Die Chroniken von Araluen - Königreich in Gefahr - John Flanagan - E-Book

Die Chroniken von Araluen - Königreich in Gefahr E-Book

John Flanagan

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Beschreibung

Ein mitterlalterliches Königreich, bedroht von bösen Kräften und ungeheuerlichen Kreaturen, verteidigt von einem jungen Waldläufer und seinen Freunden - willkommen in Araluen!

Lynnie, die rebellische Königstochter von Araluen, kehrt nach ihrer Ausbildung bei Will, dem Waldläufer, zurück zu ihren Eltern. Jahrelang hatte das Reich in Frieden gelebt – doch der erweist sich nun als trügerisch. Als Lynnie von einem Komplott gegen das Königshaus erfährt, beschließt sie, selbst herauszufinden, wer die Verschwörer sind. Doch niemand darf erfahren, dass sie nicht nur Thronerbin, sondern auch eine Waldläuferin ist.

Spannende und actionreiche Abenteuer in einem fantastisch-mittlalterlichen Setting – tauche ein in »Die Chroniken von Araluen«!

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Seitenzahl: 463

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© Cameron Barrie

DER AUTOR

John Flanagan arbeitete als Werbetexter und Drehbuchautor, bevor er das Bücherschreiben zu seinem Hauptberuf machte. Den ersten Band von »Die Chroniken von Araluen« schrieb er, um seinen 12-jährigen Sohn zum Lesen zu animieren. Die Reihe eroberte in Australien in kürzester Zeit die Bestsellerlisten und ist weltweit unvermindert erfolgreich, ebenso wie die Spin-off-Reihe »Brotherband«.

Von John Flanagan ist beim cbj Verlag erschienen

BROTHERBAND

Die Bruderschaft von Skandia (22381)

Der Kampf um die Smaragdmine (22382)

Die Schlacht um das Wolfsschiff (22383)

Die Sklaven von Socorro (22505)

Der Klan der Skorpione (22506)

DIE CHRONIKEN VON ARALUEN

Die Ruinen von Gorlan (27072)

Die brennende Brücke (27073)

Der eiserne Ritter (21855)

Der Angriff der Temujai-Reiter (21065)

Die Krieger der Nacht (22066)

Die Belagerung (22222)

Der Gefangene des Wüstenvolks (22229)

Die Befreiung von Hibernia (22342)

Der große Heiler (22343)

Die Schwertkämpfer von Nihon-Ja (22375)

Die Legenden des Königreichs (22486)

Das Vermächtnis des Waldläufers (22508)

DIE CHRONIKEN VON ARALUEN – WIE ALLES BEGANN

Das Turnier von Gorlan (22625)

Die Schlacht von Hackham Heath (22631)

Weitere Bände in Vorbereitung.

John Flanagan

DIE CHRONIKEN VON ARALUEN

Königreich in Gefahr

Aus dem Englischen von Angelika Eisold Viebig

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Erstmals als cbt Ausgabe März 2019© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München.Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten© John Flanagan 2018Zuerst erschienen 2018 unter dem Titel»Ranger’s Apprentice- The Royal Ranger/The Red Fox Clan«bei Penguin Random House Australia, Sydney, AustraliaÜbersetzung: Angelika Eisold ViebigLektorat: Andreas RodeCoverillustration: © Jeremy RestonUmschlaggestaltung: init Kommunikationsdesign, Bad OeynhausenCK · Herstellung: eRSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-22784-5V002
www.cbj-verlag.de

Prolog

Er stand im Verborgenen und ließ die Wut in sich immer stärker werden. Er brauchte diese Wut. Er nährte sich davon. Sie entfesselte die Leidenschaft und das Feuer, das sowohl in seinen Worten als auch in seiner Botschaft zum Ausdruck kommen sollte.

Seine Zuhörer spürten dies. Er hatte die Fähigkeit, in ihnen die gleiche Wut zu wecken. Sein Publikum bestand zum größten Teil aus ungebildetem Landvolk, und er nutzte all die Tricks eines Aufwieglers, um Vorurteile zu schüren, damit diese Zuhörer ihre zu Fäusten geballten Hände erhoben und Gerechtigkeit einforderten.

Die Grundlage für seine Wut war ganz einfach. Er glaubte, dass man ihn um sein Geburtsrecht, um sein Recht auf das Erbe betrogen hatte. Und dieser Betrug hatte seinen Anfang in einem geschickten Schachzug eines Monarchen genommen, der damit die Thronfolge seiner eigenen Familie sichern wollte. Mit einem Federstrich hatte dieser ein jahrhundertealtes Gesetz geändert und damit verfügt, dass in Araluen auch weibliche Nachkommen die Thronfolge antreten konnten.

Die meisten Araluaner hatten das neue Gesetz akzeptiert, ohne es weiter zu hinterfragen. Doch eine kleine Anzahl von besonders konservativen, ja geradezu fanatischen Anhängern des Althergebrachten, lehnte es ab. Sie hatten den Orden der Roten Füchse gegründet, eine umstürzlerische Gruppe, die sich geschworen hatte, die alten Sitten wieder herzustellen und das Gesetz der männlichen Thronfolge erneut in Kraft zu setzen.

Der Orden der Roten Füchse hatte nicht viele Mitglieder gehabt, als er ihn vor einigen Jahren entdeckt hatte, gewiss nicht mehr als fünfzig. Doch er hatte erkannt, dass dieser Geheimbund das richtige Mittel war, um sein Ziel zu erreichen, nämlich den Thron von Araluen zu besteigen. Er hatte gespürt, dass diese Bewegung, schwach und unorganisiert wie sie war, für ihn der Ausgangspunkt werden konnte, um seine Kampagne zu beginnen.

Und so hatte er sich ihnen angeschlossen und sein Talent für Organisation und Führung, das er zweifellos besaß, eingebracht.

Er war von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt gereist, um in geheimen Treffen seine Botschaft voller Vorurteile zu verkünden. Man konnte förmlich zusehen, wie die Zahl der Ordensmitglieder wuchs, und so wartete er den richtigen Zeitpunkt einfach ab. Die ursprüngliche Gruppe von gerade mal fünfzig Mitgliedern war inzwischen auf Hunderte angewachsen. Sie waren eine mächtige und gut finanzierte Bewegung geworden. Und er hatte allmählich die Position des Vulpus Rutilus, des Ordensführers der Roten Füchse eingenommen.

Er war ein geschickter und überzeugender Redner, doch das war nur ein Aspekt seines komplexen Charakters. Wenn es sein musste, konnte er hart und rücksichtslos sein, und bei mehr als einer Gelegenheit hatte er Leute, die ihn ablehnten oder seinen Weg an die Spitze verhindern wollten, brutal vernichtet.

Nicht weniger wichtig war, dass er schon in jungen Jahren gelernt hatte, seine Ziele entschlossen zu verfolgen, indem er Charme und scheinbare Freundlichkeit einsetzte. Schon als er noch ein Kind gewesen war, hatte seine Mutter ihm eigehämmert, welche Ungerechtigkeit ihm angeblich widerfahren war, und ihm erklärt, dass er sich sein vermeintliches Recht erkämpfen müsse. »Man fängt mehr Fliegen mit Honig als mit Essig«, hatte sie immer gesagt – und je älter und reifer er wurde, desto öfter wandte er diese Lehre an.

Er hatte die Fähigkeit, andere dazu zu bringen, ihn zu mögen und für ihren Freund zu halten, bis zur Perfektion kultiviert. Wie ein vollendeter Schauspieler hatte er gelernt, seine Abneigung hinter einer nach außen zur Schau getragenen Freundlichkeit und Herzlichkeit zu verbergen – immer mit einem gewinnenden Lächeln auf den Lippen. Selbst jetzt gab es mindestens ein halbes Dutzend Leute in den oberen Rängen des Ordens der Roten Füchse, die er hasste. Dennoch war sich keiner von ihnen dessen bewusst; alle betrachteten ihn als Freund, als einen selbstlosen und warmherzigen Verbündeten.

Und da waren noch die anderen, jene außerhalb des Ordens, Leute, die er als seine bittersten Feinde betrachtete und die keine Ahnung von dem tiefen Hass hatten, der unter der äußeren Schicht seiner ungezwungenen Freundlichkeit schlummerte.

Doch jetzt näherte sich die Zeit, in der er diese Täuschung beenden und seine echten Gefühle enthüllen konnte, und bei diesem Gedanken fühlte er eine tiefe Befriedigung.

Die Zusammenkunft des Ordens wurde auf einer großen Waldlichtung abgehalten, die zwischen drei großen Dörfern lag, in denen er viele Mitglieder für den Orden rekrutiert hatte. Jetzt musterte er seine Gefolgschaft, die sich hier versammelt hatte. Nur Ordensmitglieder waren eingeladen worden, und engmaschig aufgestellte und mit Keulen und Schwertern bewaffnete Wachposten bildeten einen regelrechen Wall, um zu gewährleisten, dass keine Außenstehenden die Zusammenkunft beobachten konnten. Es waren beinahe hundert Leute anwesend – ein ausgezeichnetes Ergebnis. Am Anfang hatte er zu einer Zuhörerschaft von kaum einem Dutzend Leuten gesprochen – Leuten, die nur am Rande interessiert an dem waren, was er zu sagen hatte, sondern eher eine Abwechslung von ihrem langweiligen Leben suchten. Inzwischen hatte die Bewegung eine ganz andere Schwungkraft erreicht. Es herrschte erwartungsvolles Gemurmel unter den Anwesenden, die auf seine Ansprache warteten.

Er hatte den Eindruck, dass nun genau der richtige Zeitpunkt für seinen Auftritt gekommen war. In den vergangenen Jahren hatte er ein Gespür für den Umgang mit größeren Menschenmengen entwickelt. Er merkte genau, wann der passende Moment für seinen Auftritt gekommen war – und wartete dann noch die wenigen Augenblicke, die wichtig waren, um die Erwartung in Eifer und Begeisterung für die Sache zu verwandeln.

Zu seiner Linken befand sich eine erhöhte Rednerplattform. Lodernde Fackeln erleuchteten die Kulisse, die das Gesicht eines roten Fuchses zeigte.

Er legte die Maske an – ein stilisiertes Fuchsgesicht, das seine Augen, seine Nase und seine Wangen bedeckte. Den mit Pelz besetzten purpurroten Umhang eng um sich gezogen, stieg er die drei Stufen auf der Rückseite der Plattform empor und schob sich durch die Kulisse, um beinahe wie von Zauberhand im flackernden Licht der Fackeln zu erscheinen.

Im ersten Moment seines Erscheinens herrschte Stille, dann brandete Applaus auf, während er seine Arme ausbreitete, sodass der purpurrote Umhang sich öffnete, als breite ein gewaltiger Vogel seine Schwingen aus.

Er wartete, bis der Applaus abebbte, es jedoch noch nicht ganz still war. Dann erst rief er: »Meine Freunde!«

Seine klangvolle Stimme erreichte selbst jene in den hintersten Reihen.

»Seit Tausenden von Jahren wurde unser Land unter einem Gesetz regiert, das besagte, dass nur ein männlicher Erbe in die Thronfolge eintreten durfte. Es war ein gutes Gesetz. Es war ein gerechtes Gesetz. Und es war ein Gesetz, dass den Willen der Götter respektierte.«

Ein zustimmendes Gemurmel ging durch die Menge.

Er fragte sich unwillkürlich, warum man so bereitwillig akzeptierte, dass dieses Gesetz von den Göttern gutgeheißen wurde. Doch so war es nun mal. So vieles wurde akzeptiert, ohne es zu hinterfragen. Das war Teil der großen Lüge, die – wenn sie nur oft genug erzählt wurde – im Kopf der Zuhörer zur Wahrheit wurde.

»Dann, vor einigen Jahren, beschloss ein König ohne jegliche Beratung oder Diskussion, dieses Gesetz zu ändern. Mit einem Federstrich änderte er es. Willkürlich und hochmütig.«

Er machte auf der Plattform einen Schritt nach vorn und beugte sich zu seiner Zuhörerschaft, seine Stimme gewann sowohl im Ton als auch in der Lautstärke. »Wollten wir, dass dieses Gesetz geändert wird?«

Er wartete und wurde nicht enttäuscht. »Nein!«, rief die Menge.

Für den Fall, dass man nicht ausreichend antwortete, hatte er eigene Leute in den Reihen postiert, die einen entsprechenden Chor anführen konnten.

»Haben wir darum gebeten, dass dieses Gesetz geändert wird?«

»Nein!« Die Antwort hallte über die Lichtung.

»Warum also hat er das getan?« Diesmal sprach er sofort weiter. »Um seiner eigenen Familie die Thronfolge zu garantieren. Um sicherzustellen, dass seine Enkelin den Thron erben würde. Und ihre Tochter.«

Als der König das Gesetz geändert hatte, war seine Enkelin noch gar nicht geboren. Aber die Leute neigten in ihrem Eifer dazu, solche Tatsachen zu übersehen.

»Hatte er das Recht, das zu tun?«

»Nein!«

»War es gerecht?«

»Nein!«

»Oder war es vielmehr ein Akt selbstsüchtiger Arroganz und völliger Respektlosigkeit gegenüber den Menschen in diesem Königreich?«

»Jaaaa!«

Er machte eine Pause, um die Leidenschaft der Menge etwas abkühlen zu lassen, dann fuhr er in einem ruhigeren Ton fort.

»Kann eine Frau dieses Land in Zeiten des Krieges führen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das kann sie nicht. Eine Frau ist nicht stark genug, um unseren Feinden standzuhalten. Was weiß eine Frau über Krieg und militärische Angelegenheiten und darüber, wie man unsere Grenzen sichert?«

Diesmal streckte er seine Arme aus, um eine Antwort zu fordern. Und er bekam sie.

»Nichts! NICHTS!«

»Dann, meine Freunde, ist die Zeit für uns gekommen, das Richtige zu tun! Zeit, diese Ungerechtigkeit, dieses gottlose Gesetz zu beseitigen und dafür dem alten Gesetz dieses Landes wieder Geltung zu verschaffen. Stimmt ihr mir zu?«

»Ja!«, schrien sie.

Aber das reichte ihm noch nicht. »Steht ihr alle an meiner Seite? Werden wir zurückkehren zum Althergebrachten? Zur von alters her überlieferten Lebensweise? Dem Weg der Götter?«

»JAAA!«

Das zustimmende Geschrei war so ohrenbetäubend, dass die Stare geweckt wurden, die in den Bäumen am Rand Lichtung schliefen. Vulpus Rutilus drehte sich zur Seite, um sein triumphierendes Grinsen zu verbergen. Als er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte, drehte er sich zurück und sprach jetzt mit so leiser Stimme, dass sein Publikum angestrengt lauschen musste.

»Nun, meine Freunde, dann ist die Zeit für den Orden der Roten Füchse gekommen, sich zu erheben. In zwei Monaten werden wir uns im Lehen Araluen versammeln und ich werde euch entsprechende Anweisungen erteilen.«

Eins

Sie näherten sich Madelyns Versteck.

Die Suchmannschaft bestand aus einem ganzen Dutzend Leuten, die in einer lang gezogenen Kette, jeder etwa fünf Schritte von seinem Nachbarn entfernt, das Gelände durchkämmten und auf diese Weise einen Bereich von sechzig Schritt in der Breite abdeckten. Jeder trug eine brennende Fackel, die er so hoch wie möglich hielt, um die zunehmende Dunkelheit zu vertreiben. Die Fackelreihe näherte sich Madelyn von vorn. Wenn sie deren Reihe durchbrechen oder einfach nur ungesehen bleiben konnte, während sie an ihr vorbeigingen, hätte sie es geschafft.

Genau genommen war »Versteck« eine leichte Übertreibung für Madelyns Position. Sie lag einfach nur still zwischen den kniehohen, dürren Grashalmen, von oben bis unten von ihrem Umhang bedeckt.

In den Feldern zu beiden Seiten der Wiese, die sie als Versteck ausgewählt hatte, war das Gras hüfthoch und wehte leicht in der frühen Abendbrise. Es hätte ihr eine bessere Deckung vor den Männern geboten, die nach ihr suchten. Doch sie hatte das kürzere Gras aus einem bestimmten Grund gewählt.

Man würde erwarten, dass jemand auf der Flucht sich im höheren Gras versteckte, also würde man dort viel aufmerksamer suchen. Das Stoppelfeld, in dem sie lag, bot ihr nur notdürftig Deckung, und die Suchmannschaft würde auf diesem Gelände viel weniger sorgfältig sein, in der Annahme, dass man jemanden, der sich hier versteckte, sehr leicht bemerken würde.

Darauf hoffte Madelyn jedenfalls, denn genau deshalb hatte sie diesen Weg gewählt. Außerdem waren die Felder zu beiden Seiten schmaler, sodass die Suchenden näher beieinander marschieren würden und ihnen jegliche Auffälligkeit stärker ins Auge stechen würde.

Wie zum Beispiel der Umriss einer Gestalt unter einem grau-grünen Waldläuferumhang.

Das abnehmende Licht verschaffte ihr einen weiteren Vorteil. Die Sonne war bereits untergegangen und am westlichen Himmel war nur noch ein schwacher Lichtschein zu sehen. Dies schuf lange Schatten und dunkle Ecken auf der unebenen Oberfläche des Feldes. Und statt die Suchenden zu leiten, erschwerte das Licht der Fackeln die Aufgabe noch zusätzlich durch sein Flackern.

Madelyn konnte den gelblichen Schein einer Fackel jetzt wahrnehmen. Sie widerstand der fast unerträglichen Versuchung, aufzublicken und nachzusehen, wo genau sich der Mann befand. Ihr Gesicht war zwar von einem Gemisch aus Schlamm und Asche geschwärzt, das sie aufgetragen hatte, bevor sie sich auf den Weg gemacht hatte. Dennoch würde es in der Dunkelheit als helles Oval auffallen. Und die dazugehörige Bewegung wäre noch verräterischer. Sie lag mit dem Kopf nach unten, die Augen fest auf die Grasbüschel gerichtet, die sich dicht vor ihrem Gesicht befanden, und sah das gelbe Licht der Fackeln über sie hinweghuschen. Schatten wurden geworfen, die immer kürzer wurden, je näher die Lichtquellen rückten.

Ihr Herz klopfte heftig, als sie das Rascheln des Grases hörte, das die Schritte verursachten. Sie hörte das Blut in ihren Ohren pulsieren wie Trommelschläge.

Vertrau auf den Umhang. Das alte Mantra, das ihr Meister ihr immer und immer wieder eingeschärft hatte, meldete sich jetzt von selbst. Der Sucher konnte ihren Herzschlag nicht hören. Das war natürlich ein alberner Gedanke, wie sie wusste. Und wenn sie bewegungslos wie eine Tote dalag, würde er sie auch nicht sehen. Der Umhang würde sie schützen. Das hatte er in der Vergangenheit stets getan und so würde es auch jetzt sein.

»Na also! Ich sehe dich. Steh auf und ergib dich!«

Die Stimme war sehr nahe, gewiss nicht mehr als drei Schritte entfernt. Und sie klang sehr überzeugend. Einen Moment lang hätte sie dem Drang aufzustehen beinahe nachgegeben. Doch dann erinnerte sie sich an Wills Worte, als er sie in der Kunst, sich ungesehen zu bewegen, unterrichtet hatte.

Die Suchmannschaft versucht vielleicht, dich dazu zu bringen, dass du dich zeigst. Sie rufen einfach, dass sie dich gesehen hätten und du aufstehen solltest. Fall nicht darauf rein!«

Also lag sie weiter bewegungslos da. Wieder war die Stimme zu hören. »Komm schon! Ich hab doch gesagt, dass ich dich sehen kann!«

Doch die Stimme klang nicht mehr so selbstbewusst wie vorher, stattdessen lag eine gewisse Unsicherheit darin, als ob der Rufer gemerkt hätte, dass seine Finte erfolglos war – oder dass da niemand in der Nähe verdeckt lag. Nach einem kurzen Moment stieß er einen leisen Fluch aus und lief weiter. Seine Stiefel ließen dürre Grasstoppeln knirschen und Madelyn spürte, dass er an ihr vorbeigegangen war – was bedeutete, dass er seinen Blick nach vorne und weg von ihr richtete. Sie beobachtete, wie die winzigen Schatten der Grashalme länger wurden und eher nach links fielen. Der Sucher bewegte sich also nach rechts.

Sie merkte, dass sie die Luft angehalten hatte, und atmete jetzt langsam aus, spürte, wie die Spannung in ihrem Körper nachließ. Ihr Herzschlag normalisierte sich.

In Kürze wäre der Sucher ein ganzes Stück von ihr entfernt und könnte nichts mehr hören, selbst wenn sie bei einer Bewegung ein leises Geräusch verursachte. Sie wartete, zählte lautlos bis einhundertundzwanzig und lauschte auf seine Schritte, bis sie diese nicht länger hören konnte. Nun spannte sie ihre Muskeln an. Als sie sich auf den Boden geworfen hatte, hatte sie ihren linken Arm vor sich ausgestreckt. Ihr rechter lag angezogen unter ihr, weshalb sie sich einige Fingerbreit hochdrücken und langsam wegkriechen konnte.

Sie stemmte sich auf ihre rechte Hand und merkte, wie sich scharfe Grasstoppeln schmerzvoll hineinbohrten. Es wäre nur naheliegend, ihre Hand leicht zur Seite in eine bequemere Stellung zu bringen. Doch erneut widerstand sie der Versuchung.

Unnötige Bewegung konnte sie verraten. Es war besser, die Unbequemlichkeit in Kauf zu nehmen. Natürlich musste sie ihren Arm bewegen, um sich auf dem Bauch kriechend vorwärtszuschieben. Doch das war eine notwendige Bewegung. Andernfalls würde sie noch die ganze Nacht hier liegen. Also begann sie ihre Muskeln erneut anzuspannen.

Dann hielt sie inne.

Da war ein Geräusch – schwach und nicht sofort zu identifizieren – im Gras vor ihr gewesen. Und noch während sie es wahrnahm, fiel ihr ein anderer Rat ein, den Will ihr gegeben hatte.

Manchmal gibt es eine Nachhut, hörte sie seine ruhige Stimme in ihrer Erinnerung. Ein weiterer Sucher, welcher der Mannschaft im Abstand von etwa zehn oder zwölf Schritt folgt und Ausschau hält, falls jemand den ersten Suchern entkommen ist und sich jetzt wieder bewegt. Das ist ein alter Trick, aber du wärst überrascht, wie viele dadurch schon erwischt wurden.

Also entspannte sie sich wieder und wartete, den Kopf nah am Boden, das Gesicht nach unten. Jetzt hörte sie das Geräusch erneut, und diesmal erkannte sie es. Wer immer da kam, hob seine Füße hoch aus dem Gras und machte sorgfältige Schritte, um jedes unnötige Geräusch und jedes Schleifen der Füße zu verhindern. Madelyn hatte selbst gelernt, ihre Schritte beim Anschleichen zu setzen, und sie erkannte jetzt, dass dieser neue Verfolger in der Kunst der lautlosen Bewegung sehr geübt war.

Angestrengt lauschte sie auf jeden Anhaltspunkt, der ihr verraten konnte, wie nahe er war und aus welcher Richtung er kam. Er schien rechts von ihr zu sein und sich diagonal zu bewegen, sodass er ihrem Versteck sehr nahe kommen würde. Und bislang konnte sie keinen Schein einer Fackel erkennen. Ärgerlich biss sie sich auf die Unterlippe. Eine Fackel hätte ihr in diesem Fall wegen ihres flackernden, unsteten Lichts sogar geholfen. Außerdem hätte die Helligkeit der Flamme so nahe am Gesicht des Trägers seine Nachtsicht verschlechtert. Nachdem es mittlerweile fast dunkel war, wäre eine Fackel mehr Hindernis als Hilfe für einen Sucher.

Er war nahe. Selbst bei all der Vorsicht, mit der er sich bewegte, konnte sie die schwachen Geräusche vernehmen, die er verursachte. Die Tatsache, dass er sich flüssig und gleichmäßig bewegte, half ihr, ihn auszumachen. Sobald sie seinen Rhythmus erkannt hatte, wusste sie, wann sie auf den nächsten, beinahe lautlosen Schritt lauschen musste.

Jetzt war er sehr nahe. Doch er bewegte sich vor ihr, würde aller Voraussicht nach schräg links an ihr vorbeigehen. Madelyn wusste, dass sie ihm entkommen war. Sie verspürte ein Triumphgefühl in sich aufsteigen, als er sich einen weiteren Schritt von ihr entfernte.

Doch dann drehte er unerklärlicherweise wieder und wechselte die Richtung, um sich parallel zu ihrem Versteck weiterzubewegen. Ihr Herzschlag stieg wieder an, als ihr klar wurde, wie nahe er daran war, sie zu entdecken.

Sie verspürte einen stechenden Schmerz in ihrer linken Hand, als er seinen Fuß genau darauf stellte und sein ganzes Gewicht darauf legte, während er seinen anderen Fuß für den nächsten Schritt hob.

»Autsch!«, entwischte ihr ein Aufschrei.

Gleichzeitig zuckte sie unwillkürlich vor Schmerz zusammen, während er einen Schritt zurückmachte, da er ein fremdartiges Objekt unter seinem Fuß spürte. Sie hatte nur eine winzige Bewegung gemacht, doch sie reichte. Der Sucher stieß einen triumphierenden Schrei aus, und sie spürte einen eisernen Griff hinten an ihrem Umhang, gleich unterhalb der Kapuze, der sie auf die Füße zog.

»Hab ich dich!«, sagte er und die Befriedigung in seiner Stimme war unüberhörbar. Er drehte sie zu sich und gleichzeitig rief er den andere Suchern zu: »Hier hinten! Hab ihn!«

Er schob ihre Kapuze zurück und betrachtete sie jetzt genauer.

»Aber du bist gar kein Er, nicht wahr?«, stellte er fest. »Du bist Will Hallas’ Lehrling. Tja, du bist wirklich ein Fang, das muss man sagen.«

Sie zappelte in seinem Griff, um sich zu befreien, auch wenn die Übung jetzt auf jeden Fall vorbei war. Die anderen Sucher hatte das Rufen gehört, waren zurückgekommen und versammelten sich nun um sie, das Licht der Fackeln zeigte ihre grinsenden Gesichter nur allzu deutlich.

»Wirklich Pech«, sagte einer, ein gut aussehender Lehrling im vierten Lehrjahr. »Du hattest es fast geschafft.«

Er deutete mit dem Kopf auf den Rand des Feldes und sie drehte den Kopf, um hinüberzublicken. Die kleine Hütte, die zu erreichen ihre Aufgabe gewesen war, war kaum fünfzig Schritt entfernt. Wenn dieser plumpe Sucher mit seinen klobigen großen Füßen nicht gewesen wäre, hätte sie es geschafft.

Und damit hätte sie eine perfekte Punktzahl bei ihrem Prüfungsergebnis zum Ende des Jahres erreicht.

Auf einem kleinen Hügel etwa hundert Schritt entfernt, beobachteten Will Hallas und Gilan die Ereignisse auf dem Feld, als die Suchmannschaft sich um Madelyn versammelte. Selbst auf diese Entfernung warf das flackernde Licht der Fackeln genügend Licht, um Will erkennen zu lassen, wie enttäuscht Lynnie war.

»Das war wirklich Pech«, sagte Gilan. »Sie hätte es fast geschafft. Und sie hat alles richtig gemacht.«

»Bis zu dem Moment, als sie ›Autsch! Du bist auf mich getreten!‹ hören ließ«, meinte Will mit einem Grinsen.

Gilan sah seinen alten Freund an. »Wie gesagt, das war wirklich Pech.«

»Walt pflegte immer zu sagen, ein Waldläufer macht sein eigenes Glück«, erwiderte Will.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich denken, du freust dich, dass sie erwischt wurde«, sagte Gilan.

Will zuckte mit den Schultern. »Ich bin jedenfalls nicht allzu traurig«, gab er zu. »Sie wollte unbedingt ein perfektes Ergebnis, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das wollte. Es wäre nicht gut für ihr Ego gewesen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und auch nicht für meine Geduld.«

»Darf ich annehmen, dass du aus Erfahrung sprichst?«, fragte Gilan.

Will nickte. »Sie hatte am Ende des zweiten Jahres die volle Punktzahl«, sagte er. »Und das musste ich mir die nächsten drei Monate unentwegt anhören … jedes Mal, wenn ich versuchte, sie zu korrigieren oder anzudeuten, dass sie eine Aufgabe falsch anging. Sie neigt dazu, ein wenig eigensinnig zu sein.«

»Stimmt. Aber sie ist sehr gut, das musst du zugeben.«

»Zugegeben. Sie ist eben die Tochter ihrer Mutter. Kannst du dir vorstellen, wie Evanlyn an ihrer Stelle reagieren würde?«

Bei diesem Gedanken grinste Gilan. »Sprichst du etwa von Ihrer Hoheit Prinzessin Cassandra in diesem abschätzigen Ton?« Er war leicht amüsiert darüber, dass Will weiterhin den Decknamen der Prinzessin verwendete, den sie angenommen hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

Will wiegte seufzend den Kopf. »In der Tat«, antwortete er. »Je mehr ich von Lynnie sehe, desto mehr erkenne ich ihre Mutter in ihr.«

»Was wahrscheinlich erklärt, warum sie so gute Leistung erbringt«, meinte Gilan.

Will blieb nichts anderes übrig, als ihm beizupflichten: »Stimmt.«

Er beugte sich vor, löste sich von dem Baumstamm, an den er sich gelehnt hatte, und stand auf. Der Suchtrupp und die Gesuchte kehrten zurück zum Versammlungsplatz, hell leuchteten die Fackeln in der Dunkelheit. »Lass uns zum Lager zurückkehren und die Beurteilung anhören«, schlug er vor.

Zwei

Die Beurteilung von Madelyns Leistung wurde in einem der größeren Kommandozelte vorgenommen. Die drei Prüfer saßen in bequemen Klappstühlen aus Leinen hinter einem Tisch und studierten die Berichte der Gutachter, die Madelyns Fähigkeiten und Kenntnisse während der Zusammenkunft beobachtet hatten.

Madelyn stand vor ihnen, der Sucher, der sie gefasst hatte, einen halben Schritt hinter ihr. Die Prüfer blickten auf, als Will und Gilan die Segeltuchklappen zur Seite schoben und das Zelt betraten. Harlon, der älteste der Prüfer, nahm ihr Eintreten mit einem Nicken zur Kenntnis. Da Will Madelyns Lehrmeister war, hatte er das Recht, bei der Beurteilung ihrer Leistung anwesend zu sein. Und als Oberster Waldläufer konnte Gilan natürlich anwesend sein, wo immer er wollte.

In der Zeit, die beide gebraucht hatten, das Zelt zu erreichen, hatte das Prüfungsgremium sich den Bericht desjenigen angehört, der Madelyn aufgegriffen hatte. Jetzt sprach Harlon.

»Unglücklicherweise können wir deine Prüfung in Anschleichen und Ungesehener Bewegung nicht als bestanden werten«, sagte er. Seine Stimme klang nicht unfreundlich. Er war beeindruckt von Madelyns überdurchschnittlicher Gesamtleistung, die er aus den schriftlichen Berichten entnommen hatte. Er blickte noch einmal auf die Berichte hinab.

Schießen – ausgezeichnet, las er. Und er bemerkte einen Zusatz, dass sie anders als die restlichen Lehrlinge auch in ihren Fähigkeiten mit der Schleuder geprüft worden war, nicht nur mit dem Bogen. Er hob die Augenbrauen, als er sah, dass sie bei über einem halben Dutzend Tests im Durchschnitt eine Trefferquote von fünfundneunzig Prozentpunkten erreicht hatte. Mit der Schleuder war sie noch besser als mit dem Bogen, mit dem sie beeindruckende zweiundneunzig Prozent erreicht hatte. Messerwerfen – ausgezeichnet. Unbewaffneter Nahkampf – sehr gut. Karten anfertigen – ein weiteres ausgezeichnetes Ergebnis. Navigationsfähigkeiten – über dem Durchschnitt. Und da »Durchschnitt« im Bund der Waldläufer ausgezeichnet hieß, hatte das etwas zu bedeuten. Taktische Planung – ausgezeichnet.

Er blätterte die Gutachten durch und fand weitere Bewertungen mit »ausgezeichnet« und »über dem Durchschnitt«. Er war beeindruckt und wusste, dass das auch für seine Kollegen galt. Die Prüfungen im dritten Jahr waren schwer. Es war die Zeit, in der die Ausbilder die Lehrlinge, die jetzt mehr als die Hälfte ihrer Lehrzeit hinter sich hatten, stark forderten. Man erwartete von ihnen einen hohen Standard. Harlon blickte auf den graubärtigen Will Hallas.

Es ist nicht überraschend, dass sie so eine gute Leistung abgeliefert hat, dachte er. Will Hallas gehört zu den Fähigsten im Bund der Waldläufer. Und er ist von Walt ausgebildet worden.

Walt war eine Legende innerhalb des Bundes.

Harlon richtete den Blick nun auf die schmal gebaute Gestalt vor sich. Madelyn hatte ihre Kapuze zurückgeschlagen und ihr kurzes Haar war zerzaust. Ein oder zwei vertrocknete Grashalme hingen sogar noch darin. Sie stand aufrecht und sah ihn mit einem entschlossenen, vielleicht sogar fast trotzigen Blick an. Ihr leicht gerötetes Gesicht ließ darauf schließen, dass sie ärgerlich war, so kurz vor dem Ziel noch entdeckt worden zu sein.

»Insgesamt hast du sehr gut abgeschnitten, Madelyn«, sagte er. »Abgesehen von der Prüfung in Ungesehener Bewegung hast du am besten von allen abgeschnitten.« Er deutete auf die Berichte, die vor ihm lagen. Seine zwei Beisitzer nickten zustimmend.

»Deine Ergebnisse sind mehr als gut genug, um dich ins vierte Lehrjahr vorrücken zu lassen«, sagte er, und er sah, wie ihre Schultern bei dieser Nachricht leicht nach unten sackten. Dann, nach einem kurzen Moment, versteifte sie sich wieder und schob trotzig das Kinn vor.

Er schob die Berichte auf einen Stoß zusammen und fuhr fort: »Du wirst in etwa drei Monaten eine Nachprüfung in Ungesehener Bewegung ablegen«, erklärte er. »Ich bin sicher, du wirst keine Schwierigkeiten haben, dann zu bestehen.«

»Es ist nicht gerecht!«, stieß Madelyn hervor, die sich einfach nicht länger beherrschen konnte. Harlon legte den Papierstoß zurück auf den Tisch und hob fragend die Augenbrauen, während er in das aufgebrachte Gesicht vor sich sah.

»Nicht gerecht? Wieso ist es nicht gerecht? Man hat dich fünfzig Schritt entfernt von deinem Ziel gefasst.«

»Aber es ist eine Prüfung in Ungesehener Bewegung«, wandte sie ein. »Und gesehen hat er mich gar nicht! Er ist auf meine Hand getreten!«

»Willst du damit sagen, du wurdest nicht entdeckt?«, fragte Harlon ruhig nach.

Madelyn, die sich nun ihrem Protest verpflichtet fühlte, fuhr fort. »Ich sage ja nur, dass man mich nicht gesehen hat!« Sie drehte sich um und deutete auf ihren Entdecker. »Allein die Tatsache, dass er auf meine Hand getreten ist, beweist es ja. Er hatte keine Ahnung, dass ich da war. Es war eine Prüfung in Ungesehener Bewegung und gesehen hat er mich nie!«

»Bis du laut aufgeschrien und dich bewegt hast«, antwortete Harlon. »Da hat er dich gesehen.«

Sie schüttelte trotzig den Kopf. »Es war aber keine Prüfung darin, von jemandem getreten zu werden«, sagte sie und war sich wohl bewusst, dass die Worte albern klangen, doch ihr fiel nicht ein, wie sie es hätte besser ausdrücken können.

»Es war eine Prüfung deiner Fähigkeit, unentdeckt zu bleiben«, erklärte Harlon. »Hast du einmal überlegt, was vielleicht geschehen wäre, wenn du nicht reagiert hättest? Wenn du nicht aufgeschrien hättest?«

»Tja, natürlich habe ich aufgeschrien«, erwiderte Madelyn hitzig. »Dieser Riesenochse stand auf meiner Hand! Da hättet Ihr auch aufgeschrien!«

Der Riesenochse, von dem die Rede war, war, wie die meisten Waldläufer, schlank und nicht besonders groß und konnte nicht anders, als bei ihrer Beschreibung zu lächeln. Er mochte Madelyn. Er hatte ihre Leistungen bei den Prüfungen verfolgt und bewundert. Er wusste, dass sie einen besseren Durchschnitt abliefern musste als andere Lehrlinge, weil sie ein Mädchen war – das erste Mädchen, das eine Ausbildung zum Waldläufer durchlaufen durfte. Es gab zu viele Leute, die sie nur allzu gern allein deswegen ablehnen würden. Sie konnte nicht nur so gut wie die Jungen ihres Jahrgangs abschneiden. Sie musste besser sein.

»Mertin«, fragte der auf der rechten Seite sitzende Prüfer, »was wäre wohl geschehen, wenn Madelyn sich ruhig verhalten hätte?«

Mertin zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich wäre ich weitergegangen. Ursprünglich hatte ich angenommen, ich sei auf eine Baumwurzel getreten.« Er lächelte. »Doch dann rief die Wurzel Autsch!, und ich wusste, dass ich mich getäuscht hatte.«

Madelyn sah noch düsterer drein. Harlon blickte noch einmal von Mertin zu ihr.

»Hast du daran gedacht, vielleicht nicht zu reagieren?«, fragte er sie.

Ihr Gesicht wurde vor Ärger knallrot. »Ich habe nicht nachgedacht. Er ist mit seinem großen dicken Stiefel genau auf meine Hand getreten.« Sie machte eine kurze Pause, dann fügte sie trotzig hinzu: »Weil er mich nicht gesehen hat!«

»Hm«, sagte Harlon nachdenklich.

Gudris, der Waldläufer zu seiner Rechten, beugte sich nach vorn. »Sag mir, Madelyn: Weshalb hast du gerade dieses Feld gewählt, um der Suchmannschaft zu entgehen? Schließlich war das Gras in den anliegenden Feldern viel höher.«

Sie schluckte ihre Wut für den Moment herunter und antwortete.

»Ich habe mir gedacht, dass sie sicher vermuten, dass ich das höhere Gras wähle«, erklärte sie. »Deshalb habe ich angenommen, dass sie im niedrigen Gras nicht so aufmerksam sein und einen größeren Abstand zwischen sich lassen würden.«

Die drei Prüfer tauschten einen Blick aus. Genau wie Will und Gilan hinten im Zelt. Gilan schob anerkennend die Lippen vor.

»Das war eine kluge Überlegung«, lobte Downey, der dritte Prüfer. Die anderen stimmten zu. Madelyns Noten in taktischer Planung bestätigten ihre Wahl.

»Außer«, sagte Harlon, der meinte, zu viel Lob sei auch nicht gut für diese junge Frau, »dass sie erwischt wurde.«

»Nur, weil er auf mich getreten ist!«, entgegnete Madelyn.

Will schaute seinen Begleiter Gilan an. »Siehst du was ich meine?«, sagte dieser Blick.

Gilan zuckte mit den Schultern.

»Wir haben festgestellt, dass das unglücklich war«, sagte Harlon etwas energischer, »aber es ändert nichts am Ergebnis.«

Madelyn nahm die Veränderung in seinem Ton wahr: von vorher gleichmütig und leicht mitfühlend nun hin zu entschlossen und abschließend. Sie erkannte, dass jede weitere Gegenrede ihr eher schaden würde, und schloss den Mund, den sie schon für weiteren Protest geöffnet hatte, wieder.

Harlon bemerkte das und nickte beifällig. Dann fuhr er in versöhnlicherem Ton fort. »Auf jeden Fall waren deine Gesamtleistungen bei dieser Zusammenkunft außergewöhnlich, Madelyn, und ich möchte dir zum Bestehen der Abschlussprüfungen des dritten Jahres gratulieren.«

»Hört, hört«, murmelten Downey und Gudris. Madelyn gestattete sich ein kleines Lächeln, auch wenn ihr Gesicht zeigte, dass es sie noch immer ärgerte, die letzte Prüfung aus reinem Zufall nicht bestanden zu haben.

Harlon blickte zu den beiden Waldläufern hinter dem Mädchen und richtete die nächsten Worte an Will. »Auch an Euch Gratulation, Will Hallas«, sagte er. »Ihre Leistung spiegelt Eure Ausbildung und Führung wieder.«

Will zuckte mit den Schultern. »Ich zeige nur den Weg, Harlon«, sagte er. »Lynnie folgt ihm. Jeder Erfolg beruht auf ihren eigenen Anstrengungen.«

»Wie wahr«, sagte Harlon und nahm die Bescheidenheit des Lehrmeisters erfreut zur Kenntnis. Er blickte zurück zu Madelyn und nahm ihr bronzenes Eichenblatt vom Tisch, wo sie es abgelegt hatte, als die Sitzung des Prüfungsgremiums begonnen hatte. Jetzt reichte er es ihr zurück.

»Hier, Madelyn. Ich freue mich, dir mitteilen zu können, dass du in dein viertes Lehrjahr bei Waldläufer Will vorrücken kannst.«

Madelyn nahm das Eichenblatt und zog die Kette, an der es hing, wieder über den Kopf, sodass das kleine bronzene Symbol an ihrem Hals lag. Hätte sie diese Prüfungen insgesamt nicht bestanden, hätte man das Eichenblatt mit einem kleinen Loch gekennzeichnet, das hineingehämmert worden wäre. Bei drei dieser Kennzeichen während der Lehrjahre, würde man sie höflich bitten, den Bund zu verlassen. Sie war stolz auf die Tatsache, dass ihr Eichenblatt völlig unbeschädigt war.

Harlon schob nun seinen Stuhl zurück und stand auf, um ihr die Hand zu schütteln. Danach drehte sie sich um und wollte gehen, stand jedoch Mertin, dem jungen Waldläufer gegenüber, der ihr auf die Hand getreten war. Auch er bot ihr die Hand an.

»Gratuliere, Madelyn«, sagte er.

Sie zögerte, denn sie war immer noch verärgert über die Art und Weise, wie er sie entdeckt hatte. Doch sein Lächeln war ehrlich und sein Verhalten freundlich. Sie schüttelte ihm die Hand.

»Danke«, sagte sie kurz, dann schenkte sie ihm ein zögerndes Lächeln. Es war unmöglich, jemandem böse zu sein, der so fröhlich war wie er.

»Du kannst stolz auf dich sein«, sagte er zu ihr. »Einer von vier Lehrlingen schafft es nicht so weit – nicht, ohne wenigstens ein Jahr wiederholen zu müssen.«

Sie war zu überrascht, um darauf zu antworten. Sie hatte nicht gewusst, dass die Durchfallrate so hoch war. Will hatte es ihr jedenfalls nicht gesagt. Wahrscheinlich hatte er nicht gewollt, dass sie sich wegen der Möglichkeit durchzufallen Sorgen machte – nicht, dass das etwas war, was Madelyn je in Betracht gezogen hatte. Sie murmelte ein Dankeschön und drehte sich dann zu Will und Gilan, die auf sie warteten. Ihr Lehrmeister schob die Zeltklappe zur Seite und forderte sie mit einer Kopfbewegung auf, gleich vor ihm hinauszugehen. Gilan und er folgten ihr über den Versammlungsplatz zu der Stelle, wo sie ihre schlichten Einpersonenzelte aufgeschlagen hatten.

Schweigend liefen sie ein paar Minuten, dann konnte Madelyn sich nicht länger beherrschen.

»Ich finde immer noch, dass es nicht gerecht ist«, sagte sie leise.

Will warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Und ich fürchte, dass du das weiter sagen wirst, bis du in drei Monaten die Nachholprüfung abgelegt hast«, antwortete er. In seinem Ton lag eine gewisse Endgültigkeit, die sie davor warnte, die Angelegenheit weiter zu thematisieren.

Gilan hatte jedoch noch etwas hinzuzufügen. »Lynnie, wenn du wirklich der Meinung bist, du seist ungerecht behandelt worden, dann muss ich mir die Sache näher ansehen. Ich bin schließlich der Oberste Kommandant im Bund der Waldläufer. Willst du denn eine offizielle Beschwerde einreichen?«

Madelyn war entsetzt über den Gedanken, dass sie die Autorität des Kommandanten im Bund in Anspruch nehmen könnte.

»Liebe Güte, nein, Gilan!«, erwiderte sie schnell. »Ich sehe dich doch nicht als Kommandanten!«

»Oh, vielen Dank auch«, sagte Gilan. »Freut mich zu hören, dass meine Autorität so unbedeutend ist.«

Madelyn beeilte sich, ihre Aussage zu erläutern. »Ich meine, ich weiß natürlich, dass du der Kommandant bist! Und dafür respektiere ich dich auch. Aber ich betrachte dich einfach eher als Freund.«

»Nun«, antwortete er, »dann lass mich dir als Freund einen Rat geben. Akzeptiere die Beurteilung und lass die Sache ruhen. Oder besser gesagt: Merk es dir für die Zukunft. Du magst in Ungesehener Bewegung versierter sein als alle anderen …«

»Bin ich das?«, unterbrach ihn Madelyn erfreut, doch er sah sie nur einen Moment eindringlich an, bevor er fortfuhr.

»Ich meinte theoretisch«, sagte er, und sie sackte wieder zusammen. »Aber selbst wenn du das wärst«, fuhr er fort, »ist es eine Tatsache, dass Unfälle nun mal passieren können und Pech nicht vorhersehbar ist. Ein kleiner Fehler, irgendein unerwartetes Ereignis können dich verraten. Vergiss das niemals.«

Man konnte sehen, dass diese Warnung bei ihr ankam, denn sie nickte schließlich. »Du hast recht, Gilan. Es tut mir leid.« Sie drehte sich zu Will. »Und ich werde auch zu Hause nicht mehr davon reden«, sagte sie.

Will schnaubte. »Das möchte ich erleben.«

Bevor sie noch etwas erwidern konnte, lenkte Gilan ihre Aufmerksamkeit auf eine Gestalt, die es sich am Feuer vor ihren drei Zelten bequem gemacht hatte.

»Und wenn mich meine Augen nicht trügen, scheint Walt dort auf uns zu warten«, sagte er.

»Was mag er nur wollen?«, meinte Will.

»Ich bin sicher, er wird es uns sagen«, sagte Madelyn in selbstzufriedenem Ton. Es war die Art von Antwort, die Will ihr normalerweise auf solch rhetorische Fragen gab, und sie war außerordentlich erfreut, eine Gelegenheit zu haben, das auch einmal zu ihm zu sagen.

»Bevor du solche Antworten gibst, wäre es mir fast noch lieber, du jammerst darüber, dass jemand auf dich getreten ist«, sagte Will.

Drei

Walt blickte auf, als Will, Madelyn und Gilan sich dem Feuer näherten. Er hatte gerade eine Handvoll Kaffee in einen Wassertopf gegeben, der über der Holzkohle kochte, und rührte mit einem dünnen Stecken um.

»Guten Abend«, sagte er. »Ich nehme an, ihr hattet einen erfolgreichen Tag?«

»Stimmt. Lynnie hat ihre Prüfung bestanden«, antwortete Will.

Walt nickte ihr zu. »Nun, ich kann nicht behaupten, dass mich das überrascht«, grinste er. »Trotz des tollpatschigen Lehrmeisters, mit dem du zurechtkommen musst.«

Will entschied sich, den letzten Satz zu überhören.

»Wieder ein perfektes Ergebnis?«, fragte Walt und Madelyn verzog das Gesicht.

»O nein«, murrte Will. »Musstest du das fragen?«

Walt blickte von einem zum anderen und hob fragend die Augenbrauen. »Gab es ein Problem?«

»Sie haben mich bei Ungesehener Bewegung durchfallen lassen«, sagte Madelyn und ihr Ärger kehrte auf der Stelle zurück.

»Wie ist das denn passiert? Ich habe dich beim Üben gesehen, oder eher nicht gesehen. Du bist richtig gut, fast so gut wie Gilan.« Er lächelte seinen früheren Lehrling an.

»Na ja, im Grunde hatte ich es fast geschafft. Niemand hatte mich gesehen. Sie waren alle bereits an mir vorbei, als die Nachhut genau auf meine Hand getreten ist.«

Wenn sie Mitgefühl von dem alten Waldläufer erwartet hatte, hatte sie sich getäuscht. Walt stieß ein kurzes Lachen aus und sagte: »Tja, so etwas passiert. Mit Pech muss man immer rechnen.«

Madelyn holte Luft, um zu antworten, doch Will legte ihr warnend die Hand auf den Unterarm.

»Sag nicht wieder ›Es ist nicht gerecht‹«, warnte er sie. »Das Leben ist nicht immer gerecht und damit musst du leben.«

Der Protest erstarb auf Lynnies Lippen. Sie murmelte etwas vor sich hin, doch er tat so, als hätte er nichts gehört. Walt goss sich jetzt eine Tasse Kaffee ein, dann blickte er sich nach dem Honigtopf um, der, wie er wusste, irgendwo in der Nähe sein musste.

»Er hängt an diesem Ast«, sagte Gilan und deutete auf einen überhängenden Ast der mächtigen Eiche, unter der sie ihre Zelte aufgeschlagen hatten. »Du erwartest doch nicht von uns, dass wir ihn am Feuer stehen lassen, damit Ameisen hineinkrabbeln, oder?«

Madelyn streckte die Hand aus und reichte Walt den Honig. Er löffelte davon reichlich in seine Tasse, nahm dann einen Schluck und ließ ein zufriedenes »Aaah!« hören.

Während Will Kaffee für sich selbst und Gilan eingoss, musterte Walt mit amüsiertem Gesichtsausdruck Madelyn.

Er ist milde geworden, dachte Gilan. In früheren Zeiten hätte Walt schon mal einen ganzen Monat vergehen lassen, ohne ein Lächeln zu zeigen. Das musste Paulines Einfluss sein.

»Wisst ihr«, sagte Walt, lehnte sich wieder gegen den Baumstamm vor dem Feuer und streckte die Beine aus, »mir ist vor vielen Jahren etwas Ähnliches passiert.«

»Während deiner Prüfung?«, fragte Madelyn.

Der alte Waldläufer schüttelte den Kopf. »Bei mir gab es keine solche Prüfung«, antwortete er. »Es waren ganz andere Zeiten. Crowley entschied einfach, dass meine Fähigkeiten gut genug waren, und erklärte mich zum Waldläufer.« Es lag eine gewisse Wehmut in seiner Stimme, als er den verstorbenen Kommandanten erwähnte. Er vermisste Crowley, der sein erster echter Freund gewesen war. Dann fuhr er mit seiner Anekdote fort. »Nein. Es geschah, als ich von einer Horde Temujai verfolgt wurde.«

»War das, als du deren Pferde gestohlen hast?«, fragte Will.

Walt musterte ihn stirnrunzelnd. Will musste insgeheim grinsen. Walt wurde nicht gern daran erinnert, dass er den Temujai eine Herde von zwanzig Ponys gestohlen hatte, um das Zuchtprogramm der Waldläuferpferde aufzufrischen.

»Sagen wir einfach, ich habe sie erworben«, sagte Walt. »Ich ließ einhundertundfünfzig Silberstücke für sie zurück, weit mehr, als die Pferde wert waren.«

»Aber du hast nicht wirklich gefragt, ob die Temujai dir die Pferde auch verkaufen wollten, oder?«, warf Gilan ein. Wie Will kannte auch er Walts Empfindlichkeiten hinsichtlich des »Erwerbs« der Herde.

»Nun, das wäre sinnlos gewesen«, gab Walt zu. »Sie verkaufen ihre Pferde nie.«

»Also hast du sie letztlich doch gestohlen«, meinte Will und Walt sah ihn strafend an.

»Als Stehlen bezeichnet man es, wenn man etwas ohne Bezahlung nimmt«, führte er aus.

»Ob du nun Geld dort gelassen hast oder nicht, du hast zugegeben, dass die Temujai nicht bereit waren, sie zu verkaufen, also hast du sie im Grunde doch gestohlen«, widersprach Gilan und konnte sein Grinsen kaum verbergen.

Walt musterte seine beiden ehemaligen Lehrlinge nacheinander.

»Ich hielte es für angemessen, dass ihr beide euren Älteren etwas Respekt zollt«, sagte er.

Will zuckte mit den Schultern. »Nun, natürlich haben wir dir stets Respekt entgegengebracht. Aber dann fanden wir heraus, dass du eine Herde Pferde gestohlen hast, und danach war es schwer, weiter zu dir aufzublicken.«

Madelyn hatte Mitleid mit dem weißhaarigen Waldläufer. Sie mochte Walt. Er war immer ein Freund für sie gewesen, und sie hatte erst kürzlich erfahren, dass er es gewesen war, der entscheidend dazu beitragen hatte, dass auch Mädchen zur Ausbildung als Waldläufer zugelassen wurden.

»Du hast gesagt, dir sei etwas Ähnliches passiert«, erinnerte sie ihn. »Ist einer der Temujai auf dich getreten?«

Er nickte ihr dankbar zu, erfreut, dass das Thema endlich gewechselt wurde. Nachdem er einen Schluck von seinem Kaffee genommen hatte, setzte er seine Erzählung fort.

»Nein. Ich habe diese Pferde, die ich schlussendlich gekauft und bezahlt habe«, fügte er mit einem nachdrücklichen Blick zu Gilan hinzu, »in ein kleines Wäldchen geführt. Ich wollte Wasser aus einem nahe gelegenen Fluss holen, als zwei Temujai auftauchten, die ein halbes Dutzend Ziegen ans Wasser trieben. Natürlich waren sie beritten.«

»Also ist eines ihrer Pferde auf dich getreten?«, wollte Madelyn wissen.

»Wer von uns erzählt denn nun eigentlich diese Geschichte?«, fragte Walt und sie machte eine entschuldigende Geste und bat ihn fortzufahren. Er machte eine Pause, um abzuwarten, ob sie ihn nicht wieder unterbrach, dann setzte er seine Erzählung fort.

»Also, da lag ich nun im langen Gras, geschützt nur durch meinen Umhang …«

»Genau wie ich«, warf Madelyn ein und fügte, als sie seinen genervten Gesichtsausdruck bemerkte, schnell hinzu: »Entschuldigung! Bitte erzähl weiter!«

»Bist du sicher?«, fragte Walt und sie nickte wiederholt und nachdrücklich mit zusammengepressten Lippen. »Also, da lag ich nun auf dem Boden, gut verborgen vor den Temujai, als eine Mutterziege plötzlich begann, an meinem Haar zu kauen.«

Will und Gilan, die diese Geschichte noch nie vorher gehört hatten, brachen in lautes Gelächter aus. Madelyn grinste, doch angesichts Walts gereizter Bemerkung von eben hielt sie es für besser, Mitgefühl zu zeigen.

»Du hättest deine Kapuze hochziehen sollen!«, meinte Will.

»Hatte ich ja«, erwiderte Walt. »Diese verdammte Ziege hatte sie zur Seite geschoben und angefangen zu kauen.«

Das Gelächter wurde lauter. Gilan schaffte es schließlich, sich zu beherrschen, und sagte, ohne eine Miene zu verziehen: »Ich habe mich oft gefragt, wie du zu diesem Haarschnitt gekommen bist. Das erklärt jedenfalls einiges.«

Walt stand in dem Ruf, sich das Haar mit seinem Sachsmesser selbst zu schneiden. Die Ergebnisse waren meist entsprechend.

»Und was ist dann geschehen?«, wollte Madelyn wissen.

»Nun, ich sprang auf, um diese blöde Ziege loszuwerden. Der Temujai, der mir am nächsten war, wurde aus dem Sattel geworfen, als sein Pferd daraufhin scheute. Ich packte das andere Pferd am Bein und holte diesen Reiter ebenfalls aus dem Sattel. Dann nahm ich meine Beine in die Hand und rannte los. Ich kam gerade so davon. Glücklicherweise war Abelard in der Nähe und rannte schneller als deren Ponys. In der Nacht kehrte ich zurück, um die Pferde zu holen.«

Er blickte Madelyn geradewegs an. »Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Zufälle passieren. Ob jemand auf dich tritt oder eine Ziege an deinem Haar kaut. Du musst stets auch auf das Unerwartete vorbereitet sein. Das gehört bei der Kunst, ungesehen zu bleiben, einfach dazu. Vergiss das nicht. Lerne aus dieser Erfahrung. Man weiß nie, was alles passieren kann.«

Lynnie nickte zahm. »Ja, Walt. Danke.«

»Und jetzt«, sagte Walt und drehte sich zurück zu Will und Gilan, möchte vielleicht einer von euch beiden Schlaumeiern mich fragen, was mich hierhergeführt hat? Warum ich meinen gemütlichen Platz am Kamin verlassen habe und den ganzen Weg hierhergeritten bin?«

Walt war dieses Jahr nicht zum ersten Mal bei der Zusammenkunft. Er hatte bereits einige der jüngeren Lehrlinge unterrichtet und ihnen geholfen, ihre Schusstechnik zu verbessern. Manche hatte er auch bei verschiedenen Aufgaben begutachtet. Aber all diese Aktivitäten hatten gegen Ende der Zusammenkunft ebenfalls geendet.

Gilan zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, du seist zur Abschiedszeremonie gekommen.«

Walt nickte. »Nun, das auch. Aber die findet ja erst morgen statt. Ich habe eine Nachricht von Horace zu überbringen. Da niemand auf Redmont den Ort der Zusammenkunft kannte, bin ich selbst gekommen.«

Der Ort der Zusammenkunft wechselte jedes Jahr und wurde stets geheim gehalten. Der Bund der Waldläufer hatte sich über die Jahre einige Feinde gemacht, und manche hätten nur zu gern gewusst, wo das Treffen stattfand.

Walt griff in die Innentasche seiner Weste und holte eine Schriftrolle heraus, die von einem mit Wachs versiegelten Band zusammengehalten wurde. Er reichte die Rolle Gilan, der das Siegel von Horace erkannte.

»Hast du die Nachricht schon gelesen?«, fragte er Walt. Der alte Waldläufer war bekannt für seine Fähigkeit, Depeschen zu öffnen und erneut zu versiegeln. Zu diesem Zwecke besaß er ein gut ausgestattetes Werkzeugkästchen, mit dem er Wachssiegel brechen und erneuern konnte, ohne dass es irgendjemand merkte.

Walt sah beleidigt drein. »Sie ist versiegelt«, entgegnete er, als sei das unter seiner Würde.

Will grinste unwillkürlich, als ihm klar wurde, dass Walt die Frage nicht direkt beantwortet hatte.

»Als hätte dich das jemals abgehalten«, murmelte Gilan, brach das Siegel, rollte das Pergamentblatt auf und begann zu lesen. Nach einem Moment blickte er hoch zu Lynnie. »Dein Vater schickt dir herzliche Grüße«, sagte er. »Er hofft, du hast deine Prüfungen gut abgeschlossen.«

Lynnie lächelte. Das war typisch ihr Vater. Selbst in einer offiziellen Depesche fügte er eine persönliche Nachricht für sie hinzu. Sie und Horace hatten eine enge Beziehung, die noch enger geworden war, als sie ihre Ausbildung zur Waldläuferin begonnen hatte. Diese Ausbildung brachte ihr die Welt ihres Vaters viel näher, sodass sie nun noch mehr gemein hatten.

Gilan kehrte wieder zur Lektüre der Nachricht zurück und runzelte die Stirn.

»Schlechte Neuigkeiten?«, fragte Will, der das Stirnrunzeln bemerkt hatte.

Gilan hob abwehrend die Hand, um erst die ganze Nachricht zu Ende zu lesen. Dann blickte er hoch und sah zu Walt. »Hast du schon einmal etwas von einer Gruppe namens Orden der Roten Füchse gehört?«

Walt wiegte den Kopf. »Nicht viel jedenfalls. Es sind Anarchisten, oder?«

Gilan schüttelte den Kopf. »Das trifft es nicht genau. Wir erhalten auf Schloss Araluen schon seit einigen Monaten immer wieder Berichte über sie. Es handelt sich offenbar um eine Gruppierung, die das gegenwärtige Thronfolgegesetz ablehnt und wieder ein patriarchalisches System einführen will.«

Das Gesetz von Araluen besagte, dass jeder wahre Nachkomme, ob männlich oder weiblich, die Thronnachfolge antreten könne. Damit konnte, wenn Duncan starb, Cassandra aufgrund ihres Geburtsrechts Königin und Herrscherin werden. Horace konnte nicht König werden, da er nur mit ihr verheiratet war. Und zu gegebener Zeit würde Madelyn die Thronfolge antreten. Doch wenn der Orden der Roten Füchse sich durchsetzte, würde das Königreich zu dem alten Gesetz zurückkehren, wonach der Thron nur von einem männlichen Thronfolger bestiegen werden durfte. Sollte dies geschehen, würde es die gegenwärtige Nachfolgeregelung völlig durcheinanderbringen und womöglich für chaotische Verhältnisse sorgen.

»Gibt es irgendeinen Grund, weshalb diese Leute das möchten?«, fragte Will.

Gilan zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich, weil jemand es als Entschuldigung anführt, um selbst den Thron zu übernehmen«, vermutete er. »Auf jeden Fall bedeutet es Probleme für Cassandra und Madelyn, und Horace denkt, es wird Zeit, dem ein Ende zu bereiten.«

»Woran hat er denn gedacht?«, fragte Will. Er bemerkte, dass Walt keine Fragen stellte, was darauf hindeutete, dass er die Nachricht bereits gelesen hatte.

»Wir haben endlich ihr Hauptquartier in der Nähe der Ostküste gefunden«, erklärte Gilan. »Horace möchte, dass er und ich mit einer Kompanie ausrücken und dem Unsinn ein für alle Mal ein Ende bereiten.« Er zögerte und blickte zu den beiden Waldläufern. »Gleichzeitig gibt es Gerüchte, dass eine andere Gruppe dieses sogenannten Ordens der Roten Füchse sich an der Nordwestgrenze von Lehen Redmont versammelt hat. Er fragt, ob ihr beide vielleicht Nachforschungen anstellen und in Erfahrung bringen könnt, was sie vorhaben, um sie dann zur Vernunft zu bringen.«

»Also kehrst du morgen nach Schloss Araluen zurück?«, fragte Walt.

Gilan sah ihn mit zur Seite gelegtem Kopf an. »Darum bittet mich Horace hier«, sagte er und tippte auf die Nachricht. »Aber woher weißt du das denn?«

Walt lächelte. »Nur gut geraten«, antwortete er.

Vier

Die Abschlusszeremonie der Zusammenkunft war wie immer eine bittersüße Angelegenheit. Die Waldläufer und ihre Lehrlinge versammelten sich zu einem Abschiedsessen. Das Personal für Küche und Bedienung wurde dazu stets von Burg Redmont und dem benachbarten Dorf hergebracht. Nachdem die Versammlung nun fast vorbei war, war es auch nicht mehr nötig, den Ort geheim zu halten. Im nächsten Jahr würde die Zusammenkunft sowieso woanders stattfinden.

Die Waldläufer feierten und redeten bis spät in die Nacht, bis zu dem melancholischen Moment, in dem sie zusammen ihr traditionelles Abschiedslied »Hütte im Wald« sangen.

Waldläufer führten ein abenteuerliches, ja gefährliches Leben, und man konnte nie wissen, wie viele von denen, die hier versammelt waren, nächstes Jahr um diese Zeit noch dabei sein würden. Also waren sie beieinander, umarmten sich und wünschten einander viel Glück, wohl wissend, dass dies vielleicht das letzte Mal war, dass sie einem Kameraden in die Augen blickten.

Gilan hatte beschlossen, noch zur Feier zu bleiben, auch wenn er ursprünglich vorgehabt hatte, auf Horace’ Nachricht hin sofort nach Schloss Araluen zurückzukehren.

»Eine Nacht macht keinen großen Unterschied«, sagte er zu Walt. »Und Horace wird sowieso damit beschäftigt sein, seine Truppe zusammenzustellen. Ich werde früh am Morgen aufbrechen.«

Die meisten anderen folgten seinem Beispiel, packten und verließen das Lager bei Morgendämmerung. Jetzt, da die Zusammenkunft vorbei war, wollten alle so schnell wie möglich in ihr jeweiliges Lehen zurückkehren, damit sie sich um alles kümmern konnten, was sich während ihrer Abwesenheit ereignet hatte. Will und Lynnie, die nur die kurze Strecke bis Burg Redmont zurückzulegen hatten, ließen sich Zeit, blieben für ein spätes Frühstück und sahen zu, wie die Versorgungswagen gepackt wurden und aufbrachen. Es war etwas Trauriges an den nackten Erdflecken dort, wo die Waldläufer die vergangenen zehn Tage ihre Zelte aufgestellt hatten – der Beweis, dass sie da gewesen, doch jetzt fort waren.

Will sah sich auf dem fast leeren und stillen Gelände um. »Abschiede sind immer traurig«, meinte er, mehr zu sich selbst als zu Lynnie. Die antwortete dennoch.

»Mutter hat mir erzählt, dass du immer so empfunden hast und dich nie umgedreht hast, wenn du gegangen bist.«

Er lächelte wehmütig. »Das stimmt. Ich konnte es nie ertragen, die Menschen oder das, was ich zurückließ, zu sehen. Dieser Tage neige ich dazu, zurückzublicken, für den Fall, dass es das letzte Mal ist, dass ich die Leute sehe, die ich eben verlasse.« Er zuckte mit den Schultern. »Ist wahrscheinlich auf mein fortgeschrittenes Alter zurückzuführen.«

Lynnie lachte. »Fortgeschrittenes Alter, na klar! Du bist doch in den besten Jahren.«

»Nett, das zu hören«, erwiderte er. Dann bemerkte er, dass sich jemand näherte. »Hallo! Ich hatte mich schon gefragt, wann Jenny vorbeikäme.«

Jenny, seine alte Kameradin aus dem Waisenhaus, war gestern Abend für das Essen verantwortlich gewesen. Meister Chubb, ihr einstiger Meister und langjähriger Mentor, war kürzlich in den Ruhestand gegangen. Jenny hatte bislang alle Angebote Baron Aralds abgelehnt, nach Burg Redmont zu ziehen und die Leitung der dortigen Küche zu übernehmen. Sie schätzte ihre Unabhängigkeit und genoss es, ihr eigenes Lokal im Dorf zu haben. Stattdessen hatte sie einem ihrer eigenen Lehrlinge alles Nötige beigebracht, um Chubb in der Küche der Burg zu ersetzen. Nur bei besonderen Gelegenheiten übernahm sie selbst die Küche auf Redmont. Baron Arald schätzte diese Gelegenheiten und versuchte, so viele wie möglich davon zu organisieren.

Will erhob sich, um sie zu begrüßen. Er stöhnte leicht, als er sich vom Boden erhob, und blickte auf Lynnie hinab.

»Siehst du, was ich mit fortgeschrittenem Alter meine«, sagte er und beneidete sie darum, wie glatt sie auf die Füße kam. Selbst die alte Verletzung an der Hüfte schien sie kaum zu stören. Dann drehte er sich zu seiner alten Freundin.

»Guten Morgen, Jenny. Es tut mir leid, dass wir gestern Abend nicht genug Zeit für ein längeres Gespräch hatten.«

»Ich war ziemlich beschäftigt«, antwortete Jenny. Sie war der Küchenmannschaft gegenüber eine strenge und anspruchsvolle Vorgesetzte und bestand darauf, dass die Waldläufer nur das beste Essen und Trinken bekamen. Und so hatten sie am Abend nur ein paar Worte wechseln können.

Will betrachtete sie bewundernd. Es waren ein paar graue Strähnen in ihrem blonden Haar zu sehen, und um die Taille schien sie etwas zugenommen zu haben, was für eine gute Köchin wahrscheinlich normal war. Aber sie war noch nie wirklich dünn gewesen und ein paar zusätzliche Pfunde standen ihr gut.

»Du bist so hübsch wie eh und je«, sagte er.

Jenny winkte ab. »Und du bist so grimmig wie ein alter grauer Wolf«, sagte sie. »Was ist nur aus dem lustigen Jungen geworden, mit dem ich aufgewachsen bin?«

»Die Last der Verantwortung«, antwortete Will. »Schließlich habe ich inzwischen diesen anstrengenden Lehrling, den ich im Zaum halten muss.«

Jenny lächelte Lynnie herzlich an. Ganz zu Anfang, als Lynnie in Redmont angekommen war, hatten die beiden einen holprigen Start gehabt, da Lynnie hochnäsig angedeutet hatte, Jenny solle sie mit »Euer Hoheit« ansprechen. Doch inzwischen waren sie längst gute Freundinnen geworden.

»Wie geht es dir, Lynnie?«, fragte sie.

Lynnie erwiderte das Lächeln. »Mir geht es gut, Jenny«, sagte sie. »Möchtest du vielleicht einen Kaffee?« Sie deutete auf die Kanne, die in der Holzkohle am Rand des Feuers stand, doch Jenny schüttelte den Kopf.

»Ich muss meine Leute im Auge behalten, während sie packen. Sonst lassen sie womöglich meine besten Töpfe und Kellen zurück und ich muss morgen noch einmal hierherkommen.«

»Gilan ist heute Morgen schon zeitig abgereist«, sagte Will.

Sie nickte. »Ja. Er kam bei mir vorbei und wir hatten wenigstens noch etwas Zeit zusammen. Es war schön, ihn zu sehen.« Sie lächelte bei der Erinnerung

Will legte den Kopf zur Seite. »Also – wie stehen die Chancen, dass du deinen Beruf auf Schloss Araluen ausübst?«

Da schüttelte sie entschieden den Kopf. »Nein. Ich habe vorgeschlagen, dass Gilan sein Hauptquartier nach Redmont verlegt. Es gibt schließlich keinen Grund, der dagegen spricht.«