Die drei geheimen Städte - Matthew Reilly - E-Book

Die drei geheimen Städte E-Book

Matthew Reilly

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hinter der realen Welt lauert eine Schattenwelt. Jack West hat die vier legendären Königreiche ins Chaos gestürzt. Jetzt jagen ihn diese dunklen Mächte. Und sie dringen mit der Wucht einer kosmischen Explosion in unser Universum ein. Während sich das Ende der Welt abzeichnet, muss Jack die drei geheimen Städte finden. Oder sind sie nur eine Legende? Der fünfte Teil mit den unglaublichen Abenteuern von Jack West. Booklist: »Reilly überholt, übertrumpft und überbietet Meister des Abenteuerromans wie Dan Brown, Steve Berry, James Rollins und Clive Cussler.« The Daily Telegraph: »Matthew Reillys Romane sollten mit Gesundheitswarnungen auf dem Umschlag versehen werden!« Brad Thor: »Matthey Reilly ist der König der Hardcore-Action.« Matthew Reillys Bücher werden in über 20 Sprachen veröffentlicht und weltweit über 7 Millionen Mal verkauft.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 448

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Aus dem australischen Englisch von Michael Krug

Impressum

Die australische Originalausgabe The Three Secret Cities

erschien 2018 im Verlag Macmillan Australia.

Copyright © 2018 by Karanadon Entertainment Pty Ltd.

Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Published by arrangement with Rachel Mills Literary Ltd.

Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-051-9

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Für Kate

Wie die Natur verabscheut die Geopolitik das Vakuum … Wann immer ein Machtvakuum entsteht, füllt es jemand.

THE FINANCIAL TIMES

DAS MYSTERIUM DER WAFFEN

Die erste tötet

Die zweite blendet

Die dritte herrscht

INSCHRIFT AUF EINER VERMUTLICH ÜBER 5000 JAHRE ALTEN TAFEL, PRIVATSAMMLUNG, NEW YORK CITY

DIE PRÜFUNG DER STÄDTE

Keine Meere.

Keine Wolken.

Keine Flüsse.

Kein Regen.

Die Welt eine Einöde

aus Elend und Schmerz.

AUSDAS ZEUS-PAPYRUS, PRIVATSAMMLUNG, LONDON

NACH DEN GROSSEN SPIELEN

PROLOG I

DIE GROSSE KURVE DER UNTERWELT

INDIEN

Nach den Großen Spielen herrschte drei Tage lang Stille in der Unterwelt.

Der gefangene Teilnehmer Captain Jack West jr., der für Orlando angetreten war, den König des Reichs Land, hatte den Sieg davongetragen.

Zur Überraschung zahlreicher königlicher Gäste hatte ausgerechnet er dieselben tödlichen Herausforderungen gemeistert wie die drei vorherigen Sieger der Spiele – Osiris, Gilgamesch und Herkules.

Aber bei der Abschlusszeremonie zur Krönung des siegreichen Königs und der Übergabe der Mysterien, die den Planeten unbeschadet durch die nahende Krise führen sollten, brach ein heilloses Chaos aus.

Helikopter griffen den Tempel auf dem Berggipfel an, in dem die uralte Zeremonie durchgeführt wurde. Lord Hades’ leibliche Söhne wollten ihren Vater ermorden. Aber Hades’ Armee von Minotauren – 4000 ausgestorben geglaubte Neandertaler mit stierförmigen Helmen – erfuhr vom Plan der Söhne ihres Herrn, erhob sich zur Revolution und stürmte den Bergpalast. Als die Leibwächter von zwei der flüchtenden Könige unüberlegt das Feuer auf die Minotauren eröffneten, folgten Tod und Zerstörung.

Zwei der vier Könige wurden in Stücke gerissen. Bis auf wenige Ausnahmen kamen auch sämtliche Mitglieder der königlichen Elite um, die den Spielen beigewohnt hatten.

Nur zwei Könige hatten überlebt.

Hades, der Herrscher der Unterwelt, der mit Jack West jr. und dessen treuen Freunden geflohen war.

Und Orlando, der nur seinen Berater mitgenommen hatte, den katholischen Kardinal Ricardo Mendoza, Mitglied der geheimnisumwitterten Omega-Gruppe der Kirche. Den Rest seines Gefolges und Königshauses hatte er zum Sterben zurückgelassen.

Noch nie zuvor in der gesamten Geschichte waren die vier mystischen Königreiche in ein derartiges Chaos gestürzt worden. Jahrtausendelang hatten sie aus den Schatten heraus über die Welt geherrscht, Regierungen nach ihrem Gutdünken eingesetzt, bei Bedarf wieder entmachtet, Kriege angezettelt und Imperien zerstört.

Die Neuigkeit verbreitete sich schnell.

Überall auf der Welt erfuhren Personen mit Verbindungen zu den vier Königreichen schon bald, was passiert war.

Bestimmte Dinge galten beim Hochadel als unabdinglich, nicht zuletzt Kontinuität. Es mussten schleunigst Erben gefunden und gekrönt werden. Nur herrschte unmittelbar nach den Spielen erhebliche Ungewissheit darüber, welche Erben überlebt hatten und welche nicht.

Als ähnlich unverzichtbar betrachtete man Bestrafung, Vergeltung, Schuldzuweisung.

Irgendjemand musste für das unerhörte Ende der Spiele zur Rechenschaft gezogen werden. Und dafür bestraft werden.

Besonders beunruhigend fand man, dass die Mysterien – der eigentliche Grund hinter den Großen Spielen – nicht enthüllt worden waren. Und von ihnen hing das Schicksal der Welt ab.

Aber um all das würden sich andere kümmern, dachte der König der Minotauren, während er die nunmehr verwaiste, nach den Unruhen schwer in Mitleidenschaft gezogene Unterwelt betrachtete.

Die große Treppe wies in der Mitte wüste Schäden durch eine Detonation auf. Das Werk von Jack West.

Der Aufzug hinauf zum heiligen Tempel auf dem Gipfel des Bergpalasts war aus seinen Halterungen gerissen worden.

Überall lagen Leichen verstreut. Viele der Anwesenden waren vom Tempel den Berg hinuntergestürzt. Kein schöner Anblick.

Vor der Flucht aus der Unterwelt hatte Lord Hades sein Reich dem Minotaurenkönig Minotus und dessen Neandertalern vermacht, damit sie friedlich und unentdeckt in der Abgelegenheit der nordwestlichen Wüste Indiens leben konnten.

Minotus hatte seiner Armee nach der Angelegenheit einige Tage zur Erholung gewährt. Mittlerweile jedoch war es an der Zeit, mit den Aufräumarbeiten zu beginnen.

Leichen wurden eingesammelt und verbrannt.

Die zertrümmerten Steinblöcke der Treppe wurden abtransportiert, um sie für den Wiederaufbau vorzubereiten.

Und 30 Minotauren wurden zur großen Kurve geschickt, dem entlegensten Winkel der Unterwelt, Schauplatz der fünften Herausforderung, eines wilden Autorennens auf einer ungesicherten Straße am Rand eines dunklen, klaffenden Abgrunds.

Die 30 Minotauren hatten die Aufgabe, die verunglückten Fahrzeuge und die Leichen entlang der gefährlichen Strecke zu bergen.

Dazu gehörte auch, den Bereich um die beiden geheimnisvollen Bauwerke herum zu räumen, die sich am hintersten Ende dieses abgelegenen Winkels der Unterwelt befanden: eine riesige Pyramide in einer kastenförmigen Ausnehmung und ein vielstöckiges Gebäude, das am Rand des mächtigen Abgrunds hing.

Die Seiten des Letzteren wiesen in regelmäßigen Reihen Hunderte rechteckige Nischen auf. Jede enthielt einen silbrig glänzenden Sarg.

Auf jedem einzelnen prangte die Darstellung eines Mannes mit dem Kopf eines langschnäbligen Vogels.

Niemand hatte sich in der Nähe befunden, als sich kurz nach den Spielen einer der Särge langsam zu öffnen begonnen hatte.

Erst als das Aufräumkommando der Minotauren eintraf, wurde der offene Sarg entdeckt.

Was für erhebliches Aufsehen sorgte.

Seit Minotaurengedenken hatte sich in dem uralten, geheimnisvollen hängenden Turm nicht das Geringste getan.

Der Anführer des Aufräumkommandos setzte sich über Funk mit dem König in Verbindung und teilte ihm die Neuigkeit mit. Minotus kündigte an, dass er unverzüglich mit einer Gruppe von Adjutanten kommen würde.

Die Mitglieder des Aufräumkommandos konnten ihre Neugier nicht so lange zügeln, bahnten sich den Weg näher zu dem offenen silbernen Sarg und warfen einen Blick hinein.

Er enthielt eine etwa 1,80 Meter große, menschenförmige Gestalt, die regungslos auf dem Rücken lag, als schliefe sie.

Der Anblick erinnerte an eine aus Bronze gefertigte Statue mit überwiegend menschlichen Merkmalen: Kopf, Schultern, Arme, Beine.

Abgesehen von einem entscheidenden Detail.

Die Gestalt besaß kein Gesicht.

Weder Augen noch Mund. Und statt einer Nase nur einen bedrohlich wirkenden, nach unten gebogenen Schnabel.

Die Hände ruhten gefaltet auf der Brust. Sie schienen aus derselben matten Bronzelegierung wie der Rest der Statue zu bestehen. Ein eigenartiges Material – glänzend und doch stumpf. Es reflektierte die Strahlen der Taschenlampen der Minotauren gedämpft und trübe. Der Körper der Skulptur wies keine Nahtstellen auf, als wäre er aus einem einzigen perfekten Guss geformt.

Die Minotauren des Aufräumkommandos sahen sich gegenseitig verwundert an, bevor sie die Hunderte anderen Särge in den Seiten des hängenden Turms betrachteten.

Kein einziger war geöffnet. Nur dieser.

Plötzlich richtete sich die Bronzestatue auf und starrte sie mit ihrem schaurigen, gesichtslosen Kopf an.

Eine tonlose Stimme drang tief aus ihr heraus:

»Kushma alla?«

20 Minuten später traf Minotus mit einer Truppe seiner besten Adjutanten am Ort des Geschehens ein …

… und fand alle 30 Mitglieder des Aufräumkommandos tot vor. Ihre in Stücke gehackten Überreste lagen in grausigen Blutlachen.

Der offene Sarg war leer.

Die Bronzefigur tauchte hinter Minotus und dessen Gefolge auf.

»Kushma alla?«, sagte das gesichtslose Wesen.

Minotus runzelte die Stirn. Die Sprache hatte er noch nie gehört.

»Ich verstehe nicht«, gab er zurück.

Der Bronzemann holte mit den Metallklauen aus und griff sie alle an – ohne Furcht, Zögern oder Gnade.

PROLOG II

CASTELLO ARAGONESE

INSEL ISCHIA, AMALFIKÜSTE, ITALIEN

VIER TAGE NACH DEN GROSSEN SPIELEN

In einer hohen Höhle im Inneren einer Burg auf einer Insel vor der Westküste Italiens befand sich eine achteckige Kammer.

Darin stand ein achteckiger Tisch aus verwittertem Holz, das einst zur Porta Scelerata gehört hatte, dem sogenannten verfluchten Tor, einem der Stadttore des alten Roms.

Gelegentlich war das Möbel im Verlauf der Jahrhunderte als rund beschrieben worden, was jedoch nicht wirklich zutraf. Tatsächlich hatte an jeder der acht Seiten einer der acht Männer seinen Platz, die seit 1600 Jahren an dem Ort weilten und sowohl den Tisch als auch die Burg und die gesamte Insel Ischia für sich beanspruchten.

Wer von ihrer Existenz wusste, kannte sie als die Ritter der Goldenen Acht.

Trophäen von früheren Missionen schmückten ihre achteckige Kammer, Gegenstände, die sie ihren Opfern abgenommen hatten: Schwerter, Schilde, Kronen.

An jenem Tag stand vor den Acht ein Mann auf einem gefährlich über einen Abgrund gegenüber ihrem Tisch ragenden Sims. Die Plattform hieß »Bittstellerleiste« und war so angeordnet, dass der Bittsteller auf ihr zu den Rittern aufschauen musste.

Der Mann auf dem Vorsprung trug eine durchsichtige medizinische Plastikmaske über dem rechten unteren Viertel des Gesichts. Wut loderte in seinen Augen. Er litt unter schier unerträglichen Schmerzen, die er sich jedoch nicht anmerken ließ. Sein Arzt hatte ihm starke Medikamente dagegen verschrieben, aber der Mann nahm sie nicht ein.

Im Augenblick befeuerten ihn die Schmerzen, spornten ihn an, erinnerten ihn an die Rache, die er wollte.

Und die Ritter würden sie ihm verschaffen.

Nachdem der Mann mit der Halbmaske sein Anliegen vorgetragen und die verlangte gigantische Anzahlung geleistet hatte, erhob sich der Anführer der Goldenen Acht und wandte sich in feierlichem Ton an seine sieben Waffenbrüder.

»Der Preis ist bezahlt, also wird das Ziel gesetzt. Gemäß unserem langen, heiligen Brauchtum nehmen die Ritter der Goldenen Acht diesen Auftrag an.«

Der Anführer hob die drei Fotos auf, die der Mann mit der Maske bereitgestellt hatte.

»Die Aufgabe ist simpel«, fuhr er fort. »Eine Tötung, zwei Entführungen. Dieser Mann ist zu beseitigen, während der jüngere Mann und die Frau lebend zu fangen und unserem edlen Auftraggeber zu bringen sind, auf dass er nach seinem Gutdünken mit ihnen verfahren kann.«

Der Anführer der Goldenen Acht nickte dem Mann mit der Maske respektvoll zu. »Unser Preis ist hoch, aber wir haben in über 2000 Jahren nie bei einer Mission versagt.«

Er hielt die drei Fotos hoch. Die Aufnahmen zeigten:

Jack West jr.

Seine Tochter Lily.

Und ihren Freund Alby Calvin.

ERSTES UNTERFANGEN

HADES’ ENTHAUPTUNG

INTERREGNUM

n. (Aus dem Lateinischen: »zwischen Königreichen«)

Die Zeitspanne zwischen dem Ende der Herrschaft eines Gebieters und dem Amtsantritt eines Nachfolgers; oftmals eine von Unruhen, strategischen Schachzügen und Kriegen geprägte Periode, aus der letztlich eine neue Herrschaftsordnung hervorgeht.

HIMMEL ÜBER DER US-ATLANTIKKÜSTE

24. NOVEMBER, 5:30 UHR

US-OSTKÜSTENZEIT

Jack Wests Flugzeug raste mit Überschallgeschwindigkeit über den Himmel auf New York City zu.

Bei der Sky Warrior getauften Maschine handelte es sich um eine Tupolew Tu-144, einen in Russland hergestellten Klon der Concorde. Das ausgesprochen schnittige, mit schwarzem radarabsorbierendem Material beschichtete Flugzeug war wie die berühmte Concorde schnell – sehr, sehr schnell.

Jack hatte die Sky Warrior einem alten Feind abgenommen, nachdem sein vorheriges Flugzeug, seine geliebte 747 namens Halicarnassus, bei einem Akt der Verzweiflung auf den Osterinseln zerstört worden war.

Im Augenblick steuerte Jacks treuer Pilot Sky Monster die pfeilförmige Maschine mit Mach 1,5 in einer Höhe von 15.000 Metern durch die Luft, hoch über den Routen der Verkehrsflugzeuge.

Jack hatte sich schon oft in die entlegensten Winkel der Welt gewagt, doch die geschäftige Metropole New York City gehörte nicht zu seinen regelmäßigen Zielen. Dennoch konnte er sie gerade gar nicht schnell genug erreichen.

Nicht nur er hatte es aus guten Gründen eilig. Dasselbe galt für den Mann, der mit ihm reiste: Anthony Michael Dominic DeSaxe, offiziell einer der reichsten Männer der Welt, ein milliardenschwerer Schifffahrts- und Bergbaumagnat, der als viertes Mitglied seiner uralten Adelsfamilie zum Marschall von Frankreich ernannt worden war.

So weit die gewöhnliche Welt.

In zwielichtigeren Kreisen kannte man ihn als einen der vier ewigen Könige, die über den Planeten herrschten: Lord Hades, Herrscher der Unterwelt.

Zumindest war er es gewesen.

Nach der Rückkehr zu Jack nach Hause hatten sich die Dinge im Anschluss an das katastrophale Ende der Großen Spiele für ihn und Hades schnell entwickelt.

Jacks Sieg konnte man nur als historisch bezeichnen – eine Meisterleistung, mit der er sich in eine Elite von Helden reihte, der auch der mythische griechische Krieger Herkules angehörte.

Wie Jack im Verlauf der Spiele herausgefunden hatte, waren sie und ihre zahlreichen teuflischen Herausforderungen die Quelle des Mythos der zwölf Aufgaben des Herkules.

Genau diese Erkenntnis hatte sich am Ende als entscheidend für seinen Sieg erwiesen.

Als Jack zu Hause mitten in den Weiten des australischen Outback ankam, wollte er sich nur noch ausruhen. Er hatte nicht freiwillig an den Spielen teilgenommen. Man hatte ihn betäubt, entführt und gezwungen, zwei Tage und Nächte lang ununterbrochen um sein Leben zu kämpfen – und das in einem Homer-Simpson-T-Shirt und Jeans.

Danach wollte er einfach seine etlichen Wunden lecken und sich ungefähr ein Jahr lang in seinem eigenen Bett ausschlafen.

Aber es sollte nicht sein.

Zum einen hatte ihn seine Frau Zoe mit kurzem blondem Haar und strahlend blauen Augen erwartet. Sie war selbst gerade erst von ihrer Forschungsreise zum Marianengraben zurückgekehrt, dem tiefsten Meeresgraben der Welt.

Kaum hatte Zoe die Sky Warrior im Landeanflug auf das Rollfeld der Farm gesichtet, war sie hinausgeeilt.

Sie konnte es nicht erwarten, Jack von ihren Erlebnissen zu berichten, und lächelte breit, als sie beobachtete, wie er zusammen mit Lily und Alby aus der Maschine stieg, gefolgt von Pooh Bear und Stretch.

»Warte, bis du hörst, was ich …«, begann sie.

Dann bemerkte sie seinen rasierten Schädel.

Und die zahlreichen Wunden und Blutergüsse in seinem Gesicht.

Und dass er leicht hinkte und den rechten Arm stützte. Seinen linken, vom Ellbogen abwärts aus Titan bestehenden Arm übersäten Dreck und Kratzer.

Was ist nur passiert?

Dann fiel ihr Lily auf. Sie trug ein geblümtes Tageskleid, das Zoe noch nie gesehen hatte. In den Händen hielt sie hochhackige Schuhe. Das fand Zoe merkwürdig. Sonst hielt Lily nichts von hohen Absätzen.

Pooh Bear und Stretch sahen unversehrt aus, Alby hingegen hatte einen recht großen Verband im Gesicht.

Dann sah Zoe, wie Jacks Mutter Mae aus der schnittigen schwarzen Tupolew stieg.

An der Stelle wurde sie restlos nervös. Schon Jacks Wunden hatten sie zutiefst beunruhigt, aber Maes Anblick empfand sie als das Tüpfelchen auf dem i.

Dr. Mabel »Mae« Merriweather – gerade mal 1,57 Meter groß mit kurzem Haar und Feengesicht – war eine beeindruckende Persönlichkeit. Für Idioten fehlte ihr jegliche Geduld, und sie schätzte ihr zurückgezogenes Leben über alles. Sie wohnte in der abgelegenen Küstenstadt Broome, die sie ausschließlich aus triftigen Gründen je verließ. Geburtstage und Todesfälle reichten dafür nicht aus. Jacks Hochzeit mit Zoe hatte sich zum Glück gerade so dafür qualifiziert.

Dass Mae nun zusammen mit Jack hier auftauchte, stellte einen klaren Anlass zur Sorge dar.

Und dann tauchten die anderen aus dem Flugzeug auf.

Zuerst Iolanthe.

Zoe konnte die britische Prinzessin nicht ausstehen.

Aristokratisch, selbstsicher, kultiviert, durch und durch eigennützig. Die Frau verkörperte alles, was Zoe nicht war. Als Schwester von König Orlando Compton-Jones lautete ihr offizieller Titel Archivarin der königlichen persönlichen Aufzeichnungen des Reichs. Ihre Wege hatten sich bereits mehrfach gekreuzt: Einmal hatte Iolanthe in Abu Simbel versucht, Zoe und Jack umzubringen.

Dann hatte sie mehrere Anläufe genommen, Jack zu verführen. Und überraschenderweise hatte sie Jack in einer antiken unterirdischen Stätte auf Diego Garcia das Leben gerettet, obwohl sie es nicht musste. Zoe wusste nicht recht, ob sie der Frau trauen oder sie auf der Stelle erschießen sollte.

Dann folgten die zwei Personen, die Zoe nicht kannte: Hades – etwa 60 Jahre alt, groß, kraftvolle Statur – und ein kleinerer, stämmiger Mann mit widerspenstigem schwarzem Haar, einer Knollennase, einer dichten, durchgehenden Braue und tief liegenden braunen Augen. Jack stellte ihn später als E-147 vor.

»Himmel, Arsch und Zwirn!«, entfuhr es Zoe. »Da bin ich gerade mal eine Woche weg, und jetzt sieh dich an! Was ist passiert? Du siehst aus, als wärst du durch die Hölle gegangen.«

»Sehr interessante Wortwahl, Schatz. Gehen wir rein und setzen wir uns. Ich hab dir viel zu erzählen.«

Eine Untertreibung sondergleichen.

Jack brauchte eine ganze Weile, um Zoe mit Unterstützung der anderen alles zu erzählen.

Über seine Entführung in Pine Gap, die Großen Spiele, die vier mystischen Königreiche sowie die Hilfe, die er während der Spiele von einem Mitstreiter namens Scarecrow erhalten hatte. »Und von einem fetten, aber unheimlich tapferen Piloten, der weit aus seiner Komfortzone rausmusste«, fügte Sky Monster hinzu. Zum Beweis hielt er seinen bandagierten rechten Unterarm hoch. Natürlich wurde auch das chaotische Ende der Geschichte geschildert, bei dem die Armee der Minotauren den Bergpalast gestürmt hatte und alles den Bach runtergegangen war.

Mae unterstützte Jack dabei, Zoe das Konzept der vier uralten Königreiche zu erklären – Land, Meer, Himmel und Unterwelt. Dafür zeigten sie ihr eine spezielle Weltkarte, auf der die Grenzen der Reiche die gewöhnlichen Landesgrenzen überlagerten.

Zoe fragte dazwischen: »Soll das heißen, dass Nationen, Parlamente und Regierungen nur eine Fassade für diese vier Königreiche sind? Werkzeuge, die sie benutzen?«

»Ganz genau«, bestätigte Mae. »Die vier Königreiche sind die wahren Machthaber der Welt.«

Zoe schüttelte den Kopf. »Na schön, und was wollen sie?«

»Was noch jeder Herrscher in der Geschichte wollte«, sagte Mae. »Ihre Macht bewahren.«

»Was ist mit dir?«, wollte Jack schließlich von Zoe wissen. »Was habt du und Nobody im Marianengraben gefunden?«

»Nobody« lautete der Spitzname ihres Freunds Professor David Black, der zu den bekanntesten Tiefseetauchern der Welt zählte. Als Protegé von Robert Ballard, dem berühmten Schiffswrackjäger, der die Titanic aufgespürt hatte, suchte Nobody Black die halbe Zeit nach verschollenen spanischen Galeonen voller Schätze. Den Rest widmete er dem Studium der bizarren Lebensformen in den dunkelsten Tiefen der Weltmeere. Er war teils Wissenschaftler, teils Seemann, mit Leib und Seele Abenteurer und obendrein ein anständiger Kerl.

Zwei Tage bevor Jack zu den Großen Spielen entführt worden war, hatte er Zoe angerufen – sie sollte zu ihm kommen und sich eine Entdeckung im Challengertief ansehen, dem tiefsten Teil des Marianengrabens. Durch die Reise war sie eine Woche lang nicht erreichbar gewesen. Was ihr vielleicht das Leben gerettet hatte, weil sie deshalb nicht dabei gewesen war, als man Jack entführt hatte.

»Was wir gefunden haben?«, sagte Zoe. »Ach, nicht viel … nur ein versiegeltes Steintor zehn Kilometer unter der Oberfläche des Pazifiks. Mit einer Inschrift in der Sprache des Thot darauf.

Die Zwillinge und ich sind mit Nobody in einem Tauchboot runtergefahren, um es uns genauer anzusehen und Untersuchungen daran durchzuführen. Das Bodenradar hat etwas dahinter gezeigt. Keine Kammer, keinen Hohlraum, sondern eine gewaltige Ablagerung vulkanischen Gesteins, das man Pikritbasalt nennt.«

»Irgendwie glaube ich nicht, dass es sich um eine gewöhnliche Ablagerung handelt«, merkte Alby an.

»Richtig. Diese Ablagerung ist riesig und vollständig von einer dünnen Kruste aus Meeresgestein umhüllt. Außerdem hat sie die Form eines perfekten Würfels mit einer Kantenlänge von sieben Kilometern. Sieben! Mit geraden Seiten und Kanten. Und wir haben weitere verzierte ›Eingänge‹ entdeckt. Dutzende in regelmäßigen Abständen um die Würfelform herum. Von dem ersten Portal hab ich Fotos geschossen.«

Zoe sah Lily an. »Ich hab gehofft, du könntest die Inschrift darauf übersetzen.«

»Gern«, sagte Lily.

Zoe reichte ihr ein Foto des Portals, erhellt von grellem Scheinwerferlicht. Das rechteckige, von Marmorsäulen gesäumte Tor wirkte in den Tiefen des Ozeans völlig fehl am Platz.

Lily betrachtete eine Inschrift auf dem Türsturz und übersetzte: »Die Welt ist eine Einöde aus Elend und Schmerz.«

Bei den Worten wechselte sie einen Blick mit Jack.

Zoe schüttelte den Kopf. »Gott stehe mir bei. An jedem anderen Tag wären meine Neuigkeiten schier unglaublich gewesen. Aber nach dem, was du erlebt hast …«

»Wo ist Nobody jetzt?«, fragte Jack.

»Er ist zurück zu seinem Labor in San Francisco. Dort will er die geologischen Proben noch mal untersuchen und überprüfen, ob man Ähnliches schon irgendwo sonst auf der Welt gefunden hat.«

»Und Lachlan und Julius?«

Jack mochte die Zwillinge sehr, zwei rothaarige, dauerplappernde schottische Genies, die auf Astrophysik, Geschichte, Videospiele und alles, was mit Star Wars zu tun hatte, gleichermaßen abfuhren.

»Die sind zurück nach London gereist«, antwortete Zoe. »Lachie ist zwar immer noch süchtig nach League of Legends, aber er ist inzwischen ein Familienmensch. Er hat Verantwortung.«

In den Jahren, in denen die Zwillinge Jack geholfen hatten, die sechs Heiligen Steine zu finden und das Geheimnis der fünf großen Krieger zu lüften, hatten sie ihre Peter-Pan-Natur ein wenig abgelegt und waren erwachsener geworden.

Während Julius nach wie vor überzeugter Single war, hatte Lachie an der Fakultät in Cambridge eine nette japanisch-amerikanische Astrophysikerin namens Dr. Eriko Kinoshita kennengelernt und geheiratet. Mittlerweile hatten die beiden zwei zuckersüße vierjährige Zwillinge, Caleb und Willow.

Julius, der seinen Bruder immer gern piesackte, genoss es in vollen Zügen, Lachie regelmäßig zu fragen, welches Auto er fuhr.

Lachie ließ dann jedes Mal den Kopf hängen. »Einen Familien-Van.«

Es handelte sich um einen roten Nissan Quest. Spießiger ging es kaum.

Als Lachlan vor einigen Monaten an seinem Geburtstag aufgewacht war, hatte er auf der Motorhaube und an den Seiten des roten Vans die Rennnummer 55 vorgefunden. Ein Geschenk von Julius.

»Wollte die Karre nur ein bisschen aufmotzen«, hatte er mit einem schelmischen Grinsen erklärt.

Aber trotz allem waren und blieben sie Zwillinge – miteinander verbunden wie Pech und Schwefel, ewige Brüder. Ein solches Band würde nie zerreißen, dachte Jack. Und tatsächlich lebte Julius in einer Wohnung mit eigenem Eingang im Hinterhof von Lachies Haus am Stadtrand von London.

Pooh Bear und Stretch kehrten nach dem Wiedersehen in Poohs Heimat zurück, die Vereinigten Arabischen Emirate.

Iolanthe nahmen sie mit.

Sie wollte bis Dubai bei ihnen bleiben. Von dort würde sie sich allein nach Großbritannien durchschlagen.

»Ich muss zurück zum Archiv der königlichen Aufzeichnungen und einige Dinge holen, bevor Orlando es tut«, erklärte sie Jack, als sie auf dem staubigen Rollfeld seiner Farm standen. »Danach muss ich eine Weile untertauchen. Ich könnte mir vorstellen, dass mein lieber Bruder ziemlich verärgert über mich ist.«

Rasch kritzelte sie etwas auf einen Zettel. »Hier. Das ist die Nummer eines meiner Wegwerfhandys. Falls du was von mir brauchst, schick mir mit einem eigenen Wegwerfhandy eine Nachricht. Und danke, Jack. Das war gute Arbeit bei den Spielen.«

Damit küsste sie ihn auf die Wange und ging.

Zoe stand mit finsterer Miene in der Nähe.

Nachdem die drei abgereist waren, setzten sich Zoe und Lily mit Jack hin und begannen, seine Wunden zu verarzten.

»Meine Güte«, meinte Zoe irgendwann. »Du bist ja wirklich ganz schön übel zugerichtet.«

Jack zuckte zusammen. »Glaub mir, ich spüre jeden einzelnen blauen Fleck.«

Mit einem Tuch, warmem Wasser und Spülmittel wischte er seinen künstlichen linken Unterarm ab – den Ersatz für seinen eigenen, den er am Tag von Lilys Geburt vor 20 Jahren verloren hatte.

Dann verabschiedete er sich höflich von allen, zog sich in Begleitung seiner treuen kleinen Pudeldame Roxy zurück und sank für ein heißes Bad in eine Wellblechwanne auf der Terrasse hinter dem Haus.

Dort schloss er die Augen und schaltete endlich, endlich vollkommen ab.

Er atmete tief durch, beruhigte sich, ließ die Wüstensonne seine Lider wärmen und genüsslich die Stille ringsum auf sich wirken.

Das liebte er am meisten an seiner abgelegenen Farm.

Die Stille. Die Beschaulichkeit. Die vollkommene Abschottung von der lärmenden Außenwelt. Ihm gefiel es hier, fernab von allem.

Nach dem herrlich friedlichen heißen Bad ging Jack zu Bett und schlief 36 Stunden durch.

Roxy blieb an seiner Seite. Sie döste auf dem Rücken, die Pfoten nach oben gestreckt, genauso erschöpft wie ihr Herrchen.

Mae beschloss, eine Weile auf Jacks Farm zu bleiben, allerdings nicht ohne besonderen Grund.

Sie wollte Hades über die vier mystischen Königreiche ausquetschen, ihr Lebenswerk.

Für eine Frau, die man für unerbittliche Strenge kannte, berauschte sie die Aussicht darauf geradezu. Sie glich einer Präsidentschaftsbiografin, die tatsächlich einen Präsidenten interviewen durfte, oder einer Verschwörungstheoretikerin, der man Zugang zu Area 51 gewährte.

Während Jack schlief, setzten Hades und sie sich zum gemeinsamen Mittagessen.

Lily und Alby schlossen sich ihnen an. Lily trug mittlerweile ein graues Star Wars-T-Shirt und blaue Jeans, Alby ein gelb-rotes T-Shirt der USC und Shorts.

»Also«, begann Mae. »Die vier Königreiche regieren die Welt aus den Schatten. Es gibt da ein paar Dinge, die ich unbedingt erfahren muss.«

»Okay«, sagte Hades.

»Der Anschlag auf Kennedy. Waren das die Königreiche?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil der Vietnamkrieg weitergehen musste.«

»Abraham Lincoln?«

»Auch.«

»Warum?«

»Das hat zu der Vereinbarung gehört, die wir mit ihm getroffen haben.«

»Die wie gelautet hat?«

»Wenn er Unsterblichkeit wollte, musste er sterben.«

»Prinzessin Diana?«

»Nein. Das war bloß ein betrunkener Fahrer. Eine wahre Schande.«

»Die Mondlandung?« Mae verengte die Augen zu Schlitzen. »Die war doch echt, oder?«

»Absolut. Und dringend nötig«, fügte Hades geheimnisvoll hinzu. »Die vierte Landung war die wichtigste.«

»Manipulieren Sie auch Wahlen?«

»Wenn es sein muss, schon.«

»Zum Beispiel?«

»Woodrow Wilson 1912.«

»Was ist mit Trump?«, warf zum ersten Mal Lily eine Frage ein.

»Da mussten wir nicht eingreifen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Das wäre so oder so passiert.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Mae.

»Weil Demokratie von Natur aus fehlerbehaftet ist«, erklärte Hades. »Wenn die Bürger einer Demokratie zu wohlhabend werden, fangen sie an, Politik als Unterhaltung zu betrachten. Und wenn es dazu kommt, geben Wähler ihre Stimme jenen, die sie belustigen.«

Lily wechselte einen erstaunten Blick mit Alby.

Mae lehnte sich auf dem Stuhl zurück und sah Hades verblüfft an.

Hades deutete auf Albys Shirt. »USC? Dein Name ist Calvin, sagst du? Albert Calvin?«

»Ja, Sir«, bestätigte Alby.

»Ich wusste doch, dass ich den Namen kenne. Du studierst Frühgeschichte und Mythologie, nicht wahr?«

»Ja.«

»Aber wenn ich mich recht erinnere, machst du auch Astrophysik am Caltech.«

»Stimmt«, sagte Alby überrascht. »Woher wissen Sie das?«

»Ich kenne Professoren an beiden Universitäten. Scouts, wenn man so will. Ihre Aufgabe besteht darin, mir die Arbeiten talentierter Studenten zu schicken, die sie für vielversprechend halten. Von dir habe ich Aufsätze gelesen, die mir beide Scouts übermittelt haben, über historische und astronomische Themen. Beeindruckend.«

»Na ja, ich … Danke«, sagte Alby verhalten erfreut.

Hades wandte sich an Lily. »Und was dich angeht, junge Dame, auch du bist beeindruckend. Wenn sich die Lage ein wenig beruhigt hat, würde ich mich mit dir sehr gern über dein einzigartiges Erbe unterhalten, deine Abstammung.«

»Okay …«, erwiderte Lily zögernd. »Klar.«

»Ja, später.« Mae wischte ihre Plauderei mit gespielter Verärgerung beiseite. »Vorerst gehört Lord Hades mir. Ich habe noch etliche Fragen an ihn.«

Hades nickte Lily knapp zu, bevor er sich wieder Mae zuwandte.

Am Morgen seines dritten Tags zu Hause wurde Jack von Zoe wach gerüttelt.

»Jack«, sagte sie eindringlich. »Dein neuer Freund Hades sagt, er muss sofort mit dir reden. Er behauptet, seine Welt sei gerade den Bach runtergegangen.«

»Jack«, sagte Hades, »wir müssen nach New York. Sofort!«

»Warum?« Jack griff nach einem Kaffeebecher.

Bei ihnen befanden sich Zoe, Lily, Alby und Mae. Alle hörten aufmerksam zu.

»Mein Butler in Manhattan hat auf meiner Mailbox für Notfälle gerade diese Nachricht hinterlassen.«

Hades drückte auf sein Handy und spielte über den Lautsprecher eine aufgezeichnete Mitteilung ab.

»Sir«, sagte eine überaus steife, förmliche Stimme, »hier spricht Geoffrey. Ihre Aktivposten werden angegriffen. Ihre Treuhandkonten und Beteiligungen werden in diesem Moment aufgelöst. Ihre Kennwörter werden allesamt geändert, und man schaltet alle unsere Computer ab. Nach den Ereignissen bei den Spielen haben die neuen Könige ein Konklave abgehalten und ein Zwangsabdankungsverfahren gegen Sie angeordnet.«

Eine längere Pause folgte.

»Und Sir, man hat den Sklavenkönig damit beauftragt, sowohl Sie als auch Captain West festzunehmen.«

Jack warf einen Blick zu Hades.

Die steife Stimme fuhr fort. »Ich habe die Erbstücke und Kunstwerke weggeschafft, die Ihnen besonders am Herzen liegen. Vorerst sind sie in Ihrem Versteck in Rom in Sicherheit. Dort ist auch Ihr Notgroschen. Der Sklavenkönig muss mittlerweile unterwegs hierher sein. Falls in der Wohnung noch etwas ist, das Sie brauchen oder wollen, schlage ich vor, Sie kommen sofort her und holen es. Wie Sie besser als die meisten wissen, ist mit dem Sklavenkönig nicht zu spaßen.«

Ein Klicken.

Jack sah Hades eindringlich an. »Zwangsabdankungsverfahren? Und wer oder was ist ein Sklavenkönig? Gibt es in Wirklichkeit fünf Könige?«

»Nein. Nur vier. Als ›Sklavenkönig‹ wird in Adelskreisen ein überaus gefährlicher königlicher Beamter bezeichnet.« Hades starrte einen Moment lang ins Leere. »Ich dachte, ich hätte mehr Zeit. Sie haben schnell reagiert. Zwei Könige sind in den Wirren bei den Spielen umgekommen, aber ihre Familien haben offensichtlich rasch gehandelt und ihre Erben zu Königen ernannt.«

Er betrachtete die um ihn herum versammelte Gruppe. »Und jetzt haben sich die anderen drei Könige gegen mich gewandt. Ich werde enthauptet. Man nimmt mir die Krone weg. Meinen Titel, meinen Thron, meine Ländereien, mein gesamtes Königreich.«

»Warum?«

»Offiziell, weil die Spiele keinen König der Könige hervorgebracht haben«, erwiderte Hades. »Darauf war ich vereidigt. Es war meine Pflicht, und ich habe sie nicht erfüllt. Inoffiziell eher weil ich dich nicht davon abgehalten habe, die Zeremonie zu unterbrechen, bei der Orlando zum König der Könige gekrönt werden sollte. Und dann bin ich mit dir geflohen.«

»Und dieser Sklavenkönig, wer ist er?«

Hades schüttelte den Kopf. »Jedes System braucht einen Polizisten, Jack. Jemand, der das Gesetz durchsetzt. Das ist bei den vier Königreichen nicht anders. Wenn jemand gegen die Regeln der Königreiche verstößt – von Mordversuchen bis hin zum schlichten Diebstahl –, muss er bestraft werden.

In der Schattenwelt der vier Königreiche ist diese Person sowohl oberster Polizist als auch der oberste Kerkermeister. Offiziell kennt man ihn als Direktor des königlichen Gefängnisses von Erebus. Im Verlauf der Jahrtausende haben die verschiedenen Gefängnisdirektoren Sklaven als Wächter in Erebus eingesetzt. Deshalb nennt man den Inhaber des Amts landläufig Sklavenkönig.«

»Und jetzt hat er den Auftrag, uns beide zu jagen und zu verhaften?«, hakte Jack nach.

»Ja. Mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln ist er dafür bestens gerüstet.«

Hades kniff die Lippen fest zusammen.

»Jack, wir treten gerade in eine gefährliche neue Phase der Weltlage ein. Das Omega-Ereignis naht – die ultimative Singularität, der schlagartige Zusammenbruch des Universums, wenn es seine größte Ausdehnung erreicht. Das Ende aller Dinge.

Und da Orlando bei den Spielen nicht die Mysterien offenbart worden sind, er nicht zum König der Könige wurde, ist die Welt der Königreiche in ein äußerst instabiles Interregnum gestürzt.«

»Das versteh ich nicht«, meldete sich Zoe zu Wort.

»Die Großen Spiele hatten einen übergeordneten Zweck«, erklärte Hades. »Die Krönung des ›Königs der Könige‹, des Kaisers der Welt. In einigen Texten wird der Titel auch Alpha genannt.

Der König des siegreichen Kämpfers sollte eigentlich zwei Preise erhalten. Einerseits die Ernennung zum König der Könige, andererseits die Mysterien – heiliges, uraltes Wissen zum Bestehen der beiden Prüfungen, die überwunden werden müssen, um das bevorstehende Omega-Ereignis abzuwenden.«

»Den Zusammenbruch des Universums«, stellte Zoe klar.

»Richtig«, bestätigte Hades.

»Ziemlich große Sache …«, sagte Alby leise.

Hades fuhr fort. »Nach Jacks Sieg bei den Spielen hätte sein Sponsor Orlando in den schwarzen Obelisken des Tempels auf dem Gipfel der Unterwelt treten und die Mysterien empfangen sollen.

Jack wollte nicht, dass Orlando solche Macht erlangt, deshalb hat er es verhindert. Somit hat Orlando die Mysterien nicht empfangen und ist nicht zum König der Könige geworden. Der Titel ist hinfällig. Um das Omega-Ereignis zu verhindern, müssen wir die Mysterien jetzt auf andere Weise aufspüren.«

»Und sie dann benutzen, um die beiden Prüfungen zu bestehen«, warf Alby ein.

»Ja.«

»Und worin bestehen die beiden Prüfungen?«

»Man nennt sie die Prüfung der Städte und die Prüfung der Berge«, erklärte Hades.

»Moment«, schaltete sich Zoe ein. »Die Mysterien. Was genau sind sie? Hinweise? Gebote?«

»Informationen«, antwortete Mae. »Anweisungen. Uralte Informationen und Anleitungen. Über die Jahre bin ich bei meinen Nachforschungen über die Königreiche nur auf eine Handvoll Hinweise auf die Mysterien gestoßen, bestenfalls Fragmente. Soweit ich das beurteilen kann, gibt es fünf oder sechs Mysterien. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Richtlinien oder Anweisungen, um die beiden Prüfungen zu bewältigen und so das Omega-Ereignis zu verhindern.«

Sie sah Hades an, der nickte. »Völlig richtig.«

»Weiß irgendjemand, was die Mysterien sind?«, fragte Lily.

»Niemand kennt sie in ihrer Gesamtheit«, sagte Hades. »Das war das Privileg des Königs gewesen, dessen Recke die Spiele gewonnen hat. Allerdings sind die Mysterien unter dem Strich Informationen. Und Informationen kann man auch auf andere Weise beschaffen.

Im Verlauf der Jahrhunderte haben schon viele versucht, das Wesen der Mysterien zu ergründen, darunter königliche Historiker, Vertreter der katholischen Kirche und sogar bekannte Mitglieder des Invisible College. Aber Mae zufolge gibt es nur Fragmente der Gesamtheit, flüchtige Erwähnungen der Mysterien durch Personen, die im Laufe der Geschichte über sie gesprochen oder geschrieben haben.«

»Wer zum Beispiel?«, fragte Alby dazwischen.

»Nun ja, zum Beispiel Zeus«, erwiderte Hades. »Er war vor 3000 Jahren, als Herkules die Spiele gewonnen hat, dessen Sponsor. Außerdem war er ein so charismatischer und mächtiger Herrscher, dass ihn über die Jahrtausende verschiedene Erzählungen und Legenden zu einem Gott erhoben haben – sogar zum König der Götter.«

Hades zückte sein Handy und rief ein passwortgeschütztes Album auf.

Er wählte ein Foto aus. Es handelte sich um die Aufnahme eines sehr alten Papyrus in einem Glasrahmen.

Hades zeigte das Bild in die Gruppe. »Zweifellos erkennt ihr die Sprache.«

»Das Wort des Thot«, sagte Jack. Die unentzifferbare alte Sprache, die nur das Orakel von Siwa – Lily und ihr Zwillingsbruder Alexander – lesen konnte.

»Dieser Papyrus gehört dem König des Reichs Land. Er wird in einem klimatisierten Tresor im Archiv der königlichen Aufzeichnungen in England aufbewahrt.

Ich hatte das Privileg, ihn bei einem Dinner zu sehen, zu dem vor 30 Jahren ein früherer Landkönig die drei anderen Könige eingeladen hat. Dieser Papyrus wird seit über 3000 Jahren von einem Landkönig an den nächsten weitergegeben. Man nennt ihn Zeus-Papyrus, weil er auf Zeus’ persönliche Anordnung vom Orakel zur Zeit des berühmten Siegs von Herkules geschrieben wurde.«

»Soll Lily den Text übersetzen?«, fragte Zoe.

»Nicht nötig.« Hades blätterte zum nächsten Foto. »Das hat Lilys Großvater, ein früheres Orakel, bereits erledigt.«

Das nächste Foto zeigte ein Blatt Papier mit handschriftlichem Text auf Englisch.

Als der mächtige Herkules die Spiele für mich gewann, bestand mein Preis in einer Armee, einer unbezwingbaren Streitmacht von Männern aus Bronze, die mich auf meiner heiligen Mission zu den drei geheimen Städten beschützen sollten.

Außerdem empfing ich die Mysterien – wundersame Visionen brannten sich in meinen Geist, als ich in jenem Obelisken stand, darunter zwei Oden über die beiden Prüfungen, die es zu bestehen galt.

DIE PRÜFUNG DER STÄDTE

Keine Meere.

Keine Wolken.

Keine Flüsse.

Kein Regen.

Die Welt eine Einöde

aus Elend und Schmerz.

DIE PRÜFUNG DER BERGE

Fünf Berge aus Eisen. Fünf Klingen als Schlüssel. Fünf Pforten, für immer verschlossen.

Doch merke, nur wer den Fall überlebt, darf das oberste Labyrinth betreten und ins Antlitz des Omega blicken.

Die Mysterien geleiteten mich durch die erste Prüfung. Dafür musste ich die drei unsterblichen Waffen zu den drei geheimen Städten bringen, die Waffen dort stärken und dann mit ihnen das heilige Ritual am Altar des Kosmos vor dem nächsten Aufstieg des Schützen über die Sonne vollziehen.

Wisset, die ihr in meine Fußstapfen tretet: Die Reise zu den drei geheimen Städten beginnt am Ende.

Die zweite Prüfung beginnt erst, wenn die erste abgeschlossen ist …

»An der Stelle ist der Papyrus abgerissen«, sagte Hades.

»Die drei unsterblichen Waffen …«, sagte Lily.

»… zu den drei geheimen Städten bringen …«, sagte Zoe.

»… vor dem nächsten Aufstieg des Schützen über die Sonne …«, sagte Alby nachdenklich. Dann wirbelte er herum und tippte auf seinem Computer.

»Die Reise beginnt am Ende …«, sagte Jack.

»Über die drei unsterblichen Waffen weiß ich etwas«, ergriff Hades das Wort. »Deutlich weniger über die Städte und gar nichts über das im Papyrus erwähnte Himmelsereignis.«

Jack drehte sich um. »Alby? Das Himmelsereignis?«

Alby schaute vom Computer auf. »Dazu hab ich ein paar Ideen. Lass mich eben etwas recherchieren.«

Jack wandte sich an die anderen. »Ich hab bei den Großen Spielen von den drei geheimen Städten gehört. Orlandos oberster Kirchenberater, Kardinal Mendoza, hat sie mir gegenüber erwähnt: Thule, Atlas und Ra.«

»Die sagenumwobenen Städte Thule, Atlas und Ra«, betonte Hades. »Ihre Lage gehört zu den drei bedeutendsten Geheimnissen des Altertums.«

»Aber Mendoza hat nichts von irgendwelchen Waffen gesagt, geschweige denn von drei unsterblichen Waffen«, meinte Jack. »Was sind sie?«

»Einfach ausgedrückt die drei berühmtesten Waffen der Geschichte«, erwiderte Hades. »Das Schwert des Felsens, der Dreizack des Herrschers der Meere und der Helm des Hades.

Manchmal nennt man sie auch die drei Waffen der Könige, weil sie immer im Besitz von drei der vier mystischen Könige sind. Das vierte Königreich – Himmel – ist spiritueller als die anderen und brüstet sich mit seiner friedfertigen Gesinnung. Deshalb hat es als militärischen Gegenstand einen Schild. Ich weiß nicht, wo die ersten beiden Waffen sind. Aber da ich bis vor Kurzem der König der Unterwelt war, weiß ich, wo sich der Helm des Hades befindet.«

»Wo?«

»In einem Tresor in meiner Wohnung in New York«, sagte Hades. »Immerhin ist es mein Helm. Dort bewahre ich auch ein Artefakt auf, das mit den Mysterien zu tun hat. Eine Steintafel, die ein Teil des im Zeus-Papyrus erwähnten Altars sein soll, des Altars des Kosmos.

Aber zu den beiden Objekten hat Geoffrey keinen Zugang. Der Tresor ist biometrisch gesichert. Nur ich kann ihn öffnen. Wenn du also die Welt retten willst, Jack, musst du sofort mit mir nach New York, um den Tresor zu öffnen.«

Jack starrte Hades eine Weile an.

Dann stand er trotz aller Erschöpfung und seiner Wunden auf. »Worauf warten wir dann noch? Schnappt euch eure Sachen. In 30 Minuten sind wir unterwegs.«

Von da an ging es schnell.

Lily und Alby schnappten sich ein paar Sachen zum Anziehen und Computer, bevor sie an Bord der Sky Warrior eilten.

Sky Monster tankte das Flugzeug auf.

Zoe warf zu robuster Kleidung auch Bewaffnung in einen Koffer: Pistolen, Munition und einen Eishockeyhelm.

Zu Jack meinte sie: »Diesmal werd ich nicht am anderen Ende der Welt sein und das Geschehen verpassen.«

Mae drängte sich an Jack und Hades vorbei, um sich Material aus dem Regal in Jacks Arbeitszimmer zu holen: Lehrbücher, Schriftrollen, Pergamente.

»Ich schätze mal, du kommst auch mit, Ma«, sagte Jack.

»Worauf du deinen Hintern verwetten kannst«, bestätigte Mae Merriweather. Sie deutete mit dem Kinn auf Hades. »Ich habe mich mein Leben lang mit diesen Königreichen befasst. Ich will nicht nur seine Artefakte sehen, ich will auch weiterhin von einem der Könige so viel wie möglich über die vier Reiche erfahren.«

20 Minuten später befanden sich alle gewappnet an Bord der Sky Warrior.

Nur ein Mitglied der Gruppe blieb zurück: E-147. Er musste den Fuß schonen, den er sich bei den Spielen gebrochen hatte. Also würde er auf der Farm bleiben und sich um die Hunde kümmern.

»Vergiss nicht«, erinnerte Jack ihn. »Die Hunde werden nicht gegessen.«

E-147 nickte gehorsam und streichelte dabei Roxy.

Die Sky Warrior hob ab.

Nach kurzer Zeit schaltete Sky Monster auf Autopilot und begab sich zu den anderen in die Hauptkabine.

Er setzte sich, als Hades gerade erneut seine Mailbox abhörte, um zu überprüfen, ob sein Butler in New York ihm weitere Nachrichten oder, noch wichtiger, irgendwelche Warnungen hinterlassen hatte.

Diesmal enthielt das System drei Meldungen.

Hades spielte sie über den Lautsprecher ab, damit Jack mithören konnte.

Die erste stammte erneut von seinem Butler Geoffrey: »Sir, in der Wohnung ist vorläufig alles in Ordnung.«

»Vertraust du ihm?«, fragte Jack.

Hades nickte. »Mit meinem Leben.«

Er rief die zweite Nachricht ab …

… und aus dem Lautsprecher ertönte eine Stimme, mit der Hades seinem Gesichtsausdruck nach nicht gerechnet hatte: Minotus, König der Minotauren in der Unterwelt in Indien.

Er klang verzweifelt.

»Herr! Ist Minotus hier! Nach Ende von Spiele hat sich geöffnet einer von die silberne Särge in Hängeturm!«

Im Hintergrund knallte laut ein Schuss.

»Ein … Ein Wesen … ist gekommen heraus: ein Mann aus Panzer, aus undurchdringliche Panzer in Bronze. Hat er schon 50 von meine Minotauren getötet. Gerade wir versuchen, ihn überwältigen! Sie uns bitte helfen!«

Der Anruf endete abrupt mit statischem Rauschen.

Hades schnappte sich sofort ein anderes Telefon und versuchte, Minotus anzurufen, aber die Leitung war tot. Es klingelte nicht mal.

Hades schluckte. »Grundgütiger …«

Jack musterte ihn aufmerksam. »Irgendeine Ahnung, was in den Särgen ist, Anthony?«

Hades nickte. »Später.«

»Mein Gott, Jack«, stieß Sky Monster hervor. »Dort waren Hunderte dieser Särge.«

Aus Jacks Team war allein Sky Monster während der gesamten Großen Spiele bei ihm gewesen. Für den Neuseeländer war es eine aufschlussreiche und harte Erfahrung gewesen, zumal er etwas übergewichtig und eher daran gewöhnt war, im Flugzeug wartend in Magazinen mit luxuriösen Jets und Jachten zu schmökern, während sich Jack an gefährlichen Orten herumtrieb.

Sky Monster war während des dramatischen Autorennens der fünften Herausforderung an Jacks Seite gewesen.

Dabei hatten sie den über dem Abgrund hängenden Turm gesehen, der unzählige Särge in rechteckigen Nischen enthielt.

Jack verkündete: »Ich rufe Stretch und Pooh Bear an. Sie sind wieder in Dubai, also nicht weit von der Unterwelt in Indien. Ich schicke sie, während wir nach New York fliegen.«

Dann spielte Hades die dritte Nachricht ab.

Eine bedächtige Stimme ertönte gemessen aus dem Lautsprecher.

Hades spannte sichtlich den Körper an, und seine Augen weiteten sich vor unverhohlener Angst.

»Lord Hades«, sagte die tiefe Stimme in steif und förmlich klingendem Ton, »hier spricht Yago, Direktor des königlichen Gefängnisses. Dir wird Verrat an den vier Thronen zur Last gelegt. Gegen dich liegt ein gültiger königlicher Haftbefehl vor. Sobald du festgenommen bist, wirst du in das Gefängnis von Erebus überstellt und dort den Rest deines natürlichen Lebens fristen.«

Eine bedeutungsschwere Pause folgte, bevor die Stimme informell hinzufügte: »Ich komme dich holen, liebster Bruder.«

»Na schön«, sagte Jack, als sie fast 21 Stunden später in der Hauptkabine der Sky Warrior im Kreis saßen.

Sie waren beinahe um die halbe Welt geflogen und befanden sich mittlerweile nur noch eine Stunde von New York entfernt.

Er sah Hades an. »Ich will dreierlei wissen: Erstens alles, was du mir über die drei unsterblichen Waffen sagen kannst, vor allem über diesen Helm in deiner New Yorker Wohnung. Zweitens, was in der Unterwelt vor sich geht. Und drittens, warum dieser Gefängnisdirektor-Sklavenkönig-Typ dich ›liebster Bruder‹ genannt hat.«

Hades neigte den Kopf und nickte.

»Die drei Waffen tauchen seit Jahrhunderten immer wieder in Märchen und Folklore auf. Die griechische Mythologie besagt, dass sie von einem Meisterschmied der Zyklopen für die drei bedeutendsten Götter seiner Zeit angefertigt wurden, die Brüder und Könige Zeus, Poseidon und Hades. Laut meinen Geschichtsbüchern hingegen sind die drei Waffen älter als diese Männer.

Die erste Waffe ist das Schwert des Felsens, die Klinge des Landkönigs, ein uralter Säbel, der über die Jahrhunderte im Besitz vieler großer Könige des Reichs Land gewesen ist – von Zeus über Pharao Ramses II. bis hin zu Jesus und dem als Artus bekannten britischen König. Sie hatte im Verlauf der Zeit viele Namen. Calibor, Caliburn, brennende Klinge, Schwert des Felsens, Schwert im Stein, Säbel des Feuers. Am bekanntesten ist aber wohl Excalibur.«

»Du meine Güte …«, flüsterte Mae.

»Weiß man, wo es ist?«, fragte Zoe.

»Ja. Das Schwert ist noch am selben Ort wie die letzten 1200 Jahre – in Artus’ Gruft in der Krypta der Burg von Avalon«, sagte Hades. »Der Stammsitz des Landkönigs.«

»Und die zweite Waffe?«, hakte Jack nach.

»Der Dreizack des Herrschers der Meere«, erwiderte Hades. »Berühmt durch den Mann, den die Geschichte als Poseidon kennt. Genau genommen handelt es sich um einen dreiteiligen Streitkolben, nicht um einen Dreizack. Er gilt allerdings als verschollen.«

»Und der Helm?«, sagte Jack.

»Der Helm des Hades«, sagte Hades. »Meine einzigartige Krone. Ein wahrhaft wundersamer Gegenstand, geschmiedet aus einer seltsamen, widernatürlichen Legierung. Wie Bronze, ist es allerdings nicht. So widerstandsfähig wie Stahl, aber leichter. Der Stil ähnelt einem korinthischen Helm mit spitz zulaufendem Nasenschutz, Wangenplatten und Federschmuck. Tatsächlich gibt es sogar eine recht gute Darstellung davon – und des Schwerts. Im Wappen der US Military Academy in West Point.«

Eine schnelle Google-Suche auf Albys Computer förderte das Wappen zutage.

Jack betrachtete den Helm in der Mitte des Bilds und das in einer Scheide steckende Schwert dahinter.

Hades fuhr fort. »Wie dem Schwert hat man auch dem Helm im Verlauf der Zeit andere Namen und mythische Fähigkeiten zugeschrieben. Man hat ihn als Helm der Dunkelheit und Unsichtbarkeitshelm bezeichnet. Aber meiner Erfahrung nach verleiht er keine derartig fantastischen Fähigkeiten.«

»Und er ist in Ihrem Tresor in New York?«, fragte Zoe.

»Ja.«

»Okay«, sagte Jack. »Was ist mit der Unterwelt? Was hat es mit den silbernen Särgen auf sich?«

Hades antwortete: »Natürlich weiß ich als König der Unterwelt schon lange von den Särgen im hängenden Turm. Als ich nach dem Tod meines Vaters sein Erbe angetreten habe, hatte er mir umfangreiche Anmerkungen über das Königreich hinterlassen, und insbesondere über diesen Turm. Über die silbernen Särge schrieb er: Versuch gar nicht erst, sie zu öffnen, es kann dir nicht gelingen. Sie öffnen sich von selbst, wenn die Zeit reif ist. Und stell dich nicht dem in den Weg, was sie enthalten.«

Hades starrte ins Leere, während er sich erinnerte.

»Ich habe den Rat meines Vaters befolgt und nicht versucht, die Särge zu öffnen. Aber ich war neugierig. Ich habe mir mehrfach mit moderner Technik wie Röntgenstrahlen und Schallresonanztomografie flüchtige Eindrücke vom Inhalt verschafft.

Auf den Bildern sah man menschenförmige, völlig regungslos auf dem Rücken liegende Gestalten. Sämtliche Analysen von außen haben ergeben, dass sie sowohl unbelebt als auch anorganisch sind. Statuen. Aus irgendeinem dichten Metall. In all meinen Jahren als König der Unterwelt haben sie still und regungslos in den Särgen gelegen. Deshalb dachte ich irgendwann, sie wären bloß Votivgaben oder Dekoration. Ich wusste nicht, dass sie lebendig werden können.«

Jack nickte.

»Und dieser Gefängnisdirektor, dieser Sklavenkönig, ist dein Bruder?«

»Mein jüngerer Bruder, ja. Yago DeSaxe. Uns trennen nur vier Jahre. Als Kinder und Jugendliche haben wir uns sehr nahegestanden. Wir haben alles zusammen gemacht. Aber wir waren ehrgeizig und haben uns in allem miteinander gemessen.

Jack, für dich ist letzte Woche gleichsam ein Vorhang aufgezogen worden und hat dir einen Blick auf das wahre Machtgefüge der Welt ermöglicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du im weiteren Verlauf noch mehr davon zu sehen bekommen wirst.

Wie du ja bereits mitbekommen hast, beruht alles auf einer strengen Erbfolge. Tja, lass dir gesagt sein, in königlichen Haushalten können jüngere Geschwister tödlich sein.

Weil immer der älteste Sohn den Titel, die Schlösser und die Ländereien des Vaters erbt. Die jüngeren kriegen wenig oder manchmal gar nichts. Erschwerend kommt hinzu, dass sie sich oft gezwungen sehen, jemandem bedingungslos zu gehorchen, der in ihrer Kindheit ein Spielkamerad war.«

»Wie Iolanthe und Orlando«, meinte Lily. »Bei den Spielen war Iolanthe alles andere als erfreut darüber, dass er sie für eine strategische Ehe praktisch verkaufen wollte.«

Hades nickte. »Genauso ist es. Aber nehmt euch vor Iolanthe in Acht. Sie ist clever. Außerdem ist sie Archivarin der königlichen persönlichen Aufzeichnungen des Königreichs Land. Zweifellos ein bescheidenes Amt, das viele als das einer besseren Bibliothekarin abtun. Aber ihre beiden Bibliotheken sind sehr alt und umfangreich. Ich habe das Gefühl, dass Hüter historischen Wissens wie Iolanthe in den kommenden Tagen noch enorme Bedeutung erlangen werden.«

Hades seufzte.

»Allerdings ist die Beziehung zwischen Orlando und Iolanthe im Vergleich zu der zwischen Yago und mir geradezu liebevoll.

Als ich den Thron meines Vaters in der Unterwelt geerbt habe, wollte Yago nicht mehr mit mir reden, obwohl ich ihn mit etlichen Immobilien und gewaltigen Summen Geld bedacht habe. Nach dem Konkurrenzkampf in unserer Kindheit war ihm das nicht genug. Yago hat mich nur durch eine Linse aus Groll, Verbitterung und Neid gesehen.

Als unser Vater alt wurde und sich abgezeichnet hat, dass ich bald die Krone und das Königreich erben würde, hat Vater dafür gesorgt, dass Yago zum Direktor des königlichen Gefängnisses ernannt wurde. Erebus mag abgelegen sein, aber Yago hat dort eine wichtige und unter bestimmten Umständen ausgesprochen mächtige Position inne.«

»So wie jetzt«, merkte Zoe an.

»Ja, so wie jetzt«, pflichtete Hades ihr traurig bei. »Im Augenblick ist mein Bruder der königliche Kerkermeister mit dem Auftrag, mich zu jagen. Er wird es mit Vergnügen tun, denn Yago findet seit Jahren, er wäre mir nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen. Und da mir mein Königreich jetzt genommen wurde, hat er sogar recht.«

Ausgedehntes Schweigen setzte ein.

Alby brach es.

»Jack«, sagte er. »Lily und ich haben etwas hinzuzufügen.«

Die beiden hatten den Großteil des Flugs eifrig an Albys Computer gearbeitet.

»Schieß los.«

»Wir haben das im Papyrus erwähnte Himmelsereignis recherchiert, den ›Aufgang des Schützen über die Sonne‹. Bekanntermaßen ist der sogenannte Schütze ein Sternbild und ein Tierkreiszeichen. Weniger bekannt ist, dass es die dem galaktischen Zentrum nächstgelegene Konstellation ist. Dort befindet sich das supermassereiche Schwarze Loch unserer Galaxie, der Milchstraße.«

»Astronomen bezeichnen dieses Schwarze Loch als Sagittarius A-Stern«, übernahm Lily. »Es ist nicht nur das dichteste Objekt in unserer Galaxie, sondern auch eine ergiebige Quelle von Radiowellen, die als konstanter Strom davon ausgehen. Im Augenblick liegt Sagittarius A-Stern aufgrund der Jahreszeit hinter der Sonne verborgen.«

»Richtig«, bestätigte Alby. »Und unseren Berechnungen zufolge steigt Sagittarius A-Stern in genau sieben Tagen, am 1. Dezember ab 20:05 Uhr Mittlerer Greenwich-Zeit, für etwa zwölf Minuten hinter der Sonne auf und bombardiert die Erde mit Radiowellen. Dann zieht es sich wieder hinter die Sonne zurück.

Keine Sorge wegen der Radiowellen – die schaden uns nicht. Sie gehen einfach durch den Planeten und unsere Körper hindurch.

Aber erinnerst du dich an die außer Kontrolle geratene Galaxie, die vor den Großen Spielen auf die Erde zugerast ist? Die Hydra-Galaxie?«

»Ja«, erwiderte Jack. Das Bild der hakenkreuzförmigen Spiralgalaxie ließ sich kaum vergessen.

»Und erinnerst du dich auch, dass sie auf ihrem Weg zu uns eine schnurgerade Schneise durch andere Galaxien geschlagen hat? Praktisch eine freie Bahn zwischen den Sternen hindurch?«

»Ja«, sagte Jack. »Bei den Spielen hat Iolanthe sogar erwähnt, dass die Hydra-Galaxie ›den Weg für etwas ebnet‹, das mit Isaac Newtons Schriften über eine Art ›Rückruf‹ zusammenhängt.«

»Sie hatte völlig recht«, sagte Alby. »Es sieht nämlich so aus: Diese schnurgerade Bahn wird sich direkt hinter der Erde befinden, wenn Sagittarius über die Sonne lugt. Das bedeutet, die Radiowellen von dort gehen durch unseren Planeten hindurch und reisen dann den freien Pfad entlang geradewegs zur Quelle der Hydra-Galaxie, weit draußen im Zentrum des Universums. Die Hydra-Galaxie hat buchstäblich den Weg für das Ereignis geebnet.«

»Die Radiowellen an sich schaden uns also nicht«, sagte Lily. »Aber wenn sie durch die Erde hindurchgehen, bestätigen sie irgendwie, dass die Prüfung der Städte bestanden wurde?«

»Richtig. Und wenn wir sie nicht bestehen«, sagte Jack, »wird die Welt zu einer ›Einöde aus Elend und Schmerz‹.«

In der Kabine wurde es still.

Jack sah auf die Armbanduhr. Es war der 24. November. Entscheidend waren die zwölf Minuten ab 20:05 Uhr MGZ am 1. Dezember.

»Uns bleiben also sieben Tage, um die Mysterien zu finden und die erste Prüfung, die der Städte, zu bestehen«, erklärte er.

Alle schwiegen, während das Ausmaß der Aufgabe sackte: Drei sagenumwobene Waffen, drei geheime Städte und ein heiliger Altar mussten innerhalb einer Woche gefunden werden.

»Leck mich am Arsch«, entfuhr es Mae.

»Das können Sie laut sagen«, meinte Hades.

»Leck mich am Arsch«, wiederholte Mae lauter.

»Okay«, sagte Jack. »Jetzt wissen wir, womit wir’s zu tun haben. Macht euch alle bereit und vergewissert euch, dass ihr eure Aufgaben kennt, sobald wir in Hades’ Wohnung sind. Gebt euch keinen Illusionen hin: Sobald wir in New York sind, wird es hektisch.«

Während Jacks Jet die Ostküste der Vereinigten Staaten entlang in Richtung New York City raste, befanden sich drei andere Privatflugzeuge ebenfalls auf dem Weg dorthin.

Das erste kam aus dem Süden, irgendwo aus Mittelamerika.

Es handelte sich um eine graue militärische Transportmaschine vom Typ C-17 Globemaster III, in Privatbesitz und stark modifiziert.

Unscheinbar in die Außenseite integriert befanden sich hochmoderne Waffensysteme, darunter Raketen des Typs AIM-120 AMRAAM, M61 Vulcan Gatling-Maschinenkanonen und ein AN/AAQ-24 DIRCM-System, das Schutz vor wärmegesteuerten Raketen bot. Im riesigen Frachtraum – der sich unter anderem für die Beförderung eines Abrams Panzers oder eines CH-53E Super Stallion Hubschraubers eignete – befand sich das Hauptmerkmal: eine Reihe von sechs Zellen aus Stahl.

Das spezielle Kennzeichen am Heck des fliegenden grauen Kolosses garantierte die sofortige Landeerlaubnis in jedem zivilisierten Land der Welt. Tatsächlich hatte das Flugzeug gerade eine Vorzugslandeerlaubnis auf dem Flughafen Newark westlich von Manhattan erhalten. Sämtliche anderen Maschinen im Anflug wurden zurückgereiht und mussten warten.

Was daran lag, dass es sich um das persönliche Flugzeug – und mobile Gefängnis – von Yago DeSaxe handelte, Direktor des königlichen Gefängnisses von Erebus.

Die zweite auf New York zusteuernde Maschine kam aus England. Auch ihr spezielles Heckkennzeichen – registriert auf das britische Königshaus, in Wirklichkeit jedoch im Besitz des Königreichs Land – garantierte die ungehinderte Einreise in jedes beliebige Land.

Das Flugzeug befand sich auf dem Weg zum Flughafen JFK östlich der Stadt und beförderte einen hochadligen Passagier.

Die dritte Maschine, die sich an dem Tag ein Wettrennen mit der von Jack nach New York lieferte, war die kleinste, aber schnellste der drei: eine elegante Bombardier Global 8000, der teuerste Privatjet der Welt.

In der Kabine befanden sich acht Männer mit versteinerten Mienen.

Sie hatten in dem luxuriösen Jet ein kleines Arsenal an Maschinengewehren, Pistolen, Granaten – sowohl Brand- als auch Rauchgranaten –, Einsatzhelmen und Kevlar-Körperpanzerung dabei.

Außerdem wies ihr Flugzeug ebenfalls einen Käfig auf, wenngleich nur einen.

Auch die Bombardier konnte dank spezieller Registrierung die üblichen Einreisebestimmungen der USA ohne lange Bürokratie umgehen.

Das Flugzeug hatte eine Landeerlaubnis für die McGuire Air Force Base in New Jersey südlich von New York City. Sie kam aus Aragon in Italien und beförderte die Ritter der Goldenen Acht.

ZWEITES UNTERFANGEN

VERHAFTUNG IN NEW YORK

Möge sich der Geist erweitern … für die Erhabenheit der Mysterien.

FRANCIS BACON

NEW YORK CITY

24. NOVEMBER, 6 UHR

US-OSTKÜSTENZEIT

Im Licht der Morgendämmerung landete die Sky Warrior auf dem Teterboro Airport, einem kleinen Privatflughafen auf der Jersey-Seite des Hudson, 25 Kilometer von New York City entfernt.

Die Maschine rollte vor Hades’ persönlichen Hangar.

Dort warteten zwei Hubschrauber, deren Rotoren sich bereits drehten.

Beim größeren handelte es sich um einen geräumigen AgustaWestland AW101. Dasselbe Modell beförderte mit grüner Lackierung und auf den Namen Marine One getauft den Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Der zweite Hubschrauber war kleiner, ein luxuriöser Eurocopter EC155. In jeder anderen Umgebung wäre er ein Hingucker gewesen, neben dem AW101 jedoch nahm er sich geradezu bescheiden aus.

Jack, Lily, Mae und Hades stiegen aus der Sky Warrior und direkt in den großen AW101. Die Treppe des Helikopters wurde hinter ihnen eingeklappt, und die Maschine hob sofort ab.

Zoe und Alby stiegen in den kleineren Eurocopter, um zu ihren Positionen zu fliegen.

Kaum hatten sich die beiden Hubschrauber in die Luft erhoben, rollte Sky Monster mit der Sky Warrior