Die vier mystischen Königreiche - Matthew Reilly - E-Book

Die vier mystischen Königreiche E-Book

Matthew Reilly

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Beschreibung

Nach und nach offenbaren sich die vier mächtigen Schattenherrscher. Jack West findet sich in einem höllischen Szenario wieder. Er wurde entführt, damit er an einem tödlichen Spiel teilnimmt. Um ein uraltes Ritual zu erfüllen, muss er teuflische Labyrinthe durchqueren, gegen grausame Attentäter antreten und sich unvorstellbaren Schrecken stellen. Und dann entdeckt Jack, dass er nicht der einzige Kämpfer an diesem Ort ist: Es gibt 16 Kandidaten. Aber nur einer wird überleben. Der vierte Teil mit den unglaublichen Abenteuern von Jack West. West Australian: »Wenn du meinst, die ersten Jack-West-Abenteuer waren schon Pageturner, dann warte mal ab, bis du diesen Roman gelesen hast.« Booklist: »Reilly überholt, übertrumpft und überbietet Meister des Abenteuerromans wie Dan Brown, Steve Berry, James Rollins und Clive Cussler.« The Daily Telegraph: »Matthew Reillys Romane sollten mit Gesundheitswarnungen auf dem Umschlag versehen werden!«

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Seitenzahl: 455

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Aus dem australischen Englisch von Michael Krug

Impressum

Die australische Originalausgabe The Four Legendary Kingdoms

erschien 2016 im Verlag Macmillan Australia.

Copyright © 2016 by Karandon Entertainment Pty Ltd.

Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Published by arrangement with Rachel Mills Literary Ltd.

Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-033-5

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Dieses Buch widme ich Gary »Smokey« Dawson und Wayne Dockrill.

ICH KANN ES NICHT SEHEN.

DAFÜR IST DIE OPTIK MEINER ZEIT NICHT GUT GENUG.

ABER DIE MATHEMATIK BELEGT ES UNAUSWEICHLICH.

ES NAHT.

ES WIRD AN WEISEN UND EDLEN MENSCHEN KÜNFTIGER GENERATIONEN MIT FORTSCHRITTLICHERER OPTIK LIEGEN, ES AM NACHTHIMMEL AUSZUMACHEN UND DEN RÜCKRUF ZU VERANLASSEN.

SONST IST ALLES VERLOREN.

Sir Isaac Newton

Die Chronologie der alten Königreiche

NICHT DIE GRÖSSE DES HUNDES ZÄHLT IM KAMPF, SONDERN DIE GRÖSSE DES KAMPFGEISTS IM HUND.

Mark Twain

ERSTE HERAUSFORDERUNG

DER EINTRITT IN DIE HÖLLE

So dieses Abgrunds Hang, und dort am Rand

war’s, wo von Felsentrümmern überhangen

sich ausgestreckt die Schande Kretas fand,

einst von dem Scheinbild einer Kuh empfangen.

Sich selber biss er, als er uns erblickt;

wie innerlich von wildem Grimm befangen …

so sahen wir den Minotaurus ringen,

drum rief Virgil: »Itzt weiter ohne Rast;

indes er tobt, ist’s gut, hinabzudringen.«

DANTESDIE GÖTTLICHE KOMÖDIE,

ÜBERSETZT VON CARL WENNINGER

KÄMPFERPROFIL

NAME: WEST, JONATHAN JAMES

ALTER: 46

RANG IN SETZLISTE: ÜBER 10

VERTRITT: LAND

PROFIL:

Gefangener Teilnehmer.

Als späte Ergänzung für diese Spiele ist Jonathan (Jack) West jr. ein Joker, den man nicht leichtfertig unterschätzen sollte. Immerhin ist er der fünfte große Krieger einer uralten Prophezeiung. Ungeachtet dessen hat diese Prophezeiung hier keine Bedeutung.

Setzlistenrang über 10 von 16 Anwärtern auf den Sieg bei den Spielen.

VON SEINEM SCHIRMHERRN:

Vom Schirmherrn dieses Kämpfers wurde kein ergänzender Kommentar abgegeben.

Erschrocken erwachte Jack West und schnappte nach Luft.

Völlige Dunkelheit umgab ihn und er schien allein zu sein.

Ihm fehlte jede Erinnerung daran, wo er war, wie er hier gelandet sein mochte und wann.

Die Luft fühlte sich kühl und feucht wie in einer tiefen Höhle an, der Boden staubig. Die Wand an seinem Rücken bestand aus massivem Stein.

Er trug Jeans und ein langärmliges T-Shirt, aber keine Schuhe.

Sein Kopf schmerzte. Er berührte ihn … und zog die Hand verdattert zurück.

Man hatte ihm das Haar abrasiert …

Mit einem schrillen Kreischen schwang die rostige Eisentür seiner Zelle auf. Licht strömte herein.

Eine furchterregende Silhouette füllte die Türöffnung aus.

Die Umrisse eines Mannes mit einem Stierkopf.

Ein Minotaurus.

Oder zumindest ein Mensch mit einem Helm in der Form eines Stierschädels.

Er besaß beachtliche Muskeln – pralle Oberarme, breite Brust. Während der Oberkörper – abgesehen von der Stiermaske – nackt war, steckte die untere Körperhälfte in einer modernen schwarzen Armeehose und schwarzen Kampfstiefeln.

Ich muss träumen, dachte Jack.

Für einen zweiten Gedanken blieb ihm keine Zeit, weil ihn der »Minotaurus« prompt mit wildem Gebrüll angriff.

Ein Jagdmesser mit Wellenschliff erschien in der rechten Hand des Maskierten, und der Stahl raste auf Jack zu.

Instinkte übernahmen das Kommando.

Jack richtete sich halb auf, packte die Messerhand des Minotaurus, verrenkte sie und warf den Mann zur Seite. Gleichzeitig sprang er selbst auf die Beine.

Der Minotaurus hechtete ihm entgegen. Miteinander ringend rollten sie über den Boden. Es endete damit, dass der Maskierte rittlings auf Jack kauerte und das Messer auf ihn niederdrückte.

Jack hielt mit zusammengebissenen Zähnen und aller Kraft dagegen. Die Spitze der Klinge befand sich gerade mal fünf Zentimeter von seiner Kehle entfernt.

Langsam bewegte sie sich näher auf seinen Adamsapfel zu, und in einem hinteren Winkel seines Hirns fiel Jack ein, dass man erwachte, wenn man in einem Traum starb. Vage fragte er sich, ob das auch in diesem Fall passieren würde.

Nur was, wenn es kein Traum ist, Jack?

Sein Gegner verstärkte den Druck. Jack hörte hinter der schwarzen Stiermaske ein angestrengtes Grunzen.

Es ist nur ein Mensch!, brüllte sein Verstand. Nur ein Mensch!

Und jeder Mensch ist besiegbar.

Mit einem Energieschub verlagerte Jack abrupt das Gewicht und rollte sich so nach hinten, dass der Minotaurus mit dem Kopf voraus gegen die Steinmauer krachte.

Verheerend heftig. Ein gedämpftes Knacken ertönte – das Geräusch, mit dem das Genick des Minotaurus brach. Dann sackte der Maskierte auf den staubigen Boden und rührte sich nicht mehr.

Jack rang nach Luft.

Was für ein Erwachen …

Als er sich einigermaßen gefasst hatte, sah er sich zum ersten Mal in seiner Zelle um.

Die Tür stand noch einen Spalt offen, durch den Licht hereinschien. Die Zelle wirkte außerordentlich alt. Die Wände bestanden aus Sandstein, die schwere, rostige Tür hing auf antik aussehenden Angeln aus Eisen. Gott allein wusste, was sich draußen befinden mochte.

An einer Wand von Jacks Zelle prangten zwei tief in den Stein geritzte Bilder:

Das erste kannte Jack: die altägyptische Hieroglyphe Ankh, die »Leben« bedeutete.

Das zweite Symbol ähnelte einem schnörkeligen, vierarmigen Oktopus. Es handelte sich um eine Variante eines seltenen, uralten Zeichens, das man bei hinduistischen, buddhistischen und neolithischen Kulturen fand, Tetragammadion genannt.

Während Jack es betrachtete, beschlich ihn das Gefühl, es erst unlängst gesehen zu haben, nur konnte er sich nicht erinnern, wo.

Blinzelnd versuchte er, sein Gedächtnis anzukurbeln. Es erwies sich als sinnlos. Sein Geist war noch zu durcheinander.

Stattdessen versuchte er, sich zu erinnern, wo er zuletzt gewesen war, bevor er das Bewusstsein verloren und wiedererlangt hatte.

Pine Gap, dachte er.

Die streng geheime Basis tief in der australischen Wüste.

Er war hingefahren, um an einem hochrangigen Meeting teilzunehmen.

Es hatte irgendetwas mit dem SKA zu tun …

Jack dachte daran zurück, wie er mit Lily, Alby und den Hunden am Stützpunkt außerhalb der abgelegenen Stadt Alice Springs angekommen und von den bewaffneten Torwächtern eingelassen worden war.

Und er wusste noch, dass ihn vor dem Observatorium in Pine Gap die große, bebrillte Gestalt von General Eric Abrahamson in Empfang genommen hatte. Der freundliche, aber gewitzte Mann ersetzte Jacks langjährigen Vorgesetzten und Freund, General Peter Cosgrove, der befördert worden war.

Nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, stellte Abrahamson ihm seinen baldigen Nachfolger vor, einen General mit strenger Miene namens Conor Beard. Der Mann hatte kantige Züge und einen präzise gestutzten roten Bart. Nicht zuletzt deshalb passte Beards Rufname seit seinen ersten Tagen beim Militär nach wie vor wie die Faust aufs Auge: Redbeard – Rotbart.

»Freut mich, dass Sie sich für den Anlass herausgeputzt haben, Jack«, merkte Abrahamson sarkastisch an.

Jack war leger gekleidet – Jeans, Turnschuhe, blaues Hemd über einem alten weißen T-Shirt. Dazu trug er einen braunen Wildlederhandschuh über der linken, aus Titan gefertigten Hand und eine schlichte Casio G-Shock am rechten Handgelenk.

Er lächelte Abrahamson in der Wüstensonne an. »Ich arbeite nicht mehr für Sie, also kann ich anziehen, was ich will.«

Nachdem Abrahamson auch Lily und Alby begrüßt hatte, bückte er sich, um die Hunde zu streicheln. »Die beiden hab ich ja nicht mehr gesehen, seit sie Welpen waren.«

Jack sagte: »Ich gehöre jetzt ihnen. Eigentlich gehöre ich jetzt allen. Zoe. Lily. Den Hunden. Wissen Sie, dabei war ich mal der fünfte große Krieger.«

Abrahamson lachte. »Was ist mit Horus? Was hält sie von den Hunden?«

Jack stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Prompt sank seine treue, über ihm schwebende Wanderfalkendame Horus herab und ließ sich auf seiner Schulter nieder. Um den Hals trug sie ein Lederband, an dem eine GoPro-Kamera hing. Mit stechendem Blick starrte sie Abrahamson und Beard an, als könnte sie in ihre Seele blicken.

»Sie duldet die Hunde«, sagte Jack, als sich Horus wieder in die Lüfte erhob.

»Kommen Sie rein.« Abrahamson führte sie durch die Türen der Anlage. »Ich muss Ihnen etwas Wichtiges zeigen.«

Und dann … nichts mehr …

… bis Jack an diesem Ort aufgewacht war und ein als Stier verkleideter Mann ihn umbringen wollte.

Jack saß immer noch auf dem staubigen Boden seiner Zelle und blickte an sich hinab.

Irgendwo, irgendwann waren sein blaues Hemd und seine Turnschuhe verschwunden. Sein langärmeliges T-Shirt, das Lily ihm vor Jahren geschenkt hatte – als sie noch eine niedliche 13-Jährige war, keine weltgewandte 20-Jährige –, zeigte Homer Simpson in einem aufblasbaren Kinderplanschbecken, weggetreten vom Saufen, umgeben von leeren Duff-Bierdosen. Darunter stand:

WORLD’S GREATEST DAD –

der tollste Vater der Welt.

Das ist surreal, dachte Jack.

Er spähte zu dem leblosen Mann mit der Stiermaske, der neben ihm auf dem Boden lag.

Eigentlich handelte es sich eher um einen ziemlich modernen Helm als um eine Maske, wie er bei genauerer Betrachtung feststellte. Angefertigt aus leichtem Hightech-Harz, mattschwarz lackiert.

Das Visier des Stierhelms bestand aus einem schwarzen feinmaschigen Gitter wie bei einer Fechtmaske. Es verbarg einerseits die Identität des Trägers, bot ihm aber volle Sicht. Über dem Mund des Trägers befand sich eine Gasmaske mit Filter. Die Form ähnelte der Schnauze eines Tiers, wodurch die Gesamtheit umso mehr wie ein Stierkopf wirkte.

Jack riss dem Gefallenen die Maske vom Gesicht …

… und stellte fest, dass es sich nicht ganz um einen Mann handelte.

Um etwas Ähnliches.

Der »Mann« unter der Maske besaß eine breite, fliehende Stirn, weit auseinanderliegende Augen, eine flache Nase, einen großen Mund, schiefe Zähne und überall dichtes, verfilztes schwarzes Haar – auf den Wangen, in den Ohren und in Form einer durchgehenden Braue über den Augen.

Die Augen, schoss es Jack bei einem genaueren Blick durch den Kopf.

Die im Moment des Todes offen erstarrten Augen waren tiefbraun. Im Wesentlichen wirkten sie menschlich, nur irgendwie stumpfer. Wenn es nicht unmöglich gewesen wäre, hätte Jack vermutet, dass er einen halb entwickelten Vorläufer des modernen Menschen vor sich hatte, vielleicht einen Neandertaler oder Cromagnonmenschen.

In die behaarte Schulter des Halbmenschen hatte jemand »N-016« eintätowiert.

Jack starrte auf seinen toten Angreifer hinab.

»Was zum Geier bist du, und wo zum Henker bin ich?«, fragte er laut.

Plötzlich sprang der behaarte Halbmensch mit Gebrüll vom Boden auf, schnappte sich das Messer und stürzte sich auf Jack.

Großer Gott!

Allerdings bewegte sich sein Angreifer langsamer als zuvor, wirkte schwächer, befeuert nur noch von blindwütiger Raserei. Jack wehrte das Messer ab, huschte hinter den Halbmenschen, schlang den Unterarm um dessen Hals und brach ihm kurzerhand das Genick.

Die Kreatur sackte zusammen, diesmal endgültig tot.

»Leck du mich am Arsch«, entfuhr es Jack schwer atmend.

Aus Gewohnheit strich er sich das Haar zurück und fühlte erneut nur raue Stoppeln. Man hatte ihm tatsächlich den Schädel rasiert, während er bewusstlos gewesen war.

Da Jack keine Waffen hatte, tastete er den toten Minotaurus ab. Der Halbmensch hatte nur das Messer. Jack steckte es ein. Außerdem nahm er dem Minotaurus die Kampfstiefel ab und zog sie an. Sie erwiesen sich als viel zu groß für ihn. Trotzdem besser als gar nichts.

Mit einem Schulterzucken nahm er auch den gepanzerten Stierhelm an sich.

Dann verließ er die Zelle und trat hinaus ins Licht.

In einer Zelle wie der von Jack, nicht weit von seiner entfernt, stand ein großer Mann wartend hinter der Eisentür.

Er hatte unrasierte rötliche Gesichtsbehaarung und den Blick eines kampferprobten Veteranen. Im Gegensatz zu Jack war er vorbereitet.

Er trug die Kampfausrüstung eines britischen SAS-Soldaten: Stiefel, Cargohose, Splitterschutzjacke, Helm. In einer Hand hielt er ein langes Kampfmesser mit Wellenschliff.

Quietschend öffnete sich die uralte Tür der Zelle. Licht strömte herein, gefolgt von einem anstürmenden Minotaurus.

Der SAS-Mann brauchte nur drei schnelle Hiebe mit dem Messer – zwei gegen die Kniesehnen des Minotaurus und einen Todesstoß gegen die Kehle –, um den maskierten Angreifer ins Jenseits zu befördern.

Im Gegensatz zu Jack verzichtete der SAS-Soldat darauf, die Leiche zu untersuchen.

Kaum war sein Gegner tot, stieg der Mann über den Körper hinweg, verließ die Zelle und wischte unterwegs seelenruhig die Klinge seines Messers an der Hose ab.

In einer dritten Zelle wartete angespannt ein US-Marine, bis sich mit einem Kreischen rostiger Angeln die Tür öffnete und ein dritter Minotaurus hereindonnerte.

Wie der britische SAS-Mann war auch der Marine vorbereitet. Er trug einen Kampfanzug in Wüstenfarben und einen Helm. Als Bewaffnung hatte er einen Teleskopschlagstock. Allerdings wurde er dennoch überrascht. Zwar rechnete er mit einem Angriff, nicht jedoch von einem Irren, der als Minotaurus verkleidet mit einem Messer auf ihn zustürmte.

Es wurde ein kurzer Kampf, nicht so hässlich und eigenartig wie der von Jack, obwohl er nicht ganz so gnadenlos schnell wie der des SAS-Mannes endete.

Der Marine brachte seine Ausbildung zur Geltung, und der Minotaurus starb mit dem Messer des Soldaten im Brustbein.

Der Marine untersuchte den Körper des gefallenen Angreifers, berührte den Stierhelm, bemerkte dabei, wie modern er wirkte, und betrachtete ebenfalls das halb menschliche Gesicht darunter.

Danach setzte er eine umlaufende Blendschutzbrille auf und trat aus der Zelle hinaus ins Licht.

Als Jack seine Zelle verließ, fand er sich in einer Umgebung wieder, bei der er unwillkürlich an eine Gladiatorenarena dachte.

Nächtlich anmutende Dunkelheit herrschte, aber die kühle, unbewegte Luft fühlte sich so an, als befände er sich nicht unter freiem Himmel, sondern in irgendeiner riesigen Höhle.

Die weitläufige, kreisförmig in römischem Stil errichtete Arena wies einen altmodisch mit Sägemehl bedeckten Boden auf, wurde aber von modernem Flutlicht erhellt. Wie der Minotaurus, den er vorhin besiegt hatte, bildete sie eine merkwürdige Mischung aus sehr alt und brandneu.

Die offene Tür seiner Zelle hinter ihm prangte direkt in der Steinwand der Arena.

15 ähnliche Türen verteilten sich entlang der gekrümmt verlaufenden Seitenwand, und vor ihnen standen 15 weitere Männer.

13 trugen moderne Militäraufmachung – Helme und Kampfanzüge in verschiedenen Farben mit Wüsten-, Dschungel- oder Nachttarnmustern. Die meisten Männer waren weiß, einige schwarz und ein paar muteten asiatisch an. Sie hielten verschiedene Messer, Kurzschwerter oder Knüppel … aber keine Schusswaffen, wie Jack feststellte. Diejenigen ohne Helm hatten alle kahl geschorene Schädel.

Vor zwei der 15 Zellen standen Minotauren in starrer Habachtstellung, klein, aber aufrecht, in den behaarten Händen bluttriefende Messer.

Und zu guter Letzt: Jack selbst, völlig unvorbereitet, bekleidet mit Jeans, einem T-Shirt und eben erst erbeuteten zu großen Stiefeln. Das Handgelenk seines aus Titan gefertigten linken Arms lugte unter dem Ärmel hervor und funkelte im künstlichen Licht. Schweiß, Staub und Blut verkrusteten sein Gesicht und er hielt den Stierhelm und sein Messer in den Händen.

Er beäugte die beiden steif vor zwei der Zellen stehenden Minotauren.

Also hat nicht jeder seinen halb menschlichen Angreifer besiegt …

Schwarz gekleidete Wächter mit Maschinengewehren säumten die Arena. Insgesamt vielleicht 20. Jack brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass alle Minotaurenhelme trugen.

»Seid gegrüßt, Recken!«, dröhnte eine tiefe Stimme irgendwo hoch über Jack.

Jack drehte sich um, als eine neue Reihe von Lichtern aufflammte und einen hohen, bühnenartigen Balkon auf der gegenüberliegenden Seite der Arena erhellte.

Dort stand der Mann, der gesprochen hatte.

Jene gesamte Seite der Arena bestand aus einer riesigen Felswand, dem Fuß eines bedrückenden schwarzen Bergs, der sich hoch in die schattige Finsternis erstreckte. Der Balkon, auf dem der Mann stand, ragte etwa 25 Meter über dem Boden aus dem Hang.

Auf der Rückseite des Balkons befand sich eine Tribüne, beschattet von einer großen Markise. Und auf der Tribüne saß ein Publikum aus etwa 30 Männern und Frauen, alle in teuren Anzügen und Kleidern, was die Surrealität dieses Orts nur zusätzlich unterstrich. Sogar aus der Ferne konnte Jack das Glitzern protziger Diamanthalsketten an einigen der Frauen erkennen. Die Zuschauer schlürften Champagner, rauchten Zigaretten oder blickten auf die Reihe der »Recken« herab.

Der Mann, der das Wort ergriffen hatte, musste der Anführer sein.

Groß, kraftvolle Statur, vielleicht Mitte 50. Außerdem gut aussehend, mit einem schwarzen Bart und stechenden dunklen Augen. Er trug einen modernen schwarzen Designeranzug mit eleganten karmesinroten Manschetten.

»Noch einmal«, sagte er, »seid gegrüßt, Recken. Willkommen bei den Großen Spielen. Ich bin euer Gastgeber, euer Richter, euer Prüfungsausschuss und bei Bedarf euer Henker.

Man kennt mich unter vielen zeremoniellen Namen. Ich bin der Widersacher des Lichts, der Ankläger, der Gefallene, der Hüter des Tempels, Iblis, Schaitan, Thanatos, Sataniel, Herrscher der Nachtlande, Ba’al Zəvûv, Beelzebub, König des Vierten Reiches oder einfach Hades, Herr der Unterwelt. Willkommen bei meinen Spielen, Kämpfer. Willkommen in der Unterwelt.«

Jack konnte nicht glauben, was er hörte.

Im Verlauf seiner zahlreichen Abenteuer hatte er eine Menge Seltsames erlebt.

Er hatte den Schlussstein der großen Pyramide von Giseh während eines gleißenden Sonnenereignisses wieder angebracht.

Er hatte gesehen, wie Stonehenge im Licht einer dunklen Sonne zum Leben erwacht war.

Einmal hatte er tief in einer römischen Salzmine das Grab von Jesus Christus gefunden … mit dem Leichnam Christi noch darin.

Und er selbst hatte sich als einer der fünf größten »Krieger« der Geschichte entpuppt, einer elitären Gruppe einflussreicher Persönlichkeiten, Krieger in militärischer oder ideeller Hinsicht: Moses, Dschingis Khan, Napoleon, Jesus Christus … und Jack.

Aber die Unterwelt? Die Hölle?

Da wusste er mit Sicherheit, dass er träumte.

Die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod gab es in verschiedensten Gesellschaften überall auf der Welt. In jeder Zivilisation, von den Ägyptern über die Maya bis hin zu Japan und Indien. Und natürlich in den drei Religionen, die auf Abraham zurückgingen: Christentum, Judentum und Islam.

Die westliche Tradition unterteilte das Leben nach dem Tod in zwei Orte: den Himmel und die Hölle. Dem Konzept lag ein moralisches Element zugrunde. Gute Menschen kamen in den Himmel, schlechte in die Hölle, ein furchterregendes Reich tief unter der Erdoberfläche, ein Ort voller Feuer und Schwefel, an dem man für zu Lebzeiten begangene Sünden bestraft wurde.

Beim Jenseits der alten Griechen hingegen gab es keinen moralischen Aspekt. Sie nannten ihre Hölle »Tartarus«, und laut ihren Mythen konnten auch Lebende die Unterwelt durchaus betreten, wenn sie den Eingang finden konnten. Sie wieder zu verlassen war ein völlig anderes Paar Schuhe. Nur den größten Helden der Griechen – Herkules, Theseus und Odysseus – gelang es, aus der Unterwelt zurückzukehren. Das gehörte gleichsam dazu, wenn man ein legendärer Held werden wollte.

Und es waren die Griechen, die dem König dieses feurigen Reichs den Namen »Hades« gegeben hatten.

Nur gibt’s die Hölle als Ort nicht wirklich, protestierte Jacks Verstand.

Doch passten sich seine Augen an das grelle Licht der Flutlichtanlage an, und allmählich erkannte er die Umgebung dahinter, insbesondere den dunklen Berg über und hinter Hades’ Balkon.

Der Anblick war überwältigend.

Die Erhebung ragte wie ein spitzer Dolch aus schwarzem Gestein hoch gen Himmel. An den Flanken prangten verschiedene düstere Burgen, Festungen, Aufzüge und Treppen, alle auf unterschiedlichen Ebenen, und alle wirkten im reflektierten Schein der Flutlichter ausgesprochen bedrohlich.

Eine breite, bollwerkartige Konstruktion umgab den Berg in der Mitte, etwa 150 Meter über der Stelle, an der Jack stand. Die Lichter zahlreicher Fenster sprenkelten das Gebilde.

Der gesamte Berg wies eine seltsame Ähnlichkeit mit dem Eiffelturm auf: unten breit, nach oben hin spitz zulaufend, erst langsam, dann ziemlich abrupt. Jack konnte nicht sehen, was sich auf dem Gipfel befand – dort oben war es zu dunkel. Aber er konnte eine Art Netz erkennen, das sich davon weg ausbreitete und den Nachthimmel verdunkelte.

Hades unterbrach seine Gedanken, indem er die Stimme durch den gewaltigen Raum dröhnen ließ. »Ihr alle seid als Vertreter der vier ewigen Königreiche hergebracht worden, um an der größten Herausforderung der Geschichte teilzunehmen, den Großen Spielen der Hydra.«

Jack warf einen Blick zu den anderen Kämpfern.

Alle schauten zu Hades hinauf, während er sprach. Besonders aufmerksam und mit stolz erhobenem Kinn lauschten die beiden Minotauren.

Der Mann links von Jack trug eine Kampfuniform in Wüstentarnfarben, einen Helm des Marine Corps und eine reflektierende Blendschutzbrille.

Er deutete mit dem Kopf auf Jacks T-Shirt mit Homer Simpson.

»Cooles Shirt, Kumpel.«

»Wenn ich gewusst hätte, dass ich bei der Party hier lande«, gab Jack zurück, »hätte ich mich anders angezogen.«

»Hier zu obsiegen«, donnerte Hades, »wird gewährleisten, dass euer Name die Zeitalter überdauert. Man wird Lieder über euch singen und Epen über euch schreiben, wie über alle früheren Sieger dieser Spiele. In diesen heiligen Arenen, Tunneln und Labyrinthen wurden Helden geboren und Legenden erschaffen.

Und noch bevor sich der wahre Zweck dieser Spiele offenbart, möchte ich anmerken, dass sie bereits historisch sind. Wir haben mehrere namhafte Recken am Start: Nicht weniger als drei Königssöhne vertreten hier ihre Väter. Das ist beispiellos.«

Die Leute hinter Hades murmelten und zeigten mit den Fingern. Jack sah, wie drei seiner Mitstreiter in Richtung der Zuschauer nickten.

»Und nicht zu vergessen«, fügte Hades hinzu. »Wir haben sogar den fünften Krieger höchstpersönlich als Teilnehmer hier.«

Sein durchdringender Blick schwenkte auf Jack.

Plötzlich spürte Jack, wie sich sämtliche Augenpaare in der Arena – die der Teilnehmer und die der Zuschauer – auf ihn hefteten.

In seinem albernen T-Shirt, der Jeans und den zu großen Stiefeln fühlte er sich plötzlich wie in einem anderen Traum – jenem, in dem man splitternackt in die Schule geht.

Hades lächelte Jack an. »Was sagt man dazu? Der fünfte große Krieger höchstpersönlich. Noch nie in der Geschichte der Großen Spiele hat einer der fünf Krieger teilgenommen. Das ist monumental.«

Mittlerweile fühlte sich Jack schwer unbehaglich. Die anklagenden, finsteren Blicke der anderen Kämpfer nervten. Er wünschte, Hades würde aufhören, über ihn zu reden.

Hades hob die Arme.

»Vor 40 Tagen hat sich die Sternkammer, der heiligste Schrein in meinem Reich, zum ersten Mal seit über 3000 Jahren für die Rückkehr der ruhmreichen Hydra geöffnet. Deshalb versammeln wir uns nun gemäß den uralten Gesetzen, um unsere Spiele abzuhalten. Als derzeitigem Herrscher über dieses sagenumwobene Reich fällt mir nach einer langen Reihe von Vorgängern die Rolle des Veranstalters und Schiedsrichters dieser Spiele zu. Der Vorsitz über die Spiele ist eine heilige Pflicht, bei deren Erfüllung ich weder Furcht noch Gunst zeigen werde.«

Er drehte sich dem betuchten Publikum auf der Tribüne hinter ihm zu.

»Ich bin unbestechlich.

Flehen um Gnade trifft bei mir auf taube Ohren.

Sonderbehandlungen gewähre ich nicht. Weder dem höchstgeborenen Recken noch dem niedersten Minotaurus.

Ich darf weder Milde noch Gutdünken walten lassen. Die Regeln der Spiele sind uralt und einfach. Mir obliegt die Ehre, sie durchzusetzen … selbst wenn es mein eigenes Verhängnis bedeuten sollte. Meine Herren Könige, Fürsten und Fürstinnen, verehrte Gäste und Recken. Willkommen in meinem Königreich. Willkommen bei den Großen Spielen.«

Jacks Gedanken überschlugen sich, während er verzweifelt das Geschehen zu verarbeiten versuchte.

Schlimm genug, benommen und desorientiert an einem fremden Ort aufzuwachen und von einem Mann mit einer Stiermaske und einem Messer angegriffen zu werden. Nun hörte er auch noch von der Hölle und Hades, von einer seit 3000 Jahren nicht mehr geöffneten Sternkammer und von etwas, das »ruhmreiche Hydra« hieß und offenbar von irgendwoher zurückkehrte.

»Nun denn«, sagte Hades und nickte den beiden Minotauren zu, die vor zwei der Zellen standen. »Wie ich sehe, haben zwei unserer Recken die erste Herausforderung nicht bestanden, also muss ich …«

»Halt!«, rief jemand.

Alle in der Arena, einschließlich Hades, wirbelten zu dem Kämpfer herum, der unmittelbar rechts neben Jack stand.

Die Menge der Zuschauer auf der Tribüne verstummte. Entsetzt sahen sie einander an. Einige spähten beklommen zu Hades.

Jack beobachtete das Geschehen aufmerksam. Genau wie der Marine zu seiner Linken.

Der Mann zu seiner Rechten, der gerufen hatte, war ein großer Asiate mit kahl geschorenem Kopf und kerzengerader Haltung.

Er trug ein olivfarbenes T-Shirt, eine grüne Kampfhose und Stiefel. Nicht unbedingt eine Aufmachung für einen Einsatz. Eher etwas, womit man in einer Kaserne herumlaufen würde.

Und plötzlich kam Jack der Gedanke, dass der Mann auf dieselbe Weise wie er selbst hergebracht worden sein könnte …

»Mein Name ist Jason Chen«, rief der Mann auf Englisch, »und ich bin Hauptmann bei der taiwanesischen Armee, stationiert in Taipeh! Ich bin gegen meinen Willen hier! Ich wurde gekidnappt! Ich verlange, umgehend freigelassen zu werden!«

Die Zuschauer glotzten ihn mit offenen Mündern an.

Jack fiel auf, dass die meisten anderen Kämpfer geradeaus oder zu Boden starrten und sich bemühten, den Protestierenden zu ignorieren.

Stille kehrte in der gesamten Arena ein.

Hades’ Blick verharrte auf dem Mann aus Taiwan.

»Wie war das bitte?«, fragte Hades.

Der taiwanesische Hauptmann warf sich in die Brust. »Ich sagte, mein Name ist Jason …«

Sein Schädel explodierte.

Er zerplatzte einfach. Zig fleischige Bröckchen spritzten durch die Gegend, als wäre eine Ladung Feuerwerkskörper in einem Kürbis hochgegangen.

Etwas Blut und Hirnmasse traf Jacks rechte Wange. Der kopflose Leichnam sackte neben ihm auf den staubigen Boden. Blut strömte aus den Halsschlagadern und bildete eine grausige Lache um Jacks zu große Stiefel.

Abrupt schaute Jack wieder hinauf zu Hades und sah, dass von hinten ein zweiter Mann an dessen Seite erschienen war, wohl so etwas wie ein Assistent.

Der »Assistent« ließ eine kleine Fernbedienung sinken, die er in behandschuhten Fingern hielt.

Der Mann besaß ein äußerst markantes Aussehen. Beinahe wie ein Hohepriester.

Er trug eine lange violette Robe und war vollkommen kahl.

Außerdem wies er die vorquellenden Augen von jemandem mit einer Schilddrüsenüberfunktion auf. Zusammen mit der Glatze wirkte er dadurch entschieden insektenhaft.

Entsetzt über die grässliche Explosion des Kopfs seines Nachbarn überprüfte Jack, wie die Zuschauer auf der Tribüne darauf reagierten.

Er sah nur unbekümmerte Gleichgültigkeit.

Die Leute dort nippten an ihren Sektflöten und schüttelten traurig die Köpfe.

Dann ereilte Jack eine Erkenntnis. Seine Hand schnellte zum eigenen Hinterkopf und berührte die glatt rasierte Haut …

… und er spürte etwas.

Eine frische Narbe knapp oberhalb des Genicks.

Deshalb hatte man ihm den Kopf rasiert.

Man hatte ihm chirurgisch etwas ins Genick implantiert, eine kleine Sprengladung derselben Art, die gerade den Schädel des taiwanesischen Hauptmanns zerfetzt hatte.

So also sorgte Hades für Gehorsam.

Jack musterte die anderen Kämpfer und stellte fest, dass sie alle ähnliche Narben am Genick aufwiesen. Noch etwas fiel ihm auf: In die entstellte Haut der Operationsnarbe war bei jedem Mann ein kleiner gelber Edelstein eingelassen. Ein Stein, der in keiner Weise modern, sondern eindeutig alt anmutete. Als Jack die eigene Narbe erneut berührte, ertastete er die harten Kanten des darin eingebetteten Juwels.

In was bin ich da reingeschleudert worden?, dachte Jack.

»Ein Jammer«, meinte Hades. »Auch für die Gruppe seiner Unterstützer.«

Hades nickte seinem Assistenten zu. Oben in der Nähe des Balkons öffnete sich eine Art Rollladen aus Stahl. Zum Vorschein kamen dahinter vier merkwürdige Zugwaggons auf Schienen in einem offenen, in die Felswand verlaufenden Tunnel.

Die Waggons erinnerten an solche, wie man sie früher für den Transport von Zirkustieren verwendet hatte, jeweils mit einer hüfthohen Umrandung aus Stahlblech und robusten Eisenstäben darüber. Auch die Dächer wiesen Gitter auf. Jack zählte vier Zellen in jedem Waggon, insgesamt also 16.

In jeder Zelle wiederum entdeckte er vier bis fünf Personen, die bange in die Arena hinabblickten.

16 Zellen.

16 Kämpfer.

»Bitte um Tötung von Hauptmann Chens Unterstützungsgruppe«, sagte Hades schlicht.

Sein glupschäugiger Assistent hob die Fernbedienung wieder an und drückte eine andere Taste darauf.

Prompt schoss ein dicker Schwall einer grauen Flüssigkeit aus der Tunneldecke über einem der Waggons und ergoss sich wuchtig in eine der Zellen.

Jack fand, dass die Masse wie Zement aussah, irgendein zähflüssiges Konglomerat. Und natürlich heiß. Als sie in die Zelle strömte, stiegen mächtige Dampfwolken auf.

Und die Masse schien schwer zu sein, denn sie riss die zwei Männer und zwei Frauen in der Zelle von den Füßen. Sie fielen unter dem Gewicht des herabströmenden Glibbers und schrien, als sie darunter versanken.

Bald endete das Geschrei, und in der Eisenzelle blieb nur eine hohe Lache der dampfenden Flüssigkeit übrig, die über die hüfthohe Verkleidung schwappte.

Großer Gott, schoss es Jack durch den Kopf. Das sind Geiselkammern.

Hades seufzte. »Wie ich gerade sagen wollte, bevor ich so unhöflich unterbrochen wurde, haben zwei unserer Recken die erste Herausforderung nicht überlebt. Daher müssen auch ihre Unterstützungsgruppen eliminiert werden.«

Er nickte seinem Assistenten zu. »Monsieur Vacheron. Bitte töten Sie die Unterstützungsgruppen der beiden Teilnehmer, die an der ersten Herausforderung gescheitert sind.«

Auf Hades’ Anweisung drückte der Assistent – Vacheron – erneut auf die Fernbedienung …

… und die heiße, flüssige zementartige Substanz ergoss sich in zwei andere Zellen des Zugs. Weitere Schreie. Weiteres Fuchteln.

Als die Insassen der beiden Zellen tot waren, wandte sich Hades wieder der Arena zu.

»Natürlich«, sagte er, »erhalten durch den Tod dieser beiden Recken ihre Bezwinger die Gelegenheit, ihren Platz einzunehmen, wie es schon immer gewesen ist. Bei den Spielen gibt es keine Unterschiede zwischen sozialen Klassen. Selbst der niederste Minotaurus kann gegen den höchstgeborenen Champion antreten und um die Unsterblichkeit des Siegs kämpfen. Bitte um Kennzeichnung der Minotauren.«

Die beiden Stiermenschen in der Reihe der Kämpfer – die offensichtlich ihre Gegner in den Zellen getötet hatten – traten vor.

Auf die Stierhelme, ihre Haut und ihre Hosen wurden goldene Streifen gemalt, die sie von den gewöhnlichen, schwarz gekleideten Minotauren in der Arena unterschieden.

Während Jack alles halb entsetzt, halb ungläubig beobachtete, kam ihm plötzlich ein Gedanke.

16 Kämpfer und 16 Geiselkammern.

Wer also sind meine Geiseln?

»O Gott …«, stieß Jack atemlos hervor und schaute auf.

Seine letzte Erinnerung war der Besuch von Pine Gap. Er war mit Lily, Alby, Sky Monster, Horus und den Hunden hingefahren.

Dann erblickte er sie, und das Herz sackte ihm zu den Knien.

Durch die Gitter einer der Zellen des Geiselzugs hoch über der uralten Arena spähten seine 20-jährige Tochter Lily und ihr treuer Freund Alby Calvin heraus.

Hinter ihnen stand Jacks langjähriger Pilot Sky Monster. Sein buschiger Bart und sein unbändiges Haar umrahmten Augen, aus denen Verzweiflung und Besorgnis sprachen. Und vor Lily und Alby lugten – vermutlich auf die Hinterbeine aufgerichtet – Jacks Hunde Ash und Roxy über die hüfthohe Umrandung.

»O Gott, nein«, entfuhr es Jack. »Das darf nicht passieren. Das darf nicht passieren.«

Hades stellte Blickkontakt zu jedem der vor ihm unten in der Arena aufgereihten Kämpfer her.

»Ich hoffe, euch allen ist nun bewusst, was eure Unterstützergruppen erwartet, wenn ihr bei einer der Herausforderungen dieser Spiele scheitert.«

Er lächelte. »Und damit überlasse ich euch unserem Spielleiter, meinem treuen Diener Monsieur Vacheron.«

Der Mann mit der Glatze und den vorstehenden Augen trat vor. Wie er Jack und die anderen Kämpfer betrachtete, ließ sich nur mit dem Blick eines Raubtiers vergleichen.

Dann ertönte laut und deutlich seine schrille Stimme. »Meine Damen und Herren! Verehrte Gäste! Gestatten Sie mir, Ihnen die Arena für die zweite Herausforderung zu präsentieren! Öffnet die Grube!«

ZWEITE HERAUSFORDERUNG

DIE WASSERGRUBE

Lang ist der Weg und beschwerlich,

der hinaus ins Licht führt aus der Hölle.

JOHN MILTON,DAS VERLORENE PARADIES

KÄMPFERPROFIL

NAME: BRIGHAM, GREGORY JOHN

ALTER: 32

RANG FÜR SIEG: 1

VERTRITT: LAND

PROFIL:

Major Brigham ist Offizier vom britischen SAS. Außergewöhnlich geschickt im Nahkampf, zudem ein Mann tadelloser Herkunft.

Ausgebildet in Eton. Royal Military College in Rekordzeit durchlaufen. Verdienstvoller Einsatz in Afghanistan und im Irak.

Sohn und Erbe des Herzogs von Orkney. Verlobt mit der Tochter des Herzogs von Avalon.

Setzlistenrang 1 von 16 Anwärtern auf den Sieg bei den Spielen.

VON SEINEM SCHIRMHERRN:

»Mein Haus ist sehr stolz darauf, dass Major Brigham für uns kämpft. Wenn er diese Spiele gewinnt, hallt sein Ruhm durch die Jahrhunderte wider. Er ist praktisch wie ein Sohn für mich. Ich freue mich bereits darauf, ihm meine Tochter anzuvertrauen.«

Orlando, Herzog von Avalon,

König des Lands

Bei Vacherons Worten erwachte in der Arena um Jack herum ein gigantischer Mechanismus zum Leben.

Mit einem tiefen Grollen teilten sich zwei riesige, flache Tore im Boden der Arena. Sand rieselte von den Rändern, während sie sich in die Wände zurückzogen.

Vor Jack öffnete sich eine gewaltige runde Grube.

»O Mann«, stieß er hervor.

Die Grube fiel vor ihm mindestens zwölf Meter tief ab. Sie umfasste vier konzentrische Ebenen, die wie überdimensionierte Stufen nach unten führten und jeweils die Form eines Grabens aufwiesen. Aus den Außenwänden der vier Gräben ragten große runde Rohre heraus, jedes etwa mannsgroß.

Und in der Mitte der Grube, umringt von den vier Gräben, ragte eine kegelförmige Pyramide aus Stein mit steilen Seiten auf.

Die Spitze der Pyramide befand sich vollständig in der Grube unmittelbar unter Jack. An der Seite des Bauwerks schlängelte sich ein schmaler Pfad nach oben zum Gipfel, der einen wunderschönen Altar beherbergte.

Auf dem Altar wiederum befand sich ein prachtvoller Gegenstand.

Eine leuchtende Kristallkugel.

Ungefähr so groß wie ein Volleyball und wahrhaft atemberaubend. Sie strahlte einen unheimlichen goldenen Schimmer ab.

Die Zuschauer auf der Tribüne schnappten hörbar nach Luft und zeigten sich beeindruckt.

Sogar Jack musste zugeben, dass sie einen faszinierenden Anblick bot. Sie schimmerte trotz des grellen Scheins der Flutlichter. Betörend. Geradezu hypnotisierend.

Über die gesamte Grube und die Pyramide spannte sich ein Maschendrahtgeflecht.

Es erinnerte an ein gigantisches horizontales Spinnennetz aus angelschnurähnlichen Drähten und erstreckte sich an acht Stahlarmen entlang nach außen.

Die Funktion war offensichtlich: Hades und seine Gäste konnten durch das Netz in die Grube sehen, die Wettstreiter könnten jedoch nicht aus ihr entkommen. Unmittelbar vor Jack und den 15 anderen Kämpfern klafften kleine, in das Drahtgeflecht geschnittene Portale.

Ein weiteres Merkmal der Grube erregte Jacks Aufmerksamkeit: der Ausgang.

Direkt über der Kristallkugel an der Spitze der Pyramide befand sich ein Kranarm aus Metall, der von der Drahtgitterdecke hing.

Über den Kranarm, der sich über die gesamte Breite der Grube erstreckte, könnte man den anscheinend einzigen Ausgang erreichen.

Als Vacheron das Wort ergriff, wandte er sich an die Gäste auf der königlichen Bühne statt an die versammelten Kämpfer.

»Die zweite Herausforderung für unsere Helden ist ein einfaches Wasserlabyrinth. In der Mitte befindet sich eine der neun goldenen Kugeln der Altvorderen. Der Recke, der das Wasserlabyrinth mit der goldenen Kugel in seinem Besitz verlässt, gewinnt die Herausforderung und erhält die übliche Belohnung.«

Eigentlich recht simpel, dachte Jack. Abgesehen davon, dass er dort unten nirgendwo Wasser sah. Und was mochte die »übliche Belohnung« sein?

»Allerdings ist Eile angeraten«, fügte Vacheron hinzu, »denn der letzte Recke, der die Grube verlässt, wird mit dem Tod belohnt.«

Das ist nicht gut, ging Jack durch den Kopf.

»Natürlich«, sagte Vacheron, »wären es nicht die Großen Spiele, wenn wir keine großen Jäger hätten.«

Das entlockte den versammelten Gästen angeregtes Gemurmel.

Zwei hoch aufragende, maskierte Gestalten erschienen neben Hades auf der Bühne.

Eine trug Schwarz, die andere Weiß.

Auf den ersten Blick ähnelten sie mit ihren zeremoniellen Helmen dem Minotaurus, den Jack in seiner Zelle getötet hatte. Aber als er sie genauer betrachtete, stellte er deutliche Unterschiede fest.

Zum einen waren sie wesentlich größer als die Minotauren. Vermutlich überragten sie Jack um gut und gern 15 Zentimeter. Und es handelte sich nicht um behaarte Halbmenschen, sondern um Männer.

Dann die Helme.

Sie sahen zwar hochmodern und furchterregend aus, stellten aber keine Stierköpfe dar. Stattdessen hatte man sie wie männliche Löwenköpfe mit wallenden Mähnen gestaltet.

Im Gegensatz zu den kleineren Minotauren traten diese beiden maskierten Männer nicht mit nacktem Oberkörper auf. Sie trugen leichte Körperpanzerung: Brustpanzer, Schulterplatten, Kampfhosen, Stahlkappenstiefel. Nur die muskulösen Arme waren unbedeckt.

Vacheron deutete auf sie. »Ich präsentiere: die bedeutendsten Jäger von Fürst Hades, Chaos und Furcht. Während sich die Recken durch das Labyrinth kämpfen, werden sie von Chaos und Furcht gejagt. Es gibt keine Regeln außer der uralten Regel der Arena: Ein Recke darf behalten, was immer er vom Schlachtfeld mitnehmen kann, sei es eine Waffe, ein Schatz oder auch eine grausige Eroberungstrophäe. Viel Glück an alle. Beginnt!«

Bei Vacherons abschließendem Befehl ertönte ein gewaltiger Lärm, und zu Jacks Verwirrung ereigneten sich mehrere Dinge gleichzeitig.

Aus den Rohren in der Außenwand des obersten Grabens schossen reißende Wasserströme hervor.

Alle 15 Kämpfer neben Jack preschten wie Sprinter bei den Olympischen Spielen los und sprangen durch die Portale im Drahtgeflecht in den ersten Graben.

Jack zögerte.

Aber was für eine Wahl hatte er denn? Er schaute hinauf zu der vergitterten Geiselzelle, in der Lily, Alby und Sky Monster bange zu ihm herabstarrten. Wenn er nicht mitmachte, würden sie sterben.

Pfeif drauf, dachte er, setzte seinen Stierhelm auf und sprang in das Labyrinth hinab.

DER ERSTE GRABEN

Jack landete in einem grauen Steingraben, in dem bereits knietief Wasser schwappte.

Von allen Seiten drangen Geräusche auf ihn ein.

Klirr! Klirr! Klirr! Die Tore der Portale in der Drahtdecke über ihm schwangen zu.

Das Tosen des aus den großen Rohren schießenden Wassers erfüllte seine Ohren. Tausende Liter strömten jede Sekunde in den Graben.

Der nicht besonders breit war, vielleicht gerade mal für zwei Personen nebeneinander. Daher füllte er sich rasch. Mit einer Tiefe von über zwei Metern ragte der Graben deutlich höher als Jacks Kopf auf.

Er sah einige der anderen Kämpfer in der Nähe.

Sie vergeudeten keine Zeit.

Alle kletterten die Innenwand des gekrümmt verlaufenden Grabens hoch und versuchten, die nächstniedrigere Ebene zu erreichen, bevor diese überflutet wurde.

Und plötzlich begriff Jack das Konzept hinter der Grube klar. Sobald sich ein konzentrischer Graben vollständig mit Wasser füllte, würde es in den nächsten hinüberlaufen, dann in den übernächsten.

Aber sobald das Wasser den untersten Graben erreichte, würde es beginnen, wieder aufzusteigen. Es würde die gesamte Grube ausfüllen und letztlich die Pyramide verschlingen, bevor es bündig mit dem Drahtgeflecht darüber enden würde.

Wenn man sich nicht rechtzeitig den Weg durch die Gräben nach unten bahnte und danach die Pyramide bis zum Ausgangskran hochkletterte, würde man ertrinken, sobald das Wasser oben ankäme.

Nicht zum ersten Mal fühlte sich Jack wie ein Kind, das unvorbereitet zu einer Prüfung in die Schule gekommen war. Alle anderen schienen zu wissen, was zu tun war. Nur er nicht.

Das Wasser stand ihm bereits bis zu den Hüften.

Einen Moment lang dachte Jack, er könnte einfach warten, bis das Wasser weiter anstieg, und sich über den Rand des Grabens tragen lassen. Dann jedoch fielen ihm die beiden Jäger mit den Löwenköpfen ein. Er durfte nicht trödeln.

Jack tat es den anderen gleich und setzte dazu an, die über zwei Meter hohe Innenwand des Grabens zu erklimmen …

… da bemerkte er, wie etwas aus einem der Rohre mit dem Wasser in den Graben schwappte. Etwas Großes mit einem hässlich grünen, gefleckten Körper.

Was immer das Tier sein mochte, es verschwand in den schwappenden Wellen.

»Das kann nichts Gutes verheißen«, sagte Jack laut.

Er hechtete die Wand hoch und tastete mit den Fingern nach einem Halt. Etwas Großes streifte in dem Moment sein Bein, als er es aus dem Wasser hievte, und fiel als ungelenker Haufen über die Mauerkrone in den nächsttieferen Graben.

DER ZWEITE GRABEN

Jack landete hart auf dem trockenen Steinboden des zweiten Grabens. Beim Aufprall verrutschte der Stierhelm. Er nahm ihn ab, schaute auf …

… und erblickte einen der beiden goldbemalten Minotauren, der mit einem Messer auf ihn zustürmte!

Jack hob das eigene Messer an, das er seinem ursprünglichen Angreifer in der Zelle abgenommen hatte, und wehrte damit den Angriff ab, dessen Wucht ihn zurückdrängte.

Das musste wohl zu den nicht vorhandenen Regeln dieser Spiele gehören, dachte Jack. Offenbar stand es den Kämpfern frei, jederzeit einen ihrer Konkurrenten zu töten. Immerhin erhöhte man mit jedem Gegner weniger die Chance auf den eigenen Sieg.

Der goldene Minotaurus holte erneut mit dem Messer aus, und Jack blockte den Hieb ab.

Mit ohrenbetäubendem Getöse schoss das Wasser aus den riesigen Rohren dieser Ebene, die sich ebenfalls rasant füllte.

Der goldene Minotaurus stürmte weiter an, schwang das Messer und stach damit zu. Jack musste weiter und weiter zurückweichen, während er sich der ungestümen Angriffe verzweifelt erwehrte.

Allerdings geriet er dabei in einen der mächtigen Wasserstrahlen aus den Rohren, rutschte aus und fiel.

Siegessicher wollte sich der Minotaurus durch den Wasserstrahl auf Jack stürzen – und in dem Moment schoss ein weiteres großes Tier aus dem Rohr, prallte gegen den Minotaurus und riss ihn von den Beinen.

Jack stützte sich auf die Ellbogen und beobachtete, wie irgendein riesiger, bestimmt zweieinhalb Meter langer Fisch den überrumpelten Minotaurus bestürmte.

Der Helm des Halbmenschen löste sich vom Kopf, und er schrie auf, als der Fisch nach ihm schnappte.

Dann stach der Minotaurus mit dem Messer auf seinen schuppigen Angreifer ein, und Blut verteilte sich im Wasser.

Während die beiden platschend miteinander kämpften, konnte Jack einen genaueren Blick auf das Tier werfen.

Es handelte sich tatsächlich um einen Fisch. Einen der wohl hässlichsten der Welt.

Und er lieferte ihm sogar einen Hinweis darauf, wo er sich befinden könnte.

Es war ein Vertreter der Gattung der Teufelswelse, Bagarius yarrelli. Jack erkannte es am flachen Kopf, dem langen grünlichen, gefleckten Körper, den verheerenden Zähnen und vor allem an den hässlichen »Barteln« – strähnigen Bartfäden, die wie Schnurrhaare einer Katze von der Schnauze ragten.

Der Riesenwels war in Südasien beheimatet, von den Sümpfen Vietnams bis hin zu den Deltas Pakistans und den Flüssen Indiens.

Bin ich irgendwo in Südasien?

Im Augenblick spielte es allerdings keine Rolle. Als der nunmehr unbehelmte, goldene Minotaurus die Oberhand über den Fisch erlangte, begann das Wasser aus dem ersten Graben in diesen überzulaufen, der sich prompt noch schneller füllte. Der Minotaurus ignorierte Jack und sprang über die Innenwand in den nächsten Graben hinab.

»Verdammt, das nimmt kein Ende«, stieß Jack hervor, sprang ebenfalls die nächste Wand hoch, stützte sich auf die Ellbogen, hievte sich darüber und ließ sich fallen.

DER DRITTE GRABEN

Jack landete mit einem Platschen im dritten Graben, durch den bereits Wasser floss.

Der unbehelmte, golden bemalte Minotaurus huschte nach links davon. Von anderen Kämpfern fehlte jede Spur. Jack vermutete, dass sie durch seinen Kampf gegen den Minotaurus einen satten Vorsprung herausgearbeitet hatten.

Er stand auf … und erblickte einen der löwenköpfigen Jäger, den schwarzen, Chaos. Er kam gerade um die Biegung rechts und hob eine an seinem Unterarmschützer montierte Armbrust an.

Die Waffe feuerte … Jack hechtete instinktiv weg … und der Bolzen pfiff an ihm vorbei.

Jack landete im Wasser, hob den Kopf, um nach Luft zu schnappen – und ein Riesenwels raste auf ihn zu. Er rollte sich erneut weg, und der Fisch schnellte an ihm vorbei.

Jack kam auf dem Rücken zum Liegen, trieb halb im Wasser, Gesicht und Füße nach oben.

Der als schwarzer Löwe verkleidete Jäger kam weiter auf ihn zu und hob die Armbrust des anderen Unterarmschutzes an.

Jack hatte keine Möglichkeit, sich zu verteidigen.

Der Jäger schoss.

Flupp!

Der Bolzen schlug in den Absatz von Jacks linkem Stiefel ein – dem zu großen Schuhwerk, das er vom ersten Minotaurus erbeutet hatte. Der Absatz erwies sich als dick genug, um den Bolzen abzufangen, und Jack blieb zu seiner Verblüffung unverletzt.

Jack vermochte nicht zu sagen, wer überraschter war – der schwarze Löwenmensch oder er.

Allerdings hatte er nicht vor, zu bleiben und es herauszufinden.

Als das Wasser über die Innenwand des Grabens zu fließen begann – und mit einem aus dem linken Absatz ragenden Armbrustbolzen –, hechtete er linkisch in den vierten und letzten Graben hinab.

DER VIERTE GRABEN

Wieder landete Jack im Wasser, nur diesmal stand es hüfthoch. Der Graben füllte sich immer schneller.

Über ihm ragte die Pyramide auf, der einzige Ausweg.

Die anderen Kämpfer hatten einen deutlichen Vorsprung. Sie erklommen bereits die Pyramide, entweder über die spiralförmig an der nahezu senkrechten Außenseite des Bauwerks verlaufende Rampe oder über jeglichen Halt, den sie entlang der Seiten zum Klettern fanden.

Großer Jubel erhob sich, als der führende Kämpfer den Gipfel erreichte, die Kristallkugel ergriff und emporstreckte. Er war ein großer Kerl mit kantigem, von rötlichen Stoppeln bedecktem Kiefer. Mit seiner kugelsicheren Jacke, einem leichten Hockeyhelm und den Kampfstiefeln sah er für Jack nach einem Navy SEAL oder SAS-Soldaten aus.

Der Soldat mit den rötlichen Bartstoppeln hechtete in den Kranarm über der Pyramide und kroch durch ihn hindurch zum Ausgang, wo ihn weiterer Jubel der Zuschauer erwartete.

Jack fluchte.

Kein Jubel für mich. Ich kann schon froh sein, wenn ich’s lebend aus dieser Grube schaffe.

Er streckte sich nach dem nächstbesten Halt an der Wand der Pyramide – als er plötzlich spürte, wie sich etwas um seinen rechten Fuß schloss und ihn mit einem Ruck unter Wasser zog.

Ein Riesenwels hatte seinen rechten Stiefel fest im hässlichen Maul!

Jack holte mit dem linken Bein aus und trat kräftig zu, bis er dem Wels den aus dem Absatz des Stiefels ragenden Armbrustbolzen ins Auge rammte.

Der Fisch ließ ihn los, und Jack tauchte keuchend auf.

Plötzlich stürzten gewaltige Wassermassen über die Grabenwand und ergossen sich als durchgehender Schwall auf ihn. Mittlerweile ergoss sich das Wasser aus allen drei höheren Gräben auf die unterste Ebene.

Innerhalb eines Herzschlags stand Jack bis zum Hals in schwappendem Nass.

Es fühlte sich an, als würde er vom Wasser selbst gejagt.

Er streckte sich wieder nach den in die Pyramidenwand gehauenen Handgriffen und begann so schnell wie möglich hinaufzuklettern.

ERKLIMMEN DER PYRAMIDE

Klatschnass, schwer atmend und mit zittrigen Fingern kämpfte sich Jack die nahezu lotrechte Pyramide hinauf, verfolgt von den Wassermassen, die schneller anstiegen, als er klettern konnte.

Sie wanderten seinen Körper hoch, über die Knie, dann zum Gürtel, schließlich über die Rippen.

Jack schaute unterwegs nach oben, um zu sehen, wie weit er es noch hatte. Dabei blitzte in seinem Sichtfeld etwas Weißes auf, das von der letzten Grabenwand auf die Seite der Pyramide sprang.

Der weiße Jäger mit dem Löwenkopf.

Voll Grauen beobachtete Jack, wie der weiße Löwe – Furcht – über ihm auf der Pyramide landete und das Fußgelenk eines der anderen kletternden Kämpfer packte. Es handelte sich um den mit Goldfarbe bemalten Minotaurus, der zuvor beim Kampf gegen den Wels seinen Helm verloren hatte.

Dann ließ sich Furcht absichtlich von der Pyramide fallen und riss den goldenen Minotaurus mit.

Sowohl der weiße Löwe als auch der Minotaurus stürzten am Bauwerk herab und platschten unmittelbar neben Jack ins Wasser.

Der Minotaurus tauchte mit rudernden Armen zuerst auf und versuchte, zurück zur Pyramide zu schwimmen.

Jack beobachtete aus kurzer Entfernung, wie der Jäger namens Furcht den Minotaurus packte, unter Wasser zog und festhielt.

Kurz schwappte das Wasser über Jacks Kopf, und im gedämpften Unterwasserspektrum hörte er die mechanischen Laute eines Atemreglers.

Da wurde ihm klar: In dem löwenschädelförmigen Helm, den Furcht trug, musste irgendeine Atemvorrichtung eingebaut sein.

Es war kein fairer Kampf.

Furcht würde den goldenen Minotaurus unter Wasser halten, bis er ertrank …

Kaum hatte Jack der Gedanke ereilt, platschte auf seiner anderen Seite etwas Großes ins Wasser, und eine starke Hand packte ihn am rechten Stiefel.

Es handelte sich um den anderen Jäger, den schwarzen Löwen namens Chaos.

Mit einem kraftvollen Ruck zog er Jack nach unten, dem gerade noch Zeit für einen letzten tiefen Atemzug blieb, bevor er versank.

Unter Wasser.

Im Vergleich zum rauschenden Tosen über der Oberfläche herrschte eine bedrückende Stille.

Jack erblickte unter sich Chaos, der seinen rechten Stiefel umklammerte und selbst dank der Sauerstoffzufuhr in seinem Helm atmete.

Neben sich sah er den goldenen Minotaurus, der sich im Griff des weißen Löwen namens Furcht verzweifelt wehrte, bis er schließlich erschlaffte und tot im Wasser trieb.

Jack versuchte, den aus seinem linken Absatz ragenden Armbrustbolzen wie zuvor bei dem Wels einzusetzen. Er zielte mit einem Tritt auf Chaos’ Kehle, allerdings prallte der Pfeil vom dicken Halsschutz des Jägers ab …

Herrgott noch mal …

Chaos umklammerte weiterhin seinen anderen Stiefel.

Jack zappelte, wand sich und trat mit aller Kraft aus, bis sich der zu große rechte Stiefel mit einem Ruck vollständig löste.

Geistesgegenwärtig stemmte er den nackten Fuß gegen Chaos’ Löwenhelm und stieß sich davon ab. Jack schoss nach oben, brach durch die Oberfläche und schnappte gierig nach Luft.

Als Jack auftauchte, befand er sich dank des nach wie vor rasant steigenden Wassers bereits bei drei Vierteln des Wegs die Pyramide hinauf.

Was gut und schlecht war. Gut, weil er sich dem Gipfel deutlich näher als zuvor befand. Schlecht, weil ihn das Wasser bei dem Tempo überholen würde und er erst noch den gesamten Kranarm entlang zum Ausgang kriechen musste.

Er biss die Zähne zusammen. Eiserne Entschlossenheit durchströmte ihn.

Ich werde hier nicht draufgehen.

Ich darf jetzt nicht aufgeben. Ich gebe jetzt nicht auf.

Ich stehe das durch.

Jack streckte sich nach dem nächstbesten Handgriff im Stein und kletterte. Er bewegte sich so schnell er konnte und lieferte sich ein verzweifeltes Wettrennen mit dem steigenden Wasser.

Es würde vor ihm oben ankommen.

Trotzdem machte er weiter.

Das Wasser wirbelte und schwappte um ihn herum. Riesenwelse sausten an ihm vorbei. Die Fische kamen ihm so nahe, dass ihre schnurrhaarähnlichen Barteln seinen Körper peitschten.

Jack erreichte den Gipfel der Pyramide, lange nachdem der letzte andere Kämpfer die Grube verlassen hatte, und im selben Moment wie das ansteigende Wasser. Die gesamte Pyramide, die zuvor stolz aus der Mitte der Grube geragt hatte, war geflutet.

Gerade mal einen Meter entfernt sah Jack den horizontalen Kranarm, der sich über etwa 20 Meter zum Ausgang erstreckte. Unmittelbar darüber verlief das aus Drahtgeflecht bestehende Dach der Grube.

Er hechtete zu dem Kranarm. Das gnadenlos ansteigende Wasser fegte durch dessen Stahlstreben und erfasste den gesamten Kranarm sowie Jack.

Vom Aussichtsbalkon aus betrachtet füllte Wasser mittlerweile die gesamte runde Grube aus.

Der Anblick von oben entsprach dem eines vollkommen runden Teichs, in dem sich niedrige Wellen kräuselten. Unter der Oberfläche sah man die Schemen mehrerer Riesenwelse umhergleiten.

Man ließ Hades’ Jäger, die schwarze und die weiße Gestalt von Chaos und Furcht, durch die Eingangstore hinaus.

Das Wasser beruhigte sich und wurde spiegelglatt.

Von Jack fehlte jede Spur.

Der Kranarm verlief zu einem Loch im Boden der Arena, das längst ebenfalls mit Wasser gefüllt war. Von oben sah es aus wie ein gefluteter Kanaleinstieg.

Neugierig beobachtete Hades die Öffnung.

Die Zuschauer taten es ihm schweigend gleich.

Die anderen, klatschnassen Kämpfer behielten es keuchend ebenfalls im Auge und warteten.

Lily, Alby und Sky Monster starrten aus ihrem Geiselwagen hoch über der Arena mit angehaltenem Atem hinab.

Keinerlei Bewegung.

Nichts.

Kein Jack.

Dann spritzte plötzlich Wasser aus der Ausstiegsöffnung, und Jacks Kopf tauchte auf.

Keuchend, hechelnd, nach Luft schnappend kroch er auf dem Bauch hinaus, von Kopf bis Fuß triefnass in Jeans, T-Shirt und dem einen verbliebenen Stiefel.

Entkräftet rollte er sich auf den Rücken und saugte Sauerstoff ein.

»Fünfter Krieger!«, rief Hades von seinem Balkon. »Du bist als Letzter herausgekommen.«

Jack spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Hatte er die Tortur nur dafür überlebt, dass ihm gleich der Kopf gesprengt wurde?

Hades lächelte.

»Aber ein anderer hat die Grube nie verlassen, einer der beförderten goldenen Minotauren«, fügte er hinzu. »Du bist also zwar als Letzter herausgekommen, aber nicht Letzter bei dieser Herausforderung. Du hast dir das Recht verdient, weiter an den Spielen teilzunehmen.«

Der Ausdruck, mit dem er Jack anlächelte, legte nahe, dass er es immens genoss, ihm eine Heidenangst einzujagen.

Dann drehte er sich dem großen Kerl mit den rötlichen Bartstoppeln zu, der die Kristallkugel hielt.

»Du. Recke. Nenn uns deinen Namen und dein Haus.«

Der Kämpfer nahm den leichten Helm ab. Zum Vorschein kam ein Schädel mit kurz rasiertem orangefarbenem Haar. Er sprach mit kultiviertem britischem Akzent. »Ich bin Major Gregory Brigham, Majestät, vom Special Air Service Ihrer Majestät, dem SAS. Ich vertrete die mächtigen und ruhmreichen Deus Rex, das Königreich Land.«

Hades erklärte: »Du hast die zweite Herausforderung gewonnen und daher Anspruch auf die traditionelle Belohnung: Du kannst dir alles wünschen, was in meiner Macht steht. Du musst es lediglich benennen.«

Major Brigham nickte. Er schien sich der Ehre bewusst zu sein.

Dann deutete er mit dem Finger auf den Kämpfer neben sich, einen Mann mit rasiertem Kopf in der Kampfmontur der amerikanischen Army Rangers.

Brigham verkündete: »Ich hätte gern, dass dieser Gentleman getötet wird.«

Jack fühlte sich wie vom Donner gerührt.

Hatte er richtig gehört? Hatte der Brite gerade die Tötung des Mannes neben ihm verlangt?

Hades zuckte mit den Schultern. »So sei es.«

Er nickte Vacheron zu, der auf seine Fernbedienung drückte.

Platsch!

Der Schädel des Amerikaners zerplatzte und sein kopfloser Körper sackte zu Boden.

Nur Jack schien entsetzt zu sein. Alle anderen um ihn herum nahmen es kommentarlos hin, als hätten sie geradezu damit gerechnet.

Gleich darauf entlud sich tosend ein schwerer Schwall verflüssigten Gesteins in eine der Kammern des Geiselzugs – wohl die mit den Geiseln des toten Rangers – und löschte sämtliche Insassen aus.

Als die grausame Zeremonie vorbei war, wandte sich Vacheron an die Zuschauer. »Die zweite Herausforderung wurde durchgeführt und gewonnen. Wir gewähren unseren Recken eine kurze Verschnaufpause, damit sie ihre Wunden versorgen und mit ihren Unterstützergruppen sprechen können, aber nicht lange. Die dritte Herausforderung wartet bereits.«

Das Publikum jubelte.

Jack erschlaffte vor Erleichterung.

Auch Lily warf vor Erleichterung die Arme um Jack, als er wenige Minuten später den Geiselwagen betrat.

Die beiden Hunde wedelten wild mit den Schwänzen und sprangen an ihm auf und ab. Roxy, das kleinere der beiden Tiere, ein schwarzer Pudel, bellte unverkennbar freudig.

Jack erwiderte Lilys Umarmung, hielt sie fest und schloss dabei die Augen. Mittlerweile war sie wirklich eine junge Frau, schlank und wunderschön, 20 Jahre alt, mit langem rabenschwarzem Haar, olivfarbener Haut und messerscharfem Verstand.

Während er sie festhielt, sah er Alby an.

»Das ist kein Traum, oder?«, fragte Jack.

»Eindeutig kein Traum«, antwortete der junge Mann. »Aber wir sind durch den Spiegel im Kaninchenbau gelandet und mit Sicherheit nicht in Kansas.«

Auch Alby hatte sich stark verändert. Keine Spur mehr von dem kleinen, bebrillten, tauben, dunkelhäutigen Nerd, der er im Alter von elf Jahren gewesen war. Inzwischen war er 21 und trug zwar noch immer eine Brille – ein elegantes randloses Modell – sowie ein dezentes Hörgerät, war aber genauso groß wie Jack.

Nachdem er in den letzten beiden Jahren die High School im Schnellverfahren absolviert hatte, wurde er prompt am Caltech aufgenommen, wo er eine erstaunliche Entwicklung hingelegt hatte. Er war aufgeblüht und sprach mittlerweile mit einer ruhigen Selbstsicherheit, die Jack gefiel.

Sky Monster legte Jack die Hand auf die Schulter. Der große Neuseeländer mit dem buschigen Bart schüttelte den Kopf. »Hades? Die Unterwelt? Gruselige Typen mit Tierhelmen? Was ist das für ein Ort, Jack? Und wie sind wir hier gelandet?«

EIN MÄDCHEN NAMENS LILY

TEIL V

DIE SIMPSONWÜSTE

AUSTRALIEN

In den Jahren, nachdem sie 2008 die Welt gerettet hatten, verlief das Leben für die Mitglieder des Haushalts West schön.

Nachdem Jack herausgefunden hatte, dass er der fünfte der in einer alten Prophezeiung erwähnten »fünf großen Krieger« war, und nachdem er einen schrecklichen Kampf gegen seinen eigenen Vater in einem riesigen Schrein unter der Osterinsel überlebt hatte, fühlte sich das ruhige Leben auf seiner Farm im Outback genau richtig für ihn an.

Lange Morgenspaziergänge, Bücher, Fahrten mit seinem Land Cruiser durch die endlosen Weiten der Wüste und ganz allgemein keine katastrophalen, potenziell weltzerstörerischen Ereignisse – er liebte es.

Kriegsveteranen behaupteten oft einheitlich, wer einmal den Adrenalinrausch eines Kampfs auf Leben und Tod erlebt hatte, würde sich entweder völlig aus der Welt zurückziehen, weil er ihre dümmeren Aspekte nicht mehr ertragen konnte, oder sich prompt in weitere Action stürzen.

Jacks Frau Zoe empfand weitgehend wie er. Jack und sie tranken morgens ihren Kaffee auf der Terrasse und beobachteten, wie die Sonne über dem flachen Horizont aufging. Obwohl es sie, wenn sie ehrlich sein wollte, vielleicht immer noch ein wenig mehr nach Abenteuern juckte als Jack. Zoe flog gern davon, um nachzusehen, wie es alten Freunden bei archäologischen Ausgrabungen an abgelegenen Orten erging, oder um spezielle Seminare in den Elitemuseen der Welt zu besuchen.

Für ihre Adoptivtochter Lily hingegen hatte sich das Leben völlig verändert: Sie war erwachsen geworden.