Message Control - Gerald Fleischmann - E-Book

Message Control E-Book

Gerald Fleischmann

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Beschreibung

Wie steuert die Politik die Informationen, die an die Öffentlichkeit gelangen? Wie entscheiden die Medien über die Nachrichten, die für die Bevölkerung übrig bleiben? Und wo bleibt in diesem Verwirrspiel die Wahrheit? Was haben Albert Einstein und Sigmund Freud damit zu tun, was ist die Nirvana-Taktik und was die Tote-Katzen-Strategie? Keiner weiß das besser als Gerald Fleischmann, der als Kommunikationsprofi den Begriff Message Control geprägt hat. In diesem Buch plaudert er erstmals aus der Schule. Wer wissen will, wie die geheimen Kniffe und Strategien bekannter Polit-Größen aus den vergangenen Jahrzehnten funktionieren, bekommt sie hier anekdotisch und unterhaltsam erklärt und wird Politik und Medien künftig mit anderen Augen sehen.

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Gerald Fleischmann

Message Control

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Bastian Welzer

Satz: Isabella Starowicz

© Cover-Portraits:

Angela Merkel: Mikhail Palinchak

Donald Trump: Alon Skuy

Emmanuel Macron: Thibault Camus

John F. Kennedy: William J. Smith

Karl Nehammer: Pixsell

Margaret Thatcher:Uppa.co.uk

Sebastian Kurz: Lukas Beck

Tony Blair: Torsten Blackwood

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Deutschland

12345—26252423

ISBN 978-3-99001-630-5

eISBN 978-3-99001-631-2

GERALD FLEISCHMANN

MESSAGECONTROL

Was Sie schon immer über Politik undMedien wissen wollten

INHALTSVERZEICHNIS

1. Erkenntnisse

2. Theorie

3. Praxis im Verhalten

4. Praxis und Emotion

5. Negative Praxis

6. Fazit

1

ERKENNTNISSE

Es war der Abend vor dem Corona-Lockdown und die Menschen genossen die letzten offenen Stunden in den Lokalen des belebten Wiener Viertels namens Bermudadreieck, als er zuschlug. Mit einer Kalaschnikow, Modell AK-47, lief er drei Gassen entlang, schoss wahllos auf Passanten, tötete dabei vier Menschen und verletzte 23 teils schwer. Neun Minuten nach dem ersten Schuss traf der Attentäter vor der Ruprechtskirche auf zwei Einsatzkräfte der Spezialeinheit WEGA. Sie verpassten ihm eine Kugel in den Oberkörper und schalteten den Angreifer aus. Die Informationslage war jedoch, dass noch mindestens ein weiterer Terrorist, womöglich sogar mehrere, in der Stadt unterwegs war – schwer bewaffnet mit dem Ziel, einen Anschlag zu verüben. Wo, war nicht bekannt. Jeder konnte sich in dieser Nacht in höchster Gefahr befinden.

Um etwa 20:30 Uhr an diesem 2. November 2020 wurde ich von Spezialeinheiten von zu Hause abgeholt. Ich war erst dreißig Minuten zuvor nach Hause gekommen und hatte noch auf der Heimfahrt die ersten Meldungen über angebliche Schüsse in der Innenstadt auf den sozialen Medien mitbekommen, ohne das einordnen zu können. Der Fahrer drückte aufs Pedal. Mit Affentempo fuhren wir über die auto- und menschenleere, von Polizeikräften abgeriegelte Ringstraße. Als wir die Nähe des Bundeskanzleramts erreichten, hieß es: »Nach vorn beugen und Kopf zwischen die Knie.« Wir saßen in keinem gepanzerten Fahrzeug, also wollten sie auf Nummer sicher gehen. Sie konnten nicht ausschließen, dass sich einer der Attentäter in der Nähe des Kanzleramts befand und auf dessen Eingangstor zielte. Mit hundert Sachen raste der Wagen durch die Einfahrt, das Tor wurde hinter uns geschlossen. Bundeskanzler Sebastian Kurz kam gerade mit anderen Mitarbeitern und flankiert von Polizeikräften die Stiegen herunter. »Alles klar? Bei der Familie alles in Ordnung?«, fragte er mich. »Ja, danke. Alles total verrückt!« Unsere Gruppe wurde von Spezialkräften zu einer unscheinbaren Tür geführt, die ich vorher noch nie wahrgenommen hatte. Dahinter führte eine Treppe in die Tiefe. Wir durchschritten unterirdisch mehrere mit Stahl gesicherte Schleusen, gingen einen Gang entlang. Einen der Sicherheitsbeamten kannte ich ganz gut, weil er immer wieder den Kanzler begleitete. Er war ein sehr fröhlicher, aufgeweckter Mensch und um keinen Scherz verlegen. Als wir den Gang entlangmarschierten, sah ich sein Gesicht. Es war wie aus Stein, todernst. Auf der anderen Seite kamen wir inmitten des Innenministeriums wieder heraus. Als wir die Stufen aus dem unterirdischen Gang hinaufgingen, erzählte mir einer meiner engsten Kollegen, der Pressesprecher des Kanzlers, dass der »Chef« direkt von einem TV-Interview komme – einem geplanten zehnminütigen Interview anlässlich des bevorstehenden Corona-Lockdowns in der größten Nachrichtensendung des Landes. Ich fragte: »Wie war das Interview?« »Es war irre«, erzählte er hastigen Schrittes. »Mitten im Interview hab ich die Postings über die Schüsse gesehen. Ich hab es ihm gleich nachher gezeigt. Wir sind sofort hergefahren.« Das Interview sollte planmäßig in der Sendung um 22 Uhr ausgestrahlt werden.

Kanzler Kurz begab sich sofort in den Einsatzstab, bei dem bereits die höchsten Kommandanten der Sicherheitsbehörden mit Innenminister Karl Nehammer zusammensaßen. Ich blieb im Hintergrund, stellte mich in einiger Distanz dahinter in eine Ecke und verfolgte das Geschehen. Die Abläufe waren angesichts der Ereignisse in der Stadt sehr strukturiert, aber die Nachrichten, die hereinkamen, waren enorm verwirrend. Eine Geiselnahme bei einem Fast-Food-Lokal, die sich erst später als Falschmeldung herausstellte. Zeugenaussagen, die mindestens zwei weitere Täter gesehen hatten, einer davon sei mit einem Sturmgewehr 77 bewaffnet. Die Festnahme von sechs vermeintlichen Islamisten in einer Fußgängerzone, die sich danach als unschuldige Passanten erwiesen. Jeder Meldung musste nachgegangen werden, nichts blieb unberücksichtigt. Niemand wollte das Risiko eingehen und eine Nachricht auf die leichte Schulter nehmen, auch wenn sie noch so unglaubwürdig war. Der Einsatzstab verhängte gerade für alle Gäste in den Lokalen der Stadt eine Ausgangssperre. Die Anspannung war enorm.

An einem Nebentisch hatte ich inzwischen mit den Pressesprechern des Kanzleramts und des Innenministeriums eine kleine Gruppe gebildet, um die Krisenkommunikation zu organisieren. In den sozialen Medien gab es Videos und Fotos des Attentäters und von den Morden, von panisch laufenden Menschen, Blaulichteinsätzen und Aufnahmen von Blutlachen. Unzählige Hinweise kamen via Postings herein, falsche Bekennerschreiben, Jubel-Tweets von Islamisten, Aufrufe zur Rache durch Rechtsextreme und Dutzende Presseanfragen nationaler und internationaler Medien prasselten auf uns ein. Von den Agenturen Reuters, Associated Press, Deutsche Presseagentur, Agence France-Press. Von den Rundfunkanstalten aus Deutschland, ARD, ZDF und RTL, der britischen BBC, der NBC aus den USA und dem Schweizer SRF sowie von den Zeitungen Bild, Frankfurter Allgemeine, Welt, Neue Zürcher, Le Monde, Guardian, New York Times, dem Wallstreet Journal und noch vielen, vielen mehr. Wir entschieden, das einfachste Einmaleins der Krisenkommunikation anzuwenden: Alle sind an einem Ort, die Kommunikation erfolgt zentral von einer Stelle aus, in kurzen Abständen und regelmäßig. Davor wird der aktuelle Informationsstand festgestellt, daraus das Wesentliche gefiltert und das Wording – also was gesagt wird – erstellt, mit knappen, leicht verständlichen Sätzen, und dieses an alle Medien gegeben. Der Inhalt muss offen und transparent sein, um Widersprüche und Zweifel zu vermeiden. Klarheit ist das Um und Auf. Die größte Herausforderung ist, aus der völlig wirren Lage an Informationen den Kern herauszudröseln und dabei zu berücksichtigen, was dem Einsatzstab wichtig ist, etwa wie sich die Bevölkerung verhalten soll.

Ich schaute zwischendurch aus dem Fenster. Vielleicht würde ja einer der Angreifer gerade vorbeilaufen. Die Straße war leer. Hubschrauber kreisten über den Dächern. Es war eine beängstigende Stimmung in der Stadt. Plötzlich schaute mich Innenminister Nehammer aus einiger Entfernung sehr ernst, fast wütend an und schritt entschlossen auf mich zu. Ich verstand nicht und schüttelte den Kopf. Er sagte laut, dass wir sofort an einen anderen Platz gehen sollten: »Kein Panzerglas!«, und zeigte auf das Fenster, neben dem ich stand. Wie ich nun erfuhr, waren zwar alle anderen Fenster gepanzert, jenes in der Ecke, vor dem unsere Gruppe stand, aber nicht. Als ich der Lage trotzend Humor beweisen und mich bedanken wollte, dass mir der Minister quasi das Leben gerettet hat, rief mich der Chefredakteur des ORF an. Sie wollten ein Live-Statement – vom Kanzler oder vom Innenminister. So rasch wie möglich. Seit etwa 45 Minuten lief auf ORF, wie auf allen anderen Kanälen, eine Live-Sondersendung. Mit extrem hohen Einschaltquoten. Fast die gesamte Bevölkerung saß vor den TV-Geräten, um die dramatischen Ereignisse zu verfolgen. Die Menschen mussten total verunsichert sein. Irgendwo da draußen, so hieß es ja, lief noch ein Attentäter herum. Kanzler Kurz sagte nun in die Runde, dass die Bevölkerung informiert werden müsse. Zehn Minuten später wollte dann der Innenminister live im TV ein erstes Informationsupdate geben. Wir gaben ihm den Entwurf für ein Redemanuskript, er überarbeitete es mit letzten Informationen des Einsatzstabs. Was er sagte, ist in den Archiven nachzulesen. Das Wording auf dem Manuskript lautete zuletzt wie folgt:

»Bestätigung: Terroranschlag. Ausgehend von Seitenstettengasse in Wien 1. Bezirk.

Angriff noch nicht beendet (!).

Derzeit Großeinsatz Polizei. Cobra, Wega.

Derzeit Führungsstab im BMI. Mit Kanzler, BMI, alle nötigen Kräfte. Ständig aktuelles Lagebild.

Leider Verletzte, vermutlich 1 Toter.

Derzeit Annahme mehrere Täter (!). Tragen Langwaffen. Hohe Gefahr.

Appell an Bevölkerung:

Wer zu Hause ist, zu Hause bleiben.

Dort wo man ist (Lokal) rein gehen und drinnen bleiben.

Vermeiden: öffentliche Plätze.

Polizei tut alles, um Täter auszuschalten.«

Eine Stunde später gab der Bundeskanzler eine Stellungnahme ab. Auch ihm gaben wir ein Manuskript, das er rasch überarbeitete. Auch sein Statement ist in den Archiven zu finden. Das ihm zuletzt vorliegende Wording war dieses:

»Sg Damen und Herren.

liebe Österreicherinnen und Österreicher.

Schwere Stunden für Republik Österreich und Bundeshauptstadt Wien.

Wir sind Opfer eines widerwärtigen Terror-Akts.

Anschlag nach wie vor im Gang (!).

Danke an Einsatzkräfte.

Riskieren ihr Leben für unsere Sicherheit.

Polizei gelungen Täter auszuschalten., aber (!) mehrere Täter noch auf der Flucht.

Danke an Rettungskräfte. Schwierige Stunden. Dienst an Menschen.

An die Angehörigen der Opfer: die Gedanken von uns allen sind bei Ihnen.

Danke an internationalen Partnern für Mithilfe. Für Solidarität und Unterstützung.

Einsatz Bundesheer angeordnet, für Objektschutz in Bundeshauptstadt. Damit Polizei alle Kräfte frei, um Täter zu fahnden.

Bitte an Bevölkerung:

Zu Hause bleiben.

Wenn Anderer Ort – dort bleiben.

Nachrichten verfolgen.

Ob morgen früh öffentliches Leben möglich hängt von heutiger Nacht ab – ob alle Täter ausgeschaltet.

Polizei tut alles.«

In dieser Nacht folgten noch ein weiteres Statement des Kanzlers und eine Pressekonferenz des Innenministers mit neuestem Lagebild und Verhaltensempfehlungen für die Bevölkerung. Der Bundeskanzler nahm internationale Anteilnahmen und Solidaritätsbekundungen mit der österreichischen Bevölkerung entgegen, unter anderem von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, Großbritanniens Premier Boris Johnson und US-Präsident Donald Trump. Um zwei Uhr nachts gab es im Innenministerium die vorläufig letzte Pressekonferenz durch den Innenminister und den Generaldirektor für öffentliche Sicherheit. Darin informierten sie, dass die Schulpflicht am nächsten Tag aufgehoben sei und die Eltern ihre Kinder zu Hause lassen können. Dass der Täter ein Einzeltäter war, sollte sich erst am nächsten Tag herausstellen. Zudem sagte Karl Nehammer dabei die Worte, die tags darauf in den sozialen Netzwerken eifrig geteilt und symbolhaft für die nächsten Tage wurden: »Wer einen angreift, greift uns alle an.« Die nächste Pressekonferenz hielt der Innenminister in den Morgenstunden.

Wenige Stunden davor, um null Uhr, war der Corona-Lockdown in Kraft getreten. Das interessierte aber niemanden. Dabei hatte die gesamte Medienberichterstattung in den Wochen davor fast ausnahmslos der Coronapandemie und dem neuerlich bevorstehenden Lockdown gegolten, der angesichts explodierender Infektionszahlen und der Überfüllung der Intensivstationen in den Spitälern angeordnet worden war. Die größte österreichische Tageszeitung, die Kronenzeitung, behandelte noch am Tag des Terrorakts die Pandemie auf der Titelseite. Auf den Seiten zwei und drei berichtete sie über Kontrollen und Strafen bei Corona-Lockdown-Verstößen, im Leitartikel ging es ebenfalls um den Corona-Lockdown. Die Berichte auf den Seiten vier und fünf drehten sich um die finanziellen Auswirkungen des Lockdowns und die Auslastung der Spitäler. Die Seite sechs behandelte Corona international, Seite sieben war ein Inserat. Auf den Seiten acht und neun ging es um Corona und Sport sowie um Corona im Zusammenhang mit Halloween. Die Seiten zehn und elf behandelten ebenfalls die Pandemie. Die ersten elf Seiten also waren nur Corona, Corona, Corona. Dabei war dieser Tag keine Ausnahme. So ging es auch die Tage davor und über Wochen lang. Und nicht nur die Kronenzeitung, sondern alle Medien des Landes berichteten über Wochen fast über nichts anderes als die Pandemie. Am 3. November, dem Tag des Inkrafttretens des Lockdowns, fand man auf den ersten Seiten der Kronenzeitung über Corona kein Wort. Erst ab Seite acht. Die sieben Seiten davor waren der Nacht gewidmet, in der der Terror nach Österreich gekommen war. Das zehn Minuten lange Interview, das Bundeskanzler Kurz zum Corona-Lockdown aufgezeichnet hatte, wurde nie ausgestrahlt.

Nur einen Tag davor war es vollkommen unvorstellbar gewesen, dass ein Thema je größer sein könnte als die explodierenden Coronazahlen und der bevorstehende Lockdown. Und das ist die Erkenntnis Nummer eins, wenn man in der Welt zwischen Politik, Wirtschaft und Medien tätig ist: Das Unvorstellbare ist möglich.

Wahrheit

Die relative Öffentlichkeit nach Albert Einstein

Im Schulbuch des Fachs »Geschichte und Sozialkunde« der österreichischen Gymnasien der 1980er-Jahre war ein Foto von Heinrich Schliemann abgebildet. Der deutsche Archäologe gilt bis heute als großer Entdecker der antiken, untergegangenen Stadt Troja. Die Story geht so: Schliemann sei mit der Ilias in der Hand durch Kleinasien gereist und habe durch die Hinweise aus dem Epos des griechischen Dichters Homer die Mauern der historischen Stadt Troja gefunden. Auf dem Hügel Hisarlik in der heutigen Türkei.

Das ist die objektive Wahrheit, wie sie in den Schul- und Geschichtsbüchern geschrieben steht. Für einen anderen ist diese Wahrheit allerdings nur relativ. Heute wissen nur wenige in archäologischen Fachkreisen, dass der schottische Archäologe Frank Calvert bereits vor Schliemann auf dem Hügel Hisarlik gegraben und die Mauern Trojas gefunden hatte. Schliemann stieß erst viel später mit seinen eigenen Grabungen dazu. Aber warum hat dann Schliemann die ganzen Lorbeeren abgeräumt? Er war schlau. Er packte die ausgegrabenen Artefakte zusammen und ließ zahlreiche Fotografien davon anfertigen. Diese wurden in Berlin und London unter seinem Namen veröffentlicht und verhalfen ihm somit zum internationalen Durchbruch. Die Berichte festigten seinen Ruf und Ruhm als erster Entdecker Trojas. Frank Calvert dagegen hatte keine Fotos gemacht, nichts veröffentlicht, folglich keine Publicity. Weshalb nicht er, sondern Heinrich Schliemann heute als Entdecker Trojas gewürdigt wird.

Solche Schicksale gibt es in der Geschichte einige. Ein weiteres Beispiel etwa ist die berühmte »erste Überquerung des Atlantiks per Flugzeug« durch Charles Lindbergh im Jahr 1929. Der Amerikaner gilt als der erste Pilot, dem dieses Meisterstück gelang. Wobei auch das relativ ist. Denn in Wahrheit hatte bereits neun Jahre davor der Brite John Alcock den Atlantik mit einem Flugzeug überquert. Allerdings mit einem Unterschied: Alcock hatte die Presse nicht über seinen historischen Flug informiert. Charles Lindbergh schon. Er ließ die New York Times an seinem Flugprojekt teilhaben. Und er schrieb ein Buch über diesen »ersten« Flug. Für dieses Werk wurde ihm der Pulitzerpreis verliehen. Er wurde zum »Mann des Jahres« am Cover des Time Magazine gekürt und sein Abenteuer wurde auch noch verfilmt, vom Ausnahmeregisseur Billy Wilder mit Hollywoodstar und Oscarpreisträger James Stewart in der Hauptrolle. Gegen so viel Publicity war John Alcock, der eigentliche erste Pilot, der den Atlantik überquerte, chancenlos.

Wozu wirklich gute Publicity in der Lage ist, zeigt eine Zahl, die nur der einschlägig informierten Fachwelt von Fluginteressierten bekannt ist: Lindbergh war nicht nur nicht der erste Pilot, der den Atlantik überquerte, er war auch nicht der zweite. Er war der 67.

Darüber, wie die Öffentlichkeit funktioniert, gibt es eine Vielzahl an Theorien – in der Publizistik und Kommunikationswissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft und Philosophie. Es gibt aber eine Theorie, die im Gegensatz zu allen anderen den entscheidenden Vorteil hat, naturwissenschaftlich nachgewiesen zu sein. Nämlich die Relativitätstheorie von Albert Einstein. Ihr zufolge ist die Raumzeit abhängig vom Bewegungszustand eines Körpers. Auf Medien bezogen könnte man also sagen: Ob das, was die Medien schreiben, stimmt, ist relativ. Die Beispiele von Schliemann und Lindbergh – oder besser gesagt von Frank Calvert und John Alcock – illustrieren, was mit der Relativität der Öffentlichkeit gemeint ist.

Allerdings ist eines klar: In der breiten Öffentlichkeit zählt nur die objektive Wahrheit. Objektiv wahr ist, dass Charles Lindbergh als Erster den Atlantik überflog. Objektiv wahr ist, dass Heinrich Schliemann Troja entdeckte. Oder verkürzt gesagt: Wahr ist das, was in der Zeitung steht. Wenn man also möchte, dass die eigene subjektive Wahrheit zur objektiven Wahrheit für alle wird, sollte man dafür sorgen, dass die eigene Wahrheit auch in der Zeitung steht. Und genau darum geht es bei Public Relations: um den Kampf der subjektiven Wahrheiten um einen Platz in der Objektivität. Das ist die Erkenntnis Nummer zwei.

Wirkung

Am Anfang war der Speck – und davor Sunzi

Der Ursprung von Public Relations hat mit Sigmund Freud zu tun. Der Erste, der Public Relations zur Profession machte, soll nämlich Edward Bernays gewesen sein. Seine Mutter war die Schwester von Sigmund Freud, sein Vater der Bruder von Freuds Ehefrau. 1892 zog die Familie von Wien nach New York City. Im Ersten Weltkrieg arbeitete Bernays für das staatliche Komitee für öffentliche Information in den USA, wo er sich intensiv mit den Wirkungen der neuen Massenmedien – neben den Zeitungen kamen auch Radio und Film auf – auseinandersetzte. Dort lernte er, wie stark Medien die Masse beeinflussen können, etwa die amerikanische Öffentlichkeit davon überzeugen, in einen Krieg in Europa einzutreten. »Als ich aus dem Krieg zurückkam, wurde mir klar, dass Ideen ebenso wichtige Waffen sein können«, sagte er sechzig Jahre später in seinen Erinnerungen. 1922 heiratete Bernays Doris Fleischmann, eine Frauenrechtlerin, die aktiv in der Suffragettenbewegung war. Gemeinsam starteten Bernays und seine Ehefrau in den 1920er-Jahren eine Karriere zwischen Massenmedien und Wirtschaft und nannten sich dabei »Public Relations Counsel«. Sie begannen, Dienstleistungen anzubieten, die erst später als professionelle Werbe- und Public-Relations-Beratung bekannt werden sollten. Ihre Kunden waren große Unternehmen wie Lebensmittelkonzerne oder Tabakhersteller. Dabei nutzten sie die Ideen und Techniken von Sigmund Freud, um die Öffentlichkeit von Produkten und Marken zu überzeugen. Bernays soll mit seinem Onkel in Wien eine ständige Korrespondenz gepflegt haben. Unter anderem soll er der amerikanischen Öffentlichkeit eingebläut haben, dass das einzig echte original amerikanische Frühstück Speck mit Eiern sei, was bis dahin überhaupt nicht der Fall gewesen war.

Einer von Bernays’ Kunden war die Beech-Nut Packing Company, die unter anderem Speck herstellte und verkaufte. Die Firma wollte den Absatz von Speck erhöhen und engagierte dafür Edward Bernays. Dieser recherchierte zunächst, welches Frühstück die Amerikaner am häufigsten zu sich nahmen. Das Ergebnis war: eine Tasse Kaffee, ein Glas Orangensaft und eine sogenannte »roll«, eine Art Semmel oder Brötchen. Sonst nichts. Bernays kontaktierte einen bekannten Arzt und ließ sich erklären, dass der menschliche Körper über Nacht Energie verliert und morgens daher einen Energieschub benötigt, etwa durch ein kräftiges Frühstück. Er fragte den Arzt, ob dieser 5.000 Kollegen aus der Medizin fragen könnte, ob sie seine These vom kräftigen Frühstück bestätigen würden. 4.500 Ärzte antworteten und unterstützten die Behauptung. Bernays versammelte daraufhin die Presse und präsentierte die 4.500 Antworten als eine Art »Studie«, der zufolge ein kräftiges Frühstück »wissenschaftlich empfohlen« werde. Am folgenden Tag druckten die Zeitungen auf ihren Titelseiten Headlines wie diese: »4,500 physicians urge heavy breakfast!«. Bernays platzierte parallel dazu Artikel mit der Botschaft, dass Eier mit Speck ein besonders kräftiges Frühstück seien. In der Folge stieg der Verkauf von Speck deutlich, auch der von Beech-Nut Packing. Noch heute werden siebzig Prozent allen Specks in den USA morgens verspeist. Eier mit Speck gelten bis heute als traditionell amerikanisches Frühstück und werden in allen gängigen Hotelketten des Westens als Standard angeboten.

Der Umgang mit der Öffentlichkeit ist wohl so alt wie die Menschheit. Einer der Ersten, der sich Gedanken zur eigenen Wirkung gemacht und uns diese schriftlich hinterlassen hat, war der chinesische General, Stratege und Philosoph Sunzi. Sein um 500 vor Christus entstandenes Buch Die Kunst des Krieges ist das früheste und bis heute eines der bedeutendsten Bücher zum Thema »Strategie«. Viele ostasiatische Konzernchefs wenden noch heute Sunzis Strategien an, wenn sie in der Karriere nach oben und mit dem Unternehmen expandieren wollen. Was das Werk so bedeutsam macht, ist, dass darin völlig neue Töne angeschlagen wurden. Während in Europa und Vorderasien Schlacht um Schlacht gefochten wurde, schrieb Sunzi Sätze wie »Das eigentliche Ziel des Krieges ist der Frieden«. Während bei den Griechen und Römern ganze Legionen von bis zu 60.000 Mann eingekesselt und zur Gänze abgeschlachtet wurden, formulierte Sunzi überraschend: »Wenn du einen Feind eingekreist hast, lass ihm einen Fluchtweg« oder »Behandle die Gefangenen würdig und sorge gut für sie«. Der General war überhaupt der Meinung, dass Krieg grundsätzlich vermieden werden sollte. Denn er würde Volk und Staat nur schaden. Sunzi zufolge ist »der beste Kämpfer der, der nicht kämpfen muss«. Er strich somit erstmals neben den archaischen Tugenden wie Kraft, Mut, Kühnheit und Kampfkunst auch die nicht körperlichen Eigenschaften hervor, wie die Fähigkeit, strategisch zu denken. Und er beschäftigte sich erstmals mit der Frage der Wirkung des eigenen Verhaltens. »Erscheine schwach, wenn du stark bist, und stark, wenn du schwach bist«, könnte noch heute als eine Regel der politisch-medialen Strategie durchgehen. Dabei wurde Sunzi damals schon richtig gefinkelt: »Wenn du etwas vorhast, tue, als ob du es nicht vorhättest. Wenn du etwas willst, tue, als ob du es nicht benutzen wolltest.« Oder noch raffinierter: »Wenn wir also angreifen können, müssen wir unfähig erscheinen. Wenn wir unsere Kräfte einsetzen, müssen wir untätig erscheinen. Wenn wir in der Nähe sind, müssen wir den Feind glauben lassen, dass wir weit weg sind. Wenn wir weit weg sind, müssen wir ihn glauben lassen, dass wir in der Nähe sind.« Zum ersten Mal schrieb mit Sunzi jemand über die Taktik des Understatements: »Gib Unterwürfigkeit vor, um die Arroganz des Gegners anzustacheln.« Dass Sunzi auch ein Philosoph war, zeigt eine seiner Empfehlungen, die heute als Top-Tipp in jedem Lebensratgeber stehen könnte: »Furcht ist der Name des Gegners, des einzigen Gegners.«

Auch im alten Rom wurden Strategien entwickelt, um die Öffentlichkeit zu beeinflussen, wie uns eine der ersten bekannten politischen Wahlkampagnen zeigt. 64 vor Christus kandidierte Marcus Cicero für das Amt des Konsuls, dem Anführer in der römischen Republik. Sein Bruder Quintus Cicero verfasste mit dem Commentariolum petitionis, der »kleinen Denkschrift zur Amtsbewerbung«, einen der ältesten erhaltenen Kampagnenpläne. Erstens ging es darin um den Gewinn der Unterstützung von »Freunden«, genauer gesagt das Erzeugen von Abhängigkeiten durch den Austausch von Leistungen, wodurch die »Freunde« Ciceros Bewerbung unterstützen würden. Zweitens zielte die Strategie auf das Wohlwollen der breiten Masse ab. Die Beziehung zu den Wählern sei geprägt durch die Förderung gemeinsamer Interessen, weshalb man ihnen die Umsetzung gemeinsamer Ziele versprechen sollte. Quintus riet seinem größeren Bruder, dabei stets »ehrlich und vertrauensvoll« zu wirken. Marcus hielt sich an den Rat und wurde zum Konsul gewählt.

Mit Öffentlichkeitsarbeit, ohne dass sie so hieß, setzte sich im 16. Jahrhundert der italienische Philosoph, Diplomat und Dichter Niccolò Machiavelli auseinander. Wollte ein Politiker erfolgreich sein, müsse er »die Kunst, den richtigen Schein zu erzeugen«, besitzen. In seinem Buch Der Fürst, einem der bekanntesten Werke der Weltliteratur zu den Themen »Macht« und »Strategie«, konstatiert Machiavelli: »Die Menschen urteilen im Allgemeinen nach dem Augenschein, nicht mit den Händen. Sehen nämlich kann jeder, verstehen können wenige. Jeder sieht, wie du dich gibst, wenige wissen, wie du bist. Und diese wenigen wagen es nicht, sich der Meinung der vielen entgegenzustellen.«

Der Umgang mit der Wirkung in der Öffentlichkeit begleitet uns Menschen also schon lange. Der Begriff »Public Relations« selbst wurde aber erstmals im Jahr 1882 an der Yale-Universität verwendet und hielt Einzug in den wissenschaftlichen Diskurs. Aber zur echten Profession, zu einem eigenen Dienstleistungszweig wurden die PR erst mit dem Aufkommen der Massenmedien an der Wende zum 20. Jahrhundert. Daher gilt Edward Bernays heute als Pionier oder »Vater« der PR. Die Rolle von Doris Bernays soll bei alldem eine tragende gewesen sein. So soll sie alle Texte, Reden und Rundschreiben verfasst haben, blieb aber stets im Hintergrund. Besonders spannend wäre natürlich nun, zu wissen, welche konkreten Techniken des Onkels Sigmund Freud Bernays tatsächlich benutzte, doch das ist bedauerlicherweise nicht überliefert.

Was aber sagt uns die Geschichte vom Speck? Sie zeigt, dass Public Relations nicht nur die Berichte in den Medien, sondern die realen Geschehnisse auf der Welt beeinflussen können, und sei es nur das Frühstück. Das ist die Erkenntnis Nummer drei.

Bildung

Mona Lisa, Marlon Brando und der Islamische Staat

Es gibt wohl niemanden, der die Mona Lisa nicht kennt. Sie ist das berühmteste Gemälde der Welt. Aber das war nicht immer so. Bis ins Jahr 1911 war die Mona Lisa eines von vielen Werken eines zweifellos bekannten Künstlers der Renaissance. Allerdings kaum mehr bekannt als die anderen Gemälde aus dieser Zeit. Warum aber ist die Mona Lisa heute so berühmt?

Im Jahr 1904 begann als erste Zeitung der Welt der britische Daily Mirror damit, Fotos zwischen den Artikeln zu platzieren. Die New York Times begann erst 1922 damit. Mitten in diese Phase des technischen Wandels krachte im Jahr 1911 die Schlagzeile, dass aus dem weltberühmten Louvre ein wertvolles Ölgemälde gestohlen wurde: da Vincis Mona Lisa. In den Tagen darauf war ein Foto des Gemäldes auf fast allen Titelseiten der Welt zu sehen, auf der Titelseite der Kronenzeitung sogar ganzseitig. So spektakulär der Raub war, es kam noch spektakulärer. Im Jahr 1913 wurde die gestohlene Mona Lisa wiedergefunden. Die Sensation war perfekt. Ein zweites Mal zierte das Gemälde die Titelseiten quer über den Globus.

Es waren diese sensationellen Nachrichten und vor allem die Abbildung des Gemäldes, die ihm zu seiner heutigen Berühmtheit verholfen haben. Ähnlich erging es dem bis dahin kaum bekannten Salzfass Saliera aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien, das erst zu Weltruhm kam, nachdem es gestohlen worden war. Bilder können aber noch viel mehr prägen, nämlich Kultur.

1947 fand in der kalifornischen Kleinstadt Hollister ein Treffen von Motorradfahrern statt. Zahlreiche Veteranen des Zweiten Weltkriegs hatten sich zu Motorradklubs zusammengetan. Vor wenigen Jahren waren sie von den Kriegsschauplätzen in Europa und Ostasien zurückgekehrt und fanden keinen Anschluss mehr, litten unter psychischen Folgen und taten sich mit Kameraden zusammen, denen es ähnlich erging. Dabei trugen sie oft Teile ihrer militärischen Ausrüstung – Helme, Gürtel, Tarnjacken und Stiefel. In Hollister trafen sich mehrere solcher Klubs, etwa die Boozefighters oder die Pissed Off Bastards. An die 5.000 Menschen waren in die Stadt gekommen. Das Treffen wurde zu einem Saufgelage. Am 4. Juli versuchte die Polizei, die ausartende Party zu beruhigen, wodurch die Situation eskalierte. Die Beamten mussten mit Schlagstöcken und Tränengas vorgehen, sechzig Personen wurden verhaftet, eine Handvoll wurde schwer verletzt.

Der Tumult war nach heutigem Wissen jedoch um vieles harmloser als zahlreiche Ausschreitungen davor und danach. Aber die Berichterstattung der Medien sollte dafür sorgen, dass das – maßlos übertrieben dargestellte – Ereignis über die Stadt hinaus im ganzen Land bekannt wurde. Der Fotograf Barney Peterson schoss ein Foto von einem betrunkenen Kriegsveteranen, der inmitten von Glasscherben auf einer Harley-Davidson saß und Bier trank. Er verkaufte das Foto an die Newsagentur Associated Press, die das Bild national bekannt machte. Schon 1947 gab es Berichte, dass das Bild gestellt war. 1997 sagte ein Augenzeuge von damals, dass der Fotograf den Mann zu der entsprechenden Pose auf dem Bike überredet hatte. Doch das Foto brannte sich in das kollektive Gedächtnis Amerikas ein und begründete den Mythos der »Rocker«. Einige Jahre später wurden in dem weltweiten Hollywood-Filmerfolg Der Wilde mit Marlon Brando die Tage in Hollister nachempfunden und das Bild der Rocker wurde zur US-Kultur.

Bilder können auch den Lauf der Geschichte bestimmen. Am 21. März 2020 wurde das Militär in die norditalienische Stadt Bergamo berufen, um beim Abtransport der Leichname der an Corona verstorbenen Menschen zu helfen, weil die örtlichen Friedhöfe und Krematorien überlastet waren. Die Bilder der mit Särgen voll beladenen Lastwägen gingen um die Welt – und versetzten diese in Angst und Schrecken. Dieses massenmediale Ereignis führte dazu, dass Länder wie Österreich, Deutschland, Dänemark, Neuseeland, Israel und viele mehr zu drastischen Maßnahmen griffen. Ohne diese Bilder hätten viele Länder das nicht getan. Welche Folgen das gehabt hätte, ist reine Spekulation, jedoch ist davon auszugehen, dass das Virus womöglich unterschätzt und viele Gesundheitssysteme überlastet worden wären.

Das Bild des »Napalm-Mädchens« Kim Phúc, das weinend und nackt vor einer Kriegsszene läuft, soll das Ende des Vietnamkriegs eingeläutet haben. Die Fotos vom Zerschneiden des Eisernen Vorhangs an der österreichischungarischen Grenze im Juni 1989 sollen den Zerfall der DDR und des gesamten Ostblocks ausgelöst oder zumindest beschleunigt haben. Und die Schnappschüsse des US-Armee-Sergeant Ivan Frederick mit Demütigungen von Gefängnisinsassen in Abu Ghraib das Ende des Kriegs im Irak. Bilder – manchmal gestellt, manchmal nicht – von den Brennpunkten der Welt prägen die Geschicke und Kultur unserer Gesellschaft.

Im Jahr 2014 versuchte ich, ein solches historisches Bild herzustellen. Am Höhepunkt der ersten Ukraine-Krise fand in Wien eine Konferenz mit rund dreißig Außenministern Europas statt, darunter die Minister von Russland und der Ukraine, Sergei Lawrow und Andrij Deschtschyzja. Russland hatte die Krim völkerrechtswidrig annektiert, die Spannungen zwischen der NATO und Russland waren am Kochen. Beim »Familienfoto«, also dem Gruppenbild aller dreißig Politiker, tauschte ich vorab heimlich die Namenspickerln aus, mit denen die Stellen auf dem Boden markiert sind, wo welcher Politiker stehen soll. Ich klebte sie so, dass entgegen dem vorgesehenen Protokoll die Minister Russlands und der Ukraine direkt nebeneinander in der ersten Reihe stehen würden. Der russische Minister wollte dem Foto aber entgehen und brach verfrüht zur Abreise auf. Beim Eingang fingen wir ihn ab und sagten, dass doch in wenigen Minuten das Familienfoto gemacht werden würde, und führten ihn in den Saal, wo die Kameras bereits aufgebaut waren und die anderen Minister inzwischen eintrafen. Beide Minister waren verdutzt, da sie einen anderen Stehplatz vermutet hatten, positionierten sich aber entsprechend den Klebestreifen mit ihren Namen. Die Medien riefen »Hand-shake! Handshake!« und forderten die beiden auf, sich die Hand zu reichen, was eine Geste des Dialogs und ein Symbol des Bemühens um Frieden gewesen wäre. Doch Lawrow blickte zu mir herüber und sagte: »I don’t like theater.« Der Handshake kam nicht zustande. Und damit auch kein historisches Bild.

Bilder können auch bewusst eingesetzt werden. Der Dschihadismus des IS, der so viele junge Menschen in seinen Bann zog, fußte auf einer groß angelegten Medienkampagne, die aus zwei Phasen bestand. Im Sommer 2014 kam es zur Bodenoffensive Israels im palästinensischen Gazastreifen, weil von dort aus immer wieder Raketen auf israelische Siedlungen abgefeuert wurden. Die sozialen Medien wurden förmlich geflutet mit fürchterlichen, herzzerreißenden Fotos getöteter Kinder und ihrer weinenden Väter und Mütter. Die Fotos sollten angeblich aus dem Gazastreifen stammen. Nachweislich war das nicht der Fall. Es handelte sich stattdessen um Bilder aus dem Bürgerkrieg in Syrien, die bewusst falsch dargestellt wurden, um die Wut auf Israel und »den Westen« allgemein anzuheizen.

Von Mitte Juli bis Mitte August 2014 wurden unter dem Hashtag #Gazaunderattack 6,5 Millionen. Tweets abgesetzt. Eines der dabei am häufigsten geposteten Fotos, das besonders herzzerreißend war, zeigte eine Szene im Hadath Media Center in Aleppo in Syrien. Fast alle der in der Kampagne verwendeten Fotos stammten aus einer ursprünglich schon 2011 gelaufenen Netzwerkkampagne in Syrien.

In Phase zwei wurden junge Menschen in Europa, bei denen der Hass auf fruchtbaren Boden gefallen war, für den Dschihad begeistert. Dabei organisierte der Islamische Staat eine Kampagne, die auf junge, sich ohnmächtig und unverstanden fühlende Menschen eine besondere Faszination ausübte. Sie zielte auf die idyllische Vorstellung eines edlen, heldenhaften Endkriegs ab, dargestellt in reduzierter Einfachheit: Wir gegen das Böse, in Tagesabläufen, mit einfachen Regeln des Zusammenlebens, wo jeder Krieger in der Schlacht zum Helden wird und nach gefochtener Schlacht eine Braut abbekommt.

Für seine Kampagnen nutzte der IS bewusst die Ästhetik Hollywoods und die Techniken der westlichen Welt, um die im Westen sozialisierten muslimischen Jugendlichen zu erreichen. Er gab ein Online-Hochglanzmagazin heraus und gründete sogar eine eigene Nachrichtenagentur.

Damit nähern wir uns der Erkenntnis Nummer vier. Wir alle sind förmlich wie eine biologische Festplatte, auf der täglich Bilddateien abgespeichert werden. Wer an unsere Festplatte heranwill, muss das über Bilder tun. Erkenntnis Nummer vier: Das passiert – gerade jetzt und jeden Tag.

Unterhaltung

Die Schuld des Säbelzahntigers

Jack Lemmon und Walter Matthau gelten als kongeniales Duo des satirischen Hollywood, wie etwa in der köstlichen Satire Extrablatt aus dem Jahr 1974. Jack Lemmon gibt einen Sensationsreporter einer Boulevardzeitung, Walter Matthau dessen Chefredakteur. Die Medienbranche wird bis in ihre Einzelteile aufs Korn genommen. Sinnbildlich dafür steht jene Szene, in der Jack Lemmon seinen Chef anruft und hektisch darüber informiert, dass er allein und exklusiv einen gesuchten, eigentlich unschuldigen Verbrecher gefunden hat. Der Reporter gibt durch: »Sie haben ihm in den Bauch geschossen!« Die Reaktion des Chefredakteurs: »Wundervoll!« Only bad news are good news.

Im Sommer 1999 arbeitete ich für ein österreichisches Printmedium. In diesem Sommer fand ein absolutes Jahrhundertereignis statt: eine vollständige Sonnenfinsternis über Österreich. Im Vorfeld hatte sich ein regelrechter Hype darum entwickelt. An jeder Ecke und als Beilage in den Zeitungen waren speziell verdunkelnde Brillen aus Pappe erhältlich, mit denen man das himmlische Schauspiel beobachten konnte. Die Medien warnten davor, nicht ohne diese Brillen in die Sonne zu schauen. Weil sich das Licht konzentrieren und damit verstärken würde, könnte dies zu erheblichen Augenverletzungen bis hin zu vorübergehender Blindheit führen. Unser Verlag hatte entschieden, am Tag nach der Sonnenfinsternis eine Sonderausgabe herauszubringen – mit dem Titel »Das war das Jahrhundert-Ereignis!«. Einige Redakteure, darunter ich, wurden eingeteilt, die Ausgabe zu erstellen. Als leitender Redakteur für die Sondernummer wurde einer der blutdurstigsten Chronikjournalisten, für die das Blatt berüchtigt war, auserkoren. In einer Redaktionssitzung am Tag der Finsternis wurde ausgemacht, welche Storys es geben und wer sich darum kümmern würde. Ich hatte die Idee für eine Reportage in einem Krankenhaus, um zu berichten, ob es denn Leute gab, die ohne Brille in die sich verdunkelnde Sonne gesehen und sich die Augen verletzt hatten. Die Idee wurde aufgenommen. Gleich nach dem tatsächlich beeindruckenden Jahrhundertereignis machte ich mich auf den Weg ins Spital. Als ich dort ankam, gab es tatsächlich eine ganze Reihe an Menschen, die nicht die Brille genutzt und sich die Augen verletzt hatten. Einige klagten über einfache Reizungen, manche sahen schlecht, einige hatten ernstere Verletzungen. Ich rief den Chefredakteur an und informierte ihn: »Es gibt hier viele Verletzte.« Seine Antwort: »Gott sei Dank!«

Wenn junge Journalisten als Volontäre in der Redaktion ausgebildet werden, lernen sie oft die Metapher vom »beißenden Mann« kennen. Die Schlagzeile »Hund beißt Mann« interessiert niemanden, weil es ja normal ist. Die Headline »Mann beißt Hund« ist aber sensationell, das gehört in die Zeitung.

Sensationell ist, was über die Normalität hinausgeht. Der Leser nutzt unbewusst, also automatisch, bestimmte Filter, sagt die Medientheorie. Er überblättert Artikel und bleibt nur hängen, wenn bestimmte Bedürfnisse oder Interessen angesprochen werden. Dann hört er mit dem Überblättern auf und liest diesen Teil, der sein Bedürfnis geweckt hat. Alles, was uns nicht anspricht, wird weggefiltert und weggescrollt.

Durch unsere evolutionäre Entwicklung reagieren wir ganz konkret auf Bedrohungen. Kommunikationsanthropologen und Neurowissenschaftler machen den Säbelzahntiger dafür verantwortlich, dass unsere Vorfahren auf schlechte Nachrichten konditioniert wurden. Die Information, dass sich ein Raubtier in der Nähe befand, war damals eine lebensnotwendige und somit begehrte Nachricht. Unser Steinzeithirn hat sich seit damals nur ein wenig vergrößert – bei manchen mehr, bei manchen augenscheinlich weniger. Jedenfalls ist es nach wie vor auf Bedrohungen programmiert. Findet sich in der Zeitung also eine Bedrohung, wollen wir darüber lesen. Daher funktionieren bei uns bedrohliche Nachrichten besser als andere.

Weil Medieneigentümer ihr Produkt verkaufen und möglichst viele Leser erreichen wollen, setzen sie auf dieses Relikt aus der Urzeit. Nur bedrohliche Nachrichten sind Nachrichten, die sich verkaufen. Durch Bedrohungen fühlen wir uns am besten unterhalten. Das ist die Erkenntnis Nummer fünf.

Die PR-Branche hat sich in den Jahrzehnten ihrer Existenz natürlich an dieses Prinzip angepasst. Das potenziert das Spiel mit der Bedrohung. Nicht nur, dass Medien schon aus ökonomischen Gründen gern über schlechte Nachrichten berichten, werden die schlechten Nachrichten von den PR-Beratern auch noch inszeniert. Je bedrohlicher eine Schlagzeile, desto mehr Leser für das Medium. Je mehr Leser, desto besser für den Kunden des PR-Beraters. Das hat dazu geführt, dass die Medien derart voll von schlechten Nachrichten sind.

Man muss allerdings hinzufügen, dass die Inszenierung der Bedrohung in den letzten Jahren von der Realität bedauerlicherweise eingeholt, zuletzt sogar überholt wurde. Finanzkrise, Migrationskrise, Pandemie und Krieg in Europa sind keine PR. Sie lassen die inszenierten schlechten Nachrichten von früher von heutiger Warte aus betrachtet geradezu lächerlich erscheinen.

Informationsvorsprung

Beilager, Reiter und Kilobit

Bevor rund 4.000 Jahre vor unserer Zeit die Indoeuropäer mit Pferden, Streitwägen, Eisenwaffen und ihrer patriarchalischen Familienstruktur nach Griechenland kamen, lebten dort die sogenannten Alteuropäer. Diese waren matriarchalisch oder zumindest matrilinear strukturiert. Das heißt unter anderem, dass nicht die Frau zur Familie des Mannes zog, sondern der Mann zur Familie der Frau. Oberhaupt der Familie war daher die Mutter. So war auch eine Frau die Oberste des Stammes, eine Königin, die von Priesterinnen beraten wurde, die man Nymphen nannte. Angebetet wurde die große Göttin. Ein Grund, warum die Frauen die Oberhand hatten, war laut dem Mythologen Robert Graves, dass sie den Männern deren wichtige Rolle für die Fortpflanzung vorenthielten. Sie erzählten den Männern, eine Schwangerschaft käme durch ein Bad in heiligen Quellen zustande. Die Herren der Schöpfung wussten also nicht um ihre wahre Bedeutung im Beilager und den Schatz, den sie unter den Lenden trugen. Einmal im Jahr wählten die Priesterinnen einen jungen Mann zum Prinzen für die Königin. Er erlebte im Kreis der Nymphen ein Jahr lang so ziemlich alles Schöne, was es damals eben so zum Erleben gab, und zeugte in Zeremonien mit der Königin Nachwuchs. Am Ende des Jahres wurde er der großen Göttin geopfert. Dabei trugen die Priesterinnen Masken von Stuten, Hündinnen und Säuen und verspeisten den Prinzen roh. Mit seinem Blut wurden die Äcker gesprengt, damit sie fruchtbar wurden. Und ein neuer Prinz wurde auserkoren. Für ein Jahr. Zwar ein sehr schönes Jahr, aber ob es das letztlich wert war, ist wie so vieles relativ. Wie dem auch sei, wichtig dabei ist jedenfalls ein entscheidender Punkt: Schon in der Vorzeit war Informationsvorsprung ein Mittel der Macht.

Um Vorsprung ging es auch in der Renaissance. Im Jahr 1450 brauchte ein laufender Kurier sieben Wochen von Wien nach Nürnberg, wie es in Geschichtsbüchern dokumentiert ist. Deutsche Handelsstädte wie Lübeck, Köln, Aachen und Regensburg unterhielten eigene Systeme laufender Kuriere. Sie bezahlten zahlreiche Läufer dafür, dass diese Notizen, Verträge und Neuigkeiten schnellstmöglich per Fuß von einer Stadt zur anderen brachten.