 2012

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2009 John Flanagan

Die englische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Ranger’s Apprentice. Halt’s Peril« bei Random House Australia Pty Limited, Sydney, Australia. This edition published by arrangement with Random House Australia. © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Angelika Eisold Viebig Lektorat: Petra Koob-Pawis Vignetten: Mathematics Umschlagbild: Cliff Nielsen Reproduced by arrangement with Philomel Books, a division of Penguin Young Readers Group, a member of Penguin Group (USA) Inc. All rights reserved. Umschlaggestaltung: init. Büro für Gestaltung, Bielefeld MI · Herstellung: cb Satz: Uhl + Massopust, Aalen

eISBN 978-3-641-10126-8

www.cbj-verlag.de

www.randomhouse.de

Leseprobe