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Unsere Demokratie wird bedroht. Wie können wir ihre Feinde erkennen? Unruhe auf den Straßen, Fake News im Internet, neueBedrohungen von außen: Die liberale Demokratie war noch nie so unter Druck wie heute. Doch wer sind ihre Feinde? Woran können wir sie erkennen? Was sind ihre Methoden und wie können wir sie stoppen? Der Kommunikationsexperte und langjährige Regierungsberater Gerald Fleischmann analysiert die Codes und Techniken von Rechtsextremen, Islamisten, Linksextremen und Autokraten, die von innen wie außen unsere Gesellschaftsordnung ersetzen wollen. Er gibt Einblicke in die höchsten Kreise der Politik und erzählt, wie weit die Feinde der Demokratie bereits gekommen sind, wie sie sich gegenseitig unterstützen und was zu tun ist, um unsere Freiheit zu verteidigen.
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Seitenzahl: 348
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Gerald Fleischmann
Die Codes der Extremisten
Alle Rechte vorbehalten
© 2025 edition a, Wien
www.edition-a.at
Cover: Bastian Welzer
Satz: Bastian Welzer
Gesetzt in der Premiera
Gedruckt in Deutschland
12345—28272625
ISBN: 978-3-99001-818-7
eISBN: 978-3-99001-819-4
Gerald Fleischmann
Wie Links- und Rechtsextreme,Autokraten und Islamisten dieDemokratie unterwandern
I.
DIE BEDROHUNG DER RECHTSSTAATLICHEN DEMOKRATIE
II.
METHODEN DER SUBVERSION
III.
EINE KURZE GESCHICHTE DER DESINFORMATION
IV.
DIE DUNKLE MACHT DER SUBVERSION
V.
DER INFORMATIONSKRIEG
VI.
DIE UNTERWANDERUNG
VII.
ANGRIFF VON AUßEN – DIE AUTOKRATIEN
VIII.
DIE GEFAHREN EINER DREIECKSFRONT
IX.
WIE WIR EXTREMISMUS BEKÄMPFEN KÖNNEN
X.
VERZEICHNIS DER DSCHUNGEL-CODES
»Die Welt ist im Wandel. Ich spüre es im Wasser. Ich spüre es in der Erde. Ich rieche es in der Luft. Vieles, was einst war, ist verloren, da niemand mehr lebt, der sich erinnert. […]
Vor langer Zeit begann das Schmieden der großen Ringe. Drei wurden den Elbenkönigen gegeben, sieben den Zwergenherrschern. Und neun wurden den Menschen geschenkt. Doch sie wurden alle betrogen. Denn es wurde noch ein Ring gefertigt. Im Lande Mordor im Feuer des Schicksalsberges schmiedete der dunkle Herrscher heimlich einen Meisterring, um alle anderen zu beherrschen. Ein Ring, sie zu knechten. Sie alle zu finden. Ins Dunkle zu treiben und ewig zu binden. […]
Der dunkle Herrscher, der Feind der freien Völker Mittelerdes wurde zwar besiegt, aber weil der Ring nicht zerstört wurde, lebte der Geist des dunklen Herrschers ihn ihm weiter. […] In einer Schlacht wurde der Ring verloren und fiel auf den Grund des großen Flusses Anduin. Dort lag er für tausende Jahre. Und was nicht in Vergessenheit hätte geraten dürfen, ging verloren. Geschichte wurde Legende. Legende wurde Mythos. Und zweieinhalbtausend Jahre lang wusste niemand mehr um den Ring. Bis er eines Tages gefunden wurde.«
- J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe
Worum es in diesem Buch geht
So steht es im Epos Herr der Ringe des britischen Schriftstellers John R. R. Tolkien, das 1954 veröffentlicht wurde. Dabei handelt es sich um eine wilde Geschichte von Königen, Prinzen, Elben und Zwergen auf der einen Seite, von Trollen, bösen Zauberern und Hexen auf der anderen. In Wahrheit ist es ein opulentes, modernes Märchen. Es basiert auf frei erfundenen Geschichten, die Tolkien einst seinen Kindern erzählte, ehe er sie zu einem eigenen Roman verdichtete.
Die Literaturwissenschaft hat vielfach versucht, in Tolkiens Geschichten verborgene Botschaften zu finden. Analogien, Metaphern, aus denen Rückschlüsse auf die reale Gegenwart gezogen werden können. Die einen behaupteten, Herr der Ringe sei in Wahrheit eine Darstellung des Kampfes der Alliierten gegen die Nazi-Herrschaft in den 1930er Jahren. Andere deuteten die Geschichte als Darstellung des Kommunismus und der erstarkenden Sowjetunion in den 1950er Jahren. Tolkien selbst merkte an, dass die in seinem Roman erwähnten »toten Sümpfe« von der Schlacht an der Somme im Ersten Weltkrieg inspiriert worden seien. Eine besonders anerkannte Theorie lautet, dass der Ring, den der dunkle Herrscher geschmiedet hatte, ein Symbol für die von Maschinen dominierte Welt ist, in der Menschen und Natur von Maschinen versklavt werden.
Was immer es für eine Welt war oder ist, die Tolkien beschrieb, im Kern ist es die archetypische Erzählung von Gut gegen Böse. Das Böse in Form eines Rings, der vor langer Zeit geschmiedet wurde, verloren ging und dann für viele Jahre in Vergessenheit geriet. Und erst nach sehr langer Zeit wurde dieser Ring wieder entdeckt, benutzt und verursachte Unheil.
Oftmals passiert es, dass Märchen wahr werden. Manchmal schreibt aber auch das echte Leben selbst derartige Legenden. Eine solche Erzählung über etwas, das vor vielen Jahren erschaffen wurde und dann in Vergessenheit geriet, nahm ihren Anfang in den 1970ern. Es ist die Geschichte von Juri Alexandrowitsch Besmenow.
1939 in der Nähe von Moskau geboren, war Besmenow der Sohn eines sowjetischen Offiziers. In den 1960er Jahren, in der Hochphase des Kalten Krieges zwischen USA und Sowjetunion, wurde Besmenow Agent des russischen Geheimdienstes KGB. Konkret arbeitete er in der staatlichen Presseagentur RIA Novosti in der geheimen Abteilung Politische Veröffentlichungen. Drei Viertel der Mitarbeiter dieser Agentur waren in Wahrheit KGB-Offiziere, der Rest Informanten und Autoren, wie Besmenow selbst.
Nach außen hin arbeitete er als Journalist und begleitete Delegationen aus anderen Ländern zu internationalen Konferenzen in der UdSSR. In Wahrheit sammelte er Informationen und platzierte Propagandamaterial in ausländischen Medien. Mit dem Ziel, Desinformation zu lancieren und sowjetische Propaganda zu verbreiten. Umstürze im Ausland sollten unterstützt werden. Sein Auftrag lautete konkret: »Sowjetische Interessensphären im Ausland« aufzubauen.
Ende der 1960er wurde er sowjetischer Presseoffizier und PR-Agent für den KGB. Zu der Zeit wurde vom sowjetischen Zentralkomitee in allen ausländischen Botschaften der Sowjetunion eine neue Abteilung eingerichtet. Die sogenannte Forschungs- und Gegenpropagandagruppe. Besmenows Tätigkeit führte ihn später nach Indien. Was dort genau passierte, weiß man nicht. Jedenfalls geschah am 8. Februar 1970 Folgendes: Besmenow absentierte sich unter einem Vorwand von seinen Kollegen, verkleidete sich mit Bart und Perücke und entkam über Umwege nach Athen. Von dort aus übermittelte er den USA ein Angebot. Er wollte überlaufen und bot dafür wichtige Informationen. Nach einem Gespräch an der amerikanischen Botschaft mit dem Geheimdienst stufte ihn die CIA als KGB-Agenten ein. Die CIA war es auch, die ihm Asyl in Kanada organisierte. Besmenow nahm daraufhin den Namen Tomas Schuman an. Er wurde Journalist in Kanada und verschwand für viele Jahre von der Bildfläche.
In den 1980er Jahren übersiedelte er in die Vereinigten Staaten und begann, in Interviews über die Methoden der Sowjetunion auszupacken. In einem Vortrag 1983 sagte er: »Das Hauptaugenmerk des KGB liegt überhaupt nicht auf dem Bereich der Nachrichtendienste. Nur etwa 15 Prozent der Zeit, des Geldes und der Arbeitskräfte werden für Spionage und dergleichen aufgewendet. Die anderen 85 Prozent sind ein langsamer Prozess, den wir entweder ideologische Subversion oder aktive Maßnahmen oder psychologische Kriegsführung nennen.«
Besonders bemerkenswert ist seine folgende Aussage: »Die höchste Kunst der Kriegsführung ist, gar nicht zu kämpfen. Sondern alles von Wert im Land des Feindes zu untergraben. Moral, Tradition, Religion, Respekt gegenüber Behörden und der Staatsspitze, kulturelle Traditionen, egal was.«
In der Folge erläuterte der ehemalige KGB-Mitarbeiter, dass es »vier Stufen der Ideologischen Subversion« gäbe.
Erstens. Demoralisierung. Ziel ist es, die moralischen und ethischen Grundlagen einer Gesellschaft zu unterminieren. Diese Phase braucht etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre. So lange dauere es nämlich, um eine Generation neu zu erziehen. Mit der Infiltration von Bildungseinrichtungen, Medien und Kultur sollen die jungen Menschen beeinflusst werden. Das Ziel ist, dass die neue Generation die traditionellen Werte ablehnt. Die jungen Menschen sollen dazu gebracht werden, ihre eigene kulturelle Identität, die Geschichte ihres Landes und die sozialen Normen der Gesellschaft zu hinterfragen. Neue Ideologien greifen um sich, revolutionäre politische Thesen werden gelehrt, die junge Menschen aufwühlen, begeistern oder anstacheln. Damit wird ein Gefühl der Instabilität und Desorientierung erzeugt.
Zweitens. Destabiliserung. Ziel der Phase zwei der ideologischen Subversion ist die Schwächung der Institutionen und Strukturen des Staates. Das politische System eines Landes soll so beeinflusst werden, dass der Staat auf interne und äußere Bedrohungen nicht mehr geeignet reagieren kann. Die Gefühle von Unsicherheit und Angst sollen in der Bevölkerung entstehen. Die Politik wird als unfähig dargestellt, die Polizei als schwach, das Sozialsystem als überfordert. Das politische System wird angezweifelt. Daraus entstehen laut Besmenow wirtschaftliche Instabilität, soziale Spannung und politische Polarisierung. Es kommt zu Demonstrationen und öffentlichem Streit. Die Auseinandersetzungen verlagern sich auf die Straße und schrammen nur mehr knapp am Rande von gewalttätigen Ausschreitungen vorbei.
Drittens. Krise. Nach der Demoralisierung, also der Zerstörung der Werte, und der Destabilisierung, dem Stiften von Unruhe und Polarisierung, folgt die Stufe drei: die Krise. Im Land bricht Chaos aus. Spannungen steigen und öffentliche Institutionen brechen zusammen. Es kommt zum wirtschaftlichen Kollaps, zur sozialen Unruhe und letztlich zum politischen Umbruch. Eine neue Ideologie und andere Politik übernehmen nun die Macht.
Viertens. Normalisierung. Damit sind wir bei der vierten und finalen Stufe: der Normalisierung. Die neue Ideologie, für die die neue Generation gekämpft hat, wird jetzt zur herrschenden Lehre. Was vor einigen Jahren noch als revolutionär galt, wird jetzt zur Regel. Die Gesetze, auch die Verfassung, werden entsprechend geändert. Die Ziele einer neuen Gesellschaft, die vor Jahren als Aufbruch und Veränderung hochgespielt wurden, sind jetzt Realität. Die Werte der Gesellschaft sind nun andere, die Institutionen von anderen Leuten besetzt und die kulturelle Identität des Landes verändert. Der Prozess der ideologischen Subversion ist damit vollzogen.
Soweit die Erläuterungen des Ex-KGB-Agenten. In den Weihnachtsfeiertagen 1992 besuchte Besmenow seine Familie in Montreal, Kanada. Zehn Tage später, am 5. Jänner 1993, starb er im Alter von nur 54 Jahren an einem »massiven Herzinfarkt«. Laut CBC News in »relativer Unklarheit«. Was war genau geschehen?
Besmenow wurde in ein Krankenhaus eingeliefert, fiel ins Koma und verstarb nach kurzer Zeit. Die Todesursache war eine Vergiftung mit Methanol-Alkohol. Durch die Aufnahme dieser Substanz wird die Leber beschädigt, was zu einer Verlangsamung der Niedertätigkeit führt und schließlich zum völligen Versagen aller Organe. Der zuständige Gerichtsmediziner führte den Tod offiziell auf ein »Missgeschick« zurück. In der Wohnung Besmenows fanden die Behörden einen Behälter mit Glasreiniger. Auf dem Küchentisch ein mit dieser Flüssigkeit halb gefülltes Glas. Die Behörden gingen davon aus, dass er versehentlich vom Glasreiniger getrunken und sich damit vergiftet hatte.
Weitere Untersuchungen gab es nicht. Es gab auch keine Aufregung. Denn erst ein Jahr zuvor hatte sich die Welt dramatisch verändert. Sie war plötzlich gut geworden, Ordnung war eingekehrt.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten sich die beiden Machtblöcke der Vereinigten Staaten von Amerika und die kommunistische Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) gegenüber gestanden. Im Dezember 1991 wurde die Existenz der Sowjetunion offiziell beendet. Die Demokratie hatte endlich gegen den Kommunismus gesiegt. Die Mauer in Berlin war 1989 gefallen, der Ostblock zusammengebrochen und das Ende der UdSSR besiegelt. Die Gefahr des Kommunismus war gebannt. Der Tod von Juri Besmenow war daher kaum eine Nachricht wert und der ehemalige KGB-Agent geriet samt seiner Schilderungen in Vergessenheit. So wie der Ring aus Tolkiens Legende über das Schicksal von Mittelerde, sank Besmenows Theorie der ideologischen Subversion gleichsam hinab in das Bett des Flusses der Zeitgeschichte. Und liegt noch heute dort. Es sei denn …
Wie sagte der österreichische Journalist Karl Kraus vor etwas mehr als hundert Jahren? »Aus der Geschichte der Völker lernen wir, dass die Völker aus der Geschichte nichts gelernt haben.«
Schaut man in die Geschichtsbücher, dürfte er wohl nicht ganz Unrecht haben. Im Wesentlichen sind die Geschichtsbücher nichts anderes als eine schlichte Aneinanderreihung von Kriegen. Kriegsbeginn, Kriegsende. Nächster Kriegsbeginn, nächstes Kriegsende. Und so weiter. Aufgelockert wird das Ganze mit der einen oder anderen Seuche, Naturkatastrophe oder Wirtschaftskrise. Das liest sich etwa so: Schlacht bei Mylae 264 vor Christus, Beginn der Punischen Kriege von Rom gegen Karthago, Aufstieg von Rom als Mittelmeermacht. Schlacht bei Karthago 146 vor Christus, Ende der Punischen Kriege. Ende von Karthago als Mittelmeermacht. Oder: Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 durch das Kaiserreich Österreich-Ungarn. Ende des Ersten Weltkriegs 1918, Ende des Kaiserreichs Österreich-Ungarn.
Was logisch erscheint, immerhin markieren Kriegsbeginn und -ende meistens die Veränderungen auf der Landkarte der Herrschaftsansprüche. Alte Reiche verschwinden, neue Reiche entstehen. Jeder Kriegsbeginn und jedes Kriegsende bilden die Zäsuren in der Geschichte, mal größer, mal kleiner. Daher ist es auch logisch, dass es zwei kriegerische Auseinandersetzungen sind, die die Marksteine der jüngeren Geschichte Europas bilden. Zunächst 2014: die Krim-Krise. Und dann natürlich 2022: die russische Invasion in der Ukraine. Es sind diese beiden Jahreszahlen, die das künftige Kapitel der Geschichtsbücher dominieren werden. Und gleichzeitig wird damit auch das vorläufig letzte Kapitel der Geschichte beendet. Dieses Kapitel nennt sich wohl in etwa so: »Ära des Friedens in Europa.«
Seit 1945 hatte auf dem europäischen Kontinent kein Land ein anderes kriegerisch angegriffen. (Der Jugoslawienkrieg war ein Bürgerkrieg.) Mit der Krim-Krise 2014 passierte das zunächst verdeckt, jedoch bereits kriegerisch. 2022 mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine passierte es mit offenem Visier im Stil der Panzerschlachten des vorangegangenen Jahrhunderts. Das Kapitel »70-jähriger Frieden in Europa« ist beendet.
Zwar sind die beiden Jahreszahlen 2014 und 2022 die wichtigsten Marksteine, aber doch nur die Spitzen eines Eisbergs. Nach der Krim-Krise im Frühjahr 2014 folgte im Sommer des gleichen Jahres das Erstarken der Terror-Organisation Islamischer Staat, was zu seltsamen Verwirrungen der Jugend in Europa führte. Europäische Kinder begannen plötzlich, sich als Islamisten zu bezeichnen und manche von ihnen reisten als Dschihadisten nach Syrien. Kurz darauf, im Jahr 2015, folgte die Migrationskrise. Hunderttausende Menschen marschierten in Kolonnen von der Türkei aus über den Balkan nach Mittel- und Nordeuropa. Oder sie traten mit Booten den Seeweg von Afrika nach Italien an. 2016 erschütterte das Brexit-Votum über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union die Stabilität der EU.
In Österreich folgten im Vergleich harmlosere, kleinere Erschütterungen. 2017 gab es eine Staatskrise mit der Auflösung der einen und der Bildung einer neuen Regierung, 2019 mit der Veröffentlichung des weltweit bekannten Ibiza-Videos eine weitere Staatskrise samt Neuwahlen. 2020 brach weltweit die Corona-Pandemie aus. Kaum hatte man geglaubt, die Phase der Unsicherheit überwunden zu haben, marschierte im Jahr 2022 die russische Armee auf Befehl von Präsident Wladimir Putin in der Ukraine ein. Es folgte eine Wirtschaftskrise samt historischer Inflation.
Vor einigen Monaten scherzte ein Bundesminister der deutschen Regierung gegenüber einem Amtskollegen aus Österreich schwarzhumorig: »Jetzt haben wir alle Krisen durch. Das Einzige, was noch fehlt, wäre die Landung von Außerirdischen.« Der Ministerkollege aus Österreich wollte lachen, doch das Lachen blieb ihm im Hals stecken. »Warum nicht«, dachte er sich wohl. Es wirkt, als wäre in den letzten zehn Jahren eine Spirale von Krisen in Gang gesetzt worden. Und wenn man glaubte, es kehre endlich wieder Ruhe ein, kam die nächste Krise daher.
Der österreichische Journalist des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ORF, Armin Wolf, veröffentlichte schon im Jahr 2015 einen Beitrag, in dem er ein Gefühl beschreibt, das seither viele beschleicht: »Ich bin in den 1970er Jahren aufgewachsen. Das war im Großen und Ganzen eine feine Zeit. Die einzige Krise, die wir Kinder mitbekamen, war, als eine Zeit lang jede Familie einen Tag pro Woche auf ihr Auto verzichten musste, um Benzin zu sparen. Ich glaube, dass heute sehr viele Menschen in Österreich eine große Sehnsucht nach dieser Zeit haben. Nur: Sie wird nicht wiederkommen. Weil diese Zeit ein einmaliger, glücklicher Zufall in der Geschichte war.«
Dabei hatte sich die Spirale in Europa erst 2015 zu drehen begonnen. Die Welt außerhalb unseres Kontinents kannte eine solche Friedenszeit nicht. Außerhalb Europas gab es immer Krisen und Kriege. Korea, Kuba, Vietnam, Israel, Afghanistan, Iran, Irak, Syrien, Israel – kaum ein Jahr verging, das sich nicht mit einer Schlacht oder einem Krieg in die Geschichtsbücher eintrug. Aber in Europa, da war die Welt in Ordnung. Bis eben vor etwa rund zehn Jahren.
Wenn schon die ganze Geschichte vom Krieg geprägt ist, wirkt es nur logisch, dass die, vergleichsweise sehr kurze, Geschichte meiner bescheidenen beruflichen Laufbahn ebenfalls von zwei Ereignissen markiert wird, die mit Krieg zu tun haben.
Von 1998 bis 2024 war ich am Rande der Politik tätig. Und natürlich waren auch in dieser Zeit die Ereignisse 2014 und 2022 entscheidend. 2014 war ich seit wenigen Monaten der Pressesprecher des österreichischen Außenministers, Sebastian Kurz. Da begannen die Medien plötzlich über Dinge zu berichten, die es in Europa schon lange nicht mehr gegeben hatte wie die Entsendung eines Flugzeugträgers ins Schwarze Meer, die Stationierung von Nato-Truppen im Baltikum, das Zusammenziehen von russischen Kräften an der Grenze zur Ostukraine. Die Zeitungsberichte lasen sich beängstigend. Als stünde man unmittelbar am Vorabend eines neuen großen Krieges, der alle ins Ungemach stürzen würde. Und allzu weit davon entfernt war man damals gar nicht.
Österreich hatte im ersten Halbjahr 2014 den Vorsitz im Europarat übernommen. Der österreichische Außenminister war kraft seines Amts Vorsitzender des Europarats und musste natürlich handeln. Sowohl eine Reise in die Ukraine zu Präsident und Premier, eine Reise nach Moskau zu Präsident Wladimir Putin und Außenminister Sergej Lawrow, sowie mehrere Konferenzen zogen die mediale Aufmerksamkeit auf den Europarats-Vorsitzenden aus Österreich, Sebastian Kurz. Für einen dieser öffentlichen Auftritte hatte ich mir als Pressesprecher eine Erzählung einfallen lassen. Staatstragend, weitblickend, ergreifend, die historische Dimension erfassend. Ich schrieb Außenminister Kurz diese Erzählung als sogenanntes Wording in dessen Redemanuskript für seinen ersten größeren öffentlichen Auftritt anlässlich der Krim-Krise. Aber: Er brachte die Erzählung nicht.
Als ich ihn danach fragte, meinte er, alle anderen Wordings seien toll gewesen, aber die Erzählung habe irgendwie nicht gepasst. Sie sei für diesen Anlass etwas zu triefend gewesen. Sebastian Kurz absolvierte weiter dutzende öffentliche Auftritte, ich schrieb ihm meine Erzählung immer wieder ins Redemanuskript. In die Manuskripte für seine Auftritte im TV, in Deutschlands ARD und ZDF, in der BBC Großbritanniens, im österreichischen ORF. In die Redeunterlagen für unzählige Pressekonferenzen und Reden in Kiew, Moskau, Berlin, Paris, Wien und sogar New York. Er brachte meine Erzählung nie. Sie habe irgendwie nie wirklich gepasst, sagte er. Sie war ihm immer etwas zu – richtig - triefend. Nach Monaten der Krim-Spannungen, als die Öffentlichkeit sich längst den Migrationsturbulenzen, dem Brexit und anderen Krisen zugewandt hatte, verschwand meine Erzählung in der Versenkung.
Neun Jahre später war die Ukraine wieder aktuell. Da waren sie wieder, die Medienberichte über zusammen gezogene Soldateneinheiten, entsandte Flugzeugträger und Kriegsschiffe, Neustationierungen und Manöver von Truppen. In der Nacht auf den 24. Februar 2022 waren russische Truppen in der Ukraine einmarschiert und hatten Europa in eine Krise katapultiert, wie der Kontinent sie seit 1945 nicht mehr erlebt hatte.
Ich war zu dieser Zeit Berater von Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer. Die Welt schien aus den Fugen. Alle Politikfelder waren betroffen: Verteidigung, innere Sicherheit, Wirtschaft, Finanzen, Soziales. Die Unruhe hatte längst auf breite Teile der Gesellschaft übergegriffen. Klimawandel, Inflation, Kinderarmut, Migration, Islamismus - die Politik in Europa schien gar nicht zu wissen, bei welchem Problem sie als erstes ansetzen sollte. Die Zeit verlangte nach einer Grundsatzrede im Land, einer Orientierung, nach einem Blick in die Zukunft. Im März 2023 lud Bundeskanzler Nehammer zu einer Rede zur Zukunft der Nation, um die Lage einzuordnen und den Menschen Perspektive zu geben. Ich war Teil jenes Teams, das am Redemanuskript mitwirkte. Und mir fiel die Erzählung von damals ein. Ich schrieb sie in die Unterlage für die bevorstehende Rede. Das Manuskript wurde täglich immer wieder erneuert und abgeändert, die Erzählung war noch nicht hinausgeflogen. Karl Nehammer fragte mich: »Passt diese Erzählung wirklich?« Ich wollte wissen, warum er das fragte. Darauf der Kanzler: »Ist das nicht etwas zu triefend?«
Im März 2023 hielt Kanzler Nehammer vor einer breiten Öffentlichkeit seine Grundsatzrede. Und zwar mit meiner Erzählung. Er hatte sie tatsächlich verwendet. Allerdings griffen die Medien die Erzählung nicht auf. Sie fokussierten sich auf die tagesaktuellen Themen, die der Regierungschef angesprochen hatte. Die größte Schlagzeile lautete, dass der Bundeskanzler sich gegen das von der EU verordnete Verbot des Verbrennungsmotors stellte. Kein einziges Medium hatte meine Erzählung erwähnt. Als ich später eine der Journalistinnen, die bei der Veranstaltung zugegen war, fragte, warum sie die Erzählung nicht erwähnt hatte, antwortete sie: »Sie war irgendwie etwas zu …« Sie überlegte.
Ich fragte: »Triefend?« Sie antwortete: »Genau das wollte ich sagen.«
Die Erzählung, triefend oder nicht, las sich im Redemanuskript jedenfalls so:
Rund um den Fall der Berliner Mauer und Zusammenbruch des Ostblocks zu Beginn der 1990er Jahre sagte der amerikanische Politologe Francis Fukuyama, wir erleben das »Ende der Geschichte«. Er meinte damit: Nach dem Jahrhunderte langen Kampf um das beste Konzept eines Staates – zwischen Monarchie, Diktatur, Kommunismus und Liberalismus – habe sich endgültig dasModell der liberalen Demokratie durchgesetzt.
Dieses Modell breite sich über die ganze Welt aus und sei siegreich.
Das sah tatsächlich zwanzig, dreißig Jahre lang so aus.
Aber, wir müssen heute erkennen:Die Geschichte ist wieder zurück. Alte Bekannte sind wieder da: Krieg, Seuchen, Wirtschaftskrisen. Sie sind zurückgekehrt aus den Geschichtsbüchern.
Wirerleben das Ende vom Ende der Geschichte, wie es der Politologie Fukuyama meinte.
Es gab zwischenzeitlich ein Hoch der Demokratie.
Doch die Demokratie hat wieder Feinde.
Diktaturen erstarken in den Nachbarschaften unserer Demokratien.
Die Errungenschaft der Demokratie wird herausgefordert.
Mit etwas Abstand betrachtet, muss man ehrlich sagen: Sie kling tatsächlich etwas triefend.
Doch die Welt war im Wandel. Oder wie man in EU-Regierungskreisen der Jahre 2020 bis 2024 zu sagen pflegte: »Stabil volatil«. Und mir fiel immer wieder die Geschichte von Juri Besmenow ein und seine vier Stufen der Subversion. Es schien, als hätte jemand den Ring des dunklen Herrschers, den Juri Besmenow einst ins Bett des Flusses der Zeit hinab sinken ließ, wieder gefunden. Man könnte fast meinen, der Ring des Besmenow hätte neue Träger gefunden. Dieses Buch begibt sich auf die Suche nach ihnen.
Bis vor einiger Zeit waren die Fronten innerhalb der Gesellschaft klar ersichtlich. an wusste, was links war und was rechts. Man wusste, wer oder was rechtsextrem war, wer Islamist und wer linksradikal war.
In den letzten Jahren kam sogar das in Unordnung. Eine befremdliche Verwirrung macht sich breit. Irgendetwas ist los in Europa. Rechtsextreme gehen auf die Straße und schauen dabei ungewöhnlich adrett aus. Sie klettern auf das Brandenburger Tor, entrollen Banner, wie man das von Greenpeace kennt, und halten Sitzblockaden vor einer Parteizentrale ab, als wären sie Klimakleber. Islamisten solidarisieren sich mit Neonazis gegen Homosexuelle, Transgender-Personen, Woke- und Cancel-Culture. Linksextreme wiederum demonstrieren gemeinsam mit Sympathisanten einer islamistischen Terrorgruppe und für Palästina. Unterdessen überfluten uns alle möglichen Kanäle in den sozialen mit Medien Fake News. Wie soll man hier den Überblick behalten?
Am deutlichsten zeigte sich eine solche Verwirrung in der Motivlage des Attentäters auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt zum Ende des Jahres 2024. Ein fünfzigjähriger Mann fuhr mit einem Auto vierhundert Meter weit über unschuldige Menschen, tötete einige und verletzte viele. Eine Tragödie. Der Täter: Ein gebürtiger Saudi-Araber, Arzt, ehemals Muslim, islamkritisch, der sich selbst als »Linker« und »nicht den Rechten« zugehörig bezeichnete, aber rechtsradikale Theorien unterstützte, und die Methode der islamistischen Terroristen anwendete. Für die einen ein Islamist, für andere ein Islamkritiker, für manche links, für andere rechts, für die einen ein saudischer Regimegegner, für andere ein saudischer Agent. Wieder andere vermuteten Russland dahinter.
Der renommierte Extremismusforscher Peter Neumann musste feststellen: »Das hatte ich wirklich nicht auf dem Zettel.« Er analysierte schon vor Jahren die seltsamen Querverbindungen verschiedener extremistischer Strömungen. »Es entsteht etwas Neues, das absolut schwer zu durchschauen ist«, meint er. Eines hätten aber alle Gruppen gemeinsam: Es geht immer um »Widerstand gegen einen Staat, der seine Bürger angeblich unterdrückt.« Er schrieb später auch ein Buch mit dem Titel Die neue Weltunordnung. Und fügte einen nicht sehr positiv klingenden Halbsatz hinzu: »Wie sich der Westen selbst zerstört.«
Damit es nicht so weit kommt, müssen Menschen einen Überblick erhalten. Klarheit und Ordnung muss herrschen, wo heute bloß Verwirrung zu finden ist. Ziel dieses Buches ist es daher, eine Übersicht und Einordnung über die Aktivitäten und handelnden Personen im radikalen, demokratiefeindlichen Spektrum in Europa, insbesondere im deutschsprachigen Raum, zu ermöglichen. Wer sind sie? Wie kommunizieren sie? Und was wollen sie erreichen?
25 Jahre lang war ich im Bereich politische Kommunikation tätig. Für zehn Jahre lang hatte ich von der Republik Österreich die Klassifizierung einer hohen Informationsberechtigungsstufe erhalten und war befugt, auch geheime Informationen zu bekommen, etwa von Nachrichtendiensten. Nicht umfasst waren Informationen, die die Geheimdienste selbst erhielten. Aber jene, die sie an die Regierung weitergaben. In diesem Buch werden Informationen verwendet, die nicht von dieser Klassifizierung umfasst sind, weil sie entweder längst den Weg an die Medien gefunden haben oder über andere Kanäle in Erfahrung gebracht wurden.
In diesem Buch werden die Social-Media-Accounts und die Inhalte von zahlreichen Personen, Organisationen und Gruppen genannt, deren Inhalte kritisch zu sehen sind. Die Aufmerksamkeit, die dabei auf diese Inhalte gelenkt wird, ist ein notwendiges Übel. Vor allem geht es um Transparenz. Immerhin sind viele dieser Personen und Gruppen der Generation über vierzig Jahren nicht bekannt. Ihre Kinder stehen mit ihnen womöglich jedoch täglich in Kontakt. Weshalb es sinnvoll sein kann, diese Accounts bekannt zu machen. Im Zweifel also wird in diesem Buch die Entscheidung für die Transparenz getroffen. Insofern richtet sich dieses Buch vor allem an die Elterngeneration.
Bei diesem Buch handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Arbeit. Es verzichtet auf Zitierregeln, die bei Forschungsarbeiten üblich sind. Es wird im journalistischen Stil geschrieben. Das heißt, die Quellen der Informationen werden direkt im Text erwähnt.
Parteien, die im demokratischen Wettbewerb kandidieren und den Einzug in ein nationales Parlament geschafft haben, sind nicht per se Gegenstand dieses Buches. Weil sie die demokratische Teilhabe wahrnehmen und damit die Regeln der rechtsstaatlichen Demokratie respektieren. Es geht also nicht um rechtspopulistische Parteien. Es geht auch nicht um Politiker, die sich in linken Parteien engagieren, die im Parlament vertreten sind. Und es geht auch nicht um Politikerinnen und Politiker muslimischen Glaubens, die als Vertreter in den Parlamenten in Europa und Amerika sitzen.
Auch große politische Player wie die USA oder die EU sind nicht Gegenstand dieses Buches. Ihre demokratisch legitimierten Vertreter, die Pressefreiheit dieser Länder und ihr Umgang mit eigenen historischen Fehlern sind nur einige Aspekte, die sie von Autokratien wie jener von Wladimir Putin unterscheiden, um die es hier geht.
Das gilt auch für die aktuelle Führung unter US-Präsident Donald Trump, einschließlich seiner Berater wie den exzentrischen Milliardär Elon Musk. Trump ist demokratisch legitimiert. Zudem kann man nicht behaupten, dass er und seine Berater besonders verdeckt agieren.
Das heißt nicht, dass man die Methoden dieser und mancher politischen Persönlichkeiten und Bewegungen nicht kritisch sehen soll. Aber die oben genannten Personen und Gruppen haben eines gemeinsam: Sie sind nicht subversiv. Sie kämpfen mit offenem Visier und sie nehmen Teil am demokratischen Prozess.
Dieses Buch handelt von anderen. Von jenen, die das Modell der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats ablehnen und ersetzen wollen. Und sei es auch mit Gewalt. Sehr wohl Thema sind Personen aus Parteien, wenn sie Mitglied oder Teil außerparlamentarischer Initiativen sind, die subversiv tätig sind.
Das Modell der vier Stufen der Subversion, wie es Juri Besmenow beschrieben hat, lässt sich in vier Gruppen finden. Bei Rechtsextremen, Islamisten, Linksextremen und Autokraten. Auf diese vier Gruppen werden wir später genauer eingehen. Hier sollen vereinzelte Schlaglichter auf die subversiven Methoden geworfen werden, die diese Gruppen ausüben.
Das Verhältnis Österreichs zu Wladimir Putin war immer schon besonders. »Congratulations on your resounding victory, Mr. President«, sagte Bundeskanzler Karl Nehammer am Telefon. Er sprach mit dem frisch gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten, Donald Trump. Er war wieder da, es war November 2024. Im Jahr 2018 war ich ihm persönlich begegnet, im Weißen Haus, noch an der Seite des früheren österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz, und ihm im »Situation Room« eine Stunde lang gegenübergesessen. Darüber habe ich in dem Buch Message Control berichtet.
»That was great. That was really great. But cheating happend. But we have a great mandate now. When you make a deal with us we have a mandate that nobody hat in 150 years, actually«, antwortete der US-Präsident im Telefonat mit Kanzler Nehammer.
Trump weiter: »How do you feel about Russia and Ukraine? What do you feel about Putin?«
Nehammer: »Putin is in his own war logic. Viktor Orban and I have met him personally. I was there two years ago. And now I think it’s important to talk about peace and how we can bring peace to Ukraine. You know. For me, it’s clear that Vienna stands ready as a venue for any talks between you, Putin and Selenskyj, which could end the Russia-Ukrainian war. It’s so important that we end this war because so many people are dying.«
Trump: »There are soldiers that die.«
Nehammer: »Yes, and a lot of civilians are suffering.«
Trump: »Yeah, that’s true, and we are discussing it. But the war would have never happened when I would have been President.«
Nach einem Austausch über mögliche Optionen und Gespräche sowie über die blutige Lage in der Ukraine entfährt Trump: »I have never seen anything like this in my life. But we are going to take care of this. And we are going to see each other soon, and you are going to take care of your great people.«
»Thank you so much, and happy thanksgiving.«
»Thank you, and see you soon, and let’s work closely on our cooperation.«
Mit wem immer man im November 2024 auf politischer Ebene sprach: Es ging um den russischen Präsidenten und seine Rolle bei der Rückkehr des Kriegs in Europa, beim Ende vom Ende der Geschichte. Der US-Präsident sprach von »Cheating« während der Präsidentenwahlen im November 2024. Also von »Schummeln« oder eher von »Betrug«.
Ein russischer Einfluss wurde jedenfalls bei anderen Präsidentenwahlen vermutet, ebenfalls im November 2024 bei den Wahlen in Rumänien. Ziemlich überraschend gewann dort im ersten Wahlgang der pro-russische Rechtspopulist Călin Georgescu. Der Mann war aus dem Nichts aufgetaucht und hatte seinen gesamten Wahlkampf auf der Social-Media-Plattform TikTok aufgebaut. Es gab Mutmaßungen, dass Russland hinter der Kampagne stecken könnte. Der rumänische Verteidigungsrat bestätigte nach dem Urnengang, dass es durch »Cyberattacken zur Wahlbeeinflussung« gekommen sei. Ein Urheber wurde nicht genannt. Aber es wurde darauf hingewiesen, dass TikTok einen der Kandidaten unrechtmäßig begünstigt habe.
Der Einfluss war derart gravierend, dass der rumänische Verfassungsgerichtshof die Präsidentenwahl vollständig annullierte und eine Wiederholung ansetzte. Die Wahlen seien »nicht frei« gewesen, begründete er. Die Entscheidung fußte auf Erkenntnissen von europäischen Geheimdiensten, wonach es zu »schwerer äußerer Einflussnahme« auf den Wahlprozess gekommen sei. Offenbar aus Russland. Der Gerichtshof nannte es einen »aggressiven russischen hybriden Angriff«. Konkret wurde ein Netzwerk aus 25.000 tausenden Social-Media-Konten auf TikTok und dem Kanal Telegram aktiviert. Für Influencer gab es 360.000 Euro in Krypto-Zahlungen, um für Georgescu Stimmung zu machen.
Die Entscheidung des Gerichtshofs sorgte für heftige Kritik. Die liberale Partei, die gegen den Rechtspopulisten in die Stichwahl gekommen war, kritisierte, dass diese Stichwahl wie geplant hätte stattfinden sollen. Zwar sei der russische Einfluss ein Problem, doch dagegen müsste man »nach freien Wahlen« vorgehen. Im Land herrschte das völlige Chaos. Eine Spaltung zwischen links und rechts. Fast so, als wäre nicht die Wahl Georgescus das Ziel Russlands gewesen, sondern das Chaos selbst.
Einfluss aus Russland wird auch in Bulgarien vermutet. Das Land ist inzwischen fast unregierbar. In den letzten drei Jahren gab es sieben Parlamentswahlen. Bulgarische Experten glauben, dass Russland für eine Spaltung im Land gesorgt hat und die Erstarkung der Rechtsradikalen unterstützt. Russland bediene sich dafür mehrerer Kanäle, vor allem der sozialen Medien. Der bulgarische Journalist Georgi Milkov sagte: »Es ist erschreckend, wie stark der Einfluss auch in Deutschland und Frankreich ist.« Ende des Jahres 2024 lösten sich bekanntlich die Regierungen sowohl in Deutschland als auch in Frankreich wegen unüberbrückbarer Differenzen auf. Neuwahlen im ersten Halbjahr 2025 sollen in beiden Ländern Klarheit bringen. Hoffentlich.
Am Mittwoch, den 15. August 2019, erhielt ich einen Anruf. Es war ein alter Freund aus meiner Kindheit, mit dem ich immer wieder Kontakt hatte. Er war Polizist in Wien, bei den Uniformierten, wie man sagt. Ich dachte, es würde um etwas Privates gehen. Einmal wieder fortgehen, etwas Trinken oder dergleichen. Doch er überfiel mich gleich mit einer Frage: »Seid ihr auch beim Putin dabei?«
Nach einer überraschten Irritation über diese seltsame Frage dachte ich zunächst an einen Scherz. »Wer soll wo beim Putin dabei sein?«
»Der Kurz!« Ich wurde stutzig. Dann erzählte er mir, dass die damalige österreichische Außenministerin Karin Kneissl heiraten würde, in einem Schloss in der Steiermark. Und der russische Präsident Wladimir Putin würde zur Hochzeit kommen. Ich dachte, er würde mich noch immer für dumm verkaufen wollen. Bis er sagte: »Wir sind in die Steiermark abkommandiert worden, ich bin im Team, das für die Sicherheit vor Ort sorgt.«
Langsam dämmerte mir, dass er womöglich doch keinen Scherz machte. Mein Freund sagte: »Ihr wisst doch sicher darüber Bescheid. Die werden doch das Bundeskanzleramt informieren über sowas.«
Wann sollte diese Hochzeit sein, fragte ich. Am Samstag. Heute war Mittwoch. Ich bedankte mich, beendete das Gespräch. Und ich rief sofort Bundeskanzler Sebastian Kurz an. »Hallo, Chef, ich habe gerade von meinem Freund gehört, dass Putin am Samstag zur Hochzeit von Karin Kneissl kommt.«
Einen Moment lang herrschte Stille. Ich war unsicher, ob die Leitung abgerissen war. Aus heutiger Perspektive muss man sagen, dass diese Information wie aus einer anderen Welt wirkte. Es waren so viele Fake News unterwegs, in den sozialen Medien bis hinein in die traditionellen Medien. Auch das könnte eine »Ente« oder ein »Hoax« sein. Oder eine Information aus dem »Feuerwehrschlauch der Falschheit« oder ein »Verrotteter Hering« im Stil der »Fuzzylogik«. Zu diesen Begriffen werden wir an späterer Stelle noch kommen.
Der Bundeskanzler jedenfalls wusste nichts von dem Putin-Besuch und dachte ebenfalls an einen Scherz. Ich brauchte etwa drei Minuten, um ihm klarzumachen, dass zumindest ich mir keinen Scherz erlaubte. Ob die Information wirklich stimmte, war freilich noch nicht sicher.
Wir schalteten umgehend die Internationale Abteilung des Kanzleramts ein. Es stellte sich heraus, dass die Info korrekt war. Die Außenministerin, die auf einem Ticket der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei FPÖ saß, hatte den russischen Präsidenten zu ihrer Hochzeit eingeladen. Und dieser hatte offenbar zugesagt.
Eingefädelt wurde die Einladung über die ehemalige Gattin des verstorbenen österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil, Margot Klestil-Löffler. Sie war lange Jahre Botschafterin Österreichs in Moskau gewesen und hatte, das war als Botschafterin auch ihr Job, hervorragende Kontakte und einen direkten Draht zum Präsidenten Russlands aufgebaut. Das Außenministerium bestätigte dem Bundeskanzleramt die Einladung sowie die Zusage durch den Gast. Die Außenministerin hätte den Bundeskanzler demnächst persönlich darüber informieren wollen, hieß es. Man habe das Innenministerium bereits über das Eintreffen des Präsidenten und den Zeitpunkt informiert, weshalb sämtliche Sicherheitsvorkehrungen schon angelaufen seien.
In einer Telefonkonferenz mit dem Bundeskanzler wurde beraten, wie man sich verhalten solle. FPÖ-Außenministerin Kneissl hatte inzwischen den Kanzler persönlich angerufen, informiert und auch zur Hochzeit eingeladen. Außerdem hatte die Außenministerin schon einzelne Medien über ihren Gast informiert. Wir berieten, wie wir damit umgehen sollten.
Einerseits war die Heirat eine zutiefst private Angelegenheit der Ministerin und es war ihre Sache, wen sie einlud. Andererseits war das eine aus unserer Sicht unzulässige Vermischung mit ihrer Rolle als offizielle Repräsentantin der Republik. Letztlich aber musste man erkennen, dass schon Tatsachen geschaffen worden waren. Wir kamen zum Schluss: Gute Miene machen, nicht in den Vordergrund drängen.
Die Hochzeit schlug in den internationalen Medien ein wie eine Bombe. Ein Bild vom Knicks der Außenministerin vor dem russischen Präsidenten kurz vor einem gemeinsamen Tänzchen auf dem hübschen Schlösschen in der Steiermark ging um die ganze Welt. Wir verfolgten die Detonation dieser medialen Bombe teilnahmslos. Es war einer der Momente, wo die berüchtigte »Message Control«, also die professionelle Steuerung von Nachrichten des Teams von Sebastian Kurz, völlig außer Kraft gesetzt wurde.
Kurz war Gast bei der Hochzeit. Auf dem Rückweg von der Steiermark nach Wien zum Flughafen begleitete er den russischen Präsidenten in der Limousine. Er fragte ihn, woher er die Außenministerin kenne. Putin antwortete, dass er sie eigentlich gar nicht kenne. Kurz wollte daraufhin wissen, warum er denn dann zur Hochzeit gekommen war. Der Präsident sagte, weil er eingeladen wurde. Aber warum geht er auf eine Hochzeit von jemandem, den er nicht kennt?
Der genaue Wortlaut ist freilich nicht protokolliert. Aber Putin soll sinngemäß gesagt haben: »Es war eine gute Gelegenheit, mein Image als gern gesehener Gast im Westen aufzubessern.« Karin Kneissl unterrichtet heute an der Sergej-Jessenin-Universität in Rjasan und leitet den Thinktank Gorki in Sankt Petersburg, beides in Russland. Die Wirkung der Imagepolitur für den russischen Präsidenten war nicht von langer Dauer. Sie hielt bis spätestens 24. Februar 2022. Dem Tag der Invasion in der Ukraine.
Österreich und Wladimir Putin, das Verhältnis war schon immer besonders. In Erinnerung sind die Bilder des gemeinsamen Skifahrens in den österreichischen Alpen von Österreichs Kanzler Wolfgang Schüssel und Putin Anfang der 2000er Jahre. Im Jahr 2014, anlässlich der Annexion der Halbinsel Krim, hatte der damalige Außenminister Kurz harte Worte Richtung Russland gefunden. Bei einem Besuch in Moskau und einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow hatte Sebastian Kurz dermaßen hart gegen Russland ausgeteilt, dass sein Amtskollege kurz davor war, erzürnt aufzustehen und den Raum zu verlassen. 2014 hatte Kurz als Vorsitzender des Europarats den russischen Außenminister Lawrow mit dem ukrainischen Außenminister Andreij Deschtschyzia zu einer Konferenz in Wien zusammengebracht, um die Lage rund um die Krim zu entspannen. Und es gab später auch Staatsbesuche Wladimir Putins bei den Bundespräsidenten Heinz Fischer und Alexander Van der Bellen.
Die Beziehungen verschlimmerten sich drastisch im Jahr 2022. Wladimir Putin machte ernst. Und ließ seine russischen Truppen in der Ukraine einmarschieren. Österreichs Bundeskanzler war seit 2021 Karl Nehammer. Anfang April saß ich bei ihm am Tisch im Kanzlerzimmer, als darüber beraten wurde, wie er seine Reise, von der zu diesem Zeitpunkt noch niemand wusste, medial bekannt machen sollte. Am Samstag ging es mit dem Zug nach Kiew zu einem Besuch bei Präsident Wolodymyr Selenskyj. Von dort weiter ins Kriegsgebiet, in den Ort Butscha, wo kurz davor ein Massaker durch russische Soldaten stattgefunden hatte, das weltweit für Entsetzen gesorgt hatte. Es gab Bilder hunderter getöteter Zivilisten auf den Straßen von Butscha. Am folgenden Montag, dem 11. April, sollte es weitergehen nach Moskau, zu einem Besuch bei Wladimir Putin. Ziel war es, das begonnene Kriegstreiben zu beenden oder zumindest ein Einlenken zu erreichen. Der österreichische Kanzler sprach sich mit internationalen Partnern ab, darunter mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz. Dieser unterstützte die Reise Nehammers. Jeder Versuch, zu vermitteln und zu deeskalieren, sei zu begrüßen und sollte nicht ungenutzt bleiben. Scholz gab Nehammer auch inhaltliche Ratschläge, über die ich nichts Näheres weiß. Er beendete aber seine Ausführungen mit der Aussage: »Ich gehe davon aus, er wird seine Meinung nicht ändern.«
Der deutsche Kanzler sollte Recht behalten. Als Kanzler Nehammer zurückkam, sagte er gegenüber den Medien, dass Putin in der »Kriegslogik angekommen« und unnachgiebig sei. Nehammer informierte neben anderen Regierungschefs auch Olaf Scholz. Nehammer: »Er hat seine Meinung nicht geändert.«
Ich sprach mit dem Kanzler und wies darauf hin, dass die Geschichte vom »Massaker in Butscha« womöglich Fake sei. Es gab entsprechende Hinweise in den sozialen Medien. So gab es Videos, die zeigten, dass sich die Leichen in Butscha bewegten. Daraufhin wurde von russischer Seite der Vorwurf erhoben, das angebliche Massaker sei eine »inszenierte Produktion und Provokation« der Ukraine. Die Leichen seien bloß Darsteller, wie das Video beweise. Eines dieser Beweisvideos war allein auf X (damals noch Twitter) bereits 5,5 Millionen Mal angeschaut worden.
Der Bundeskanzler geriet etwas aus der Fassung. »Ich war in Butscha, ich bin am Massengrab gestanden.« Er habe die Leichen selbst gesehen. Man habe das Blut riechen können. Mir war also klar, das Massaker war kein Fake. Ich wollte dem aber nachgehen. Was war auf dem Video zu sehen? Wieso bewegte sich eine Leiche?
Die Deutsche Welle hatte das Video bereits analysieren lassen. Der Eindruck der Handbewegung der Leiche sei durch einen Wassertropfen auf der Frontscheibe des Wagens, von dem aus die Straße in Butscha gefilmt wurde, entstanden. Zum gleichen Ergebnis war eine forensische Analyse im Auftrag der New York Times gekommen. Zudem war auf den Satellitenbildern des Unternehmens Maxar zu erkennen, dass die Leiche, die die Hand bewegt haben soll, seit 19. März 2022 fortdauernd in stabiler Haltung an der gleichen Stelle lag. Die Person hätte also bis 30. März, elf Tage lang, dort liegen müssen, ohne sich zu bewegen. Das Video war echt. Das Massaker von Butscha auch.
Im November 2024 traten Nehammer und Scholz ein letztes Mal in Kontakt in Sachen Krieg um die Ukraine, bevor sich die deutsche Regierung auflöste. Scholz schrieb dem österreichischen Amtskollegen über ein Telefonat, das er an diesem Tag mit Wladimir Putin geführt hatte. Sinngemäß schrieb er, dass er Putin gefragt habe, ob er seine Meinung nicht endlich geändert habe. Immerhin hätte es hohe Verluste gegeben, unzählige tote russische Soldaten, auch Zivilisten. Dazu kam wirtschaftlicher Druck und auch die Stimmung in der russischen Bevölkerung war nicht mehr so unterstützend wie zu Beginn der Invasion. Es hätte doch sein können, dass diese veränderten Umstände Putin zu einer Neubewertung brachten. Scholz beendete seine Info an Nehammer mit der für ihn typischen Trockenheit: »Er hat seine Meinung nicht geändert.«
Butscha war also kein Fake. Es war ein Massaker. Der Fall zeigt, dass es immer schwieriger und aufwendiger wird, herauszufinden, was wahr ist und was falsch. Nun hat man nicht immer schnell einen Premierminister zur Hand, der einen aufklären kann, ob etwas Fake News sind oder nicht. Im Herbst 2023 plante eine Kollegin eine Dienstreise nach Paris. Im Vorfeld erhielt sie eine Information der Agentur, über die sie die Reise gebucht hatte. »Bettwanzen in Frankreich: Darauf müssen Reisende achten.«
In der Online-Information nahm man Bezug auf die vielen Medienberichte über die Bettwanzenplage, von der Frankreich heimgesucht wurde. Die französischen Medien sprachen von einer »Nationalen Psychose« um das Insekt. Auch in Medien aus Österreich, der Schweiz und Deutschland wurde ausführlich darüber berichtet. Es gab Artikel mit Reisehinweisen: »Wie Frankreich-Urlauber sich jetzt richtig verhalten.« Tipps wurden gegeben: »Wie erkennt man Bettwanzen im Hotelzimmer?« »Wie vermeidet man, dass sich die Blutsauger ins Reisegepäck einschleichen?«
Bald folgten Analysen, wie es zu dem Problem kommen konnte. Die Pariser Zeitung Le Figaro warf der Politik in Paris vor, die letzten zehn Jahre verschlafen zu haben. Und die ekeligen Stars des Medienhypes wurden vorgestellt: »Das sind die Plagegeister von Paris.« Wie sie aussahen, wie groß sie waren und wie sie sich vom Blut des Menschen ernährten.