Die deutsche Frage - Wilhelm Röpke - E-Book

Die deutsche Frage E-Book

Wilhelm Röpke

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Beschreibung

Die deutsche Frage von Wilhelm Röpke ist das Buch eines Zeitzeugen. Das Buch erschien in dritter Auflage 1948. Das Buch handelt in seinem ersten Teil vom Dritten Reich und seinem Ende, im zweiten Teil von den historischen Wurzeln des Nationalsozialismus und in seinem dritten Teil von der Lösung der deutschen Frage. Die deutsche Frage ist ein Aufruf zu einer umfassenden moralischen, politischen und wirtschaftlichen Reform. Das Buch zeichnet sich durch eine sehr gute Analyse der Struktur totalitärer Herrschaft aus. Für Wilhelm Röpke muß das Prinzip, daß der Zentralstaat für die gesamte Gesellschaft zuständig ist, beseitigt und durch die kommunale Souveränität ersetzt werden. Dies erfordere die Auflösung des Zentralstaates, die Abschaffung der Monopole in Industrie, Bildung und Gesundheitswesen, die Wiederherstellung eines gesunden Geldes und den freien Handel mit der Welt.

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Seitenzahl: 522

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Wilhelm Röpke

Die deutsche Frage

Wilhelm Röpke (1899 – 1966)

Wilhelm Röpke

Die deutsche Frage

Die deutsche Frage ist das dunkelste, verwickelteste und umfassendste Problemder ganzen neueren Geschichte.

Constantin Frantz (1866)

Herausgegeben von Burkhard Sievert

„Sozialismus bedeutet, daß der demokratische Souverän ‚Markt‘ durch den autokratischen Souverän ‚Staat‘ ersetzt wird“, Wilhelm Röpke (2009):

Marktwirtschaft ist nicht genug – Gesammelte Aufsätze, S. 81.

Nachdruck der dritten veränderten und erweiterten Ausgabe

© 2025 Burkhard Sievert

© Originalausgabe: 31948, 1945 Eugen Rentsch Verlag

Umschlag: Idee und Umsetzung: Burkhard Sievert Deutsche Farbenlehre: Aus der Schwärze der Knechtschaft durch blutige Schlachten ans goldene Licht der Freiheit.

Grafik: Deutsche Verwaltungskarte, shutterstock © Rainer Lesniewski

Bildnachweis Wilhelm Röpke: picture-alliance / dpa | DB Ringier Bilderdienst

Druck und Distribution im Auftrag des Herausgebers:tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

SoftcoverISBN: 978-3-384-44728-9

HardcoverISBN: 978-3-384-44729-6

E-BookISBN: 978-3-384-44730-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Herausgeber verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Herausgebers, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 1. Auflage

Vorwort zur 3. Auflage

Die Tragödie eines großen Volkes

Erster Teil – Das dritte Reich und sein Ende

1.Die Deutschen und der Nationalsozialismus

Die Mitschuld der Welt

Der Nationalsozialismus als Totalitarismus

Die Besonderheiten des Nationalsozialismus

Die eherne Gesetzmäßigkeit des Totalitarismus

Die Greueltaten

2.Die deutsche Schuld

Gesamtschuld und Gruppenschuld

Die Intellektuellen

Geistiger Widerstand

Kollektivschuld?

Zweiter Teil – Die historischen Wurzeln

1.Vom deutschen Nationalcharakter

Schwierigkeiten

Der „ewige Deutsche“

Letzte Fragen

2.Die Pathologie der deutschen Geschichte

Irrtümer und Halbwahrheiten

Der deutsche Geschichtsstrom

Der Strom der geistigen Entwicklung und die deutsche Kollektivmoral

Der preußische Geschichtsstrom

3.Großpreußen von Bismarck zu Hitler

Die Vereinigung des deutschen und preußischen Geschichtsstromes

Die Transformation des Deutschen im Bismarckreich

Die letzten Stationen

Dritter Teil – Die Lösung

1.Was hätte getan werden sollen

Die dreifache Revolution

Aufgabe und Verantwortung der Sieger

2.Was bisher getan worden ist

Ein „harter“ Frieden

Die Lähmung der deutschen Wirtschaft

Wachsender Kommunismus

3.Was zu tun bleibt

Deutschland und der Marshall-Plan

Reform der Wirtschaft

Andere Reformen

Die politische Gestalt Deutschlands

Deutschland zwischen Ost und West

Gegen die Brandung – Über Wilhelm Röpke

Namensverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Vorwort zur 1. Auflage

So begreiflich es ist, wenn die Saat des Hasses, die die Deutschen unter ihrer nationalsozialistischen Führung gesät haben, nun aufschießt, so sehr muß es jedem Weiterblickenden klar sein, daß die Welt auf die Dauer nicht in dieser leidenschaftlichen Erregung verharren kann. Nachdem unser erster Zorn verraucht ist, werden wir uns, wenn jemals die Kette des Unheils abreißen soll, zu der ruhigen Frage entschließen müssen, wie es denn geschehen konnte, daß in einem großen Kulturvolke alle Kräfte des Bösen losbrachen, und welches nun die gerechte und vernünftige Behandlung der Deutschen ist. Die Beantwortung dieser Frage, die ihrem höchst verwickelten Charakter gerecht wird und die tiefen historischen und psychologischen Wurzeln des Nationalsozialismus bloßlegt, duldet keinen weiteren Aufschub.

Die Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen, ist mehr als eine bloße Frage des Nationalsozialismus. Es ist die deutsche Frage, die bereits Generationen beschäftigt hat und nun durch den Nationalsozialismus und seinen Zusammenbruch in ihrer letzten und schärfsten Form aufgeworfen worden ist. Es ist das Rätsel, zu dem die große Nation inmitten Europas mehr und mehr seit Bismarck geworden ist.

Wahrscheinlich wird sich keiner rühmen wollen, eine allseitig befriedigende Antwort zu wissen, und ganz sicherlich darf niemand behaupten, im alleinigen Besitze der richtigen Antwort zu sein. Die deutsche Frage hat sehr viele Seiten, von denen der eine diese, der andere jene schärfer erfaßt, während er die übrigen vielleicht unscharf oder falsch sieht. Jeder sollte bereit sein, seine Ansichten zu bereichern oder zu korrigieren, und jeder redliche und unterrichtete Beitrag verdient willkommen geheißen zu werden.

Vieles hängt von der Distanz ab, die man zum deutschen Problem einnimmt, und ich glaube, daß es eine gibt, die besonders günstig ist, diejenige zwischen der engsten und der weitesten. Die engste Distanz ist diejenige des seinem Volke angehörenden Deutschen selbst. Er wird, wenn er überhaupt zu einer einigermaßen objektiven Beurteilung fähig ist, vieles besser wissen als wir und manches unrichtige Urteil berichtigen können, aber sein Abstand ist zu gering, als daß er selbst beim besten Willen das Problem seines eigenen Volkes als ganzes überschauen könnte. Wer nur sein eigenes Land kennt, kennt auch dieses nicht eigentlich (Lichtenberg). Die weiteste Distanz ist auf der anderen Seite diejenige des Ausländers. Er erkennt mit scharfem Auge, was dem Deutschen entgeht, und er kann unbefangen das Problem von außen betrachten, aber er muß diesen Vorteil mit dem Nachteil erkaufen, daß ihm eine besonders wichtige Erkenntnisquelle fehlt: die Selbstbefragung. Zwischen beiden Betrachtungspunkten – nicht zu nah und nicht zu weit – befindet sich derjenige, der lange genug als Deutscher unter Deutschen gelebt hat, um die Vorteile des deutschen, und lange genug im Auslande, um die Vorteile des ausländischen Betrachters genießen zu können. Dafür muß er sich freilich hüten, einen von zwei Fehlern zu begehen: aus Heimweh nach den Wiesen und Wäldern seiner Jugend zum sentimentalen Anwalt von Menschen zu werden, denen er fremd geworden ist, oder zu einem Renegaten, der seine Herkunft durch wilden Haß verdecken möchte. Ich habe mein Bestes getan, aber ich weiß selbst gut genug, wie wenig das ist. Ich habe dem Vorbild des Arztes nachgestrebt, der mit wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit den Fall eines Kranken untersucht, ob er ihn nun sympathisch findet oder nicht. Vergessen wir nicht, daß es sich um einen Patienten handelt, der mit einer höchst ansteckenden Krankheit behaftet ist!

Genf, Ende Mai 1945 Wilhelm Röpke

Vorwort zur 3. Auflage

Es gibt Bücher, deren Zeitpunkt man sich nicht in aller Gemächlichkeit aussuchen kann. Sie müssen jetzt oder nie geschrieben werden. Wenn je ein Buch zu dieser Gattung gehört hat, so dieses. Im Wettlauf mit den sich überstürzenden Ereignissen mußte es im Frühjahr 1945 geschrieben werden, wenn es überhaupt noch dazu dienen sollte, an einer vernünftigen und menschlichen Lösung der Deutschen Frage mitzuwirken. Der Entschluß, unter Aufbietung der letzten Kräfte damals in wenigen Wochen ein solches Buch zum Abschluß zu bringen, selbst auf die Gefahr mancher Unvollkommenheit und mancher Notreife der Gedanken, hat gewiß immer mehr Anerkennung als Tadel verdient. Tatsächlich hat das Buch überall – in Deutschland wie außerhalb Deutschlands – einen Widerhall gefunden, der alle Erwartungen übertroffen hat. Neben einer Reihe von Übersetzungen, von denen die jetzt erscheinende amerikanische (The Solution of the German Problem, G. P. Putnam’s Sons, New York) die jüngste ist, hat jenes Echo nun dazu geführt, daß das Original in 3. Auflage erscheinen kann. Da es in der Natur eines solchen Buches liegt, in seinen aktuellen Teilen rasch zu veralten, hat sich nunmehr eine starke Umarbeitung und Ergänzung als notwendig erwiesen. Am meisten ist davon der von der „Lösung“ handelnde Schluß betroffen, der jetzt vollkommen neu geschrieben und in einen eigenen Dritten Teil umgewandelt wurde.

Mehr als zwei Jahre sind nun vergangen, seit ich die letzte Hand an die erste Auflage dieses Buches gelegt habe. Je mehr man über die Entwicklung dieser Jahre nachdenkt und je ernster man den heutigen Lauf der Welt betrachtet, um so weniger kann man zweifeln, daß wir es in Wahrheit mit einer Weltkrankheit zu tun haben. Auch nach dem Sturz des Nationalsozialismus wütet sie weiter, in anderer Form, unter anderen Namen und unter anderen Krankheitserscheinungen. Der Nationalsozialismus war die akuteste Form einer Krisis, die einstweilen noch immer weiter geht. Dies ist das Thema, das ich in meinen übrigen Büchern seit Jahren behandelt habe. Aber wie unbequem wird diese Wahrheit noch fast überall empfunden! Und wie wenige erst sind sich in der Welt der ungeheuren Gefahr bewußt, die sie bedroht, und wollen von der Verrohung, Barbarisierung, Verwilderung und inneren Auflösung nichts wissen!

Aber vielleicht sind es die Deutschen, die nur mit Zurückhaltung von dieser Weltkrankheit reden sollten, weil es ihnen nicht gut ansteht und weil sie daraus eine neue Theorie der Schuldverdrängung schmieden könnten. Meinen wir es gut mit ihnen, so sollten wir uns davor hüten, sie noch in dieser Neigung zu bestärken und sie damit zu trösten, daß es sich eigentlich um eine Weltkrankheit handelt. Ganz gewiß ist das der Fall. Aber daß sie in Deutschland nicht nur zuerst unter den hochentwickelten Ländern des Westens, sondern mit einem solchen Furor ausbrechen konnte, ist ja leider die Besonderheit dieses Landes, eben das, was die „Deutsche Frage“ ausmacht. Daß die Deutschen den Ausbruch der Krankheit in ihrer schlimmsten Form erlaubt haben, hat nun verhängnisvollerweise zur Folge gehabt, daß überall die Tür des Bösen erst ganz weit aufgestoßen worden ist. Sie haben ja die anderen erst so recht anfällig gemacht und es auch dahin gebracht, daß ruhig und rechtlich denkende Völker, die die Opfer des braunen Eroberungsrausches wurden, ihre Seele mit Haß vergiftet haben. Aber – wir wiederholen es – es wäre ein Weltunglück, wenn die übrigen Völker sich nicht um so rücksichtsloser von einer Wahrheit Rechenschaft geben würden, die die Deutschen nur mit Zurückhaltung aussprechen dürfen, wenn sie sich nicht selbst schaden oder mißverstanden werden wollen. Sie mögen sich fragen, ob nicht Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit noch weit schlimmer als die Selbstbemitleidung sind, die man den Deutschen nachsagt, und ob sie nicht sogar manches von den Deutschen lernen könnten, die die verlockenden Pfade des Bösen bereits kennen und warnend zeigen, wohin sie führen.

Genf, November 1947Wilhelm Röpke

Die Tragödie eines großen Volkes

Das Wort, das diesem Buche als Motto voransteht, ist von einem unbeugsamen und weit vorausschauenden Widersacher Bismarcks im Jahre 1866 geprägt worden. In diesem selben Schicksalsjahre der deutschen und der europäischen Geschichte schreibt Ludwig Bamberger, der hervorragende deutsche Liberale und Wirtschaftspolitiker, an seinen Freund von Stauffenberg nach einem Wiedersehen mit seinem alten Revolutionsgefährten Carl Schurz, dem späteren amerikanischen Bundessenator und Home Secretary: „An Schurz habe ich viel Freude gehabt. So könnten wir werden, wenn wir nicht in einer Hundehütte säßen.“1 Fast achtzig Jahre später spricht Roosevelt, der Präsident jenes Landes, dem Carl Schurz wie so viele andere der besten Deutschen nach 1848 unschätzbare Dienste geleistet hatte, von den Deutschen als der „tragic nation“.

In der Tat: niemand, der die tausendjährige Geschichte der Deutschen von Otto I. bis hinab zu Adolf Hitler studiert und nun in unseren Tagen ihrem physischen, politischen und moralischen Selbstmord beigewohnt hat, kann sich des Gefühls erwehren, einer Tragödie zu folgen, wie die Weltgeschichte nicht ihresgleichen hat, einer echten Tragödie, in der sich Schuld und Schicksal miteinander verketten. Andere Völker haben das Glück wie das Unglück erfahren, aber wann wäre den Deutschen in ihrer politischen Geschichte etwas Echtes und Dauerhaftes geglückt? Temperament, geographische Lage und geschichtliches Erbe haben es ihnen bereits schwer genug gemacht, aber es scheint, als hätten sich obendrein alle nur denkbaren Umstände verbündet, um immer wieder, wenn die Deutschen endlich zu gesunden und ausgeglichenen Verhältnissen zu kommen schienen, die schon greifbare Aussicht zunichte zu machen, sei es auch ein so tückischer Zufall wie der Kehlkopfkrebs Friedrichs III. oder der verhängnisvolle Umbau des Reichspräsidentenpalais im Sommer 1932, der den Präsidenten Hindenburg nach Ostpreußen unter den unmittelbaren Einfluß der vom Osthilfeskandal bedrohten Junker brachte und ihn so auf Hitler vorbereitete.

Wieviel Geist und Kraft ist nicht von dem Zentrallande unseres Kontinents in diesen tausend Jahren ausgegangen! Wieviel Begabung, wieviel redliches, ja verzweifeltes Streben, das Schicksal zu meistern! Und immer wieder haben die Deutschen verloren, so sehr, daß man die ganze Geschichte Deutschlands bis zum Jahre 1866 – dem Jahre, in dem Deutschland aufhört und einem Großpreußen Platz macht – als eine einzige Geschichte der Durchkreuzungen bezeichnen kann. Nirgends liegt der Gedanke näher als auf Schweizer Boden, wie eng beieinander hier im Raume die beiden entgegengesetzten Beispiele einer gelungenen und einer in tausend Jahren nicht gelungenen Föderierung liegen: der Schweiz auf der einen und Deutschlands auf der anderen Seite, zweier Länder, die sich fast wie zwei Versuchstiere des biologischen Experiments zueinander verhalten, von denen das eine bestimmte Vitamine erhalten hat, das andere nicht.2 Die Frage drängt sich aber auch auf, ob nicht die Gefahr besteht, daß die letzten Folgen des deutschen Fiaskos schließlich auf das Gelingen einer einigermaßen gesunden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Struktur in anderen Ländern in sehr ungünstiger Weise zurückwirken könnten. Was damit gemeint ist, wird uns noch beschäftigen.

Halten wir fest, daß die Deutschen, die heute zum odium generis humani geworden sind, ein Volk sind, dem das Schicksal übler mitgespielt hat als irgendeinem anderen – das Schicksal und eigenes Versagen. Was aber das Schlimmste ist: diese einzigartige Geschichte hat – vor allem in ihren verhängnisvollsten letzten hundert Jahren – tiefe Spuren im deutschen Charakter zurückgelassen und die Deutschen zu einem der problematischsten, kompliziertesten und schließlich bestgehaßten Völker gemacht. So haben sie zu allem Schaden auch die Abneigung der anderen zu tragen, was ihre Lage noch weiter verschlimmert. Daß sie darin wie in so vielem anderen einem anderen tragischen Volke der Weltgeschichte, nämlich den Juden, auffallend ähneln, ist von scharfen Beobachtern immer wieder bemerkt worden und wahrscheinlich die letzte Ursache des ganz besonderen Verhältnisses zwischen den Deutschen und den Juden, das bald in Haß und bald in Zuneigung aus dem Rahmen des sonst Gewohnten herausfällt. Da wir das überaus komplizierte Verhältnis zwischen den Deutschen und den Juden nun einmal berührt haben, so sei doch auch daran erinnert, daß jener gewalttätige Antisemitismus, wie er von jeher in Ländern Ost- und Südosteuropas fast endemisch war, in Deutschland während des ganzen 19. und des frühen 20. Jahrhunderts praktisch unbekannt gewesen ist. Wir wissen, daß sich die Juden damals in Deutschland besonders heimisch gefühlt haben, und wer ein lebendiges Bild von der Lage der deutschen Juden und ihren außerordentlichen Aufstiegsmöglichkeiten gewinnen will, der wird mit Nutzen und Genuß die „Erinnerungen“ von Ludwig Bamberger (Berlin 1899) lesen. Auch das so freundliche und warme Licht, in das deutsche Schriftsteller des 19. Jahrhunderts wie Fritz Reuter in „Ut mine Stromtid“ oder Wilhelm Raabe in „Höxter und Corvey“ die jüdischen Gestalten ihrer Romane gestellt haben, ist gewiß nicht ohne Bedeutung, wie leider auch umgekehrt der tendenziöse Antisemitismus, mit dem dann der beliebteste Romandichter der Bismarckzeit, Gustav Freytag, den Juden in „Soll und Haben“ gezeichnet hat. Aber auch daran ist zu erinnern, daß einige der besten Freunde Kaiser Wilhelms II. Juden waren und daß noch während des ersten Weltkrieges in den alliierten Ländern immer wieder der Versuch gemacht worden ist, die unsympathischen Züge Deutschlands nicht nur aus einer „Verpreußung“, sondern auch aus einer „Verjudung“ abzuleiten. Noch Max Scheler hat sich in seinem Buche „Die Ursachen des Deutschenhasses“ (Leipzig 1917, S. 114) mit diesem Vorwurf auseinandersetzen müssen.3

Es handelt sich hier wahrhaftig nicht darum, geschwind um Mitleid zu werben, und noch weniger um irgendeinen absurden Versuch, das Welturteil über die unsäglichen Figuren und Ideologien, die Deutschland in den tiefsten Abgrund seiner Geschichte gerissen und dabei über unseren Kontinent entsetzliches Elend gebracht haben, auch nur im allergeringsten korrigieren zu wollen. Wohl aber handelt es sich um eines der führenden Länder des Abendlandes, das der Menschheit einige ihrer größten Geister geschenkt hat, um ein fleißiges, zuverlässiges, begabtes und mit einigen anderen Tugenden ausgestattetes Volk, dessen Kultur schließlich im gleichen Erdreich wie die der übrigen europäischen Völker wurzelt, dessen Sprache auch die unsrige ist und von dessen Angehörigen wir viele achten und einzelne lieben. Zugleich aber handelt es sich um ein Volk, mit dessen einst so klangreichem Namen sich heute Greuel verknüpfen, die die Höllenvisionen eines Breughel in schauerliche Wirklichkeit verwandeln.

Wie in aller Welt hat dieses Volk so enden können? Und wie kann es wiedergesunden und den Weg zu sich selbst und zur abendländischen Gemeinschaft zurückfinden? Wie sollen wir uns selbst, die wir uns außerhalb Deutschlands befinden, zu diesem Volke nach seinem fürchterlichen Falle verhalten, wir, die wir noch vor kurzem vor seinen Führern zitterten und mit grenzenlosem Zorn das Schlimmste über uns und andere ergehen lassen mußten, was Menschen nur ersinnen können? Das sind die Fragen, auf die wir eine befriedigende Antwort finden müssen, so schwer sie auch sein mag. Sie quälen uns in einer Weise, daß wir mit Heinrich Heine sagen können:

Denk’ ich an Deutschland in der Nacht,

Dann bin ich um den Schlaf gebracht.

Dieses Deutschlandproblem, wie wir es kurz nennen wollen, kann nicht nur an Schwierigkeit, sondern auch an Bedeutung kaum durch ein anderes unserer Zeit übertroffen werden. Ob wir wollen oder nicht: die Zukunft Europas hängt davon ab, daß es endlich nach diesem Kriege gelingt, das zu erreichen, was drei Generationen bisher verfehlt haben, nämlich Deutschland wieder in Europa einzugliedern und so auf diesem organischen Wege der friedlichen Integration Europa gegen Deutschland wie Deutschland gegen sich selbst zu schützen. Wir wissen, daß Europa mit einem kranken Deutschland in seiner Mitte dem endgültigen Ruin ausgeliefert ist, und niemand kann sich darüber täuschen, daß Europa Deutschland nicht entbehren kann, wenn es sich heute in der Welt behaupten soll.

Indessen hat das Studium des Deutschlandproblems, sofern wir es in einem weiten historischen und soziologischen Sinne fassen, noch eine andere und kaum geringere Bedeutung. Erst dann nämlich, wenn man die so verhängnisvolle Entwicklung Deutschlands seit 1866 begriffen hat, dringt man zu einem vollen Verständnis vieler allgemeiner Verfallserscheinungen im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und geistigen Leben des Abendlandes vor. Erst dann weiß man die gefährlichen Strömungen voll zu deuten, die fast überall entweder unmittelbar dem deutschen Einfluß zu verdanken oder aber unter Bedingungen entstanden sind, die den deutschen ähneln. Das Deutschlandproblem erforschen heißt: die Gesellschafts- und Kulturkrisis der Gegenwart an dem Einzelfalle eines Volkes studieren, das ihr wie kaum ein anderes zum Opfer gefallen und zu einem der schlimmsten Ansteckungsherde der Völker geworden ist. Es heißt ein grelles Warnungszeichen für alle aufstellen, aber wir müßten verzweifeln, wenn wir es ohne jede Hoffnung tun würden, Hoffnung für Deutschland wie für die übrige Welt.

Erster Teil – Das dritte Reich und sein Ende

Für despotisch beherrschte Staaten istkeine Rettung als in dem Untergang.

Friedrich Schiller, Über Völkerwanderung, Kreuzzüge und Mittelalter

1. Die Deutschen und der Nationalsozialismus

Die Mitschuld der Welt

Mit Entsetzen, Abscheu, Verachtung und Empörung wendet sich das, was sich heute noch die zivilisierte Welt nennen kann, von diesem Regime, das dem tiefsten Schlamme der Menschenseele entstiegen war und mit seiner Mischung von äußerster Brutalität, Sentimentalität, Lüge und kalter Berechnung eine der widerlichsten Tyranneien aller Zeiten aufgerichtet hatte. Inwieweit sind die Deutschen in ihrer Gesamtheit dafür verantwortlich? Oder bedeutet der Nationalsozialismus nichts anderes als die Quintessenz alles Bösen und Gefährlichen, das von jeher im deutschen Volke schlummerte?

Das ist die erste Frage, die wir uns stellen müssen. Indessen betreten wir damit ein Gebiet, das so sehr von Leidenschaften, Verdächtigungen und Mißverständnissen überwuchert ist, daß dem Verfasser nichts anderes übrig bleibt, als mit einigen persönlichen Bemerkungen zu beginnen. Er ist selbst Deutscher und zwar Hannoveraner, und er bekennt, daß die Nationalsozialisten der große und unauslöschliche Haß seines Lebens gewesen sind. Schon vor fünfzehn Jahren hat er sozusagen den Krieg gegen sie begonnen, und er hat ihn seitdem unter Einsatz seines Lebens, seiner Gesundheit und seiner Existenz geführt. Sie haben sein Heimatland vernichtet, entehrt, in den Kot gezogen und mit dem Schleim ihrer Lügen bedeckt, und sie haben unsere gesamte abendländische Kultur dahin gebracht, daß wir noch nicht wissen, ob sie wiedergenesen wird. Sie haben, als alles schon verloren war, mit eisernem Griff an der Kehle des deutschen Volkes den Krieg sinnlos fortgesetzt, um ihr eigenes elendes Leben noch um einige Wochen oder Monate zu verlängern, und dadurch Zerstörung und Chaos ins Unendliche gesteigert. Sie haben Millionen wie Vieh geschlachtet und andere Millionen um ihr Liebstes und Teuerstes gebracht. Ihre Dummheit wurde nur noch von ihrer Bosheit übertroffen, ihr Geschwätz nur von ihrer Unwissenheit und ihr offener Übermut nur von ihrer geheimen Angst. Und noch immer ist das Ende des Unheils nicht abzusehen, das sie angerichtet haben, nachdem sie das Tor des Bösen in der Welt weit auf gestoßen und den zerstörenden Kräften des Nihilismus und Totalitarismus freie Bahn gegeben haben.

Und all dies konnte man klar voraussehen, lange bevor der Nationalsozialismus begann, sein Gesicht vor der Welt zu enthüllen – sofern man sich die Mühe nahm, auf die Worte und Taten der Nationalsozialisten achtzugeben, und sofern man noch moralisches Gefühl genug besaß, darauf mit der Empörung eines zivilisierten Menschen zu reagieren. Wer Ohren hatte zu hören und Augen zu sehen, mußte wissen, was er von diesen Menschen zu erwarten hatte, die nach der Macht gierten. Er brauchte sich nur diese Gesichter anzuschauen, auf denen sich die „entschlossene Dummheit“ abzeichnete, nur ihre Reden zu hören, ihre Schriften zu lesen und die Taten zur Kenntnis zu nehmen, mit denen sie schon vor 1933 eine hilflos gewordene Nation in Schrecken setzten. Es war ein Gemisch von dampfenden Gefühlen und ungezügeltem Tatendurst indianerspielender Knaben, von Zynismus, Opportunismus, Brutalität, Verlogenheit, von Haß, Neid, Ehrgeiz, Treulosigkeit und Intrige, von geiler Sexualität. Es war eine Barbarei, die nicht Unreife, sondern Fäulnis war und noch zu alledem die widerliche Fratze des Anstudierten und pseudowissenschaftlich Formulierten trug. Es war ein hysterischer Rausch verantwortungsloser und dekadenter Intellektueller, die die Massen mit ihren Phrasen aufpeitschten und ihnen den Kopf mit einer Sprache verdrehten, die einst von einem Lessing, Goethe und Schopenhauer gehandhabt worden war.

Bei alledem gab es viel von dem, was man „ehrlichen Idealismus“ nennt, Gefolgschaft von solchen, denen zwar schon der Kopf, aber noch nicht das Herz verwirrt war. Gewiß waren sie unbegreiflich, aber man konnte ihnen so lange mildernde Umstände zubilligen, als das Verhalten der Nationalsozialisten geeignet war, Harmlosere zu täuschen. Schließlich kam der Augenblick, da es auch hierfür keine Entschuldigung mehr gab. Die letzte Gelegenheit für jeden Verirrten, den Weg zur Zivilisation zurückzufinden, bot sich im August 1932, als Hitler die Schamlosigkeit so weit trieb, SA-Männern, die in Oberschlesien (Potempa) politische Gegner in viehischer Weise ermordet hatten und dafür zum Tode verurteilt worden waren, ein aufmunterndes Sympathietelegramm zu senden. Alle, die auch nach diesem Akt, der damals eine Welle der Empörung in Deutschland auslöste, noch zu der Partei eines solchen Mannes hielten oder kein Bedenken hatten, ihn zum Reichskanzler zu machen, haben sich damit ihr Urteil gesprochen. Zum mindesten sollte für sie in Zukunft im öffentlichen Leben ihrer Nation kein Platz mehr sein.

Mit den Ausländern mußte man etwas länger Nachsicht haben. Obwohl sie die Möglichkeit hatten, sich über alles zu unterrichten, was jedem Deutschen bekannt sein mußte, fehlte ihnen doch bis zum Beginn des Dritten Reiches im Durchschnitt die unmittelbare erschütternde Anschauung. Noch weniger als die Deutschen selbst nahmen sie sich die Mühe, die durch ihren Inhalt wie ihre kulturlose Sprache gleich enthüllende Propagandaschrift Hitlers zu lesen. Standen sie gar der deutschen Sprache fern, so konnte ihnen eine französische oder englische Übersetzung beinahe die Illusion verschaffen, als sei dieses Dokument ein ernst zu nehmendes literarisches Erzeugnis und nicht eine unbeholfene Stilübung, die sich einen billigen „Liebesbriefsteller“ zum Muster genommen zu haben schien.

Nachdem aber die Nationalsozialisten sich die Macht erschlichen und sie so zu gebrauchen begonnen hatten, wie jeder aufmerksame Beobachter es von ihnen erwarten mußte, liefen auch für das Ausland schnell die Fristen ab, innerhalb deren es auf Nachsicht rechnen durfte. Schon nach wenigen Wochen oder Monaten mußte es ja wissen, mit welcher Macht des Bösen es hier zu tun hatte, da sich die Konzentrationslager füllten und Gewaltakt sich an Gewaltakt, Rechtsbruch sich an Rechtsbruch, Lüge sich an Lüge reihte. Und nun ermesse man die Qualen, welche wir, die wir unser Land mit Abscheu und in Voraussicht alles Kommenden verlassen hatten, sechs lange Jahre erleiden mußten, da wir sahen, daß die Welt sich nicht rührte, daß sie nicht wissen wollte! Gewiß hatte man Sympathie mit uns Emigranten, aber als politische Ratgeber waren wir suspekt. Wenn man auch unsere Beweggründe ehrte, so gab man uns doch zu verstehen, daß wir als Emigranten eigentlich nicht ganz zurechnungsfähig seien, wenn man uns nicht gar offen als Störenfriede, Unruhestifter oder Kriegstreiber bezeichnete. Noch im Oktober 1938, als die Politik der Kapitulation vor dem Dritten Reiche nach der schmählichen Opferung der Tschechoslowakei ihren tiefsten Punkt erreicht hatte, wurde ich von einem amerikanischen Kollegen wie ein bemitleidenswerter Halbirrer behandelt, als ich die Tschechoslowakei für verloren erklärte und darüberhinaus die Katastrophe Europas voraussagte.

Nachdem ich als Ordinarius an der Universität Marburg von 1930 bis 1933 in Voraussicht der drohenden Gefahr jede Möglichkeit, den Nationalsozialismus in Wort und Schrift zu bekämpfen, benutzt und mich durch freie Vertretung meiner Überzeugungen bereits mißliebig genug gemacht hatte, tat ich nach dem Anbruch des Dritten Reiches noch ein Übriges, was mir die Ehre verschaffte, von Hitler auf eine der ersten Listen entlassener Universitätsprofessoren gesetzt zu werden. Ende Februar 1933 – am Morgen des unvergeßlichen Tages, an dessen Abend das Reichstagsgebäude von den Nationalsozialisten in Brand gesteckt wurde – hatte ich einem verstorbenen Kollegen die Grabrede zu halten. Nachdem ich ihn unter Zitierung des berühmten Wortes aus Voltaires „Candide“ („mais il faut cultiver notre jardin“ [„aber unser Garten muß kultiviert werden“]) als eine Gärtnernatur im weitesten Sinne dieses Wortes gefeiert hatte, schloß ich: „Und als ein solcher Gärtner paßte er wohl nicht mehr in die Gegenwart – in die Gegenwart, die sich anschickt, den Garten der Kultur wiederaufzuforsten und in den alten Urwald zurückzuverwandeln.“

Wahrlich: es bedurfte keines überdurchschnittlichen Scharfblicks, um den Nationalsozialismus als eine fürchterliche Barbareninvasion in den mühsam umhegten Garten der Kultur zu erkennen. Warum aber war man blind, in Deutschland sowohl wie später in der Welt, und warum wurde man erst sehend, als es in beiden Fällen zu spät war und über Deutschland bereits die Katastrophe der Tyrannis, über die Welt diejenige des Krieges hereingebrochen war? Der Hauptgrund hierfür lag in der Schwächung der moralischen Reflexe. Sie war es, die so viele daran hinderte, gegenüber einer Barbarei, die ihre Urheber noch vor einer Generation in der zivilisierten Welt völlig unmöglich gemacht hätte, die allein angemessene Haltung flammender und absoluter Entrüstung anzunehmen und das Unheil bereits im Keime zu ersticken. Man war blind, weil man blind sein wollte. Aber daß man dazu angesichts unerhörter Barbarei entschlossen war, bewies die bedenkliche Schwächung des moralischen Sinnes, von der die Welt bereits vorher eine erste Probe im Falle des faschistischen Italiens abgegeben hatte, als sie die Pünktlichkeit der Eisenbahnen und die Erleichterung des Fremdenverkehrs rühmte, aber darüber vergaß, was dieses Regime für die Italiener bedeutete.

Daß man das wahre Gesicht des Nationalsozialismus nicht erkannte, war also im letzten ein moralisches Versagen, das man mit allen möglichen Theorien der Entschuldigung, der Relativierung oder gar der Rechtfertigung und mit faden Witzen mühsam zu verteidigen suchte. Dies aber ist eine Schuld, die die Welt durchaus mit den Deutschen teilen muß. Gewiß, vieles an diesem Nationalsozialismus war alles andere als erbaulich, und gewiß waren seine Opfer des Mitleids und der Hilfe würdig. Aber hatte Deutschland dafür nicht Ordnung und Disziplin? Waren nicht die Autobahnen vorbildlich? War nicht die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Dritten Reiches ein überaus interessantes Experiment, dessen Nachahmung wohl zu überlegen war? War es denn wirklich so ungeheuerlich, wenn die nationalsozialistische Regierung die doch auf die Dauer nicht aufrechtzuerhaltenden Rüstungsbeschränkungen abwarf, die volle Souveränität über das Rheinland beanspruchte, die Wiedervereinigung mit den Deutschen Österreichs und vielleicht sogar des Sudetenlandes erstrebte und Danzig immer offener als eine ihr unterstellte deutsche Stadt behandelte? Und hatte sie nicht überdies das Verdienst, dem Westen den noch schlimmeren Bolschewismus vom Leibe zu halten? Und dieser Finanzkünstler Schacht, der mit grinsendem Zynismus die ausländischen Gläubiger betrog, war er im Grunde nicht doch ein lustiger Tausendsassa? Konnte man, wenn man es richtig anstellte und mit Bestechungen oder Schmeicheleien nicht sparte, mit diesen neuen Männern nicht ausgezeichnete Geschäfte machen? Und konnte man nicht auch als Sozialist vieles von diesem Regime lernen? Was aber seine abstoßenden Seiten anlangte, genügte es nicht, sich über sie zu empören oder lustig zu machen, statt die unbequeme und dem pazifistischen Programm widersprechende Folgerung des entschlossenen diplomatisch-militärischen Widerstandes zu ziehen? Tausende, ja Millionen Ausländer müssen sich getroffen fühlen, wenn wir heute diese bitteren Fragen stellen.

Eine dieser von uns gestellten Fragen ließ erkennen, daß man sich in der Welt unter anderem auch deshalb mit dem Nationalsozialismus abfand, weil man ihn für ein wirksames Bollwerk gegen den Bolschewismus oder zum mindesten im Vergleich mit diesem für das kleinere Übel hielt. In solchem Glauben ließ man sich nur allzu gern von der nationalsozialistischen Propaganda überreden, daß der Staatsstreich von 1933 Deutschland vor einer kommunistischen Revolution errettet hätte. Diese Theorie war in der Tat einer der stärksten Trümpfe, die der Nationalsozialismus gegen eine murrende Weltmeinung ausspielte – wir wissen, mit welchem Erfolge. Im Anfang und noch auf lange hinaus erkannten nur die wenigsten, daß hier der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben wurde und daß die Unterschiede zwischen dem roten und dem braunen Kollektivismus und Totalitarismus die wesentliche Übereinstimmung ihrer Strukturprinzipien nicht aus der Welt schaffen konnten.

Da nun aber diese beiden Hauptspielarten des Kollektivismus – der Nationalsozialismus und der Kommunismus – sich sehr natürlicherweise als Rivalen erbittert bekämpfen und sich als Spießgesellen, die sich in ihren Methoden wechselseitig durchschauen, besonders zu fürchten haben, so läßt jeder der beiden nichts unversucht, um sich der freien Weltmeinung gegen den anderen zu versichern und sie gegen ihn auszuspielen. Jeder denunziert den anderen als das, was beide in Wahrheit zugleich sind: als Tyrannen. Jeder nimmt für sich in Anspruch, was in Wahrheit keiner von beiden ist: Schützer der Demokratie. Schließlich ist ihr ideales Ziel dann erreicht, wenn jeder Gegner des Faschismus oder Nationalsozialismus zum Kommunisten und jeder Gegner des Kommunismus zum Faschisten gestempelt wird.

Das Unglück der Welt ist es nun, daß die miteinander rivalisierenden Spielarten des Kollektivismus dieses Ziel weitgehend zu erreichen scheinen. Damit aber richten sie eine Verwirrung an, die beiden das Spiel erleichtert. So arbeiten sie sich gegenseitig in die Hände, ohne es zu wollen. Tatsächlich ist es auf diese Weise damals dem Nationalsozialismus gelungen, einen beträchtlichen Teil der freien Weltmeinung für sich günstiger zu stimmen, der ohne den Kommunismus sich diesem Werben unzugänglich gezeigt hätte, während es gleichzeitig dem Kommunismus gelang, einen anderen Teil der freien Weltmeinung für sich zu gewinnen, der ohne den Nationalsozialismus sich spröder und urteilsfähiger gezeigt haben würde. Es bleibt die große Schuld der Welt, daß sie sich damals durch dieses Ausspielen des Kommunismus gegen den Nationalsozialismus so sehr in ihrem Urteil und in ihren sittlichen Empfindungen hat verwirren lassen. Wie groß diese Schuld ist und wie sehr unsere Zeit dazu neigt, sich in ihrem Denken und Fühlen verwirren zu lassen, ist daraus zu ersehen, daß wir heute die gleiche Unsicherheit und Abstumpfung gegenüber dem Kommunismus beobachten können. Niemand, der den Kommunismus verteidigt oder auch nur beschönigt, hat das Recht, sich über das deutsche Volk zu entrüsten, das der Verführung des braunen Kollektivismus erlegen ist, und eine Welt, die sich heute dem Kommunismus gegenüber so verhält wie früher gegenüber dem Nationalsozialismus, nämlich beschönigend und beschwichtigend, wenn nicht gar fördernd, beweist uns, daß sie sich in einem moralischen und geistigen Zustand befindet, der sie am Nationalsozialismus mitschuldig werden lassen konnte.

Nun ist dieses Spiel, das Faschismus (Nationalsozialismus) und Kommunismus miteinander getrieben haben, durch eine bestimmte Deutung des Nationalsozialismus erleichtert worden. Wir meinen die Auffassung, nach der der Nationalsozialismus – gleich dem Faschismus – im Grunde nur ein unechter und unaufrichtiger Kollektivismus sei, mit dem der „Kapitalismus“ in einem letzten verzweifelten Kampfe gegenüber dem echten Kollektivismus sich zu behaupten suche, ohne viel nach den Regierungsmethoden und nach den Ideologien zu fragen, die man dem zu betölpelnden Volke verabreicht. Eine solche Theorie ist sehr geeignet, die grundsätzlichen Gegner des Kollektivismus gegenüber dem Nationalsozialismus versöhnlicher zu stimmen, wenn sie sie ihm nicht sogar in die Arme treibt, die anderen aber für den „echten“ Kollektivismus zu gewinnen. Die einen lassen sich auf diese Weise überreden, im Nationalsozialismus einen Bundesgenossen im Kampfe gegen den Kollektivismus, die anderen, im Kollektivismus einen Bundesgenossen gegen den Nationalsozialismus zu sehen. Die einen werden zu Parteigängern oder Förderern des Nationalsozialismus, die anderen zu solchen des Kommunismus.

Die letzten mögen uns weniger unsympathisch als die ersten sein, aber das hindert nicht, daß beide unrecht haben, weil die Deutung des Nationalsozialismus, von der sie ausgehen, unhaltbar ist. Es ist eine durchaus primitive – wenn auch leider vom Marxismus propagierte – Soziologie, zu meinen, daß eine Regierung nichts anderes als das Exekutivorgan der „herrschenden Klasse“ sei. „Die Klasse, die in Wahrheit politisch herrscht, ist die Klasse der Regierenden, mit ihren wie immer gearteten religiösen, philosophischen oder moralischen Begriffen“,4 nicht aber eine Gruppe, die irgendwelche gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen zu vertreten hat. Es ist Hintertreppenromantik, wenn man sich vorstellt, daß die Leiter eines Staates Marionetten sind, die an den von den „Kapitalisten“ gezogenen Drähten tanzen. Daß es sogar „Kapitalisten“ gibt, die sich das einbilden, ändert nichts an der Unhaltbarkeit dieser Vorstellung. Es sind in Deutschland selbst vornehmlich jene „Kapitalisten“ gewesen, die dumm und zynisch genug waren, Hitlers Aufstieg zur Macht zu fördern, und später hat es unter ihnen sogar noch einen gegeben, der, als der von ihm unterstützte Nationalsozialismus ihn in die Emigration getrieben hatte, naiv genug war, seine jämmerliche Rolle in einem Buche öffentlich zu beschreiben, statt beschämt zu schweigen. Alle diese „Kapitalisten“ – es sind nur wenige gewesen – haben sich längst in schmerzlicher Weise davon überzeugen müssen, daß der Nationalsozialismus ein durchaus echter Kollektivismus und entschlossen war, aus eigener Machtvollkommenheit zu regieren. Diejenigen Sozialisten also, die heute noch dieser Theorie vom „Nationalsozialismus als letztem Verzweiflungskampf des Monopolkapitalismus“ und als eines Scheinkollektivismus anhängen, begehen denselben Fehler in der Theorie, den sich vorher die „Kapitalisten“ vom Schlage eines Fritz Thyssen in der Praxis hatten zuschulden kommen lassen. Nachdem sich diese Vorstellung in der Praxis der „Kapitalisten“ als ein verhängnisvoller Irrtum erwiesen hat, sollte sie auch in der Theorie der Sozialisten als widerlegt gelten. Dabei versteht es sich, daß es sich im Falle der Sozialisten nur um einen Denkfehler, im Falle jener „Kapitalisten“ zugleich um eine schwere und unentschuldbare moralische Verwirrung gehandelt hat. Wir sind nicht ohne Sympathie mit den Sozialisten, aber sie müssen sich sagen lassen, daß sie sich irren.

Der Irrtum der Sozialisten, die die deutschen „Kapitalisten“ zu Parteigängern Hitlers machen wollen, wiegt um so schwerer, als den wenigen Industriellen, die sich dem Nationalsozialismus angeschlossen haben, mindestens ebensoviele Sozialisten und Kommunisten gegenüberstehen, die die gleiche Schuld auf sich geladen haben. Zahllos sind die Beispiele, die beweisen, wie kurz der Schritt vom Demo[kratischen]-Sozialismus zum National-Sozialismus gewesen ist, und wir können auch ausländische Sozialisten nennen, die sich heute in der Verurteilung des deutschen Volkes und in der Liebedienerei gegenüber Sowjetrußland nicht genug tun können, aber nach 1933 aus ihrer Sympathie mit dem Nationalsozialismus als einem „sozial fortschrittlichen“ System kein Hehl gemacht haben. Die Legende von den bösen Kapitalisten, die mit Hilfe des Nationalsozialismus die unschuldigen deutschen Massen vergewaltigt haben sollen, kann nicht rücksichtslos genug zerstört werden. Man kann nicht oft genug die Wahrheit aussprechen, daß es sich natürlich ganz anders verhalten hat: Ohne die Unterstützung durch breite Massen des deutschen Volkes hätte der Nationalsozialismus weder zur Macht kommen noch sich an der Macht halten können, und an dieser offenkundigen Tatsache ändert es nichts, daß diese selben Massen zum Teil vorher sozialistisch oder kommunistisch gewählt haben und heute wieder wählen. Man kann den Nationalsozialismus nicht ärger verkennen, als wenn man seinen Massencharakter leugnet. Auch darf nicht übersehen werden, daß die langjährige Theorie und Praxis des deutschen Sozialismus in vielen Stücken als Wegbereiter und Muster des Nationalsozialismus betrachtet werden müssen.

So haben sich geistige Verwirrung und moralische Abstumpfung vereinigt, um den Nationalsozialisten die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die sonst ihrer Herrschaft nach kurzer Zeit hätten ein Ende bereiten müssen. Wir, die wir wußten, was der Nationalsozialismus bedeutete, hatten damals in den entscheidenden Jahren nach dem Staatsstreich von 1933 angenommen, daß die Schlüsse, die wir zogen, sich der ganzen Welt aufdrängen müßten. Wir setzten als selbstverständlich voraus, daß das Dritte Reich schon in seinen Anfängen an den Widerständen der Außenwelt zerschellen müsse, nachdem die inneren Widerstände dazu nicht ausgereicht hatten. Weil wir die Reaktions- und Entschlußkraft der Welt noch immer als einigermaßen normal einschätzten, konnten wir nicht an eine lange Dauer dieses Regimes glauben. Wir hielten den Anschauungsunterricht, den die Nationalsozialisten innerhalb Deutschlands erteilt hatten, für ausreichend, um dem Auslande die Augen zu öffnen; war der innere Damm geborsten, so müßte der äußere dafür nur um so stärker geworden sein; war der Kampf im Innern verloren, so müßte doch die Entschlossenheit, ihn nicht auch auf internationalem Gebiete zu verlieren, nur noch gewachsen sein.

Hatten wir uns in der Einschätzung des Nationalsozialismus nicht irren können, so irrten wir uns dafür leider in derjenigen der Außenwelt um so gründlicher. Diesen Grad der Willenslähmung, Aufweichung und Zersetzung hatten wir nicht erwartet. In Wahrheit ist von 1933 bis heute eine Weiche nach der anderen mit einer so unwahrscheinlichen Instinktlosigkeit falsch gestellt worden, daß das Verhängnis wie ein rasender Expreßzug seinem entsetzlichen Ende entgegenraste. So erlebten wir das beklemmende Schauspiel, daß die Repräsentanten des Auslandes sich nicht scheuten, die Hände von Mördern, Lügnern, Brandstiftern, Folterknechten, Erpressern, Sexualpathologen und sonstigem Gesindel zu schütteln, daß sie zu den Festen der Nationalsozialisten eilten und sich geflissentlich so benahmen, als seien diese den Abgründen der Gesellschaft entstiegenen Gestalten besonderer Aufmerksamkeit würdig. Die deutschen Bemühungen um eine Steigerung des Fremdenverkehrs fielen auf fruchtbaren Boden; Weltvereinigungen wie die internationale Handelskammer hielten ihre Kongresse in Deutschland ab, und manche ausländische Hand reckte sich zum Faschistengruß, aber kaum einer war taktlos genug, sich nach Konzentrationslagern, Volksgerichtshöfen und nächtlichen Überfällen zu erkundigen. Man bemühte sich darum, am Nationalsozialismus alle möglichen „guten Seiten“ zu entdecken, ohne zu bedenken, daß ein solches Regime ohne einige solcher „guten Seiten“ überhaupt nicht existieren könnte. Wie wenige unter den ausländischen Gelehrten haben damals den lächerlich geringen Mut aufgebracht, nicht mehr an deutschen Zeitschriften mitzuarbeiten, die den antinationalsozialistischen Deutschen nunmehr verschlossen waren, oder gar als heiß umworbener Gast eines der vielen wissenschaftlichen Kongresse, die gerade nach 1933 in Deutschland abgehalten wurden, die einzigartige und von ihren deutschen Kollegen geneidete Gelegenheit zu benutzen, ein freies und deutliches Wort zu sagen und das Propagandagewebe zu zerreißen, das bei solchen Gelegenheiten gesponnen wurde! Wie viele haben sich vielmehr umschmeicheln und umfeiern lassen, und wie viele Bücher sind nicht zum Preise des Nationalsozialismus damals im Ausland erschienen, Bücher, deren Autoren heute wünschen mögen, sie nie geschrieben zu haben!

Das Liebeswerben des Dritten Reiches um die Weltgunst hatte einen beschämenden Erfolg, und auch darin wiederholte sich nur, was wir vorher im Falle des italienischen Faschismus erlebt hatten. Es war die Zeit, in der ein antinationalsozialistischer Deutscher sich mit Bitterkeit fragen konnte, ob ein totalitärer Staat sich nicht unter anderem durch die Vorteile charakterisiert, die der Besitz eines ausländischen Passes gewährt. Man entdeckte, wie gut und billig es sich als Ausländer in Deutschland leben lasse und mit welch ausgesuchter Höflichkeit man dann behandelt wurde, und man wurde ein williges Opfer der geräuschvollen Propaganda, die das Regime für alle möglichen „Errungenschaften“ machte, welche in demokratischen Ländern zwar keineswegs fehlten, aber von keinem Getöse begleitet waren. Hat man die Olympischen Spiele vergessen, die gerade damals nach Deutschland verlegt wurden und den Nationalsozialisten eine einzigartige Gelegenheit gaben, ihr Prestige bei den Deutschen und in der Welt zu heben, während rings im Lande der Terror wütete und insgeheim die Waffen gegen dieselbe Jugend aller Länder geschmiedet wurden, die damals nach Berlin strömte? Und will man heute etwa behaupten, daß man das unschuldige Opfer eines schamlosen Betruges geworden ist, da man doch nicht hätte wissen können, welche Schurken diese Nationalsozialisten waren? Man hätte es eben wissen können, wenn man nicht moralisch stumpf gewesen und gegenüber den damals bereits sattsam bekannten Untaten des Regimes beide Augen zugedrückt hätte. Man wollte einfach nicht wissen, weil es unbequem war, zu wissen. So rekrutierte sich in allen Ländern die „geistige Fremdenlegion“ des Nationalsozialismus.

Besonders verhängnisvoll war es nun, daß diese geistig-moralische Kapitulation der Welt vor dem Dritten Reiche sich auf die Politik aller Regierungen übertrug, die doch ein lebenswichtiges Interesse daran hatten, sich mit den antinationalsozialistischen Deutschen gegen die ungeheure Gefahr des Nationalsozialismus zu verbünden, und durchaus in der Lage waren, ihm beizeiten den Garaus zu machen. Wir mußten erleben, daß die verantwortlichen Staatsmänner schlechthin jede Gelegenheit verpaßten, das Dritte Reich im Keime zu ersticken, sei es auch nur durch die unblutige, aber wahrscheinlich erfolgreiche Methode, die Nationalsozialisten „in ihrem eigenen Safte schmoren zu lassen“, sie diplomatisch vollkommen abzuriegeln, die öffentliche Meinung der Welt gegen sie aufzubieten und alle Beziehungen zum Dritten Reiche auf das alleräußerste Minimum zu reduzieren.

Nicht nur war man tatenlos, und nicht nur ließ man sich in wenigen Jahren militärisch – vor allem in der so überaus wichtigen Flugwaffe – phlegmatisch überflügeln, sondern ein Land wie Großbritannien schloß mit der Berliner Regierung sogar ein Flottenabkommen ab, das die Anerkennung der vertragswidrigen Aufrüstung in sich schloß und die Nationalsozialisten nur ermuntern konnte, auf diesem Wege kräftig fortzufahren. Während es in den ersten Jahren des Regimes ein Kinderspiel gewesen wäre, dem grausigen Spuk ein Ende zu machen, hätte es höchstwahrscheinlich noch im Jahre 1936 der bloßen Mobilisierung Frankreichs bedurft, um die vertragswidrige Wiederbesetzung des Rheinlandes aus einem Triumph in eine vernichtende politische Niederlage Hitlers zu verwandeln. Als Österreich im Frühjahr 1938 vergewaltigt wurde, rührte sich keine Hand, und als dann im Herbst jenes Jahres dasselbe Spiel der Erpressung und Drohung gegenüber der Tschechoslowakei wiederholt wurde, erreichte in der Münchner Kapitulation die Weltpolitik gegenüber dem Dritten Reiche den tiefsten Punkt ihrer Schwäche. Wir wissen heute auf Grund einstimmiger Zeugnisse der Eingeweihten, daß in dem Streit um die Münchner Kapitulation vom Herbst 1938 diejenigen Recht behalten haben, die die jammervolle Schwäche Chamberlains, Bonnets und Daladiers für einen der verhängnisvollsten Wendepunkte der neuesten Geschichte erachten.5 Es ist nicht länger daran zu zweifeln, daß die Opposition in Deutschland – diesmal einschließlich der Heeresleitung – gerade damals, als die diplomatische Niederlage Hitlers selbstverständlich schien, im Begriffe stand, das in seinem eigenen Bluff gefangene Regime zu stürzen, und daß diese Bereitschaft zusammen mit den Plänen Hitlers der englischen und französischen Regierung bereits Anfang September 1938 in glaubwürdiger Form mitgeteilt worden ist. Es war immer schwer, „München“ zu verteidigen; von jetzt an ist es unmöglich, und es versteht sich, daß damit auch die Frage der deutschen Schuld in einem völlig neuen Lichte erscheint. Während dieser ganzen Zeit hatten ungezählte Deutsche ihre letzten verzweifelten Hoffnungen auf eine feste Haltung der Großmächte gesetzt, aber immer wieder mußten sie den Triumph ihrer verhaßten Tyrannen über eine gelähmte Welt erleben. Daß schließlich auch Rußland im August 1939 durch das Molotow-Ribbentrop-Abkommen Hitler die entscheidende Hilfe bot, die es ihm erst ermöglichten, den Krieg zu entfesseln und, gestützt auf die russischen Lieferungen, geraume Zeit siegreich zu führen, und daß die Kommunisten aller Länder jetzt, da Stalin und Hitler Halbpart gemacht hatten, plötzlich den Block von Nationalsozialismus und Kommunismus gegen die „imperialistisch-kapitalistische“ Welt feierten, vollendet das trostlose Gesamtbild.

Wägen wir all das nüchtern und mit wissenschaftlicher Objektivität, so können wir nicht länger zweifeln, daß die heutige Weltkatastrophe der gigantische Preis ist, den die Welt dafür zahlen muß, daß sie sich taub gestellt hat gegenüber allen Alarmsignalen, die von 1930 bis 1939 in immer schrilleren Tönen die Hölle ankündigten, die die satanischen Kräfte des Nationalsozialismus loslassen sollten, zuerst gegen Deutschland selbst und dann gegen die übrige Welt. Die Schrecken dieses Krieges entsprechen genau den anderen, die die Welt in Deutschland hingehen ließ, während sie sogar normale Beziehungen mit den Nationalsozialisten aufrechterhielt und mit ihnen internationale Feste und Kongresse organisierte.

Es gibt keine schlimmere Taubheit als diejenige der Leute, die entschlossen sind, nicht zu hören. In der Tat ergab sich die allgemeine Passivität gegenüber dem Dritten Reiche aus einem geistig-moralischen Starrkrampf und aus dem entschiedenen Willen, die Flammenschrift an der Wand zu ignorieren, um so den Tag der Abrechnung hinauszuschieben und sich um den Preis einer entsetzlichen Endkatastrophe noch einige Jahre behaglichen Friedens zu erkaufen. Wenn auch die Deutschen den Hauptteil der Verantwortung zu tragen haben und dafür furchtbar büßen, so haben doch alle Völker Veranlassung, sich an die Brust zu schlagen und zu bekennen: mea culpa, mea maxima culpa [durch meine Schuld, meine große Schuld].

Es ist sehr nützlich, sich klarzumachen, daß die Welt heute im Begriffe steht, gegenüber Rußland denselben Fehler der Beurteilung zu begehen. Auch hier handelt es sich nicht in erster Linie um das Volk als Ganzes, sondern um den Totalitarismus, dessen erstes Opfer das russische Volk geworden ist. Diese Trennung sind wir vor allem dem russischen Volke selber schuldig, damit ihm nicht dereinst in einem neuen Prozesse der „Kollektivschuld“ all das angerechnet wird, was dem Bolschewismus zur Last zu legen ist. Der wahre Freund Rußlands kann nur entschieden antikommunistisch sein, so wie der wahre Freund Deutschlands nur entschieden antinationalsozialistisch sein konnte. Schon jetzt müssen wir uns innerlich auf die Möglichkeit rüsten, daß uns die Entsetzlichkeiten der russischen Gefängniszellen und Konzentrationslager in der Film-Wochenschau vorgeführt werden. Wir rüsten uns dadurch, daß wir schon jetzt Rußland und Bolschewismus scharf voneinander trennen und uns nicht in einen Haß des großen und liebenswerten russischen Volkes hineintreiben lassen.

Es klingt heute fast unglaubhaft, daß sich die Welt so lange Illusionen darüber hat hingeben können, daß die Nationalsozialisten fremde Länder besser behandeln könnten als ihre eigenen Landsleute, aber daß sie es tat, ist unentschuldbar. Heute sollte sich aber jeder darüber klar sein, daß der Nationalsozialismus seinen Eroberungszug in Deutschland selbst begonnen hat, daß die Deutschen die ersten Opfer der Barbareninvasion gewesen sind, die sich von unten herauf über sie ergoß, daß sie die ersten waren, die mit Terror und Massenhypnose überwältigt wurden und daß alles, was dann später die besetzten Länder zu erdulden hatten, zuerst den Deutschen selbst zugefügt worden ist, eingeschlossen das allerschlimmste Schicksal: zu Werkzeugen weiterer Eroberung und Unterdrückung gepreßt oder verführt zu werden. Deutschland war ein Segler, von dessen Mannschaft sich die schlimmsten Elemente zusammengerottet hatten, um den Rest zu überwältigen, ihren eigenen Rädelsführer an die Stelle des senilen Kapitäns zu setzen und nun unter der lärmend gehißten blutroten Piratenflagge mit dem spinnenartigen Verbrecherzeichen auf Korsarenfahrt zu gehen. Nach alter Piratenart legten sie es darauf an, auch die Mannschaft der gekaperten Schiffe in ihren Dienst zu pressen und sie zu ihren Komplizen zu machen. Das erste Opfer dieser nichtswürdigen Praxis war Österreich, das Land, mit dem die Nationalsozialisten ihre horizontale Eroberung begannen, nachdem sie die vertikale Eroberung Deutschlands vollendet hatten, zugleich das Land, aus dem der Rädelsführer mit seiner wüsten Suada gekommen war.

Fassen wir zusammen: Die führenden Nationalsozialisten stehen so sehr außerhalb des menschlichen Sittengesetzes, daß wir ihnen zuviel Ehre erwiesen, wenn wir an sie den moralischen Maßstab der Schuld anlegen würden. Von Schuld, die zugleich den Begriff der Reue, Sühne und Wiedergeburt einschließt, müssen wir sprechen im Falle aller derjenigen, die, in ihrer geistigen Verblendung und moralischen Verwirrung, durch Handeln oder Unterlassen jenen menschlichen Zerrbildern den Weg gebahnt haben, statt ihn ihnen rechtzeitig zu verlegen. Das aber ist eine Schuld, in die sich die Welt mit den Deutschen selbst zu teilen hat. Auf dieses selbe Schuldkonto gehört es auch, daß sich während des Krieges die Alliierten nicht dazu haben bewegen lassen, der inneren deutschen Opposition wirksame Hilfe zu leisten und in ihr ihre natürlichen Bundesgenossen zu sehen, die es zu fördern und zu ermutigen galt. Nachdem sie sich im Gegenteil unter der unseligen Führung Roosevelts auf die ebenso grimmige wie hilflose Formel der „bedingungslosen Unterwerfung“ Deutschlands festgelegt hatten, hatte sie sogar alles getan, um die deutsche Opposition zu lähmen.6

Der Nationalsozialismus als Totalitarismus

Man muß das deutsche Problem notwendigerweise falsch beurteilen, wenn man pharisäisch die Mitschuld übersieht, die die außerdeutsche Welt zu tragen hat, und diese Schuld ist zugleich eine solche an demjenigen Teile des deutschen Volkes, der sich dem Nationalsozialismus widersetzt hat. Diese Welt wird nicht wünschen wollen, daß auf sie der [Goethes] Vers Anwendung finden könnte:

Ihr laßt den Armen schuldig werden,

Dann überlaßt ihr ihn der Pein.

Man muß aber auch dann irregehen, wenn man im Nationalsozialismus nichts anderes sieht als den plötzlichen Irrsinn eines einzigen Volkes inmitten einer kerngesunden Welt und vergißt, daß er die besondere deutsche Form einer Tendenz ist, die internationalen Charakter trägt. Das Dritte Reich ist die deutsche Prägung jenes Gesellschafts- und Regierungssystems, das wir Totalitarismus nennen, und so, wie dieser nicht das Zeichen eines Volkes, sondern dasjenige einer Zeit ist, ist er in Deutschland aus Umständen hervorgegangen, die sich in der ganzen zivilisierten Welt nachweisen lassen. Aus Gründen, die Deutschland eigentümlich sind, ist es Krankheitskeimen zum Opfer gefallen, von denen auch die anderen Länder nicht frei sind, denen sie aber eine stärkere Widerstandskraft entgegensetzen konnten. Die Krankheit hat Deutschland besonders heftig geschüttelt, weil hier nationale Anlagen, internationale Infektion und außergewöhnliche Zeitumstände eine besonders gefährliche Kombination eingingen. Die Welt hätte nicht in diesem erschreckenden Grade am deutschen Totalitarismus und an seiner Karriere mitschuldig werden können, wenn sie nicht bereits selbst erkrankt gewesen wäre.

Schon lange bevor der große französische Historiker und Soziologe Elie Halévy das berühmt gewordene Wort vom „Zeitalter der Tyrannis“7 geprägt hatte, war man sich darüber klargeworden, daß jene Staatssysteme, von denen das erste in Rußland im Jahre 1917 entstanden war und die dann in mehreren Ländern in den mannigfachsten Formen abgewandelt wurden, wesentliche Züge gemeinsam haben, die man später unter dem Namen „Totalitarismus“ zusammenfaßte. Ob es sich um den Bolschewismus, den Faschismus oder den Nationalsozialismus handelt, immer stoßen wir auf die rücksichtslose und gewalttätige Usurpation der Staatsherrschaft durch eine aus der Masse emporsteigende, sich auf sie stützende und sie zugleich umschmeichelnde wie bedrohende Minderheit, die von einem „charismatischen Führer“ (Max Weber) geleitet wird und sich dreist mit dem Staat identifiziert. Es ist eine Gewaltherrschaft, die alle Garantien des Rechtsstaates beseitigt, die die Minderheit, durch die sie emporgetragen wird, als einzige Partei konstituiert und mit weitgehenden öffentlich-rechtlichen Funktionen ausstattet und im gesamten Bereich der Nation keine Gruppen, Tätigkeiten, Meinungen, Vereinigungen, Religionen, Publikationen, Erziehungsanstalten oder Geschäfte duldet, welche vom Willen der Regierung unabhängig sind.

Diese zugleich den schlechtesten Masseninstinkten entsprechende und totale Gewaltherrschaft kennt in der Wahl der Mittel, mit denen sie zur Macht gelangt und sich in ihr zu behaupten sucht, keine anderen Grenzen als die der Zweckmäßigkeit. Da sie sich, auf den Wogen einer Massenbewegung emporgetragen, nur auf dieser Grundlage halten kann, widmet sie ihre ganze Kraft, Erfindungsgabe und Propagandatechnik dem Ziel, sich gerade bei der breiten Masse in Gunst zu setzen. Konzentrationslager, deren Insassen auf unbegrenzte Dauer einer unmenschlichen Behandlung ausgeliefert werden, Geheimpolizei, Folterkammern, Volksgerichtshöfe, das raffinierteste Spitzelsystem, das bis in die Familie eindringt und sogar die Kinder gegen die Eltern mißbraucht, nervöse Selbstreklame und ständige Aufpeitschung der Bevölkerung durch immer massivere Reizmittel und durch immer neue Ziele, die eine lärmende und monopolistische Propaganda der „Volksgemeinschaft“ setzt, die möglichst vollständige geistige und wirtschaftliche Abschließung gegen das Ausland, die zu einer teuflischen Wissenschaft verfeinerte Lenkung der öffentlichen Meinung, die dann in nahezu einstimmigen Plebisziten zum Ausdruck kommt, der Kult einer bestimmten Ideologie, der zynische Mißbrauch überkommener Institutionen, Werte und Ausdrücke, die Vergöttlichung des begnadeten Führers, an dessen Unfehlbarkeit nicht gezweifelt werden darf, die Ablenkung der Mißstimmung auf immer neue Gruppen von „Volksfeinden“, „Schädlingen“ und „Saboteuren“, das sind die Hauptmittel dieser neuen Tyrannis. Wo immer sie zur Herrschaft gekommen ist, hat sie mit der Masse und innerhalb der Masse vorzugsweise mit der Crapule [Lump] und gegen die kulturtragenden Eliten regiert und dabei Immer ängstlich bei jedem Wort und bei jeder Handlung auf die Reaktion der Masse Bedacht genommen. So ist sie die Herrschaftsform, die jenem Aufstande der Massen gegen die Elite Ausdruck verleiht, von dem der spanische Philosoph Ortega y Gasset in seinem gleichnamigen Buche gesprochen hat.

Je mehr wir Klarheit über diese neuen totalitären Massenherrschaften gewannen, um so mehr wurden wir uns nicht nur ihrer Strukturgleichheit, sondern auch der Tatsache bewußt, daß wir es mit einem Herrschaftstypus zu tun hatten, der auch früheren Epochen bereits bekannt gewesen war. Wir entdeckten, daß das, was die Antike „Tyrannis“ oder „Cheirokratie“ genannt hatte, was Sulla oder die Tyrannen der italienischen Renaissance praktiziert hatten und was schließlich in der französischen Revolution und unter Napoleon die Welt erregte, überraschend viele Ähnlichkeiten mit dem modernen Totalitarismus aufweist, ungeachtet alles Unvergleichbaren und ungeachtet des Umstandes, daß der moderne Totalitarismus Möglichkeiten der Beherrschung besitzt, die früheren Jahrhunderten unbekannt waren. Man kann kaum eine einzige Seite der klassischen Analyse des Totalitarismus lesen, die Benjamin Constant nach den Erfahrungen der französischen Revolution und Napoleons in seinem Buche „De l’esprit de conquête et de l’usurpation“ [„Vom Geist der Eroberung und Usurpation“] (Hannover 1814)8 gegeben hat, ohne auf tiefste Wahrheiten über den Totalitarismus von heute zu stoßen. Man braucht sehr oft nur die Namen zu vertauschen, um das, was hier vor 130 Jahren gesagt wurde, auf den Fall Deutschlands anzuwenden, so sehr es auch Napoleon beleidigen hieße, wenn man seine Person mit derjenigen Hitlers vergleichen wollte.

Wie so vieles andere, so hat sich auch in unseren Tagen die Erfahrung wiederholt, daß die Tyrannis als eine illegitime, usurpierte Form der Staatsgewalt keinen wie immer gearteten Rechtstitel aufzuweisen hat und daher das letzte, hinter jedem Wort und hinter jeder Handlung lauernde Ziel ihrer Regierung darin erblickt, einen Ersatz für den fehlenden Rechtstitel und für die ihr abgehende gefühlsmäßige Verankerung des Regimes zu finden. Daher die Notwendigkeit zwangsweiser Uniformierung der Gesinnung und rücksichtsloser Aufzwingung des Staatswillens, daher aber auch die nervöse Koketterie und die Jagd nach immer neuen und immer spektakuläreren Augenblickserfolgen, das ängstliche Schielen nach dem Beifall der Masse und des Auslandes, das Fehlen jener Gelassenheit, die eine legitime Regierung kennzeichnet, die krankhafte Empfindlichkeit für Lob oder Tadel, der Minderwertigkeitskomplex, der sich hinter der Lautheit des Gebarens nur allzu verräterisch verbirgt, und die alle Tyrannen in gleichem Maße auszeichnende Sucht, ihre Illegimität und Flüchtigkeit durch Monumentalbauten wettzumachen. Daher ferner die Angst vor der Alltäglichkeit und die Erfindung immer neuer Anlässe, die die von Erregung gepeitschte Bevölkerung nicht zur Ruhe und zur klaren Besinnung kommen lassen, die Lancierung immer neuer Parolen, die ihr das Gehirn verstopfen und sie schließlich dagegen abstumpfen, daß gestern noch verdammt wurde, was heute gepriesen wird. Die Gesellschaft wird so zu einem Kreisel, der nur durch schnelle Umdrehung im Gleichgewicht erhalten werden kann – durch die „Dynamik“, um eines jener großmäuligen Wörter zu gebrauchen, in deren Erfindung Faschismus und Nationalsozialismus so fruchtbar gewesen sind.

Zu allen diesen Eigentümlichkeiten der Struktur der modernen Tyrannis, deren widerlichste und extremste Form der Nationalsozialismus war, gehört die vollkommene Auflösung der Werte und Normen, ohne die unsere oder irgendeine andere Gesellschaft auf die Dauer nicht bestehen kann, die perniziöse Anämie der Moral, die zynische Freiheit in der Wahl der Mittel, die in Ermangelung wirklich fester Ziele zum Selbstzweck werden, die nihilistische Prinzipienlosigkeit, mit einem Worte das, was man mit durchaus sachlichen Ausdrücken als Satanismus und Nihilismus bezeichnen kann. Alles verfällt der Aufweichung, und schließlich bleibt nur noch ein einziges festes Ziel der Tyrannis übrig, dem alle moralischen Grundsätze, alle Versprechungen, Verträge, Garantien und Ideologien rücksichtslos geopfert werden: die nackte Herrschsucht, die Wahrung der immer aufs neue bedrohten Macht, die im Grunde keinen weiteren Zweck hat, als in vollen Zügen genossen zu werden. Das Unmoralische eines solchen Regimes versteht sich sozusagen immer von selbst. Es gibt dann kaum noch eine Schurkerei, deren man sich nicht von einer solchen Regierung versehen müßte, und alle Ideale und Gefühle, an die man laut appelliert, erweisen sich in der Regel nur als grell bemalte und jederzeit auswechselbare Kulissen der Massenpropaganda: die soziale Gerechtigkeit, die Volksgemeinschaft, der Frieden, die Religion, das Familienleben, die Massenwohlfahrt, völkerrechtliche Ansprüche, die Rückkehr zu einfacheren und natürlicheren Formen des Lebens oder was es sonst sei. Bald bläst es heiß, bald kalt; bald schreit man vor Entrüstung über die Behandlung deutscher Minderheiten, bald gibt man gerade solche, die wirklich schlecht behandelt wurden, wie die Südtiroler, schmählich preis. Der Tyrann wird zum skrupellosesten aller Reklamefachmänner, der sich nur fragt: wie wirkt es, und wie trägt es dazu bei, meine Stellung zu stützen?

Im Falle des Nationalsozialismus erreichten die vollkommene Skrupellosigkeit in der Verwendung der im Augenblick zugkräftig scheinenden Parolen und die geradezu abenteuerliche Spekulation auf die Dummheit der Menschen vielleicht ihren Höhepunkt, als er die gigantische Farce der Propaganda für die „europäische Solidarität gegen den Bolschewismus“ ersann. Nachdem die Nationalsozialisten Europa durch ihre Verbrechen ruiniert und zugleich Sowjetrußland offen herausgefordert hatten, fiel ihnen nichts Besseres ein als eine Paraphrase des alten wilhelminischen „Völker Europas, wahrt Eure heiligsten Güter!“. Sie taten es: 1. nachdem sie Japan gegen die Europäer in Ostasien gehetzt hatten; 2. nachdem es jedem klargeworden war, daß ein Hitlereuropa gar nicht wert ist, gerettet zu werden; 3. nachdem die Europäer begriffen hatten, daß es ein herausfordernder Hohn war, wenn sich die Nationalsozialisten über den Bolschewismus entrüsteten, und 4. nachdem alle gelernt hatten, sich zu fragen, wer denn Europa vom Nationalsozialismus erretten würde. Und man konnte nur mit dröhnendem Gelächter antworten, wenn diese Barbaren von dreitausend Jahren europäischer Kultur redeten, die auf dem Spiele stünden. „Retter Europas“, so hatte Jacob Burckhardt gesagt, „ist vor allem, wer es vor der Gefahr der politisch-religiös-sozialen Zwangseinheit und Zwangsnivellierung rettet, die seine spezifische Eigenschaft, nämlich den vielartigen Reichtum seines Geistes bedroht.“9

Einem solchen Herrschaftssystem, das der Ausdruck des vollendeten Nihilismus und Satanismus ist, kann ein Volk nur dann anheimfallen, wenn es bereits einen äußersten Grad von innerer Auflösung erreicht hat, aber Führer dieses Systems kann man bestimmt nur dann werden und geraume Zeit bleiben, wenn man durch und durch Satanist und Nihilist ist. Es ist unvermeidlich, daß ein solches Regime ein völlig unerträgliches Glied der Völkerfamilie sein wird und früher oder später in Krieg und Eroberung endet. Man könnte von ihm mit Recht den Satz prägen: Imperialism begins at home [Imperialismus beginnt im eigenen Land]. Nachdem es das eigene Volk unterworfen hat, wird es mit eherner Notwendigkeit den Imperialismus in fremde Länder tragen, um dem eigenen Prinzip treu zu bleiben, um die Ausplünderung, die daheim begann, im Auslande fortzusetzen, um dem wachsenden und sehr berechtigten Mißtrauen der Nachbarn zuvorzukommen, um Kritik und Mißstimmung nach außen abzulenken, um die Bevölkerung mit dem Gift des Nationalismus und Imperialismus zu berauschen und um dem Bedarf nach spektakulären Erfolgen gerecht zu werden, nachdem im Innern ein gewisser Sättigungszustand erreicht ist.

Tatsächlich schließt jeder der von uns erwähnten Wesenszüge der Tyrannis den Drang zum Kriege ein. Ein Regime, das nicht den geringsten Respekt vor der Freiheit und den Rechten des Individuums hat, wird keinen größeren vor der Freiheit und den Rechten anderer Völker haben. Von einem Staat, der im Innern alle Mittel zur Erringung und Behauptung der Herrschaft in völliger Amoralität einsetzt, kann nicht erwartet werden, daß er nach außen andere Mittel anwendet, noch daß er seinen Herrschaftswillen nach außen mäßigt und begrenzt, wenn ihm eine Ausdehnung aussichtsvoll erscheint. Daß ein solcher Staat internationale Verträge achten sollte, kann nur derjenige annehmen, der seine Struktur nicht verstanden hat. Ferner ist es klar, daß eine Herrschaft, die einem Massenenthusiasmus ihre Entstehung verdankt und ihn immer wieder neu entfachen muß, nach unwandelbaren Gesetzen der Psychologie darauf angewiesen ist, den Nationalismus zur Weißglut zu schüren; sie kann darauf ebensowenig verzichten, wie sie es unterlassen kann, zur äußersten Zusammenschweißung des Volkes auf das bewährte Integrationsmittel des Nationalhasses und des Krieges zurückzugreifen. Auf denselben Weg wird ein solcher Staat durch die Notwendigkeit getrieben, sich für die fehlende Legitimität einen Ersatz in immer neuen, die Bevölkerung in Atem haltenden Kolossalunternehmungen zu suchen und damit zu einem Reizmittel zu greifen, das mit allen anderen die Eigenschaft teilt, nur in immer größeren Dosen wirksam zu sein. Und wenn er einmal, durch die leichten Anfangserfolge ermutigt, auf diesem Wege fortschreitet, so kann er nicht mehr zurück, ohne sich selbst aufzugeben. Schließlich aber muß die sozialistisch-autarkische Wirtschaftsstruktur, die vom Wesen dieser totalitären Tyrannis nicht zu trennen ist, Tendenzen auslösen, die die Tyrannis auf der Bahn des extremen Nationalismus, der Eroberung und des Krieges mächtig vorwärtstreiben, da sie im wesentlichen eine Aufwands-, Substanzverzehr- und Beutewirtschaft ist und daher immer neue Weideflächen suchen muß, die sie kahlfressen kann.10

Wenn nun in der Regel längere Zeit verstreicht, ehe die Tyrannis die übrige Welt in den unvermeidlichen Krieg stürzt, so liegt das nicht etwa an der Friedfertigkeit der Tyrannis, sondern an der Langmut und Schwäche der übrigen Länder. Da sie sich bis zum letzten weigern, den Krieg für unvermeidlich zu halten, so hoffen sie, ihn durch die Konzessionen abzuwenden, die der totalitäre Staat ihnen unter erpresserischer Ausnutzung ihrer Friedensliebe abringt. Die Tragik aber will es, daß sie den Krieg gerade durch diese schrittweisen Konzessionen schließlich unvermeidlich machen, da sie den Tyrannen auf eine Bahn locken, auf der er selbst dann nicht mehr umkehren könnte, wenn ihn seine Erfolge nicht berauscht haben würden.