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Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Jack West die drei geheimen Städte gefunden, doch der Preis dafür ist unerträglich: Seine geliebte Tochter Lily wurde in einem grausamen Ritual getötet. Nun muss Jack zu einem der fünf Berge aus Eisen gelangen. Zwei davon wurden bisher nicht gefunden. Bei all dem wird Jack entdecken, dass ein neuer Spieler ins Rennen gegangen ist. Ein General, der von den vier mystischen Königreichen so gefürchtet wurde, dass sie ihn in den tiefsten Kerkern einsperrten. Jetzt ist er entkommen und hat einen schrecklichen Plan. Der sechste Band mit den unglaublichen Abenteuern von Jack West. Matthew Reilly zieht alle Register. Vergiss nicht zu atmen! Brad Thor: »Matthew Reilly ist der König der Hardcore-Action.« Vince Flynn: »Niemand schreibt Action wie Matthew Reilly.« Matthew Reillys Bücher wurden in über 20 Sprachen veröffentlicht und weltweit bereits über 7 Millionen Mal verkauft.
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Seitenzahl: 430
Veröffentlichungsjahr: 2023
Aus dem australischen Englisch von Michael Krug
Impressum
Die australische Originalausgabe The Two Lost Mountains
erschien 2020 im Verlag Macmillan Australia.
Copyright © 2020 by Karandon Entertainment Pty Ltd.
Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Published by arrangement with Rachel Mills Literary Ltd.
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-066-3
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Dieses Buch ist Ersthelfern weltweit gewidmet,
Menschen, die der Gefahr entgegenrennen.
Danke.
Hört das Lied der Sirenen, hört es weit weg vom Hafen. Doch hütet euch davor, lasst es nicht in euer Ohr, oder erwachen ihr werdet als Sklaven.
INSCHRIFT AUF EINER GROSSEN ANTIKEN GLOCKE, BEKANNT ALS »SIRENENGLOCKE« PRIVATSAMMLUNG, MOSKAU
Anheimelnd, dunkel, tief die Wälder, die ich traf.
Doch noch nicht eingelöst, was ich versprach.
Und Meilen, Meilen noch vorm Schlaf.
Und Meilen Wegs noch bis zum Schlaf.
»INNEHALTEND INMITTEN DER WÄLDER AN EINEM SCHNEE-ABEND« ROBERT FROST
EINE KURZE ZUSAMMENFASSUNG …
Nachdem JACK WEST JR. – in Die vier mystischen Königreiche – unerwartet die Großen Spiele gewonnen hatte, stellte er fest, dass er zum Verhindern des OMEGA-EREIGNISSES – des alles vernichtenden Zusammenbruchs des Universums – zwei uralte »Prüfungen« bestehen musste: die Prüfung der Städte und die der Berge.
In Die drei geheimen Städte trat er gegen die überlegenen Streitkräfte der vier Königreiche an und beendete erfolgreich die Prüfung der Städte. Allerdings zu einem hohen Preis. Im Rahmen der Prüfung musste ein Orakel von Siwa in einer Kammer auf dem Felsen von Gibraltar rituell geopfert werden. Wovon Jack nichts wusste.
Seine 20-jährige Adoptivtochter LILY, das aktuelle Orakel, wurde von einem neuen Protagonisten namens SPHINX gefangen genommen. Der skrupellose, eiskalt berechnende, über die Antike kundige Sphinx war Wächter der Stadt Atlas und hatte von langer Hand geplant, die Königreiche zu stürzen und ihre Macht an sich zu reißen.
In den letzten Szenen von Die drei geheimen Städte wurde Lily von Sphinx zum Altar im Innern des Felsens von Gibraltar gebracht. Dort vollzog er das abscheuliche Opferritual.
Als Jack kurz darauf in der Kammer eintraf, waren Sphinx und seine Männer verschwunden, und Lilys Leiche schien in einer Platte aus gehärtetem Flüssigstein eingeschlossen zu sein. Aber er musste fliehen und konnte sich nicht länger an dem Ort aufhalten.
Drei Tage später reiste Lilys Freund ALBY CALVIN in Begleitung von STRETCH und POOH BEAR noch einmal hin, um Lilys Leichnam zu bergen.
Doch beim Aufbrechen der Steinplatte hellten sich Pooh Bears Züge auf.
»Großer Gott«, stieß er hervor. »Das ist nicht …« Lächelnd forderte er die anderen auf, sofort Jack anzurufen.
Vielleicht war doch nicht Lily geopfert worden.
Nach Abschluss der Prüfung der Städte rasten Sphinx und seine Leute – darunter der gerissene KARDINAL MENDOZA von der katholischen Kirche und die ehrgeizige CHLOE CARNARVON, die ehemalige Assistentin von Jacks Verbündeter IOLANTHE COMPTON-JONES – zur zweiten Prüfung los, jener der Berge.
Auch andere Kräfte wie der geheimnisvolle OMEGA-ORDEN, eine Gruppe fanatischer Mönche aus Venedig, waren bereits unterwegs.
Mittlerweile rückt das Omega-Ereignis näher. Jack und sein furchtloses Team – seine imposante Ehefrau ZOE, seine temperamentvolle Mutter, die Historikerin MAE MERRIWEATHER, und HADES, der superreiche ehemalige König der Unterwelt – sind verwundet und verstreut, liegen weit hinter ihren Rivalen zurück und wollen unbedingt erfahren, was Lily widerfahren ist …
PROLOG
DIE LEERE STADT: MOSKAU
Die Sphärenharmonie aber ist so laut infolge des rasenden Kreisens der Himmelskörper, dass Menschenohr den Schall zu fassen nicht vermag, sowie ihr ja auch nicht unmittelbar in die Sonne sehen könnt, deren Strahlung viel zu mächtig ist für euer Auge und euer Sehvermögen.
CICERO ÜBER DIE THEORIE DES PYTHAGORAS ZUR SPHÄRENHARMONIE
MOSKAU, RUSSLAND
23. DEZEMBER, 9 UHR
Lily West erwachte abrupt – verängstigt und bis ins Mark durchgefroren.
Geknebelt saß sie an einen dicken Holzstuhl gefesselt im Freien auf Stufen mit Blick auf einen weitläufigen Platz.
Und sie war nicht allein.
Links und rechts von ihr befanden sich zwei kopflose Leichen, ebenfalls an Holzstühle gefesselt.
Erschrocken zuckte Lily zusammen.
Großer Gott …
Bei genauerer Betrachtung stellte sie fest, dass es sich um weibliche Leichen in den schwarzen Gewändern von Nonnen handelte.
Beide wiesen am Hals grässliche Wunden auf, ungleichmäßig, zerfetzt. Man hatte ihnen die Köpfe nicht abgeschlagen, sondern abgerissen.
An die Brust einer der grausigen Leichen hatte jemand einen Zettel geheftet. Er flatterte im eisigen Wind. Fünf handgeschriebene Worte standen darauf:
ERWACHEN WERDET IHR ALS SKLAVEN
Schnee fiel.
Wind heulte.
Es war ein trostloser, bewölkter Tag.
Lily ließ den Blick über den Platz vor ihr wandern. Dabei erkannte sie einige Gebäude – wenn auch nur aus Büchern – und wusste plötzlich genau, wo sie sich befand.
Auf dem Roten Platz. In Moskau.
Zu ihrer Rechten ragte der Kreml auf. Die 60 Meter hohen blutroten Mauern und imposanten Türme zeichneten sich wie riesige Wächter im morgendlichen Licht ab. Eine Schneeschicht bedeckte jede einzelne ihrer Flächen. Blinzelnd versuchte Lily, ihr Gehirn in Gang zu bringen. Ihr Kopf schmerzte entsetzlich.
Vage erinnerte sie sich an die Reise hierher. Dann jedoch hatte jemand sie bewusstlos geschlagen.
Sie bemühte sich nachzudenken, sich zu erinnern.
Der Rote Platz selbst – den die russische Regierung unter anderem für aufsehenerregende militärische Spektakel benutzte – lag fast völlig menschenleer da. Und das, obwohl es laut dem Uhrturm auf dem Haupttor des Kreml – dem Spasski-Turm – neun Uhr morgens war.
Fast menschenleer, denn etwas stach ins Auge: die zahlreichen über den Platz verstreuten Leichen.
Um die 30 lagen mit dem Gesicht nach unten auf dem verschneiten Boden, anscheinend tot. Darunter befanden sich sowohl Männer in Uniform – russische Soldaten und Polizisten in Anoraks – als auch Zivilisten beiderlei Geschlechts. Alle sahen so aus, als wären sie abrupt umgefallen, mitten im Schritt zusammengebrochen. Auf ihren Rücken hatten sich kleine Schneehaufen gebildet.
Abgesehen von umherwehenden Flocken herrschte weit und breit keinerlei Bewegung.
Lily starrte entsetzt hin.
Plötzlich preschte ein Tier über den Platz. Ein Straßenköter.
Er blieb kurz stehen und schnupperte an einem der regungslosen Körper, bevor er davonhuschte.
Lily drehte sich auf dem Stuhl, so gut es ging. Sie stellte fest, dass sie am Fuß einer Treppe vor der Südseite eines weltbekannten Gebäudes saß.
Der Basilius-Kathedrale.
Mit ihren neun riesigen, zwiebelförmigen Türmen galt sie als das berühmteste Gebäude Russlands und als Symbol Moskaus.
Die Türme der historisch bedeutenden Kathedrale wurden als Stolz der russischen Architektur betrachtet, obwohl niemand ihren Ursprung kannte. In neuerer Zeit hatte man die Zierkuppeln in bunten Regenbogenfarben gestrichen – prächtige Rot- und Grüntöne, Pastellblau und reines Weiß. So hatten sie nicht immer ausgesehen.
Moskau …, dachte Lily. Nach und nach fiel ihr alles wieder ein.
Sphinx hat mich hierhergebracht.
Nach der Zeremonie im Felsen von Gibraltar. Dieser grausigen Zeremonie.
Er wollte nach Moskau zu irgendeinem …
… Kloster.
Lily schauderte.
Allmählich verursachte die Kälte physische Schmerzen. Nur mit einer Jeans, Turnschuhen, einem T-Shirt und einer irgendwo unterwegs erhaltenen Militärjacke war sie nicht annähernd für den russischen Winter gerüstet.
Ihre Zähne begannen zu klappern.
Da man ihr die Hände auf den Rücken gefesselt hatte, konnte sie nicht mal die Arme um sich schlingen, um sich zu wärmen.
Was hatte Sphinx gesagt?
Ein altes Kloster in Moskau. In dem etwas aufbewahrt wird.
Er hatte nach der Zeremonie in Gibraltar darüber gesprochen.
O Gott …, dachte Lily. Die Zeremonie.
Solange sie lebte, würde sie nie vergessen, was dort geschehen war …
EIN MÄDCHEN NAMENS LILY
TEIL VII DIE OPFERUNG IN GIBRALTAR
Wer den Charakter eines Menschen auf die Probe stellen will, der gebe ihm Macht.
ABRAHAM LINCOLN
ALTAR DES KOSMOS
GIBRALTAR, BRITISCHES HOHEITSGEBIET
3. DEZEMBER, 20 TAGE ZUVOR
Lily lag mit dem Gesicht nach oben in einem kleinen Opferbecken, gefangen unter dessen goldenem Gitter, und hatte sich damit abgefunden, dass sie sterben würde. Sie befand sich in einer Zeremonienkammer mitten im Herzen des mächtigen Felsens von Gibraltar.
Als Orakel von Siwa musste sie geopfert werden, um die Welt zu retten.
Direkt über ihr befand sich ein breiter, schräger Schacht, der wie ein riesiger alter Schornstein durch das Gestein nach oben verlief. Durch die Öffnung konnte sie den Nachthimmel und tausend funkelnde Sterne sehen.
Sphinx stand über ihr und hielt das sagenumwobene Schwert Excalibur. Die glänzende Klinge schwebte unmittelbar über ihrem Herzen, bereit, es zu durchstoßen, um das erforderliche Ritual zu vollziehen.
Lily schloss die Augen und wartete auf das Ende …
Schüsse.
Laut und plötzlich. Abrupt riss sie die Lider auf.
Schüsse aus Pistolen.
Sie sah, wie sich Sphinx verwirrt und wütend umdrehte. Ein Projektil streifte seine Schulter und schleuderte ihn herum. Mit einem gequälten Aufschrei ließ er das Schwert fallen.
Lily hörte vier weitere Pistolenschüsse, die laut in der uralten Kammer widerhallten, bevor sie vom noch lauteren, schnelleren Knattern automatischer Gewehre übertönt wurden.
Dann trat Stille ein.
Pulverrauch erfüllte die Luft, gepaart mit dem beißenden Geruch von Kordit.
Hastige Schritte – Sphinx’ Leute, die ihm zu Hilfe eilen wollten.
Lily beobachtete aus dem flachen Becken, wie Kardinal Ricardo Mendoza auf der Bildfläche erschien, sich neben seinen Herrn kniete und sagte: »Majestät, Majestät! Geht es Ihnen gut?«
Sphinx richtete sich auf und stieß den Kardinal weg. »Alles bestens. Nur eine Fleischwunde. Wie zum Teufel ist er rausgekommen?«
»Das wissen wir nicht. Anscheinend hat er die Wachleute auf dem Boot überrascht …«
»Ist er am Leben?« Sphinx knurrte.
»Ja, Majestät.«
Sphinx hielt sich die blutende Schulter und stapfte aus Lilys Blickfeld.
»Du kleiner Scheißer«, sagte Sphinx zu jemandem.
Eine matte Stimme antwortete ihm – die zittrige, gequälte Stimme eines jungen Mannes oder Teenagers.
»Du hast … die einzigen Menschen umgebracht … die mich je geliebt haben.«
Die Stimme kam Lily zwar vage bekannt vor, aber sie konnte sie zuerst nicht zuordnen.
Wenig später gelang es ihr.
Es war …
»Holt sie aus dem Becken und legt ihn rein«, befahl Sphinx. »Er verblutet sowieso bald.«
Plötzlich rührte sich etwas um Lily herum.
Die goldene Abdeckung, die sie in dem flachen Becken gefangen hielt, wurde mit quietschenden Scharnieren geöffnet. Zwei Soldaten hoben Lily aus dem Becken.
Dann erblickte sie ihn.
Den jungen Mann, der in die Zeremonienkammer gestürmt war und nur mit einer Pistole bewaffnet das Feuer auf Sphinx und dessen Leute eröffnet hatte. Zwei von Sphinx’ Männern schleiften seinen von Einschusslöchern durchsiebten Körper zum Becken. Er lebte kaum noch.
Lily hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, aber seine Gesichtszüge hatten sich nicht verändert.
Genau wie sie war er 20 Jahre alt. Das Haar trug er länger als früher – dunkel und glatt hing es ihm in die Augen und verlieh ihm das Aussehen eines lustlosen Studenten oder eines Mitglieds einer Grunge-Band.
Aber sein Gesicht war unverändert geblieben. Seine kleine Elfennase und die dunklen Augen glichen jenen Lilys.
Exakt sogar.
Denn er war ihr Zwillingsbruder.
Alexander.
In dem flüchtigen Moment, als sie aneinander vorbeigetragen wurden, begegneten sich die Blicke ihrer identischen Augen. Alexander sah sie direkt und eindringlich an.
In seiner Miene erkannte sie ein Feuer, eine Bitte um Entschuldigung, einen Aufruf zum Handeln. Alles in einem Blick gebündelt.
»Lass sie nicht gewi…«, flüsterte er, bevor er von ihr weggerissen wurde.
Von da an ging alles schnell.
Lily bekam nur verschwommen mit, was sich als Nächstes in der Kammer und draußen abspielte.
Zuerst führte Sphinx die Opferzeremonie mit skrupelloser Effizienz durch.
Er ließ den verwundeten Alexander in das flache Zeremonienbecken legen, schlug die Abdeckung über ihm zu und stach dem Jungen ohne Zögern, Überlegung oder Reue ins Herz.
Das Schwert fuhr geradewegs durch seinen Körper, bevor der Steinboden des Beckens es bremste.
Alexander schrie auf. Blut schoss aus seiner Brust, bevor sein sterbender Körper tiefer in das flache Becken sank und sich dessen klares Wasser rot färbte.
Stille setzte ein.
Stumm und entsetzt starrte Lily auf die regungslose Leiche ihres Bruders in dem Becken. Ohne sein Eingreifen vor wenigen Minuten würde sie an seiner Stelle liegen. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte oder was als Nächstes passieren würde.
Dann erhellte eine schaurige Schattierung von Rot die gesamte Kammer, ausgehend von einem seltsamen Licht, das plötzlich vom blutigen Wasser um Alexanders Leiche herum abgestrahlt wurde.
In dem widernatürlichen Schein erwachte an einer Wand eine Reihe von Symbolen zum Leben – Glyphen in der uralten Sprache des Thot, die Lily lesen konnte.
Stumm übersetzte sie die Zeichen im Kopf.
Das oberste Labyrinth wartet
mit dem höchsten Thron in seiner Mitte.
Führe den Fall an einem Berg aus Eisen durch
und erlange das Zeichen.
Denn nur wer das Zeichen trägt,
vermag das Labyrinth zu öffnen
und sich auf dem Thron niederzulassen.
Nimm Armeen mit, wenn es dir beliebt.
Nutze die Sirenenglocken, wenn du möchtest.
Aber wisse, dass nur Erfolg im Labyrinth
Omega verhindern wird.
Lily sah, dass Kardinal Mendoza auf einem Laptop ein Computerprogramm aufgerufen hatte. Es übersetzte die Symbole gleichzeitig mit ihr.
Neben Mendoza befand sich die hübsche junge Engländerin, die Sphinx begleitete. Chloe Carnarvon, ehemalige Assistentin von Iolanthe Compton-Jones, Archivarin der königlichen Aufzeichnungen.
Lily erinnerte sich daran, dass Iolanthe mal gesagt hatte, Chloe Carnarvon sei praktisch ihr zweites Gehirn gewesen, als die Frau noch für sie gearbeitet hatte. In historischen Fragen wusste sie genauso viel wie Iolanthe. Aber Iolanthe hatte sich nach den Großen Spielen auf Jacks Seite geschlagen, Carnarvon hingegen auf die von Iolanthes Bruder Orlando, dem Landkönig, mit dem sie auch geschlafen hatte. Bis sie ihn im Felsen von Gibraltar für Sphinx verraten hatte. Chloe filmte das Geschehen mit einer Digitalkamera.
Mit einem lauten Rumpeln glitt eine Steinplatte in der Wand auf. Zum Vorschein kamen fünf funkelnde Siegelringe aus Gold, nebeneinander aufgereiht auf einer Ablage.
An jedem Ring prangte ein riesiger Edelstein. Einer war etwas größer als die anderen. Sein Edelstein schimmerte rot. Die der anderen vier Ringe waren bernsteinfarben.
Dann endete die übernatürliche Lichtshow. In der Höhle stellte sich wieder relative Dunkelheit ein, durchbrochen nur von den elektrischen Lampen, die Sphinx’ Leute aufgestellt hatten.
Sphinx ergriff die fünf Ringe und trug sie zum pulsierenden Streitkolben des Poseidon.
Als er sie in dessen Nähe hielt, ließ die Leuchtkraft des darin schimmernden Edelsteins nach …
… während sich die der Steine an den fünf Siegelringen verstärkte.
»Die Macht des Streitkolbens geht auf die Ringe über«, kommentierte Mendoza.
Als es vollbracht war, hielt Sphinx den größten Ring hoch.
Dessen riesiger roter Edelstein leuchtete mit einem inneren Licht, das ein darin eingearbeitetes Bild hervorhob – die Darstellung einer Krone.
Sie pulsierte mit schillernder Kraft.
Sphinx streifte den Ring über einen Finger.
Chloe schnappte nach Luft.
Mendoza verbeugte sich.
»Mein Imperator«, flüsterte er.
Sphinx betrachtete den Ring.
Es handelte sich um ein unvergleichlich edles Stück, imposant, gebieterisch. Gleichzeitig weder protzig noch knallig. Nur ein schlichtes, klares Symbol der Macht.
Chloe deutete mit dem Kopf darauf. »Der Ring des Imperators. Ab sofort unterstehen alle Armeen der Bronzemänner deinem Befehl.«
Sphinx reichte einen der anderen Ringe seinem Protegé Dion, einem weiteren Jäger 1, Anführer der Ritter der Goldenen Acht und somit im Wesentlichen sein militärischer Befehlshaber. Die beiden anderen behielt er bei sich. »Über die Welt verteilt gibt es vier Bataillone der Bronzemänner – eines in jeder der drei geheimen Städte und eines in der Unterwelt. Mein Ring verleiht mir die Macht über alle. Aber auch wer die anderen Ringe trägt, kann bestimmte Bataillone befehligen. Dion, dir habe ich den Ring gegeben, der die Bronzemänner von Atlas kontrolliert. Jäger 1, Sie befehligen die aus der Unterwelt. Sammeln Sie die Bronzemänner aus den restlichen Winkeln der Welt ein. Wir werden sie brauchen.«
»Es sind bereits Flugzeuge dafür angefordert, Majestät«, erwiderte Jäger 1. »Zehn mit ADS-Containern ausgestattete C-5M Super Galaxy Frachtflugzeuge der US Air Force. Sie sind als einzige groß und leistungsstark genug, um das Gewicht der Bronzemänner zu transportieren. Es wird innerhalb der nächsten Woche erledigt sein.«
Kardinal Mendoza las laut vom Computerbildschirm ab. Lily fiel auf, dass seine Übersetzung der ihren glich.
Sein Programm war gut.
Sphinx ergriff das Wort. »Kardinal. Der erste Berg aus Eisen …«
»… erwartet Ihre Ankunft«, sagte Mendoza. »Der Oberastronom, Vater Rasmussen, ist gerade dort und bereitet alles für Sie vor. Er ist der führende Experte der Kirche für die Berge aus Eisen, die Mondausrichtung und den Fall.«
Sphinx nickte. »Ich will auch die Glocken.«
Bei den Worten senkte sich Schweigen über die Gruppe.
»Majestät«, begann Mendoza schließlich. »Sie wissen doch, dass sie zum Bestehen der Prüfung nicht nötig sind.«
»Außerdem sind sie bekanntlich brandgefährlich …«, fügte Chloe hinzu.
»Ich will sie«, verkündete Sphinx entschlossen, »weil sie der Schlüssel zu meinen Herrschaftsplänen sind. Das bedeutet, wir statten den reizenden Damen im Moskauer Nowodewitschi-Kloster einen Besuch ab.«
»Huren«, spie Mendoza hervor. »Diese Weiber halten sich für schlauer, als gut für sie ist.«
»Ich mag sie«, sagte Sphinx. »Sie haben sich ganz ihrem Kodex und ihrer Sache verschrieben. Schon seit 5000 Jahren. Und während all der Zeit haben sie Ihrer Kirche immer ein Schnippchen geschlagen, Kardinal. Wann tritt die nächste Reihe von Ausrichtungen ein?«
»Laut Vater Rasmussen irgendwann um die Sonnenwende. Heiligabend oder so. Ich besorge mir umgehend die genauen Zeiten und Daten von ihm. Wir haben etwa drei Wochen.«
»Haben Sie alle Daten über den Apennin und das Meer des Regens?«
»Ja, Majestät«, antwortete Mendoza.
»Und das Observatorium ist bereit?«
»Voll und ganz, Majestät.«
»Dann auf nach Moskau«, sagte Sphinx. »Nur legen wir unterwegs einen Zwischenstopp ein.«
»Und wo, Majestät?«
»Beim königlichen Gefängnis in Erebus«, sagte Sphinx.
Damit wandte er sich ab und warf achtlos ein Kügelchen Graustein in das Opferbecken mit Alexanders Leiche.
Kaum hatte das Kügelchen das Wasser berührt, wurde die Oberfläche trüb, dunkel und undurchsichtig. Dann verfestigte sich das schwarzgraue Wasser mit Übelkeit erregend knackenden Lauten zu einer betonähnlichen Substanz, die Alexanders Leichnam vollständig umhüllte und verbarg.
Und damit setzten sie sich in Bewegung.
Lily wurde zur Ausgangstreppe geschoben.
Ihr gelang ein letzter, trauriger Blick auf das Opferbecken, in dem der Bruder, den sie kaum gekannt hatte, in solidem Stein eingebettet lag.
Seinen Worten zufolge hatte er seine letzte Tat für die einzigen Menschen begangen, die ihn je geliebt hatten.
Lily wusste, wen er damit gemeint hatte.
Sky Monsters süße, liebevolle Eltern, die Alexander als Jungen bei sich zu Hause aufgenommen und wie ihr eigenes Kind großgezogen hatten.
Sphinx’ Männer – die Ritter der Goldenen Acht – hatten beide auf grauenhafte Weise ermordet.
Dann wurde Lily aus der Kammer manövriert. Sphinx und seine Leute brachten sie vom Felsen weg und in ein Flugzeug, das nach Erebus abhob.
DAS KÖNIGLICHE GEFÄNGNIS IN EREBUS
MITTELMEERKÜSTE, ALGERIEN
5. DEZEMBER
Roland Rubles sang in der Finsternis des verlassenen königlichen Gefängnisses vergnügt vor sich hin.
»When Irish eyes are smiling, sure, ’tis like a morn in spring …«
Natürlich war Rubles klinisch unzurechnungsfähig.
Früher war er vornehmer Butler eines unbedeutenden Adelshaushalts in Luxemburg gewesen. Aber als sein Herr für ein Wochenende verreist war, hatte Rubles dessen Frau, die beiden Kinder und den Hund ermordet und anschließend gegessen.
Man hatte ihn dazu verurteilt, den Rest seines Lebens halb in eine Steinplatte eingeschlossen an der berüchtigten Wand des Elends in Erebus zu verbringen. Rubles war überaus enttäuscht gewesen, als Jack West jr. – sein Nachbar an der Wand – aus dem Gefängnis geflohen war und ihn nicht mitgenommen hatte.
Rubles hatte nicht beeindruckt, dass Jack als erster Mensch überhaupt aus dem sagenumwobenen Gefängnis entkommen war. Obwohl er wusste, dass auf der Welt vielleicht nur drei Personen die Lage des Kerkers kannten.
»In the lilt of Irish laughter, you can hear the angels sing …«
Als kleines Trostpflaster hatte Rubles wenigstens einen neuen Wandnachbarn erhalten. Noch dazu niemand Geringeren als den Direktor des königlichen Gefängnisses höchstpersönlich, Graf Yago DeSaxe, jüngerer Bruder von Hades, dem König der Unterwelt.
Nach seiner Rettung durch den Kopfgeldjäger Aloysius Knight hatte Jack den Mann kurzerhand in eine seiner eigenen Flüssigsteinplatten eingegossen und an der Mauer des Elends montiert. Er hatte den Kerkermeister in seinem eigenen Kerker eingesperrt.
»When Irish hearts are happy, all the world seems bright and gay …«
Mittlerweile waren einige Tage vergangen. Die Gefangenen um Rubles herum hingen vor Hunger und Durst erschlafft da, während Rubles aus voller Kehle sang. Plötzlich stachen die Strahlen von Taschenlampen durch die Dunkelheit und ein Dutzend bewaffneter Gestalten erschien vor Rubles.
Bei ihrem Anblick legte er sich zusätzlich ins Zeug.
»And when Irish eyes are smiling, sure, they …«
Peng!
Ein Schuss zersprengte Rubles’ Schädel zu einem Sprühnebel aus Blut und Hirnmasse. Da der halbe Kopf in der senkrechten Steinplatte steckte, konnte er nicht mal zur Seite baumeln. Rubles hing mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund regungslos da, während ihm Blut aus einem riesigen Loch im Schädel über das Gesicht lief.
Sphinx trat aus der Dunkelheit und senkte die Waffe.
Er stellte sich vor die Platte mit seinem Freund Yago.
»Holt ihn raus«, befahl Sphinx.
Es dauerte eine halbe Stunde, Yago zu befreien.
Während sich alle um Yago scharten, entfernte sich einer der Assistenten von Kardinal Mendoza, ein junger serbischer Priester namens Pater Miroslav Cilic, von der größeren Gruppe.
Im Licht einer kleinen Taschenlampe bahnte er sich mit schnellen Schritten einen Weg durch mehrere dunkle Gänge. Er drang tiefer und tiefer in das uralte Gefängnis vor, bis er zum innersten Verlies der schauerlichen Anlage gelangte, einer quadratischen Kammer aus Stein mit einer breiten Grube in der Mitte.
Die Tiefe des Lochs ließ sich schwer abschätzen.
Es sah bodenlos aus.
Mitten über der Grube hing sechs Meter von den Höhlenwänden entfernt an einer robusten Kette ein Käfig aus dicken Eisenstäben.
Eine Zelle, aus der es kein Entrinnen gab.
Darin stand eine bullige, in Schatten gehüllte Gestalt.
Der Mann rührte sich nicht.
Der junge Priester starrte ihn an, die Augen groß vor Angst und …
… Bewunderung.
Obwohl Schatten das Gesicht des Gefangenen verhüllten, bestand kein Zweifel daran, dass er den jungen Priester direkt ansah.
Mit leiser Stimme sagte Pater Cilic: »General Rastor. Mein Name ist Cilic. Ich bin ein treuer Diener. Sie haben meinen Bruder während der Unruhen in meinem Heimatland befehligt. Hier.«
Er warf einen Schlüssel über den Abgrund zu der Gestalt in der schwebenden Zelle.
Blitzschnell schoss die Hand der Gestalt durch die Gitterstäbe hervor und fing ihn auf.
Dann ertönte eine leise, raue Stimme, die dem jungen serbischen Priester einen Schauder über den Rücken jagte.
»Dafür wirst du im nächsten Leben belohnt werden, Junge«, sagte der Gefangene.
»Danke, General«, erwiderte Pater Cilic. »Verzeihen Sie, aber ich muss zurück, bevor man mich vermisst.«
»Das hast du gut gemacht«, lobte der Häftling. »Geh. Ich komme später nach.«
Der junge Priester hastete aus dem innersten Verlies des königlichen Gefängnisses. Der Gefangene blieb in der Dunkelheit seines hängenden Käfigs zurück, allerdings mit dem Schlüssel, um ihn aufzuschließen.
30 Minuten später verließen Sphinx und seine Leute den Ort mit Yago in ihrer Mitte.
Zudem hatte Sphinx die Befreiung von acht weiteren recht ungewöhnlichen Gefangenen angeordnet. Auch sie wurden mitgenommen, wenngleich in Handschellen und Ketten sowie mit Lederknebeln.
Pater Cilic lief still hinter Kardinal Mendoza her und sah sich verstohlen um.
»Sammeln wir unsere Leute und bündeln wir alle unsere Streitkräfte«, sagte Sphinx. »Anschließend reisen wir nach Moskau. Zum Kloster.«
NOWODEWITSCHI-KLOSTER
MOSKAU, RUSSLAND
23. DEZEMBER, 0 UHR
In der kalten Moskauer Nacht herrschte Stille im Nowodewitschi-Kloster.
Ursprünglich war es als Festung errichtet worden – oder, um den russischen Begriff dafür zu verwenden, als Kreml. Das Bauwerk wies immer noch die mächtigen Mauern und Wehrtürme der einstigen Zitadelle auf.
Im 16. Jahrhundert wurde es unter der Herrschaft von Wassili III. und dessen psychotischem Sohn Iwan dem Schrecklichen in ein Kloster umgewandelt, in dem adelige Frauen zwangsbekehrt und als Nonnen eingesperrt wurden.
Heute ist es vor allem für dreierlei berühmt. Erstens für seinen gewaltigen Glockenturm. Zweitens für den Friedhof mit den Gräbern etlicher berühmter Russen. Und drittens für die prachtvolle weiße Smolenski-Kathedrale in der Mitte des Klosters. Ihre fünf goldenen und grauen Zwiebeltürme ähneln jenen der nur wenige Kilometer entfernten, größeren und berühmteren Basilius-Kathedrale.
Seit 500 Jahren gilt das Kloster als Symbol für stoische Ausdauer. Es hat Kriege gegen Napoleon und Hitler überlebt und sogar einen Gastauftritt in Tolstois Krieg und Frieden bekommen.
Zugleich ist es ein Symbol für weibliche Duldsamkeit.
Seit der Umwandlung in das Nowodewitschi-Kloster leben dort nämlich ausschließlich Frauen, ein Nonnenorden, den meisten Menschen bekannt als Orden der Gleichmütigen Schwestern oder kurz die Gleichmütigen, und nur wenigen Auserwählten unter einem viel älteren Namen.
Das sollte sich in der Nacht des 23. Dezember ändern. Denn um Schlag Mitternacht wurde das Kloster von Sphinx’ Streitkräften angegriffen.
Der Angriff erfolgte nicht still. Auch nicht verstohlen. Vielmehr groß, spektakulär und laut.
Vier lange dunkle Kisten, die wie gepanzerte schwarze Frachtcontainer aussahen, rasten aus dem Himmel herab und knallten auf das schneebedeckte Gelände des Klosters.
WUMM!
WUMM!
WUMM!
WUMM!
Beim Aufprall erbebte die Erde, und Schnee wurde hoch in die Luft gewirbelt.
In militärischen Kreisen nannte man die dunklen Behältnisse ADSIRM – Aerial Delivery System for Impact Resistant Material, also ein Luftliefersystem für stoßfestes Transportgut.
Im Klartext handelte es sich um präzisionsgesteuerte Container, die nicht sanft landen mussten, weil sie weder Menschen noch etwas mechanisch Empfindliches enthielten. Mit dem Aufkommen von GPS und modernen Lenksystemen war es möglich geworden, ADS-Container sehr schnell und präzise in kleinen Zielgebieten landen zu lassen.
Hauptsächlich wurden sie eingesetzt, um Lebensmittel, Waffen oder Munition in abgelegenen Kriegsgebieten oder von humanitären Krisen gebeutelten Städten abzuwerfen.
Diese vier ADS-Container legten innerhalb der Festungsmauern des Nowodewitschi-Klosters eine harte Landung so hin, dass sie jeden der vier Ausgänge der Anlage blockierten.
Gleich darauf klappten die Seitenwände geräuschvoll auf, und aus jedem Container rannten 30 Bronzemänner in Richtung der Wohnbereiche.
Sphinx und seine menschlichen Begleiter trafen einige Minuten später in zwei tief fliegenden Chinook Helikoptern ein, Leihgaben der russischen Armee.
Sphinx stieg aus der ersten Maschine und zog Lily hinter sich her. Die Hände hatte man ihr mit Kabelbindern gefesselt. Ihnen folgten Kardinal Mendoza und Chloe Carnarvon, Jäger 1 und vier seiner Ritter, zwölf Bronzemänner und die acht Unbekannten, die sie aus dem Gefängnis von Erebus befreit hatten.
Als einflussreiche Persönlichkeit in der Schattenwelt der vier Königreiche hatte Sphinx die Zuständigen an der Spitze des russischen Militärs über seine Ankunft vorgewarnt. Deshalb wurde nicht eingegriffen, weder von der Polizei noch von der Armee.
Sphinx wollte nicht gestört werden, wenn er das Kloster stürmte. Weil er dort Wichtiges zu erledigen hatte.
Wenige Minuten später stand Sphinx in einer dunklen Krypta tief unter der Kathedrale mit seinen zwei Beratern, den fünf Rittern, den zwölf Bronzemännern und den acht Unbekannten vor den 20 Bewohnerinnen des Nowodewitschi-Klosters.
Die Nonnen knieten, abgesehen von ihrem Oberhaupt, der Äbtissin des Klosters, Schwester Beatrice. Sie stand trotzig vor Sphinx.
Einige der Nonnen schluchzten leise.
Die meisten beäugten argwöhnisch nicht etwa Sphinx, nicht mal die exotischen Bronzemänner, sondern die acht anderen Männer, die Sphinx mitgebracht hatte. Denn sie schienen einem Albtraum entsprungen zu sein.
Alle waren klein und dünn, hatten drahtige Muskeln und wirkten krumm. Wirklich Furcht einflößend waren die Gesichter. Die Männer hatten spitz zugefeilte Zähne, und die rot tätowierte Haut der Stirnen spannten subdermal eingepflanzte Hörner.
Eine der jüngeren Nonnen hatte bei ihrem Anblick unwillkürlich hervorgestoßen: »Vandalen …«
In der Krypta der Kathedrale herrschte klirrende Kälte.
Im Wesentlichen handelte es sich um einen langen unterirdischen Korridor mit Gewölben und Seitenkapellen entlang der Wände. Letztere gedachten bedeutender russischer Frauen aus vergangenen Jahrhunderten. Einige der kleinen Kapellen enthielten Altäre, andere hüfthohe Sarkophage aus Stein.
Die Äbtissin betrachtete Lily, die mit gefesselten Händen hinter Sphinx stand.
»Du bist das Orakel«, hauchte die alte Nonne, als sie begriff. Entsetzt schnellte ihr Blick zurück zu Sphinx.
»Hohepriesterin«, korrigierte Sphinx förmlich.
»Der Wächter«, erwiderte die Äbtissin gleichmütig.
Sphinx lächelte strahlend. »Es ist schön, Sie wiederzusehen, Schwester Beatrice. Das Alter steht Ihnen gut.«
»Und du, Hardin, bist eindeutig immer noch ein Mistkerl, wie er im Buche steht.« Die alte Nonne starrte ihn finster an. »Das warst du schon als Kind, als ich deine Babysitterin war, und offensichtlich bist du es noch immer. Hast du also letztlich zugeschlagen?«
»Darauf habe ich sehr lange gewartet«, erwiderte Sphinx.
»Geduldig bist du schon immer gewesen, das muss ich dir lassen«, räumte Schwester Beatrice ein. »Geduldig, wachsam …«
»Oh, danke …«
»… und grausam«, beendete die Nonne die Aufzählung. »Ich habe nie vergessen, was du mit dem Ludovico-Jungen angestellt hast.«
»Er hatte meine neue Sonnenbrille gestohlen.«
»Du ihm das Augenlicht.«
»Du sollst nicht stehlen.«
»Du warst damals 13 Jahre alt, Hardin«, sagte die betagte Nonne. »Normale Psychopathen quälen als Kinder kleine Tiere. Du hast einen Jungen gefoltert.«
Sphinx bedachte sie mit einem matten, nachsichtigen Lächeln.
»Ich will die Glocken«, verkündete er rundheraus.
»Sie sind nicht hier«, gab Schwester Beatrice zurück. »Schon seit 100 Jahren nicht mehr …«
»Sie sind in der Krypta von Zarewna Sofia Alexejewna unmittelbar hinter Ihnen«, fiel Sphinx ihr ins Wort und deutete mit dem Kopf auf das riesige Steingewölbe hinter ihr, dem größten im gesamten unterirdischen Komplex.
Es wies eine quadratische Grundfläche auf, bestand durchgehend aus grauem Stein und hatte die ungefähre Größe einer Doppelgarage. An der Tür prangte das strenge Antlitz einer gebieterisch wirkenden Frau mit dichten Brauen und einer Krone auf dem Kopf.
Sphinx strich über das graue Steingesicht der Statue.
»Zarewna Sofia«, sagte er. »Tochter von Zar Alexej, einst allmächtige Regentin von Russland. Aber für sie ist es unerfreulich ausgegangen, nicht wahr, Schwester Beatrice?«
Die Äbtissin schwieg.
Sphinx fuhr fort. »Auf dem Höhepunkt ihrer Macht hat die Zarewna das Kloster hier umgebaut und die Nonnen unterstützt. Aber als sie den Halt an der Macht verloren hat, wurde sie für die letzten Jahre ihres Lebens selbst hier eingekerkert. Wissen Sie noch, was der neue Zar Peter mit ihren Anhängern gemacht hat, Schwester Beatrice?«
Die Äbtissin antwortete leise: »Er hat sie vor den Fenstern ihres Zimmers aufhängen lassen, damit Sofia sie jedes Mal sehen musste, wenn sie aus ihrem Gefängnis schauen wollte.«
»Das muss man dem guten alten Peter lassen«, meinte Sphinx. »Der Mann war ein erfinderischer Sadist.«
Er verengte die Augen zu Schlitzen.
»Schwester Beatrice, ich schlage Ihnen eine Wette vor. Lassen Sie uns die Krypta öffnen. Wenn sie die Sirenenglocken nicht enthält, wie Sie behaupten, töte ich Sie und Ihre Schwestern hier kurz und schmerzlos mit Kugeln in die Köpfe.«
Er hob einen Finger.
»Wenn sie hingegen hier sind – und Sie mich belogen haben –, überlasse ich Sie meinen schaurigen Freunden.«
Er deutete auf die acht Vandalen mit ihren furchterregenden Zähnen und den »gehörnten« Schädeln.
Schwester Beatrice schluckte.
Lily erstarrte.
»Aufmachen«, sagte Sphinx zu Jäger 1.
Wenige Minuten später wurde die Tür zur Krypta mit einer kontrollierten Sprengladung geöffnet, und Sphinx blickte hinein. Obwohl er sich eigentlich nicht leicht beeindrucken ließ, stockte ihm der Atem.
Eine riesige, drei Meter hohe, goldene und silberne Kugel befand sich vor ihm.
Ein prachtvolles Objekt aus Metall, auf Hochglanz poliert, die glänzenden Seiten perfekt gekrümmt. Es war erstaunlich makellos – entschieden zu präzise, um von Menschen früherer Jahrhunderte erschaffen worden zu sein. Vielleicht sogar zu präzise für Menschen heute.
Schwer, uralt und bedrohlich reflektierte es schwach das Licht. Es lag so auf einer Steinplatte, dass man das große runde Loch an der Unterseite erkennen konnte. Die mächtige, hohle Kugel stellte eine besondere Glocke dar.
Dahinter bildeten dreizehn weitere zwei lange Reihen, alle ähnlich groß, alle aus Silber und Gold.
»Die Sirenenglocken«, hauchte Chloe.
Schwester Beatrice’ Züge fielen in sich zusammen.
Sphinx schüttelte traurig den Kopf.
»Ach, Schwester Beatrice. Sie haben mich belogen.«
»Spiel nicht mit mir, Hardin. Für Spiele bin ich zu alt«, herrschte die Äbtissin ihn an. »Du hast, wofür du hergekommen bist. Du trägst den Ring des Imperators am Finger, und jetzt hast du auch die Sirenenglocken. Du hast es geschafft. Du hast gewonnen. Als Junge warst du ein kleiner Tyrann. Als Mann kannst du jetzt zu einem richtigen werden. Lass uns zufrieden. Geh zu einem der fünf Berge und mach die Sache mit dem Fall. Dann kannst du den Thron im Labyrinth beanspruchen und uns und alle anderen auf der Welt versklaven, wie du es immer wolltest. Nur erspar mir die gottverdammten Ansprachen.«
Sphinx schwieg.
Er starrte die trotzige alte Nonne an.
»Sie haben die Wette verloren«, sagte er schließlich leise.
Bei seinem Tonfall zog sich Lily der Magen zusammen.
»Ich bin kein Tyrann«, fügte er hinzu. »Weit gefehlt. Ich bin ein barmherziger Mensch. Zum Beweis erspare ich Ihren Nonnen den Einsatz der Wette und gewähre ihnen einen schnellen Tod. Aber Ihnen nicht. Sie haben sich auf die Wette eingelassen, also zahlen Sie auch den vollen Preis.«
Ohne Vorwarnung wurde Schwester Beatrice von Sphinx in eine angrenzende Seitenkapelle gestoßen. Dann schickte er die acht furchterregenden Vandalen mit abgenommenen Knebeln hinter ihr her.
»Sie gehört ganz euch, meine hungrigen Freunde.«
Die acht Vandalen stürmten wie geifernde Hunde in die Kapelle. Sphinx schlug die Tür hinter ihnen zu.
Gleich darauf dröhnten Schwester Beatrice’ unmenschlich schrille, gequälte Schreie heraus, als die Vandalen die angespitzten Zähne in ihr Fleisch schlugen und sie bei lebendigem Leib verschlangen.
Lily presste die Augen zu und versuchte, die schier unerträglichen Laute zu ignorieren, doch es gelang ihr nicht.
Nach etwa einer Minute verstummten die Schreie der Äbtissin. Aus der Kapelle drangen nur noch das Knirschen von Knochen und feuchte Kaugeräusche.
Bei den anderen Nonnen hielt Sphinx sein Wort. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie alle tot, jede mit einem skrupellosen Schuss in den Kopf hingerichtet.
Die riesigen Glocken wurden mit Gabelstaplern aus der Krypta geholt.
Lily sah Sphinx vernichtend an. »Sie sind ein Monster.«
»Junge Dame«, erwiderte Sphinx, »ich habe noch nicht mal richtig angefangen. Komm, probieren wir eine der Glocken aus.«
Wenige Stunden später flog Lily in einem der Chinooks hoch über dem Großraum Moskau und saß im Cockpit neben Sphinx.
Vor ihr erstreckte sich die weitläufige russische Hauptstadt bis zum Horizont, ein riesiges Ballungsgebiet, das zwölf Millionen Menschen beherbergte.
Moskau bildete eine widersprüchliche Mischung aus Alt und Neu, Wunderschön und Hässlich. Elegante, von Glas beherrschte Wolkenkratzer ragten über primitiven Wohnblocks aus der Sowjetzeit auf. Rußgeschwärzte Fabriken grenzten an Viertel mit Adelshäusern aus Kalkstein aus dem 19. Jahrhundert. Festungen und prunkvolle Kirchen säumten riesige öffentliche Parks, viele davon mit gefrorenen Teichen zum Schlittschuhlaufen.
Eis und Schnee hüllten die gesamte Stadt in ein tristes Grau.
Dampfwolken stiegen sowohl aus privaten als auch aus industriellen Schornsteinen auf und zeugten von den Heizanlagen, die es brauchte, um dem russischen Winter zu trotzen.
Die Moskwa schlängelte sich breit, weiß und halb zugefroren in weiten Biegungen durch das gesamte Stadtbild.
Es war kurz vor Sonnenaufgang, und die russische Hauptstadt regte sich allmählich.
Ein dünner Strom von Autos befuhr die Ringstraßen. Busse rumpelten die Alleen entlang. Die Eisbrecher, die Schneisen in die gefrorenen Teile der Moskwa schlagen würden, waren noch nicht unterwegs, würden es aber bald sein.
Ein paar Schlittschuhläufer zogen auf dem Fluss ihre Kreise und vollführten anmutige Pirouetten. Frühmorgendliche Spaziergänger mit Hunden schlenderten die Uferpromenaden entlang.
Müllwagen fuhren durch die Straßen der Wohnviertel und die Gassen der Stadt.
Und plötzlich erhob sich aus den Mauern des Nowodewitschi-Klosters etwas schnell und senkrecht in den Himmel, als würde es an einer Schnur nach oben gezogen.
Ein riesiger, zweimotoriger Chinook für Schwerlasten. Nur hatte dieses Exemplar schwarz getönte Scheiben.
Lily spürte, wie sich ihre Brust zusammenzog.
Einen solchen Hubschrauber hatte sie schon mal gesehen. Vor einigen Wochen in London. Damals war Jack von den Rittern der Goldenen Acht nach draußen gelockt worden, indem sie einen roten Bus von einem ähnlichen Helikopter über der Themse baumeln ließen.
Es handelte sich um eine Drohne, gesteuert von den Rittern der Goldenen Acht.
Unter dem Chinook hing in einem Seilgeflecht eine der mächtigen kugelförmigen Glocken, die Lily im Kloster gesehen hatte.
Sphinx blickte auf die noch halb verschlafene Stadt mit dem Drohnenhubschrauber darüber und reichte Lily militärische Schutzkopfhörer, wie Spezialeinheiten sie trugen.
»Hier, die wirst du aufsetzen wollen.«
Lily kannte dieses Modell – ein 3M Peltor ComTac Gehörschutz-Headset mit luftdichten Gelpolstern zum Abdecken der Ohren.
Die Geräte mochten aussehen wie handelsübliche Over-Ear-Kopfhörer, konnten jedoch wesentlich mehr.
Sie verfügten über externe Mikrofone mit Rauschunterdrückung, qualitativ mehrere Stufen über dem, was man auf dem Markt bekam. Die Peltor Headsets wurden nicht grundlos von Spezialeinheiten überall auf der Welt benutzt – sie digitalisierten sämtliche Geräusche um den Träger und verliehen ihm ein geradezu übermenschliches Gehör. Gleichzeitig schützten sie ihn vor ohrenbetäubendem Lärm wie Schüssen und Explosionen, damit die Trommelfelle nicht platzen konnten.
Lily fiel auf, dass Sphinx’ Leute mittlerweile alle ähnliche Schutzkopfhörer trugen. Hastig setzte sie ihre auf.
»Läuten«, befahl Sphinx.
Plötzlich schaukelte der Drohnenhubschrauber, wodurch er bewirkte, dass die große Glocke daran in Bewegung geriet …
… und etwas in ihr dröhnte.
Ein langer, hoher Ton drang mit mächtigen Schwingungen aus der uralten Metallglocke und hallte wie ein schauriges Geläut über die Stadt.
Lily erreichte es digitalisiert über den Kopfhörer.
Was die Moskauer ohne Gehörschutz wahrnahmen, ließ sich schwer beschreiben.
Etwas zugleich Wunderschönes und Schreckliches, Erfreuliches und Schmerzliches. Einen flüchtigen Moment reiner Ekstase.
Vor allem aber klang das Geläut gebieterisch, durchdringend, unwiderstehlich.
Es breitete sich von der geheimnisvollen alten Kugel in unsichtbaren Wellen über die gesamte Stadt aus.
Die Reaktionen wurden für Lily auf Anhieb offensichtlich.
Ein Müllwagen unter ihr kam von der Straße ab und krachte gegen ein Gebäude. Autos kollidierten auf der Ringstraße. Busse auf den Alleen rammten Laternenmasten, Ampeln und Ladenfronten.
Lily beobachtete es voll hilflosem Entsetzen.
Ihr suchender Blick schwenkte zu den Schlittschuhläufern auf der Moskwa unter ihr.
Sie beobachtete, wie alle – alle gleichzeitig – wie Marionetten mit gekappten Fäden zusammenbrachen.
Lily konzentrierte sich auf eine bestimmte Frau.
Nachdem diese aufs Eis gefallen war, sah sie sich verwirrt um und versuchte offenbar zu begreifen, was gerade geschehen war.
Sie rappelte sich auf die Hände und Knie, wollte sich wieder auf die Beine kämpfen. Aus irgendeinem Grund gelang es ihr nicht. Stattdessen robbte sie verzweifelt auf dem Bauch in Richtung des Ufers.
Nach etwa 15 Sekunden jedoch sackte die Frau zusammen und blieb regungslos liegen.
Bei einigen anderen Schlittschuhläufern hatte sich dasselbe abgespielt. Auch sie lagen mittlerweile erschlafft auf dem Bauch.
Ob sie nur das Bewusstsein verloren hatten oder gestorben waren, vermochte Lily nicht zu sagen.
Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die Hundespaziergänger am Flussufer.
Auch sie waren mitten im Schritt gestürzt. Ihre Hunde jaulten gequält, während das durchdringende Geräusch der Kugel ihr empfindlicheres Gehör bestürmte. Lily fiel auf, dass die Tiere nicht zusammengebrochen waren.
»Sind die Menschen tot?«, fragte sie Sphinx rundheraus.
»Nein«, antwortete er. »Noch nicht. Ihr Zustand ist so was wie Schlaf oder ein Koma. Sie spüren auch keine Schmerzen. Laut den uralten Texten erleben sie beim Eintritt in den Sirenenschlaf einen Moment unfassbarer Verzückung.«
»Alle Menschen in der Stadt?«, fragte Lily.
Sphinx nickte. »In einem Umkreis von etwa 50 Kilometern, schätzen wir.«
Mittlerweile herrschte in der Stadt unter Lily völlige Stille.
In der gesamten Stadt.
Jedes Auto, jeder Bus, jeder Müllwagen, jeder Mensch – alles still.
Hupen plärrten unter Autofahrern, die auf ihrem Lenkrad zusammengebrochen waren. Autoalarme von den zahlreichen Zusammenstößen heulten.
Die einzige Bewegung ging vom stetig aus Schornsteinen aufsteigenden Rauch aus.
»Einige werden bald sterben«, fügte Sphinx hinzu. »Das lässt sich nicht ändern. Die Schlittschuhläufer auf dem Eis und die Fahrer dieser Autos so gut wie sicher. Nicht am Schlaf selbst. Sie werden verdursten oder erfrieren.
Wer noch im Bett liegt, dürfte ein paar Tage durchhalten, vielleicht sogar eine Woche. Dann werden auch sie verdursten oder verhungern. Deshalb wollte ich es unbedingt um diese Tageszeit tun, solange noch ein Großteil der Bevölkerung zu Hause in den Betten ist. Diese Menschen schlafen einfach weiter, gehen unbemerkt in das von der Glocke erzeugte Koma über. Wenn sie aufwachen, werden sie sich in einer neuen Welt wiederfinden.«
Lily schauderte.
Sie wusste nicht recht, was sie von diesen Erläuterungen halten sollte. An diesem noch so jungen Tag hatte sie bereits zu viele Schrecken erlebt.
»In was für einer Welt?«
Sphinx ließ den Blick über die gelähmte Stadt Moskau wandern. »Einer, in der ich herrsche.«
Mit einem strahlenden Lächeln drehte er sich Lily zu.
»Na komm, meine Liebe. Halte dich nicht mit so düsteren Gedanken auf. Es ist an der Zeit, dass du den Beitrag leistest, für den ich dich hergebracht habe.«
»Und was wäre das?«
»Dein Adoptivvater Captain West ist aus der Stadt Atlas entkommen. Meine Überwachungskameras haben es aufgezeichnet. An Entschlossenheit fehlt es ihm nicht, das muss ich zugeben. Zweifellos wird er nach dir suchen, also müssen wir ihm geben, was er will.«
Mit diesen merkwürdigen Worten rammte Sphinx wuchtig den Griff seiner Pistole in Lilys Gesicht, und ihre Welt wurde schwarz.
Später an jenem Vormittag erwachte sie mit schmerzendem Schädel an einen Stuhl gefesselt auf den Stufen der Basilius-Kathedrale mitten auf dem Roten Platz, flankiert von zwei kopflosen Nonnen.
ERSTE OFFENSIVE
RETTUNG IN MOSKAU
In der griechischen Mythologie waren die Sirenen drei wunderschöne weibliche Wesen, die auf einer Felsinsel lebten. Sie sangen ein so süßes, betörendes Lied, dass jeder Seemann, der es hörte, in entrückten Schlaf fiel. Das Schiff zerschellte dann an den Felsen der Insel. Der Einzige, der den Gesang der Sirenen überlebte und davon berichten konnte, war der allzeit neugierige Odysseus, der fest entschlossen war, ihn zu hören. Er überstand die Begegnung mit einem für ihn typischen, listigen Trick: Er ließ sich an den Mast seines Schiffes binden, während seine Männer mit Wachskugeln in den Ohren an der Insel vorbeiruderten …
GRIECHISCHE MYTHOLOGIE
LUFTRAUM ÜBER RUSSLAND
23. DEZEMBER, 8:45 UHR
Jack Wests Flugzeug raste in Richtung Moskau.
Ungewöhnlicherweise befand sich Jack West nicht an Bord.
Stattdessen beförderte die schnittige Tupolew Tu-144 seine Freunde Pooh Bear und Stretch sowie den Piloten Sky Monster so schnell wie möglich zur russischen Hauptstadt.
Auch Jack war unterwegs dorthin, hatte die Nachricht, dass man Lily in Moskau am Roten Platz auf den Stufen der Basilius-Kathedrale gesichtet hatte, jedoch woanders erhalten. Zu dem Zeitpunkt hatte er sich mit Aloysius Knight und Alby in Knights Jagdbomber Suchoi Su-37 auf dem Rückweg von Australien befunden.
Stretch und Pooh Bear hatten sich in Ostfrankreich aufgehalten, dem Ziel deutlich näher, also waren sie mit der Tupolew direkt dorthin aufgebrochen.
Die beiden Soldaten – ein großer, schlanker israelischer Scharfschütze, der eigentlich Benjamin Cohen hieß, und ein kleiner, pummeliger arabischer Prinz namens Zahir al Anzar al Abbas – hätten sowohl äußerlich als auch innerlich kaum unterschiedlicher sein können. Und als sie sich in Lilys ersten Lebensjahren auf einer abgelegenen Farm in Kenia zum ersten Mal begegnet waren, konnten sie einander nicht ausstehen.
Was sich schlagartig in einem einzigen Moment geändert hatte.
Während eines Feuergefechts auf der Farm, nachdem sie von Feinden in einen Hinterhalt gelockt worden waren, hatten Stretch und Pooh Bear etwas Außergewöhnliches getan – als sie Lily in Gefahr sahen, sprangen sie beide gleichzeitig aus allen Rohren feuernd aus der Deckung hervor, um sie zu retten.
In dem Moment verpufften alle ihre Gegensätzlichkeiten. In den Jahren danach waren sie zu besten Freunden geworden, wohnten und urlaubten zusammen, bestritten gemeinsam Missionen und teilten bedeutsame Ereignisse miteinander.
Als Lily von Gesichtserkennungssoftware auf Bildern einer Überwachungskamera auf dem Roten Platz entdeckt wurde, hätte nichts auf Erden sie daran hindern können, sofort loszueilen, um sie zu retten.
Sky Monster empfand genauso. Der gutmütige neuseeländische Pilot mit dem Rauschebart liebte Lily, seit sie ein Baby gewesen war – obwohl außer Jack niemand in ihrer kleinen Großfamilie seinen richtigen Namen kannte.
Die drei hatten sich bewaffnet, waren an Bord der Sky Warrior gegangen und sofort nach Moskau losgeflogen.
In den Wochen seit Stretch, Pooh und Alby im Felsen von Gibraltar die verblüffende – und erfreuliche – Entdeckung gemacht hatten, dass Lily während der Zeremonie dort nicht geopfert worden war, hatte sich Jacks Team neu formiert.
Anfangs waren die Mitglieder über die halbe Welt verstreut gewesen – in Gibraltar und in den drei geheimen Städten Thule, Atlas und Ra.
Für die nächsten Wochen hatten sie zwei Hauptziele.
Erstens: Lily aufspüren.
Zweitens: herausfinden, was Sphinx – nach bestandener Prüfung der Städte – als Nächstes vorhatte, um beim bevorstehenden Omega-Ereignis die Weltherrschaft an sich zu reißen.
Doch bevor sie etwas davon in Angriff nehmen konnten, mussten sie erst alle in Sicherheit sein.
Hades’ Apartment wurde dafür als zu klein und zu anfällig befunden. Wenn man sie dort entdeckte, wäre eine Flucht schwierig. Außerdem konnte es nicht das gesamte Team beherbergen.
Sie brauchten einen Ort, an dem sie alle Platz fanden und recherchieren konnten, der jedoch gleichzeitig einfachen Zugang zu einem Rollfeld oder einer anderen schnellen Fluchtmöglichkeit bot.
Als ehemaliger König der Schattenwelt besaß Hades natürlich eine solche Liegenschaft, die obendrein in keinerlei Büchern erschien.
Es handelte sich um einen weitläufigen Pferdehof in Elsass-Lothringen mitten in einem typisch germanischen Wald in der Nähe der mittelalterlichen Ortschaft Lembach. Früher hatte er dort seine zahlreichen Polo-Ponys untergebracht. Als seine beiden Söhne noch jünger waren, hatte er Familienurlaube auf dem Hof mit ihnen verbracht.
Vor einigen Jahren hatte Hades ihn verkauft. Allerdings hatte es sich bei der Transaktion um eine Scharade gehandelt. Im Wesentlichen hatte er den Hof an sich selbst verkauft – somit bildete er ein Versteck in aller Öffentlichkeit.
Das Anwesen erfüllte alle wichtigen Anforderungen.
Es bot reichlich Platz. Tatsächlich hatten manche Mitglieder des Teams im Haupthaus eigene Trakte.
Interessanter war, dass sich auf dem riesigen Grundstück ein alter Betonzugang – auf Französisch als Ouvrage bezeichnet – zur Maginot-Linie befand. Dabei handelte es sich um Frankreichs gewaltigen, in den 1930er-Jahren errichteten Komplex aus Betonfestungen, Geschützstellungen und Verbindungstunneln, der den Einmarsch der Nazis im Mai 1940 nicht verhindern konnte. Die Deutschen hatten die Maginot-Linie einfach durch Belgien und die Niederlande umgangen.
Neben dem großen grauen Betonklotz gehörten zu Hades’ Besitz ein See und ein Haus am Ufer, ein verstecktes Rollfeld und ein alter Militärhangar aus dem Zweiten Weltkrieg, den Hades als Abstellplatz für seinen Privatjet nutzte.
Es traf noch eine letzte Gruppe von Teammitgliedern ein: Jacks geliebte Tiere – seine Falkendame Horus und seine Hunde Roxy und Ash. Begleitet wurden sie von ihrem gewissenhaften Aufpasser, dem liebenswerten Neandertaler namens E-147. Sie reisten mit einem von Hades bezahlten Privatjet aus Australien an und landeten im nahen Straßburg. Jacks Mutter Mae, die den kleinen Neandertaler ins Herz geschlossen hatte, war hingefahren, um sie abzuholen.
Bei der Ankunft auf Hades’ Grundstück stieg der ehemalige Minotaurus aus der Unterwelt mit Horus aus, flankiert von den beiden freudig hopsenden Hunden.
»Hallo, Captain Jack«, grüßte er. »Alle Tiere geht gut. Bin ich gute Aufpasser. Füttere ich Hunde, führe Hunde aus. Nix essen Hunde.«
Trotz allem, was Jack im Hinterkopf hatte, musste er darüber lächeln.
»Bin froh zu hören, dass du meine Hunde nicht gegessen hast, Kumpel. Gute Arbeit.«
Der Neandertaler nickte enthusiastisch.
Natürlich beschäftigte Jack voll und ganz ihr erstes Ziel.
»Wir finden Lily«, sagte er. »Ich sehe keinen Sinn darin, die Welt zu retten, solange sie allein irgendwo bei diesem Drecksack Sphinx ist.«
Um sie aufzuspüren, zapften sie das streng geheime Gesichtserkennungssystem der US-Regierung namens TITAN an. Dabei handelte es sich um ein weltweites Netzwerk, das Überwachungskameras, Gesichtsscanner an Flughäfen, Apps für soziale Medien und sogar Bildschirmsperren auf Handys mit Gesichtserkennung umfasste, um Personen zu identifizieren und zu lokalisieren.
Wenn irgendwo eine Kamera Lily erfasste, würden sie davon erfahren.
Polizei- und Militärfrequenzen wurden ebenso überwacht wie Satellitenübertragungen von Flugbewegungen, aber es würde dauern, bis sie einen Treffer erzielen würden.
Parallel dazu begannen sie, für die nächste Prüfung zu recherchieren, die Prüfung der Berge.
Das nahmen Hades, Mae und Iolanthe in die Hand, indem sie sich an der Beschreibung aus dem Zeus-Papyrus orientierten. Zeus persönlich hatte den Text verfassen lassen, nachdem sein Recke die Großen Spiele gewonnen hatte. Dadurch hatte Zeus die Mysterien empfangen, die ihm zeigten, wie man die beiden Prüfungen vor dem Omega-Ereignis überwinden konnte. So waren sie auf die Prüfung der Städte gekommen. Nun konzentrierten sie sich auf die zweite im Papyrus erwähnte Prüfung.
DIE PRÜFUNG DER BERGE
Fünf Berge aus Eisen. Fünf Klingen als Schlüssel.
Fünf Pforten, für immer verschlossen.
Doch merke, nur wer den Fall überlebt,
darf das oberste Labyrinth betreten
und ins Antlitz des Omega blicken.
In der Zwischenzeit suchte Jack zwei Orte auf.
Zunächst mit Zoe und Hades einen nahen, aber potenziell brandgefährlichen – die Gallerie dell’Accademia in Venedig, Sitz der Bruderschaft des heiligen Paulus, in der geheimen königlichen Welt auch als die Mönche des Omega-Ordens bekannt.
Erst nach den chaotischen Ereignissen bei der Entdeckung der drei geheimen Städte hatte Jack erfahren, was aus den Omega-Mönchen geworden war.
Sie waren verschwunden.
Sogar in den Fernsehnachrichten wurde darüber berichtet. Der geheimnisumrankte Orden hatte sein Quartier neben den Gallerie dell’Accademia verlassen und alles mitgenommen, darunter etliche unbezahlbare Kunstwerke und Skizzen.
Die Nachrichtensprecher beschrieben sie lediglich als eine Gruppe eigenbrötlerischer Mönche.
Jack jedoch kannte sie als etwas viel Tödlicheres.
Sie waren Experten für sämtliche astronomischen Ereignisse im Zusammenhang mit dem Omega-Ereignis.
»Außerdem haben sie sich als ausgesprochene Frauenhasser erwiesen«, sagte Jack zu Zoe und Hades, als sie einige Tage später in die Gallerie dell’Accademia in Venedig einbrachen. »Sie betrachten Frauen als Gebärmaschinen, die nur auf der Welt sind, um Männern zu dienen.«
»Dann haben wir es ja mit ganz modernen Geistern zu tun«, meinte Zoe sarkastisch.
»Am schlimmsten ist, dass diese Typen echt davon überzeugt sind.«
Jack dachte daran zurück, wie der Anführer der Mönche, Oberbruder Ezekiel, vor beinahe körperlichem Schmerz zusammengezuckt war, als Lily mit ihm gesprochen hatte.
»Schweig!«, hatte er mit schriller Stimme gebrüllt. »Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann herrsche, sondern sie sei still.«
Zu Zoe fügte Jack hinzu: »Ihr Anführer, Bruder Ezekiel, hat die weibliche Stimme als etwas Widerwärtiges und Abstoßendes bezeichnet.«
»Okay …«
Hades ergriff das Wort. »Der Mann, den du Ezekiel nennst, wurde als Nicolai Niculescu geboren. So hat er geheißen, bevor er seinen heiligen Namen Ezekiel angenommen hat. Bei den Omega-Mönchen beginnen heilige Namen immer mit einem E.
Wie viele seiner Omega-Brüder ist auch Ezekiel gebürtiger Rumäne. Vor einiger Zeit ist der Orden zu einer Zuflucht für ultrakonservative rumänische Priester und Mönche geworden, denen die gewöhnliche Kirche zu freigeistig war.
Der Omega-Orden unterhält bis heute Verbindungen zu streng katholischen Soldaten in den rumänischen Streitkräften.«
Zoe sah sich in den Unterkünften um, während Jack das innerste Heiligtum der Mönche erkundete – das unterirdische Hauptgewölbe des Museums.
Absperrbänder der Polizei spannten sich quer über die Tür. Er riss sie einfach ab und trat ein. Die Omega-Mönche hatten tatsächlich so ziemlich alles mitgenommen, was sie tragen konnten. Nicht jedoch die beeindruckend lebensechte Steinstatue in der Mitte des Gewölbes.
Sie stand noch da, die Darstellung eines Mannes mit auf dem Rücken gefesselten Händen, das Gesicht himmelwärts gerichtet, den Mund zu einem gequälten Schrei aufgerissen.
Jack wandte sich an Hades. »Ezekiel hat mir erzählt, dass die Statue in Wirklichkeit ein in flüssigem Stein eingeschlossener Mensch ist – ein Eindringling, der im Museum ertappt wurde. Kann das stimmen?«
»In religiösen Kreisen hat es eine lange Tradition, Menschen zur Strafe bei lebendigem Leib in Graustein einzugießen«, erwiderte Hades. »Für mich sieht dieser Ausdruck eines gequälten Schreis ziemlich echt aus.«
»Ich kann diese Typen echt nicht leiden«, sagte Jack.
Er ging zu den Stahlschränken, die er letztes Mal gesehen hatte. Sie enthielten breite Schubladen, damals gefüllt mit Pergamenten und Skizzen.
Darin hatten Lily und er den Abdruck der gesamten dreieckigen Steintafel gefunden, die sich als Schlüssel zum Bestehen der Prüfung der Städte erwiesen hatte. Jack erinnerte sich, auch eine Sternenkarte auf einem Papyrusblatt gesehen zu haben, lateinisch beschriftet mit magnum viam portae quinque. Die fünf Portale zum großen Labyrinth.
Diesmal fand er die meisten der flachen Schubladen leer vor. Nur wenige enthielten noch willkürliche Dokumente und Papierschnipsel.
Auf einem solchen Zettel entdeckte Jack gekritzelte Worte. INCA INCERCAND SA DETERMINE LOCATIA CELUI DE-AL DOILEA.
»Was für eine Sprache ist das?«, fragte er.
»Rumänisch«, sagte Hades. »Es bedeutet: immer noch auf der Suche nach der Lage des zweiten Bergs.«
»Also sind sie bereits im Rennen«, folgerte Jack. »Das habe ich befürchtet.«
In der Nähe des ersten Zettels fand er einen zweiten. INCA INCERCAND SA GASEASCA STATUIA SARELUI.
»Und was steht darauf?«
»›Immer noch auf der Suche nach der Statue der Schlange‹«, übersetzte Hades.
»Irgendeine Ahnung, was für eine Schlangenstatue gemeint sein könnte?«
»Nein«, antwortete Hades nachdenklich.
Auf einem anderen losen Blatt Papier entdeckte Jack eine Liste mit Zahlen – irgendwelche Koordinaten, ausgedrückt in Breiten- und Längengraden.
Er nahm den Zettel mit. Die Koordinaten würde er später auf einer Karte überprüfen.
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