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Kate Raworths nachhaltiges Wirtschaftsmodell – jetzt als aktualisierte, durchgesehene Studienausgabe mit neuem Nachwort der Autorin Die Vision von Ökonomin Kate Raworth hat sich als brillant erwiesen: Ihr Donut-Modell bietet einen Weg aus der Krise, der Kapitalismus, Ökologie und soziale Grundrechte vereint. In der Mitte des Donuts liegt das gesellschaftliche Fundament, darum der Kreis aus Ökologie, Politik, Wirtschaft – harmonisch im Einklang. Inzwischen gibt es weltweit Initiativen, die nach dem Donut-Modell arbeiten und damit den Weg für eine Wirtschaft ebnen, die den Planeten nicht zerstört. Der Donut ist eine radikale Abkehr von allen gewöhnlichen Wirtschaftsmodellen und bietet etwas, womit in der heutigen Ökonomie kaum noch jemand rechnet: echte Hoffnung. Die aktualisierte, durchgesehene Ausgabe gibt diese Entwicklungen wieder. Mit einem Nachwort der Autorin.
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Seitenzahl: 598
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Die Vision von Ökonomin Kate Raworth hat sich als brillant erwiesen: Ihr Donut-Modell bietet einen Weg aus der Krise, der Kapitalismus, Ökologie und soziale Grundrechte vereint. In der Mitte des Donuts liegt das gesellschaftliche Fundament, darum der Kreis aus Ökologie, Politik, Wirtschaft — harmonisch im Einklang. Inzwischen gibt es weltweit Initiativen, die nach dem Donut-Modell arbeiten und damit den Weg für eine Wirtschaft ebnen, die den Planeten nicht zerstört. Der Donut ist eine radikale Abkehr von allen gewöhnlichen Wirtschaftsmodellen und bietet etwas, womit in der heutigen Ökonomie kaum noch jemand rechnet: echte Hoffnung. Die aktualisierte, durchgesehene Ausgabe gibt diese Entwicklungen wieder. Mit einem Nachwort der Autorin.
Kate Raworth
Die Donut-Ökonomie
Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört
Aus dem Englischen von Hans Freundl und Sigrid Schmid
Hanser
Das machtvollste Werkzeug in der Ökonomie ist nicht das Geld, auch nicht die Mathematik. Es ist der Bleistift. Denn mit einem Bleistift kann man die Welt neu zeichnen.
Im Oktober 2008 nahm Yuan Yang an der englischen Universität Oxford ihr Studium der Ökonomie auf. Geboren in China und aufgewachsen in Yorkshire, war sie eine echte Weltbürgerin: Sie interessierte sich leidenschaftlich für Politik, sorgte sich um die Zukunft und wollte in der Welt etwas bewegen. Und sie glaubte, durch das Studium der Ökonomie könnte sie sich am besten das Rüstzeug dafür aneignen. Sie war entschlossen, so könnte man sagen, jene Art von Ökonomin zu werden, die das 21. Jahrhundert benötigt.
Doch bald wuchs bei Yuan die Enttäuschung. Sie gewann den Eindruck, dass die Theorie — und die Statistik, die zu ihrer Untermauerung herangezogen wurde — von absurd verengten Annahmen ausging. Und da sie ihr Studium gerade zu jenem Zeitpunkt begann, als das internationale Finanzsystem zu seinem großen Absturz ansetzte, blieb ihr auch dies nicht verborgen, obwohl ihr universitärer Lehrplan es nicht vorsah. »Der Crash war ein Weckruf«, erzählte sie. »Einerseits lehrte man uns, dass das Finanzsystem kein wichtiger Bestandteil der Ökonomie sei. Andererseits richteten die Märkte überall schwere Schäden an, und daher stellten wir uns die Frage: Woher kommt diese Entkoppelung?« Es war eine Entkoppelung, so erkannte sie, die weit über den Finanzsektor hinausreichte und in den Themen sichtbar wurde, mit denen sich die herrschende Wirtschaftslehre beschäftigte, aber auch in den zunehmenden Krisen in der realen Welt wie der globalen wirtschaftlichen Ungleichheit und dem Klimawandel.
Als sie ihre Professoren mit diesen Fragen konfrontierte, versicherten diese, dass sich ihr diese Zusammenhänge auf der nächsten Stufe ihres Studiums erschließen würden. Also schrieb sie sich an der angesehenen London School of Economics für den Master-Studiengang ein — und wartete darauf, dass sich diese Erkenntnisse einstellen würden. Unterdessen allerdings wurden die abstrakten Theorien anspruchsvoller, die mathematischen Gleichungen komplizierter und Yuan immer unzufriedener. Als die Prüfung schließlich näher rückte, musste sie sich entscheiden: »Irgendwann wurde mir klar«, erzählte sie mir, »dass ich einfach nur das Lehrmaterial beherrschen musste und nicht versuchen sollte, alles zu hinterfragen. Und ich glaube, für einen Studenten ist es ein sehr trauriger Augenblick, wenn ihm das bewusst wird.«
Viele Studenten, die zu dieser Erkenntnis gelangten, hätten dann entweder das Wirtschaftsstudium abgebrochen oder die angebotenen Theorien geschluckt, um sich anschließend nach einer lukrativen Karriere umzuschauen. Nicht aber Yuan. Sie suchte weltweit an den Universitäten nach gleichgesinnten Rebellen und stellte schnell fest, dass seit dem Jahrtausendwechsel eine wachsende Zahl junger Menschen das enge theoretische Regelwerk infrage zu stellen begonnen hatte, das ihnen beigebracht wurde. »Wir möchten aus den imaginären Welten ausbrechen«, schrieben sie. »Ein Aufruf an unsere Lehrer: Wacht auf, bevor es zu spät ist!«1 Ein Jahrzehnt später verließ eine Gruppe von Studenten geschlossen die Vorlesung von Professor Gregory Mankiw — Autor des weltweit am häufigsten eingesetzten volkswirtschaftlichen Lehrbuchs —, um gegen die verengte und ideologisch voreingenommene Perspektive, die ihrer Ansicht nach seinen Lehrveranstaltungen zugrunde lag, zu protestieren. Sie seien, erklärten sie, »zutiefst besorgt, dass diese Voreingenommenheit die Studenten, die Universität und unsere gesamte Gesellschaft beeinflussen könnte«.2
Der Ausbruch der Finanzkrise befeuerte weltweit die Proteste von Studenten. Er veranlasste Yuan und ihre Gesinnungsfreunde dazu, ein globales Netzwerk aufzubauen, das schließlich mehr als 80 studentische Gruppen in mehr als 30 Ländern umfasste — von Indien über die USA bis nach Deutschland und Peru — und das die Forderung erhob, dass die Wirtschaftswissenschaften sich mit den Anliegen der heutigen Generation, unseres Jahrhunderts und den vor uns liegenden Herausforderungen befassen sollten. »Nicht nur die Weltwirtschaft steckt in der Krise«, erklärten diese Gruppen 2014 in einem offenen Brief:
Auch die Wirtschaftswissenschaften befinden sich in der Krise, und diese Krise hat Auswirkungen weit über die Mauern der Univer-sitäten hinaus. Was hier gelehrt wird, formt das Denken der nächsten Generation politischer Entscheidungsträger, und es formt damit auch die Gesellschaften, in denen wir leben. … Wir sind unzufrieden mit der dramatischen Verengung der Lehrpläne, die in den vergangenen Jahrzehnten erfolgt ist. … Sie schränkt unsere Möglichkeiten ein, mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts umzugehen — von der Finanzstabilität bis zur Sicherung der Nahrungsmittelversorgung und dem Klimawandel.3
Die radikaleren unter den studentischen Rebellen nahmen mit ihrer Kulturkritik die großen wissenschaftlichen Konferenzen aufs Korn. Im Januar 2015, als im Sheraton Hotel in Boston die Jahrestagung der American Economic Association stattfand, beklebten Studenten der Gruppe »Kick it Over« die Gänge, Aufzüge und Toiletten des Hotels mit anklagenden Plakaten, projizierten in großen Buchstaben subversive Botschaften an die Straßenfassade des Konferenzzentrums und verblüfften die erstaunten Tagungsbesucher, indem sie sich Zugang zu Podiumsdiskussionen verschafften und Fragezeit okkupierten.4 »Die Revolution der Wirtschaftswissenschaften hat begonnen«, verkündete das Manifest der Studenten. »Von einem Campus zum nächsten werden wir euch alten Böcken die Macht wegnehmen. Und in den folgenden Monaten und Jahren werden wir damit beginnen, die Weltuntergangsmaschine umzuprogrammieren.«5
Es ist eine außergewöhnliche Situation. Keine andere akademische Disziplin hat es bisher geschafft, ihre eigenen Studenten — jene Leute, die sich entschlossen haben, mehrere Jahre ihres Lebens mit dem Studium ihrer Theorien zu verbringen — in eine weltweite Revolte zu treiben. Ihre Rebellion hat eines deutlich werden lassen: Die Revolution der Wirtschaftswissenschaften hat tatsächlich begonnen. Ob sie erfolgreich sein wird, hängt nicht nur davon ab, ob sie die alten Theorien widerlegen, sondern vor allem davon, ob sie neue Theorien hervorbringen kann. Buckminster Fuller, ein genialer Erfinder des 20. Jahrhunderts, meinte einmal: »Man wird Dinge niemals verändern, wenn man gegen die existierende Realität ankämpft. Um wirklich etwas zu verändern, muss man ein neues Modell schaffen, welches das alte Modell überflüssig macht.«
Im Januar 2015 übernahmen protestierende Studenten die Straßenfront des Bostoner Sheraton Hotels, um die Teilnehmer der Jahrestagung der American Economic Association mit ihrer Kulturkritik zu begrüßen.
Dieses Buch stellt sich dieser Herausforderung und zeigt anhand sieben grundlegender Denkansätze auf, wie wir lernen können, wie Ökonomen des 21. Jahrhunderts zu denken. Indem wir die alten Ideen aufgeben, die uns gefangen halten, und sie durch neue ersetzen, die uns inspirieren, entwerfen wir ein neues ökonomisches Narrativ, das in Bildern ebenso wie in Worten erzählt wird.
Der Begriff »Ökonomie« wurde von dem griechischen Philosophen und Politiker Xenophon geprägt. Durch die Verbindung von oikos, das Haushalt bedeutet, und nomos, das Regeln oder Normen bezeichnet, entwickelte er die Kunst der Haushaltsführung, die heute von ganz besonderer Bedeutung ist. In unserem Jahrhundert brauchen wir gute, sachkundige Verwalter, die unseren planetarischen Haushalt führen und die bereit und imstande sind, die Bedürfnisse aller Bewohner zu berücksichtigen.
In den vergangenen 60 Jahren hat der menschliche Wohlstand enorm zugenommen. Ein Kind, das 1950 auf dem Planeten Erde geboren wurde, konnte damals durchschnittlich mit einer Lebenserwartung von 48 Jahren rechnen; heute lebt ein solches Kind durchschnittlich 71 Jahre.6 Allein seit 1990 hat sich die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben — das heißt, mit weniger als 1,90US-Dollar am Tag auskommen müssen —, mehr als halbiert. Mehr als zwei Milliarden Menschen haben zum ersten Mal Zugang zu Trinkwasser und zu Toiletten erhalten. Zugleich ist in diesem Zeitraum die Weltbevölkerung um fast 40 Prozent gewachsen.7
Das ist die gute Nachricht. Doch der Rest der Geschichte ist weniger erfreulich. Viele Millionen Menschen leben nach wie vor in ärmlichsten Verhältnissen. Weltweit hat jeder neunte Mensch nicht genügend zu essen.8 Im Jahr 2015 sind sechs Millionen Kinder unter fünf Jahren gestorben, wobei mehr als die Hälfte dieser Todesfälle auf leicht zu behandelnde Krankheiten wie Diarrhö und Malaria entfiel.9 Zwei Milliarden Menschen leben von weniger als 3US-Dollar am Tag, und mehr als 70 Millionen junge Frauen und Männer finden keine Arbeit.10 Diese Verhältnisse werden durch wachsende ökonomische Unsicherheit und zunehmende Ungleichheit weiter verschärft. Der Finanzcrash von 2008 löste Schockwellen in der Weltwirtschaft aus und raubte Millionen Menschen ihre Jobs, ihr Heim, ihre Ersparnisse und ihre Sicherheit. Mittlerweile ist die Welt noch wesentlich ungleicher geworden: Im Jahr 2015 entfiel auf das 1 Prozent der Reichsten mehr Wohlstand als auf die restlichen 99 Prozent der Menschheit.11
Zu diesen Extremen in Bezug auf menschliche Lebensumstände kommt die sich verschärfende Bedrohung unserer planetarischen Heimat. Die Aktivität des Menschen setzt die lebensspendenden Systeme der Erde auf beispiellose Weise unter Druck. Die globale Durchschnittstemperatur ist bereits um 0,8 Grad angestiegen, und wir müssen damit rechnen, dass sie bis zum Jahr 2100 um insgesamt fast 4 Grad steigen wird, wodurch Überflutungen, Dürren, Stürme und Meeresspiegelanstiege in einem Ausmaß heraufbeschworen werden dürften, das die Menschheit noch nie erlebt hat.12 Ungefähr 40 Prozent des Agrarlands sind mittlerweile von Erosion bedroht, und 2025 werden weltweit zwei von drei Menschen in Gegenden leben, die unter Wasserknappheit leiden.13 Schon jetzt sind 80 Prozent der Fischgründe der Welt weitgehend oder vollständig überfischt, und jede Minute wird Plastikmüll in der Größenordnung einer Lastwagenladung in die Meere gekippt: Wenn sich das in diesem Tempo fortsetzt, werden 2050 mehr Plastikteile als Fische in den Meeren schwimmen.14
Das sind überwältigende Fakten, doch Wachstumsprognosen verschärfen die Herausforderung noch. Die Weltbevölkerung beträgt gegenwärtig 7,3 Milliarden Menschen, sie soll bis 2050 auf 10 Milliarden wachsen und sich bis 2100 bei rund 11 Milliarden einpendeln.15 Die globale Wirtschaftsleistung soll — schenkt man den Prognosen Glauben, die von einem Business-as-usual-Szenario ausgehen — bis 2050 um jährlich drei Prozent steigen, wodurch sich die Größe der Weltwirtschaft bis 2037 verdoppeln und bis 2050 nahezu verdreifachen würde.16 Die globale Mittelschicht — Menschen, die pro Tag zwischen 10 und 100US-Dollar ausgeben können — wird sich dramatisch vergrößern und bis 2030 von zwei auf fünf Milliarden Menschen steigen, was eine massive Ausweitung der Nachfrage nach Baumaterialien und Konsumerzeugnissen nach sich ziehen wird.17 Diese Trends bestimmen die Aussichten der Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Welche Art von Denken benötigen wir also für die Reise, die uns bevorsteht?
Wie auch immer wir diese miteinander verflochtenen Herausforderungen in Angriff nehmen, eines ist klar: Die Wirtschaftstheorie wird dabei eine zentrale Rolle spielen. Die Wirtschaftslehre ist gewissermaßen die Muttersprache der öffentlichen Ordnung, die Sprache des öffentlichen Lebens und die Geisteshaltung, welche die Gesellschaft formt. »In diesen ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ist die Haupterzählung wirtschaftlicher Natur: wirtschaftliche Überzeugungen, Werte und Annahmen bestimmen, wie wir denken, wie wir empfinden und wie wir handeln«, schreibt F. S. Michaels in ihrem Buch Monoculture: How One Story is Changing Everything.18
Vielleicht sind Ökonomen deshalb mit einer gewissen Aura von Autorität ausgestattet. Sie sitzen in der internationalen politischen Arena — von der Weltbank bis zur Welthandelsorganisation — als Experten in der ersten Reihe. In den USA beispielsweise ist das Council of Economic Advisers des Präsidenten das einflussreichste, renommierteste und am längsten bestehende Beratungsgremium des Weißen Hauses, während die Beratungsgremien, die sich mit Umweltschutz, Wissenschaft und Technologie beschäftigen, in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind. Im Jahr 1968 wurde der prestigeträchtige Nobelpreis, der ursprünglich für wissenschaftliche Leistungen auf den Gebieten der Physik, der Chemie und der Medizin verliehen wurde, auf ein weiteres Gebiet ausgedehnt: Die Schwedische Reichsbank erreichte, dass jährlich auch ein Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für »Wirtschaftswissenschaften« verliehen wird, der von ihr gestiftet wurde und dessen Empfänger fortan zu akademischen Berühmtheiten wurden.
Nicht alle Ökonomen waren mit dieser ihnen zugeschriebenen Autorität glücklich. Schon in den 1930er-Jahren machte sich John Maynard Keynes — der englische Nationalökonom, dessen Ideen die Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit maßgeblich beeinflussen sollten — Gedanken über die Rolle seines Berufsstandes. »Die Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen, sowohl wenn sie im Recht, als wenn sie im Unrecht sind, [sind] einflussreicher, als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes beherrscht«, schrieb er. »Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen.«19 Der österreichische Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek, der ebenfalls in den 1930er- und 1940er-Jahren bekannt wurde und als bedeutendster Vertreter des Neoliberalismus angesehen wird, widersprach Keynes in nahezu allen theoretischen und politischen Fragen, doch in diesem Punkt waren sie sich einig. Als Hayek1974 der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften zuerkannt wurde, nahm er ihn mit der Bemerkung an, dass er, hätte man ihn bei der Einrichtung dieses Preises um Rat gefragt, sich dagegen ausgesprochen hätte. Warum? Weil, wie er dem Publikum bei der Preisverleihung erklärte, »der Nobelpreis einem Individuum eine Autorität verleiht, die in der Ökonomie niemandem zukommt«, insbesondere »weil jener Einfluss eines Ökonomen, der am meisten zählt, ein Einfluss auf Laien ist: auf Politiker, Journalisten, Beamte und die Öffentlichkeit allgemein«.20
Trotz der Bedenken dieser beiden einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts hat sich die Dominanz der ökonomischen Sichtweise auf die Welt weiter verfestigt und sogar in die öffentliche Sprache Eingang gefunden. In Hospitälern und Krankenhäusern überall auf der Welt wurden Patienten und Ärzte neu eingestuft — als Kunden und als Dienstleister. Auf den Äckern und in den Wäldern aller Kontinente berechnen Ökonomen den monetären Wert des »Naturkapitals« und der »Ökosystemdienstleistungen«, vom ökonomischen Wert der Feuchtgebiete der Welt (der sich auf 3,4 Milliarden US-Dollar jährlich belaufen soll) bis zum globalen Wert der Pflanzenbestäubung durch Insekten (der auf 160 Milliarden US-Dollar pro Jahr beziffert wird).21 Unterdessen wird die Bedeutung des Finanzsektors ständig neu durch Medienberichte und tägliche Radio- und Zeitungsnachrichten bekräftigt, in denen die neuesten Quartalszahlen der Unternehmen gemeldet werden, während die Aktienkurse auf dem Kursticker über die Fernsehschirme laufen.
In Anbetracht der Dominanz der Ökonomie im öffentlichen Leben ist es keine Überraschung, dass so viele Hochschulstudenten, wenn sie die Chance dazu erhalten, zumindest einige Semester in diesem Fach studieren. Jedes Jahr absolvieren ungefähr fünf Millionen Collegestudenten allein in den USA einen Ökonomiekurs. Ein standardmäßiger Einführungskurs aus den USA — bekannt als Econ 101 — wird heute überall auf der Welt angeboten, und Studenten von China bis Chile lernen mit Übersetzungen derselben Lehrbücher, die in Chicago und in Cambridge in Massachusetts benutzt werden. Für alle diese Studenten ist Econ 101 zu einem grundlegenden Bestandteil einer umfassenden Ausbildung geworden, unabhängig davon, ob sie später Ingenieure oder Ärzte werden wollen, Journalisten oder politische Aktivisten. Selbst für jene, die niemals Ökonomie studieren, sind die Sprache und die Denkhaltung von Econ 101 so bestimmend in der öffentlichen Debatte, dass sie ihr Denken über die Wirtschaft prägen: was sie ist, wie sie funktioniert und wofür es sie gibt.
Und das ist der Haken. Der Weg der Menschheit durch das 21. Jahrhundert wird von den politischen Entscheidungsträgern, den Lehrern, Journalisten, Gemeinschaftsorganisatoren, Aktivisten und Wählern bestimmt werden, die heute ihre Ausbildung erhalten. Doch diese Bürger des Jahres 2050 werden in einer Geisteshaltung erzogen, die aus Lehrbüchern aus den 1950er-Jahren stammt, die auf den Theorien von 1850 beruhen. Aufgrund des sich rasend schnell verändernden Wesens des 21. Jahrhunderts bahnt sich damit eine Katastrophe an. Natürlich hat das 20. Jahrhundert bahnbrechende neue ökonomische Denkansätze hervorgebracht, die über die Auseinandersetzungen zwischen den Ideen von Keynes und Hayek höchst einflussreich waren. Doch obwohl diese beiden großen Denker gegensätzliche Perspektiven vertraten, übernahmen sie fehlerhafte Annahmen und weitverbreitete blinde Flecken, die unhinterfragt ihren Differenzen zugrunde lagen. Der Kontext des 21. Jahrhunderts erfordert, dass wir diese Annahmen und blinden Flecken sichtbar machen, damit wir die Ökonomie wieder neu denken können.
Als Teenager versuchte ich mir in den 1980er-Jahren durch die Abendnachrichten ein Bild von der Welt zu verschaffen. Die Fernsehbilder, die täglich in unser Wohnzimmer flimmerten, trugen mich weit weg von meinem Leben als Schülerin in London, und diese Bilder blieben haften: das unvergessliche stumme Starren auf die Babys mit den aufgequollenen Bäuchen, die während der Hungersnot in Äthiopien auf die Welt kamen; die nebeneinander aufgereihten Toten, die bei der Gasexplosion in Bhopal wie Streichhölzer niedergestreckt worden waren; ein purpurfarbenes Loch, das in der Ozonschicht klaffte; der riesige Ölteppich, der aus der Exxon Valdez in das klare Wasser vor Alaskas Küste floss. Am Ende dieses Jahrzehnts wusste ich, dass ich für eine Organisation wie Oxfam oder Greenpeace arbeiten wollte — um dafür zu kämpfen, den Hunger und die Umweltzerstörung zu beenden —, und ich dachte, der beste Weg, um sich darauf vorzubereiten, wäre, Ökonomie zu studieren und die Instrumente, die ich mir dabei aneignen würde, für diese Anliegen einzusetzen.
Also ging ich nach Oxford, um dort zu lernen, was ich für meinen Job zu benötigen glaubte. Nur die ökonomische Theorie, die mir dort angeboten wurde, frustrierte mich, weil sie eigenartige Annahmen darüber traf, wie die Welt funktionierte, während sie die meisten Dinge beschönigte, über die ich mir Sorgen machte. Ich hatte das Glück, inspirierende Tutoren zu finden, aber auch sie wurden durch den Lehrstoff gebunden, den sie lehren und den wir lernen mussten. Nach vier Jahren verabschiedete ich mich von der theoretischen Ökonomie, denn es brachte mich in Verlegenheit, mich als »Ökonomin« zu bezeichnen, und ich vertiefte mich stattdessen in die wirtschaftlichen Herausforderungen der wirklichen Welt.
Ich verbrachte drei Jahre bei sogenannten Barfuß-Unternehmern in Sansibar und bewunderte die Frauen, die Kleinstunternehmen betrieben, während sie ihre Kinder erzogen, ohne die Aussicht auf fließendes Wasser, Strom oder eine Schule. Dann wechselte ich auf die gänzlich andersartige Insel Manhattan und arbeitete vier Jahre für das Team bei den Vereinten Nationen, das den jährlichen Human Development Report verfasst. Währenddessen erlebte ich mit, wie durch unverblümte Machtspiele Fortschritte in internationalen Verhandlungen blockiert wurden. Ich ging weg, um mir einen lange gehegten Traum zu erfüllen, und war mehr als ein Jahrzehnt für Oxfam tätig. Dort erlebte ich, in welch prekären Verhältnissen Frauen leben — von Bangladesch bis Birmingham —, die am anderen Ende der globalen Lieferketten arbeiten. Wir setzten uns dafür ein, die unfairen Spielregeln und die Doppelmoral zu verändern, die in den internationalen Handelsbeziehungen herrschen. Darüber hinaus erforschte ich die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechte und besuchte Farmer von Indien bis Sambia, deren Äcker unfruchtbar geworden waren, weil schon lange kein Regen mehr fiel. Dann wurde ich Mutter von Zwillingen und verbrachte ein Jahr im Mutterschaftsurlaub, stark gefordert von meinen beiden kleinen Kindern. Als ich in die Arbeit zurückkehrte, war mir bewusst, unter welchem Druck Eltern stehen, die Job und Familie unter einen Hut bringen müssen.
Während dieser Zeit erkannte ich allmählich, was offenkundig war: dass ich nicht von der Ökonomie lassen konnte, weil sie die Welt bestimmt, in der wir leben, und dass ihre Denkhaltung bereits mein Leben bestimmte, auch wenn ich mich dagegen wehrte. Also entschloss ich mich, wieder zur Ökonomie zurückzukehren und sie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Wie wäre es, wenn wir nicht die etablierten, althergebrachten Theorien an den Anfang der Ökonomie stellen, sondern stattdessen die langfristigen Ziele der Menschheit, und versuchten, ein ökonomisches Denken zu entwickeln, das uns in die Lage versetzt, diese Ziele zu erreichen? Ich machte mich daran, ein Bild dieser Ziele zu zeichnen, das schließlich, so verrückt es klingen mag, wie ein Donut aussah — ja, wie ein amerikanischer Donut mit einem Loch in der Mitte. Im Wesentlichen besteht das Modell aus einem Paar konzentrischer Ringe. Innerhalb des inneren Rings — dem gesellschaftlichen Fundament — liegen die tief greifenden Depravierungsprozesse, die großen Geißeln und Nöte der Menschheit wie Hunger und Analphabetentum. Außerhalb des äußeren Rings — der ökologischen Decke — liegen die gravierenden planetaren Degradierungsprozesse wie der Klimawandel und der Verlust der Biodiversität. Zwischen diesen beiden Ringen ist der Donut im engeren Sinne angesiedelt, jener Raum, in dem wir die Bedürfnisse aller mit den Mitteln des Planeten befriedigen können.
Das Wesen des Donuts: ein gesellschaftliches Fundament des Wohlergehens, unter das niemand abstürzen sollte, und eine ökologische Decke des planetaren Drucks, über die wir nicht hinausgehen sollten. Zwischen beiden Bereichen liegt ein sicherer und gerechter Raum für alle.
Süße, frittierte Donuts mögen als eine seltsame Metapher für die Ziele der Menschheit erscheinen, doch dieses Bild sprach mir aus der Seele und wurde auch von anderen positiv aufgenommen. Und es brachte mich zu einer grundlegenden Frage:
Wenn das Ziel der Menschheit im 21. Jahrhundert darin besteht, in das Innere des Donuts zu gelangen, welche ökonomische Denkhaltung eröffnet uns dann die besten Chancen, dies zu erreichen?
Mit dem Donut in der Hand fegte ich meine alten Lehrbücher vom Tisch und suchte nach den überzeugendsten frischen Ideen, erforschte das neue ökonomische Denken aufgeschlossener Studenten, fortschrittlicher Wirtschaftsführer, innovativer Wissenschaftler und moderner Praktiker. Dieses Buch versammelt die wichtigsten Erkenntnisse und Einsichten, die ich auf diesem Weg gewonnen habe — Erkenntnisse über Denkweisen, von denen ich wünschte, ich wäre schon zu Beginn meiner Beschäftigung mit der Ökonomie damit in Berührung gekommen, und die nach meiner Meinung heute zum Rüstzeug eines jeden Ökonomen gehören sollten. Es werden unterschiedliche Denkschulen behandelt, wie etwa die Komplexitätsökonomik, die Ökologische und die Feministische Ökonomie, die Institutionenökonomik und die Verhaltensökonomie. Sie alle sind reich an Erkenntnissen, doch es besteht die Gefahr, dass sie in ihren jeweiligen Nischen isoliert bleiben, denn jede Denkschule bringt ihre eigenen Fachzeitschriften, Konferenzen, Blogs, Lehrbücher und Lehreinrichtungen hervor und kultiviert ihre ganz eigene Kritik am Denken des vergangenen Jahrhunderts. Ein wirklicher Durchbruch kann jedoch erst gelingen, wenn diese Denkschulen ihre Ansätze miteinander verbinden und herausfinden, was geschieht, wenn sie auf demselben Ball tanzen — ein Vorhaben, das dieses Buch in Angriff nehmen will.
Die Menschheit steht vor gewaltigen Herausforderungen, und nicht zuletzt dank der blinden Flecken und der irreführenden Metaphern des überkommenen ökonomischen Denkens sind wir in diese Lage geraten. Doch für jene, die bereit sind, zu rebellieren, über den Tellerrand zu blicken, Dinge infrage zu stellen und neu zu denken, sind dies aufregende Zeiten. »Die Studenten müssen lernen, wie man alte Vorstellungen ablegt, wie und zu welchem Zeitpunkt man sie durch neue ersetzt. Kurz, sie müssen das Lernen lernen«, schrieb der Zukunftsforscher Alvin Toffler. Dies gilt zuallererst für jene, die nach wirtschaftlicher Bildung streben: Heute ist ein günstiger Augenblick dafür, die alten Vorstellungen über die Wirtschaft abzulegen und die Grundlagen der Ökonomie neu zu erlernen.
Allgemein heißt es: Wir brauchen eine neue ökonomische Erzählung, ein Narrativ unserer gemeinsamen wirtschaftlichen Zukunft, das dem 21. Jahrhundert gerecht wird. Einverstanden. Aber vergessen wir dabei eines nicht: Die wirkungsmächtigsten Erzählungen in der Geschichte waren stets jene, die über Bilder erzählt wurden. Wenn wir die Wirtschaftswissenschaft neu schreiben wollen, müssen wir auch ihre Bilder neu zeichnen, denn wir können keine neue Geschichte erzählen, wenn wir an den alten Bildern hängen bleiben. Und wenn es Ihnen zu belanglos erscheinen mag, neue Bilder zu zeichnen — wenn Sie das für Kinderkram halten —, möchte ich Ihnen versichern: Das ist es nicht. Ich werde es Ihnen beweisen.
Von den prähistorischen Höhlenmalereien bis zum Plan der Londoner U-Bahn — seit jeher bilden Bilder, Diagramme und Grafiken den Kern des menschlichen Geschichtenerzählens. Der Grund ist einfach: Unser Gehirn ist auf visuelle Eindrücke ausgelegt. »Sehen kommt vor den Worten. Das Kind sieht etwas und erkennt es, bevor es zu reden anfängt«, schrieb der Medientheoretiker John Berger am Anfang seines klassischen Werks Ways of Seeing aus dem Jahr 1972.22 Die Neurowissenschaft hat mittlerweile die beherrschende Rolle der Visualisierung bei der menschlichen Wahrnehmung bestätigt. Die Hälfte der Nervenfasern in unserem Gehirn ist mit dem Sehen verbunden, und wenn wir die Augen geöffnet haben, ist das Sehen für zwei Drittel der elektrischen Impulse in unserem Gehirn verantwortlich. Das Gehirn benötigt nur 150 Millisekunden, um ein Bild zu erkennen, und nur weitere 100 Millisekunden, um es mit einer Bedeutung zu verbinden.23 Obwohl wir in beiden Augen blinde Flecken haben — wo die Sehnerven aus dem gesamten Auge an der Netzhaut zusammenlaufen —, sorgt das Gehirn dafür, dass wir eine nahtlose Vorstellung vom Ganzen bekommen.24
Aus diesem Grund suchen wir nach Mustern, sehen Gesichter in den Wolken, Gespenster im Schatten und mythische Wesen in den Sternen. Und wir lernen am besten, wenn wir dabei Bilder anschauen können. Lynell Burmark, eine Expertin für visuelle Lese- und Schreibkompetenz, erklärt: »Wenn unsere Worte, Konzepte und Ideen nicht an ein Bild gekoppelt sind, gehen sie durch das eine Ohr hinein und das andere wieder hinaus. Worte werden durch unser Kurzzeitgedächtnis verarbeitet, in dem wir nur ungefähr sieben unterschiedliche Informationen behalten können. … Bilder dagegen gehen unmittelbar in das Langzeitgedächtnis ein, wo sie unauslöschlich abgespeichert werden.«25 Mit wesentlich weniger Pinselstrichen und ohne das Gewicht einer technischen Sprache erzeugen Bilder Unmittelbarkeit — und wenn Text und Bild widersprüchliche Botschaften senden, gewinnt meist die visuelle Botschaft die Oberhand.26 Wieder einmal erweist sich eine alte Redensart als zutreffend: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.
Es ist daher nicht überraschend, dass Bilder eine zentrale Rolle dabei gespielt haben, wie die Menschen lernten, sich die Welt zu erklären. Im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde die älteste bekannte Landkarte der Welt, die Imago Mundi, in Persien mit einem angespitzten Stab in Ton geritzt. Sie zeigte die Erde als flache Scheibe mit Babylon als Mittelpunkt. Der griechische Mathematiker Euklid, der Vater der Geometrie, untersuchte die Kreise, Dreiecke, Geraden und Quadrate in ihrer Zweidimensionalität und begründete eine diagrammatische Konvention, die später Isaac Newton zur Entwicklung seiner bahnbrechenden Gesetze der Bewegung heranzog und die auch heute noch weltweit im Mathematikunterricht gelehrt werden. Weitgehend unbekannt ist heute der römische Architekt und Ingenieur Marcus Vitruvius Pollio, doch Leonardo da Vincis Darstellung von dessen Theorie der Proportionen in seiner Illustration des »Vitruvianischen Menschen« — ein nackter Mann, der mit ausgebreiteten Armen in einem Kreis und einem Quadrat steht und sich gleichermaßen in beide geometrische Formen einfügt — kennt jeder. Als Charles Darwin1837 in seinem Notizbuch eine kleine Zeichnung eines sich verzweigenden Baumes anfertigte — über den er die Worte »Ich denke« setzte —, brachte er damit den Kern eines Gedankens zum Ausdruck, den er später in seinem Werk Über die Entstehung der Arten ausführen sollte.27
Über alle Kulturen und Zeiten hinweg zeigt sich, dass die Menschen die Macht der Bilder verstanden haben und auch deren Fähigkeit, tief verwurzelte Überzeugungen zu verändern. Bilder setzen sich im geistigen Auge fest und formen unsere Sicht der Welt neu. Es ist kein Wunder, dass Nikolaus Kopernikus, der sein Leben lang die Bewegungen der Planeten untersuchte, es erst auf dem Sterbebett wagte, obige Grafik zu veröffentlichen.
Darstellung des Universums durch Kopernikus aus dem Jahr 1543, in der sich die Erde um die Sonne dreht.
Indem er auf seinem Bild die Sonne, nicht die Erde, in den Mittelpunkt des Sonnensystems stellte, löste Kopernikus eine ideologische Revolution aus, die schließlich die Dogmen der Kirche erschüttern, die Macht des Papstes bedrohen und das Verständnis des Menschen vom Kosmos und unserer Stellung darin grundlegend verändern sollte. Es ist erstaunlich, welche Wirkung ein paar konzentrische Kreise hervorrufen können.
Man denke auch an die Kreise, Parabeln, Geraden und Kurven, die den Kern wirtschaftswissenschaftlicher Grafiken ausmachen — jene unscheinbaren Bilder, die darstellen, was die Volkswirtschaft ist, wie sie funktioniert und wozu sie dient. Man sollte niemals die Macht solcher Bilder unterschätzen: Was wir zeichnen, das bestimmt, was wir sehen können und was nicht. Es beeinflusst, was wir wahrnehmen und was wir vernachlässigen, und prägt dadurch alles, was daraus folgt. Die Bilder, die wir zeichnen, um die Wirtschaft zu beschreiben, rufen in ihrer geometrischen Schlichtheit die zeitlosen Wahrheiten von Euklids Mathematik und Newtons Physik wach. Doch dadurch setzen sie sich mühelos in unserem Hinterkopf fest und flüstern uns wortlos die Grundannahmen der ökonomischen Theorie ein, die nicht in Worte gefasst werden müssen, weil sie in das geistige Auge eingeschrieben worden sind. Sie präsentieren uns ein sehr eingeschränktes Bild der Wirtschaft, gehen elegant über die blinden Flecken der ökonomischen Theorie hinweg, verleiten uns dazu, in ihren Linien nach Gesetzmäßigkeiten zu suchen, und bringen uns dazu, falsche Ziele anzustreben. Mehr noch, diese Bilder halten sich auch noch, wie geistige Graffiti, wenn die Worte schon lange verklungen sind, sie werden zu einem versteckten intellektuellen Gepäck, das in unserer Sehrinde abgelegt ist, ohne dass uns bewusst ist, dass es sich dort befindet. Und ähnlich wie Graffiti lässt es sich nur schwer entfernen. Wenn also ein Bild mehr sagt als tausend Worte, dann sollten wir zumindest in der Ökonomie den Bildern, die wir lehren, zeichnen und aus denen wir lernen, wesentlich mehr Beachtung schenken.
Manche mögen einwenden, dass die ökonomische Theorie nicht mit Bildern, sondern durch Gleichungen gelehrt wird, Seite über Seite. Wirtschaftswissenschaftliche Abteilungen stellen Mathematiker ein, nicht Künstler. Doch die Nationalökonomie wurde schon immer durch Grafiken und Gleichungen gleichermaßen vermittelt, und die Grafiken haben dabei eine sehr wichtige Rolle gespielt, dank einiger höchst origineller Charaktere und überraschender Wendungen in der wenig bekannten, aber faszinierenden Vergangenheit dieser Disziplin.
Viele Pioniere und Wegbereiter der Wirtschaftswissenschaft haben Bilder verwendet, um ihre grundlegenden Ideen auszudrücken. Der französische Nationalökonom François Quesnay veröffentlichte 1758 sein Werk Tableau Économique, in dem er mithilfe von Linien die Geldflüsse zwischen Grundeigentümern, Arbeitern und Kaufleuten darstellte, und schuf damit im Grunde das erste quantifizierte ökonomische Modell. In den 1780er-Jahren entwickelte der britische politische Ökonom William Playfair neue Formen der Darstellung von Daten und verwendete erstmals Schaubilder sowie Balken- und Kreisdiagramme. Mittels dieser Instrumente visualisierte er auf anschauliche Weise die politischen Themen seiner Zeit, wie etwa die stark steigenden Weizenpreise für die Tagelöhner und die Veränderungen von Englands Handelsbilanz mit der übrigen Welt. Ein Jahrhundert später zeichnete der britische Ökonom William Stanley Jevons ein Bild, mit dem er sein von ihm so genanntes »Gesetz der Nachfrage« darstellte, indem er die Veränderungen der Preise und der Menge entlang einer Kurve eintrug, um aufzuzeigen, dass die Menschen bei fallenden Preisen mehr von einer bestimmten Ware kaufen. Um seiner Theorie einen Anstrich von Wissenschaftlichkeit zu verleihen, gestaltete er seine Zeichnung in enger Anlehnung an Newtons Darstellung der Bewegungsgesetze. Diese Nachfragekurve ist noch immer eine der ersten grafischen Darstellungen, mit denen Wirtschaftsstudenten heute Bekanntschaft machen.
Um die Nationalökonomie als ebenso wissenschaftlich wie die Medizin erscheinen zu lassen, orientierte sich Jevons bei der Darstellung seiner Theorie an Isaac Newtons Diagrammen über die Gesetze der Bewegung.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte das 1890 erschienene Werk Principles of Economics von Alfred Marshall eine beherrschende Rolle in der Ökonomie; es avancierte zu einem Grundlagenwerk für Studenten. In seinem Vorwort beschäftigte sich Marshall mit den jeweiligen Vorzügen der Verwendung von Gleichungen und von Diagrammen zur Veranschaulichung des Textes. Der Nutzen mathematischer Gleichungen, so glaubte er, bestehe darin, dass sie gestatteten, »eigene Gedanken zum eigenen Gebrauch schnell, kurz und exakt niederzuschreiben. … Aber wenn sehr viele Symbole benutzt werden müssen, dann wird es sehr mühsam für alle, bis auf den Schreiber selbst.« Der Nutzen von Diagrammen sei dagegen wesentlich größer. »Die Beweisführung im Text ist nirgends von ihnen abhängig«, schrieb er, »aber die Erfahrung scheint zu lehren, dass mit ihrer Hilfe viele wichtige Grundsätze sicherer erfasst werden können als sonst und dass es viele rein theoretische Probleme gibt, die keiner gern anders behandelt, der einmal gelernt hat, Diagramme zu benützen.«28
Es war Paul A. Samuelson, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich die bildliche Darstellung im ökonomischen Denken verankerte. Samuelson, auch als Vater der modernen Volkswirtschaftslehre bezeichnet, absolvierte seine sieben Jahrzehnte umfassende wissenschaftliche Karriere am Massachusetts Institute of Technology (MIT), und wurde als »einer der Riesen, auf dessen Schultern alle modernen Ökonomen stehen«, gepriesen.29 Samuelson war sehr angetan von Gleichungen und Schaubildern und er förderte maßgeblich deren Verwendung. Doch er war überzeugt davon, dass sich die beiden Arten grafischer Darstellung jeweils an eine andere Zielgruppe richteten: Gleichungen seien für Spezialisten, Bilder für das allgemeine Publikum.
Samuelsons erstes größeres Buch war seine Dissertation Foundations of Economic Analysis. Dieses 1947 veröffentlichte Werk richtete sich an den strikten Theoretiker und war dezidiert mathematisch angelegt: Gleichungen, so glaubte Samuelson, sollten gewissermaßen die Muttersprache professioneller Ökonomen sein und ihnen dazu dienen, konfuses, ungenaues Denken zu sezieren und durch wissenschaftliche Präzision zu ersetzen. Sein zweites Buch dagegen schrieb er für ein gänzlich anderes Publikum, allerdings nur in Folge einer Laune des Schicksals.
Paul Samuelson: der Mann, der die Volkswirtschaftslehre zeichnerisch darstellte.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebten die US-amerikanischen Hochschulen einen starken Ansturm, als Hunderttausende junge Soldaten heimkehrten und die Ausbildung nachholen wollten, auf die sie hatten verzichten müssen, um sich die Jobs zu suchen, die sie dringend benötigten. Viele entschlossen sich, Ingenieurwesen zu studieren — ein Fach, das für den Nachkriegsaufbau von großer Bedeutung war —, und sie mussten sich dabei auch ein wenig mit Ökonomie beschäftigen. Samuelson war zu dieser Zeit 30 Jahre alt, Professor am MIT und bezeichnete sich selbst als ein »Jungspund, der sich brennend für eine esoterische Theorie interessiert«. Doch der Leiter seiner Fakultät, Ralph Freeman, hatte mit einem Problem zu kämpfen: Die 800 Ingenieurstudenten am MIT hatten gerade mit ihrem einjährigen Ökonomie-Pflichtkurs begonnen, aber es lief nicht gut. Samuelson erinnerte sich daran, dass Freeman eines Tages in sein Büro kam und die Tür hinter sich schloss. »Sie hassen dieses Fach«, bekannte Freeman. »Wir haben alles versucht. Aber sie mögen es einfach nicht. … Paul, könnten Sie vielleicht auf einer halben Stelle für ein oder zwei Semester aushelfen? Schreiben Sie einen Text, der die Studenten anspricht. Wenn Sie das schaffen, haben Sie viel erreicht. Lassen Sie alles weg, was Sie für entbehrlich halten. Halten Sie es so kurz, wie Sie wollen. Was immer Sie schreiben, es wird eine wesentliche Verbesserung gegenüber dem jetzigen Zustand sein.«30
Es war ein Angebot, das Samuelson, wie er später erklärte, nicht ablehnen konnte, und das Werk, das er in den folgenden drei Jahren verfasste — mit dem schlichten Titel Economics (Volkswirtschaftslehre) —, wurde 1948 der Lehrbuch-Klassiker, der ihm lebenslangen Ruhm eintrug. Mit der Strategie, der er bei diesem Buch folgte, trat Samuelson in die Fußstapfen der römisch-katholischen Kirche. Vor der Entstehung der Druckpresse hatte die Kirche zwei ganz unterschiedliche Methoden benutzt, um ihre Lehre zu verbreiten. Die wenigen Gebildeten — die Mönche, Priester und Gelehrten — lasen die Bibel auf Lateinisch und schrieben ihre Verse Zeile um Zeile ab. Den ungebildeten Massen dagegen wurden die biblischen Geschichten in Bildern nahegebracht, als Fresken an Kirchenwände gemalt und auf Buntglasfenstern illuminiert. Dies erwies sich als eine höchst erfolgreiche Kommunikationsstrategie. Samuelson ging ebenso geschickt zu Werke: Er verzichtete auf die mathematischen Gleichungen für die Spezialisten und arbeitete ausgiebig mit Diagrammen, Grafiken und Schaubildern, um seinen volkswirtschaftlichen Kompaktkurs für die breiten Massen zu erstellen. Als Beispiel soll eine Illustration aus der ersten Ausgabe seines Lehrbuchs dienen, die darstellt, wie Geld in der Volkswirtschaft zirkuliert und wie neue Investitionen den wirtschaftlichen Kreislauf weiter anregen. Dieses Kreislaufdiagramm wurde zu Samuelsons berühmtestem Schaubild; es griff das Bild des Wassers auf, das durch Rohre fließt.31
Samuelsons Kreislaufdiagramm von 1948. Einkommen zirkuliert in der Volkswirtschaft wie Wasser, das durch Rohre fließt.
Samuelsons reichlich mit Bildern ausgestattetes Lehrbuch wurde ein Verkaufshit, und was bei den angehenden Ingenieuren ankam, fand auch bei vielen anderen Menschen Anklang. Volkswirtschaftslehrewurde bald von Professoren im ganzen Land und dann auch im Ausland für die Studentenausbildung übernommen. Es war in Amerika fast drei Jahrzehnte lang das meistverkaufte Lehrbuch — über alle Disziplinen hinweg. Es wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt, im Laufe von 60 Jahren wurden weltweit vier Millionen Exemplare verkauft, und es vermittelte Generationen von Studenten das grundlegende volkswirtschaftliche Rüstzeug.32 Jede Neuauflage umfasste mehr Bilder: Aus 70 Diagrammen in der 1. Auflage wurden 250 bis zur 11. Auflage 1980. Samuelson war sich bewusst, welch großen Einfluss er auf die jungen Studenten ausübte, und er fand auch Gefallen daran, denn er betrachtete jeden Studienanfänger gewissermaßen als ein »unbeschriebenes Blatt«. »Mir ist es gleich, wer die Gesetze eines Landes formuliert — oder die komplizierten Verträge entwirft —, solange ich die volkswirtschaftlichen Lehrbücher dieses Landes schreiben kann«, erklärte er viele Jahre später. »Der erste Kontakt ist der privilegierte, denn da kann man die tabula rasa des Anfängers in jener Phase beeinflussen, in der sie am besten formbar ist.«33
Paul Samuelson war nicht der Einzige, der erkannte, welch enormen Einfluss jene ausüben, die festlegen, wie wir anfangen und wie wir unsere ersten Schritte gehen. Auch sein Lehrer und Mentor Joseph Schumpeter hatte verstanden, dass Ideen, die an die nachfolgende Generation weitergegeben werden, oft nur schwer wieder abzuschütteln sind. Doch genau dies wollte er erreichen, um Platz zu schaffen für seine eigenen Erkenntnisse. Schumpeter schrieb in seinem 1954 erschienenen Werk Geschichte der ökonomischen Analyse:
In der Praxis bauen wir alle unsere eigene Forschung auf der Arbeit unserer Vorgänger auf. Kaum jemals beginnen wir ganz von vorn. Angenommen aber, wir würden von vorn beginnen, welchen Weg müssten wir einschlagen? Um überhaupt irgendeine Aufgabe klar formulieren zu können, müssen wir offenbar zuerst einmal einen abgegrenzten Problemkreis ins Auge fassen, der für eine analytische Untersuchung ergiebig wäre. Mit anderen Worten, der analytischen Untersuchung geht zwangsläufig ein voranalytischer Erkenntnisakt voraus, der den Rohstoff für die analytische Arbeit liefert. In diesem Buche nennen wir den voranalytischen Erkenntnisakt Vision.
Zugleich war Schumpeter klar, dass die Schaffung einer voranalytischen Vision niemals ein objektiver Prozess sein konnte, wie er hinzufügte:
Als Erstes stellt sich uns die Aufgabe, die Vision in Worte zu kleiden und begrifflich so klar zu erfassen, dass ihre einzelnen Elemente bezeichnet und somit leichter erkennbar sind bzw. sich in ein mehr oder minder geschlossenes Bild einfügen. … Nun müsste es uns völlig klar sein, dass dabei viele Ansatzpunkte für ein Eindringen der Ideologie in diesen Prozess vorhanden sind. Tatsächlich dringt sie schon in das Erdgeschoss, in den voranalytischen Erkenntnisakt ein, von dem wir gesprochen haben. Die analytische Arbeit beginnt mit dem von unserer Vision der Dinge gelieferten Material, und diese Vision ist eigentlich schon ex difinitione ideologisch.34
Andere Denker haben diesen Gedanken mit anderen Worten zum Ausdruck gebracht. Schumpeters Konzept einer präanalytischen Vision wurde von den Ideen des Soziologen Karl Mannheim inspiriert, der Ende der 1920er-Jahre feststellte, dass »jede Sichtweise in einem bestimmten sozialen Raum verankert« sei, und der daraus die These entwickelte, dass jeder Mensch eine »Weltsicht« besitze, die wie eine Linse fungiert, durch die er die Welt interpretiert. In den 1960er-Jahren stellte Thomas Kuhn die wissenschaftliche Forschung auf den Kopf, indem er darauf hinwies, Wissenschaftler würden »nach Vorbildern [arbeiten], die sie sich durch ihre Ausbildung … angeeignet haben, oft ohne genau zu wissen oder auch wissen zu müssen, welche Eigenschaften diesen Vorbildern den Status von Gemeinschafts-Paradigmata gegeben haben«.35 In den 1970er-Jahren entwickelte der Soziologe Erving Goffman den Begriff des »Framings«, der Rahmenanalyse, der besagt, dass jeder von uns die Welt durch einen bestimmten mentalen Bilderrahmen sieht, und er versuchte damit zu zeigen, dass sich aus der Art und Weise, wie wir Alltagserfahrungen, soziale Vorkommnisse und Ereignisse kategorisieren und interpretieren, ergibt, was wir anschließend sehen.36
Präanalytische Vision. Weltsicht. Paradigma. Rahmen. Das sind verwandte Konzepte. Wichtiger als die Entscheidung darüber, welches davon man verwenden möchte, ist die Erkenntnis, dass man überhaupt ein Konzept hat, denn dann hat man auch die Möglichkeit, es zu hinterfragen und zu verändern. In der Volkswirtschaftslehre ist dies eine Einladung, die mentalen Modelle, die wir zur Beschreibung und zum Verständnis der Ökonomie anwenden, mit einem frischen, kritischen Blick zu betrachten. Doch das ist nicht einfach, wie schon John Maynard Keynes feststellte. Die Arbeit an seinem bahnbrechenden Buch von 1938 war, wie er bekannte, »ein Kampf um Befreiung von gewohnten Formen des Denkens und des Ausdruckes. … Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr in den neuen Gedanken, als in der Befreiung von den alten, die sich bei allen, die so erzogen wurden, wie die meisten von uns, bis in die letzten Winkel ihrer Geistesart verzweigen.«37
Es ist verführerisch, alte Denkmodelle abzustreifen, doch bei der Suche nach neuen gilt es einiges zu beachten. Zum einen sollte man nie vergessen, dass »die Landkarte nicht das Territorium ist«, wie es der Philosoph Alfred Korzybski formulierte: Jedes Modell kann immer nur ein Modell sein, eine notwendige Vereinfachung der Welt, die man nicht mit der tatsächlichen Welt verwechseln darf. Zum Zweiten gibt es keine richtige präanalytische Vision, kein wahres Paradigma und keinen perfekten Rahmen, die irgendwo da draußen zu entdecken wären. Oder wie es der Statistiker George Box prägnant ausdrückte: »Alle Modelle sind falsch, einige aber sind nützlich.«38 Bei dem Versuch, die Ökonomie neu zu denken, geht es nicht darum, die richtige Ökonomie zu finden (denn die gibt es nicht), es geht vielmehr darum, jene Form zu wählen oder zu erschaffen, die am besten unseren Zwecken nützt — die den Zusammenhang widerspiegelt, in dem wir uns befinden, die Werte, die wir vertreten, und die Ziele, die wir verfolgen. Da sich die Zusammenhänge, die Werte und die Ziele der Menschheit kontinuierlich ändern, sollte dies auch für unsere Sicht der Ökonomie gelten.
Es gibt keinen vollkommenen Interpretationsrahmen, den wir nur finden müssen, erklärt auch der Linguist George Lakoff, es ist vielmehr von entscheidender Bedeutung, dass wir eine überzeugende Alternative an der Hand haben, wenn der alte Interpretationsrahmen endgültig verworfen wird. Einfach nur das vorherrschende Deutungsmuster abzulehnen wird ironischerweise zu dessen Stärkung führen. Und wenn wir keine Alternative anzubieten haben, haben wir auch nur eine geringe Chance, dass wir in den Kampf der Ideen eintreten können, geschweige denn ihn gewinnen können.
Lakoff bemüht sich seit Jahren, aufzuzeigen, wie stark verbales Framing die politische und wirtschaftliche Debatte beeinflussen kann. So führt er als Beispiel den Begriff der »Steuererleichterungen« an, der etwa von den US-amerikanischen Konservativen häufig verwendet wird. Mit nur einem Wort werden hierbei Steuern als eine Bedrängnis, eine Bürde gedeutet, die von einem heroischen Befreier weggenommen werden muss. Wie sollten die progressiven Kräfte darauf reagieren? Gewiss nicht dadurch, dass sie gegen »Steuererleichterungen« argumentieren, denn allein die Wiederholung dieses Begriffs verstärkt diese Deutung. (Wer sollte etwas gegen Erleichterungen haben?) Doch die Progressiven, stellte Lakoff fest, würden allzu oft ihre eigene Sicht der Besteuerung mit ausführlichen Darlegungen zu erklären versuchen, weil sie eben keinen alternativen Interpretationsrahmen entwickelt haben.39 Sie brauchen dringend einen alternativen kurzen Begriff, um ihre Sicht der Dinge auf einen prägnanten Nenner zu bringen und ihn dem anderen entgegenzusetzen. Tatsächlich gewann der Begriff »Steuergerechtigkeit« — der Assoziationen von Gemeinschaft, Fairness und Verantwortlichkeit wachruft — international zunehmend an Zugkraft, weil in den Medien immer häufiger über globale Skandale im Zusammenhang mit Steuerparadiesen und der Steuervermeidung durch Großkonzerne berichtet wurde. Ein machtvolles Deutungsmuster zu besitzen, mit dessen Hilfe man die Dinge einordnen kann, hat zweifellos dazu beigetragen, den allgemeinen Unmut in die richtigen Bahnen zu lenken und Unterstützung für die Forderung nach Veränderungen zu gewinnen.40
Ähnlich wie Lakoffs Arbeiten die Bedeutung des verbalen Framings für die politische und wirtschaftliche Debatte verdeutlicht haben, möchte dieses Buch die Kraft des visuellen Framings herausarbeiten und es dazu einsetzen, das wirtschaftliche Denken des 21. Jahrhunderts zu verändern. Wie machtvoll visuelles Framing sein kann, wurde mir klar, als ich 2011 zum ersten Mal den Donut zeichnete und von der internationalen Reaktion darauf überwältigt wurde. Auf dem Gebiet der Förderung nachhaltiger Entwicklung wurde er bald zu einem ikonischen Bild, das von Aktivisten, Regierungen, Unternehmen und Wissenschaftlern verwendet wurde, denen es darum geht, die Debatte in eine neue Richtung zu lenken. Im Jahr 2015 informierten mich UN-Mitarbeiter, die an den Verhandlungen über die Formulierung der Sustainable Development Goals (Ziele für nachhaltige Entwicklung) beteiligt waren — jener 17 Ziele, anhand derer der Prozess einer nachhaltigen Entwicklung der Menschheit auf ökonomischer, sozialer und ökologischer Ebene bewertet werden soll —, dass in der Schlussphase der Beratungen über die Endfassung des Dokuments das Bild des Donuts auf dem Tisch lag und als Erinnerung an die allgemeinen Ziele diente, die es anzustreben gelte. Viele Menschen berichteten mir, dass das Bild des Donuts ihre eigenen, seit Langem gehegten Vorstellungen von nachhaltiger Entwicklung sichtbar machte. Am meisten beeindruckte mich, wie stark das Bild neue Arten des Denkens förderte: Es trug dazu bei, alte Debatten wieder zu beleben und neue anzustoßen, während es zugleich eine positive Vision einer erstrebenswerten wirtschaftlichen Zukunft bot.
Visuelle Interpretationsrahmen, so wurde mir allmählich bewusst, spielen eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie verbale. Diese Erkenntnis veranlasste mich dazu, mir noch einmal einige andere Bilder anzusehen, die mich in meiner wirtschaftlichen Ausbildung geprägt hatten, und ich erkannte, wie machtvoll sie jenes Denken auf den Begriff gebracht und verstärkt hatten, das mir beigebracht wurde. Den Kern des herkömmlichen wirtschaftlichen Denkens bildet eine Handvoll Diagramme, die ohne Worte, jedoch sehr eindrücklich die Art und Weise bestimmt haben, wie wir über die ökonomische Welt denken — und alle diese Diagramme sind überholt, betriebsblind oder schlicht falsch. Sie mögen verborgen und nicht allgemein sichtbar sein, doch sie prägen maßgeblich die Art, wie in den Schulen und Universitäten, beim Staat und in der Verwaltung, in den Firmenvorständen, in den Medien und auf der Straße über Ökonomie gedacht wird. Wenn wir eine neue ökonomische Erzählung schreiben wollen, müssen wir neue Bilder zeichnen, welche die alten in die Lehrbücher des vergangenen Jahrhunderts verbannen.
Und wenn Sie niemals Ökonomie studiert haben und auch noch nie deren machtvollen Bildern ausgesetzt waren? Machen Sie sich nichts vor, auch Sie sind nicht immun gegen deren Einfluss, niemand ist es. Diese Diagramme prägen so stark die Art und Weise, wie Ökonomen, Politiker und Journalisten über Wirtschaft sprechen, dass wir alle sie mit unseren Worten heraufbeschwören, auch wenn wir sie nicht mit eigenen Augen gesehen haben. Zugleich aber können Sie sich als Neuling auf dem Gebiet der Ökonomie glücklich schätzen, dass Paul Samuelson nie als Erster Zugriff auf Ihre tabula rasa erhalten hat. Dass Sie niemals in einer volkswirtschaftlichen Vorlesung gesessen haben, kann sich als entscheidender Vorteil herausstellen: Sie haben weniger Ballast, den Sie abwerfen müssen, weniger Graffiti, die Sie abschrubben müssen. Ungeschult und unverbildet zu sein kann bisweilen ein kostbares intellektuelles Gut sein — und das ist jetzt der Fall.
Unabhängig davon, ob Sie sich für einen alten Hasen oder einen Anfänger auf dem Gebiet der Ökonomie halten, jetzt ist es an der Zeit, jene ökonomischen Graffiti freizulegen, die in Ihrem Geist schlummern, und sie, wenn sie Ihnen nicht gefallen, abzuschrubben oder, noch besser, sie mit neuen Bildern zu übermalen, die unseren Bedürfnissen und unserer Zeit besser entsprechen. In den folgenden Kapiteln werden sieben Ansätze oder Wege vorgestellt, die es ermöglichen, wie ein Ökonom des 21. Jahrhunderts zu denken, und für jeden dieser Wege wird jenes falsche Bild aufgedeckt, das sich in unserem Kopf festgesetzt hat, und gezeigt, wie es so mächtig werden konnte und welch schädlichen Einfluss es ausübte. Doch die Zeit der reinen Kritik ist vorbei, und deshalb konzentrieren wir uns hier darauf, neue Bilder zu erschaffen, die jene grundlegenden Prinzipien zum Ausdruck bringen, die uns heute leiten. Die Diagramme in diesem Buch sollen den Sprung vom alten zum neuen ökonomischen Denken zusammenfassen und veranschaulichen. Zusammengenommen repräsentieren sie — im wörtlichen Sinne — eine neue große Perspektive für den Ökonomen des 21. Jahrhunderts. Es folgt ein Schnelldurchgang durch die Ideen und Bilder, die den Kern der Donut-Ökonomie ausmachen.
Erstens: Das Ziel verändern. Mehr als 70 Jahre lang war die wirtschaftliche Entwicklung auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) fixiert, das als wichtigster Maßstab für Fortschritt galt. Diese Fixierung wurde dazu benutzt, krasse Einkommens- und Wohlstandsunterschiede zu rechtfertigen, die mit einem bislang ungekannten Ausmaß an Zerstörung der Welt verbunden waren. Für das 21. Jahrhundert brauchen wir ein wesentlich weiter reichendes Ziel: Wir müssen die Bedürfnisse eines jeden Menschen mit den Mitteln unseres lebensspendenden Planeten zu befriedigen suchen. Und dieses Ziel ist im Konzept des Donuts enthalten. Die Herausforderung besteht heute darin, Wirtschaftsordnungen aufzubauen — auf lokaler wie auf globaler Ebene —, die dazu beitragen, der gesamten Menschheit Zugang in den sicheren und gerechten Raum des Donuts zu ermöglichen. Anstatt stetiges Wachstum des Bruttoinlandsprodukts anzustreben, geht es heute darum, ein florierendes Gleichgewicht herzustellen.
Zweitens: Das Gesamtbild erfassen. Die herkömmliche Wirtschaftslehre beschreibt die Ökonomie mit einem einzigen, stark verengten Bild, dem Kreislaufdiagramm. Dessen Beschränkungen wurden darüber hinaus dazu verwendet, ein neoliberales Narrativ über die Effizienz des Marktes, die Inkompetenz des Staates, die Beschränkung des Haushalts auf das häusliche Leben und die Tragödie der Gemeingüter zu verstärken. Es ist an der Zeit, die Wirtschaft neu zu zeichnen und sie einzubetten in die Gesellschaft und die Natur, die beide von der Sonne mit Energie versorgt werden. Diese neue bildhafte Darstellung ermöglicht auch neue Narrative — über die Macht des Marktes, die Partnerschaft des Staates, die zentrale Rolle des Haushalts und die schöpferische Kraft der Gemeingüter.
Drittens: Die menschliche Natur pflegen und fördern. Im Zentrum der Wirtschaftslehre des 20. Jahrhunderts steht das Bild des rationalen homo oeconomicus: Er hat uns erklärt, dass wir alle unser Eigeninteresse verfolgen, vereinzelt und berechnend sind, festgelegt in unserem Geschmack, und dass wir die Natur beherrschen — und dieses Bild hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Doch die menschliche Natur ist wesentlich reicher und vielfältiger, wie bereits erste Skizzen unseres neuen Selbstbilds zeigen: Wir sind sozial veranlagt, bemühen uns um Annäherung, verändern unsere Werte und sind abhängig von der lebendigen Welt. Darüber hinaus ist es durchaus möglich, die menschliche Natur in einer Weise zu fördern und zu entwickeln, die uns wesentlich größere Chancen eröffnet, in den sicheren und gerechten Raum des Donuts zu gelangen.
Viertens: Systemisches Denken lernen. Die berühmten Angebots- und Nachfragekurven des Marktes sind das allererste Diagramm, mit dem ein Ökonomiestudent Bekanntschaft macht, doch sie beruhen auf überholten Vorstellungen über ein mechanisches Gleichgewicht, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammen. Wesentlich hilfreicher, um sich ein Verständnis für die Dynamik der Wirtschaft zu erarbeiten, ist ein systemisches Denken, das sich in einem schlichten Paar von Rückkopplungsschleifen zusammenfassen lässt. Rückt man diese Dynamik in den Mittelpunkt der Wirtschaftslehre, eröffnen sich viele neue Einblicke, von den Konjunktur- und Krisenzyklen der Finanzmärkte bis zur sich selbst verstärkenden Natur der wirtschaftlichen Ungleichheit und den Kipppunkten des Klimawandels. Es ist an der Zeit, dass wir aufhören, nach den trügerischen Steuerungshebeln der Wirtschaft zu suchen, und endlich damit beginnen, die Wirtschaft als ein in stetiger Weiterentwicklung begriffenes komplexes System aufzufassen.
Fünftens: Auf Verteilungsgerechtigkeit zielen. Im 20. Jahrhundert hat eine bestimmte grafische Darstellung — die Kuznets-Kurve — eine eindrucksvolle Botschaft über ökonomische Ungleichheit vermittelt: Die Ungleichheit muss zuerst größer werden, bevor sie kleiner werden kann, und das Wirtschaftswachstum wird schließlich für eine Angleichung sorgen. Doch wirtschaftliche Ungleichheit, so zeigt sich, ist keine ökonomische Notwendigkeit: Sie ist ein Gestaltungsfehler. Ökonomen des 21. Jahrhunderts werden anerkennen, dass es viele Möglichkeiten gibt, Volkswirtschaften so zu konzipieren, dass bei der Distribution des von ihnen erzeugten Werts mehr Verteilungsgerechtigkeit hergestellt wird — ein Gedanke, der sich am besten durch ein Netz von Fließgrößen veranschaulichen lässt. Das bedeutet, dass man über die Verteilung von Einkommen hinausgeht und Möglichkeiten einer Umverteilung von Vermögen erforscht, insbesondere von Vermögen, das auf der Beherrschung von Land, von Unternehmen, von Technologie und Wissen und auf der Macht der Geldschöpfung beruht.
Sechstens: Auf Regeneration zielen. Die Wirtschaftstheorie hat lange Zeit eine »saubere« Umwelt als ein Luxusgut dargestellt, das sich nur Wohlhabende leisten können. Diese Sichtweise wurde durch die Umwelt-Kuznets-Kurve bestärkt, die ebenfalls die Botschaft vermittelte, dass die Umweltverschmutzung zuerst zunehmen muss, bevor sich die Situation verbessern kann, und dass wirtschaftliches Wachstum diesen Umschwung herbeiführen wird. Doch eine solche Gesetzmäßigkeit gibt es nicht: Umweltschädigung ist die Folge einer degenerativen Ausrichtung der Industrie. Im neuen Jahrhundert brauchen wir ein ökonomisches Denken, das eine regenerative Ausrichtung fördert, um eine zirkuläre — keine lineare — Wirtschaft zu ermöglichen und den Menschen als gleichberechtigten Teilnehmer in die zyklischen Lebensprozesse der Erde einzubinden.
Siebtens: Eine agnostische Haltung zum Wachstum einnehmen. Ein Diagramm in der Wirtschaftstheorie ist so gefährlich, dass es praktisch niemals gezeichnet wird: der langfristige Verlauf des BIP-Wachstums. Konventionelle Ökonomen betrachten dauerhaftes Wirtschaftswachstum als unverzichtbar, doch nichts in der Natur wächst ewig, und der Versuch, dieser Tendenz entgegenzuwirken, wirft in Ländern unbequeme Fragen auf, die durch hohes Einkommen, aber geringes Wachstum gekennzeichnet sind. Es sollte nicht schwerfallen, das BIP-Wachstum als Wirtschaftsziel aufzugeben, aber es ist wesentlich schwieriger, unsere Abhängigkeit davon zu überwinden. Unsere heutigen Volkswirtschaften benötigen Wachstum, unabhängig davon, ob es den Menschen nutzt: Wir brauchen aber eine Wirtschaft, die den Menschen nutzt, unabhängig davon, ob sie wächst oder nicht. Diese radikale Veränderung der Perspektive ermutigt uns, eine agnostische Haltung zum Wachstum einzunehmen und zu erforschen, wie Volkswirtschaften, die gegenwärtig finanziell, politisch und sozial von Wachstum abhängig sind, lernen können, mit oder auch ohne Wachstum zu leben.
Aus diesen sieben Ansätzen, die es ermöglichen, wie ein Ökonom des 21. Jahrhunderts zu denken, lassen sich keine unmittelbaren politischen Handlungsanweisungen oder institutionellen Veränderungen ableiten. Sie bieten keine direkten Antworten auf die Frage, was nun konkret zu tun sei, und sie sind auch nicht die vollständige Antwort. Doch ich bin überzeugt, dass sie von grundlegender Bedeutung sind für die Entwicklung eines radikal anderen Denkens über die Wirtschaftsform, die wir in diesem Jahrhundert brauchen. Ihre Prinzipien und Muster werden neuen ökonomischen Denkern — und dem inneren Ökonomen in jedem von uns — das Rüstzeug verschaffen, um damit zu beginnen, eine Wirtschaft aufzubauen, die jedem Bewohner des Hauses ein gutes Leben ermöglicht. In Anbetracht der Geschwindigkeit, des Ausmaßes und der Unsicherheit des Wandels, der uns in den kommenden Jahren bevorsteht, wäre es töricht, heute bereits Festlegungen über jene politischen Handlungen und Institutionen treffen zu wollen, die wir in der Zukunft benötigen: Die künftige Generation von Denkern und Machern wird sich leichter tun, zu experimentieren und herauszufinden, was in einem sich ständig wandelnden Kontext am besten funktioniert. Wir können nur — und das müssen wir überzeugend tun — die besten der neu aufkommenden Ideen zusammenführen, um dadurch ein neues ökonomisches Denken zu begründen, das niemals abgeschlossen ist, sondern sich in stetiger Entwicklung befindet. Die Aufgabe, die sich ökonomischen Denkern in den kommenden Jahrzehnten stellen wird, besteht darin, diese sieben Denkansätze in der Praxis zusammenzuführen und zu verbinden und viele weitere hinzuzufügen. Wir haben uns gerade erst auf das aufregende Abenteuer, die Wirtschaft neu zu denken, eingelassen. Machen Sie mit.
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Vom BIP zum Donut
Jedes Jahr treffen sich die politischen Führer der mächtigsten Länder der Welt, um über die Weltwirtschaft zu diskutieren. Im Jahr 2014 fand dieses Treffen im australischen Brisbane statt, wo sie über Welthandel, Infrastruktur, Beschäftigung und Finanzreformen sprachen, für die Fernsehkameras Koalabären streichelten und am Schluss einmütig eines ihrer ehrgeizigsten Ziele bekräftigten. »Die Führer der G20 verständigen sich darauf, ein Wachstum von 2,1 Prozent für ihre Volkswirtschaften anzustreben«, verkündeten die Schlagzeilen der großen Medien — und es wurde hinzugefügt, dass dieses Ziel noch über das ursprünglich formulierte Wachstumsziel von 2,0 Prozent hinausging.1
Wie kam es dazu? Das Bekenntnis der G20 erfolgte wenige Tage, nachdem der Weltklimarat gewarnt hatte, dass der Welt aufgrund der zunehmenden Treibhausgasemissionen »ernste, tief greifende und irreversible« Schäden drohten. Doch der Gastgeber des G20-Gipfels, der damalige australische Ministerpräsident Tony Abbott, wollte die Tagesordnung des Gipfeltreffens nicht »durcheinanderbringen lassen« durch den Klimawandel oder andere Themen, die geeignet waren, von seinem Hauptziel des Wirtschaftswachstums, oder genauer gesagt des BIP-Wachstums, abzulenken.2 Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das den Wert aller Güter und Dienstleistungen ausdrückt, die in einem Jahr innerhalb eines Landes erzeugt werden, gilt seit Langem als wichtigster Indikator für die Gesundheit einer Volkswirtschaft. Doch im Kontext der heutigen sozialen und ökologischen Krisen stellt sich die Frage, warum diese eine, verengte makroökonomische Größe noch immer so große internationale Beachtung findet.
Für einen Vogelkundler wäre die Antwort einfach: Das BIP ist der Kuckuck im Nest der Ökonomie. Dazu muss man wissen, dass der Kuckuck ein schlauer und gerissener Vogel ist. Anstatt seine Nachkommen selbst aufzuziehen, legt er seine Eier heimlich in die unbewachten Nester anderer Vögel. Die arglosen Zieheltern brüten die Eier des Eindringlings zusammen mit den eigenen Eiern aus. Doch das Kuckuckskind schlüpft früher, wirft die anderen Eier und die anderen Jungen aus dem Nest und stößt dann laute Rufe aus, die den Anschein erwecken, als sei das Nest voll mit hungrigen Jungvögeln. Diese Übernahmetaktik funktioniert: Die Zieheltern füttern emsig ihr übergroßes Junges, das schnell wächst und bald zu groß wird für das kleine Nest, das es besetzt. Das ist eine eindringliche Warnung an andere Vögel: Wenn man das eigene Nest unbewacht lässt, kann es von anderen gekapert werden.
Es ist auch eine Warnung an die Ökonomen: Wenn man die eigenen Ziele aus dem Blick verliert, kann sich etwas anderes an ihre Stelle schieben. Und genau das ist geschehen. Im 20. Jahrhundert ist die Wirtschaftswissenschaft davon abgekommen, ihre Ziele klar zu formulieren: Da sie darauf verzichtete, wurde ihr Nest vom BIP-Wachstum in Beschlag genommen. Es ist höchste Zeit, dass der Kuckuck das Nest verlässt, damit sich die Wirtschaftswissenschaft wieder dem Zweck widmen kann, dem sie dienen soll. Vertreiben wir daher den Kuckuck und ersetzen wir ihn durch ein klares Ziel für das 21. Jahrhundert, durch ein Ziel, das Wohlstand für alle im Rahmen der Mittel und Möglichkeiten unseres Planeten ermöglicht. Mit anderen Worten, begeben wir uns in den Donut, den idealen Ort für die Menschheit.
Als Xenophon im antiken Griechenland den Begriff Ökonomie prägte, bezog er ihn auf die Kunst der Haushaltsführung. Später unterschied Aristoteles zwischen Ökonomie und Chrematistik, der Kunst, Reichtum zu erlangen — eine Unterscheidung, die heute anscheinend völlig in Vergessenheit geraten ist. Der Gedanke, dass Ökonomie und auch Chrematistik eine Kunst seien, entsprach der Zeit von Xenophon und Aristoteles, doch 2000 Jahre später, als Isaac Newton die Gesetze der Bewegung entdeckte, war die Faszination, die der Status von Wissenschaftlichkeit ausstrahlte, noch viel größer. Vielleicht aus diesem Grund definierte der schottische Anwalt James Steuart, der 1767 — nur 40 Jahre nach Newtons Tod — den Begriff »Politische Ökonomie« prägte, diese nicht länger als eine Kunst, sondern als »die Wissenschaft von der Haushaltspolitik in freien Ländern«. Dass er sie als Wissenschaft bezeichnete, hielt ihn nicht davon ab, ihren Zweck ausführlich zu beschreiben:
Der grundlegende Zweck dieser Wissenschaft besteht darin, allen Einwohnern einen gewissen Grundstock zur Bestreitung des Lebensunterhalts zu sichern; sämtlichen Umständen vorzubeugen, die diesen Grundstock gefährden könnten; bereitzustellen, was immer erforderlich ist für die Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft, und den Einwohnern (unter der Annahme, dass es sich um freie Männer handelt) Beschäftigung zu bieten in einer Weise, die es ermöglicht, wechselseitige Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen ihnen aufzubauen, auf dass ihre unterschiedlichen Interessen sie dazu veranlassen, wechselseitig für die Erfüllung ihrer jeweiligen Bedürfnisse Sorge zu tragen.3
Ein auskömmliches Leben und Arbeitsplätze für alle in einer blühenden Gesellschaft: Das klingt nicht schlecht für einen ersten Versuch einer Zweckbestimmung (trotz der stillschweigenden Nichtbeachtung der Frauen und der Sklaven, was allerdings der Zeit geschuldet war). Ein Jahrzehnt später versuchte sich Adam Smith mit einer eigenen Definition, folgte dabei jedoch Steuarts Gedanken, dass die Politische Ökonomie eine auf ein Ziel ausgerichtete Wissenschaft sei. Sie verfolge, so schrieb er, »zwei unterschiedliche Ziele. Einmal untersucht sie, wie ein reichliches Einkommen zu erzielen oder der Lebensunterhalt für die Bevölkerung zu verbessern ist, zutreffender, wodurch der Einzelne in die Lage versetzt werden kann, beides für sich selbst zu beschaffen, und ferner erklärt sie, wie der Staat oder das Gemeinwesen Einnahmen erhalten können, mit deren Hilfe sie öffentliche Aufgaben durchführen«.4 Diese Definition steht nicht nur Smiths unverdientem heutigem Ruf eines Verfechters des freien Marktes entgegen, sie behält auch das große Ganze im Blick, indem sie dem wirtschaftlichen Denken ein Ziel vorgibt. Dieser Ansatz sollte sich jedoch nicht durchsetzen.
Siebzig Jahre nach Smith leitete John Stuart Mill eine Verlagerung des Schwerpunkts ein, indem er die Politische Ökonomie neu definierte als »die Wissenschaft, die die Gesetze solcher Phänomene aufzeigt, die sich aus dem Zusammenwirken der Menschen bei der Produktion von Reichtum ergeben«.5
