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Es sind nur noch wenige Tage, bis ein dunkler Zwilling unserer Sonne die Welt zerstört … Jack West und seine Freunde müssen, um den globalen Schutzmechanismus aktivieren zu können, das Rätsel um die fünf größten Krieger der Weltgeschichte lösen. Wer sind diese mysteriösen Kämpfer? Nur die Auserwählten dürfen sich der Macht des Schutzschirms bedienen – und ihn zur Rettung oder zum Schaden der Menschheit anwenden. Von Israel über Japan bis in die letzten unerforschten Winkel der Mongolei reisen Jack und sein Team, um die Welt vor dem Untergang zu bewahren. Der dritter Teil mit den unglaublichen Abenteuern von Jack West. Library Journal: »Fiese Fallen, pausenlose Action und kunstvolle Beschreibungen machen dieses Buch zu einem wahren Pageturner. Ein schwindelerregendes Vergnügen.« Booklist: »Reilly überholt, übertrumpft und überbietet Meister des Abenteuerromans wie Dan Brown, Steve Berry, James Rollins und Clive Cussler.« Booklist: »Bei Reilly fühlt man sich wirklich wieder wie ein Kind. Ein Riesenspaß!«
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Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2022
Aus dem australischen Englisch von Michael Krug
Impressum
Die australische Originalausgabe The Five Greatest Warriors
erschien 2009 im Verlag Pan Macmillan Australia.
Copyright © 2009 & 2010 by Karanadon Entertainment Pty Ltd.
Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Published by arrangement with Rachel Mills Literary Ltd.
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-981-7
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Dieses Buch ist allen
Männern und Frauen gewidmet,
die bei der Australian
Defence Force dienen.
Das Mysterium der Kreise
DER ERSTE
wird der Edelste sein, Gelehrter und Soldat zugleich.
DER ZWEITE
ein geborener Anführer der Menschen,
und niemand wird mehr Ruhm erlangen als er.
DER DRITTE
wird der größte Kriegsherr der Geschichte sein.
DER VIERTE
ist der große Besessene, der nur Ruhm sucht,
aber Ruhm ist eine Lüge.
DER FÜNFTE
wird sich der größten Prüfung stellen
und über aller Leben oder Tod entscheiden.
5000 Jahre alte Inschrift auf der Stele der Sphinx in Giseh, Ägypten, bekannt als »Das Lied der Krieger«.
EIN TÖDLICHER KAMPF
ZWISCHEN VATER UND SOHN.
EINER KÄMPFT FÜR ALLE,
UND DER ANDERE FÜR EINEN.
3000 Jahre alte Inschrift, gefunden an einem chinesischen Schrein in der Wu-Schlucht, Zentralchina.
ALLES IST MIT ALLEM ANDEREN VERBUNDEN.
Lenin
WAS BISHER GESCHAH …
Die fünf großen Krieger ist der dritte Teil der Geschichte, die mit Die sieben tödlichen Wunder begonnen hat und in Die sechs heiligen Steine fortgesetzt wurde.
In Die sieben tödlichen Wunder fand ein unerschrockenes internationales Team unter der Leitung von CAPTAIN JACK WEST JR. den sagenumwobenen Schlussstein der Großen Pyramide von Giseh unter den – weit verstreuten – Überresten der sieben Weltwunder der Antike.
Dafür rettete Jack zuerst ein Mädchen namens LILY und zog es groß. Die Kleine verkörperte zusammen mit ihrem Bruder ALEXANDER das jüngste einer langen Reihe von Orakeln aus Siwa in Ägypten. Danach gelang es Jack, den Schlussstein auf der Spitze der Großen Pyramide zu platzieren, bevor ein seltenes, als Tartarus-Rotation bekanntes Sonnenereignis eintrat.
Jacks multinationales Team umfasste Soldaten aus mehreren kleineren Nationen der Welt. Dazu gehörten: ZOE KISSANE aus Irland; Zahir al Anzar al Abbas aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, von Lily in POOH BEAR umgetauft; Benjamin Cohen aus Israel, mittlerweile bekannt als STRETCH; ein verrückter Pilot aus Neuseeland namens SKY MONSTER und ein abtrünniger amerikanischer U-Boot-Fahrer namens J. J. Wickham, auch bekannt als SEA RANGER.
Forschungserkenntnisse und akademisches Wissen wurden von Jacks langjährigem Mentor und Freund, Professor Max T. Epper, Rufname WIZARD, sowie von zwei jungen schottischen Doktoranden beigesteuert, den rothaarigen Zwillingen LACHLAN und JULIUS ADAMSON – Rufname: die Cowboys.
Wie sich herausstellte, war die Tartarus-Rotation lediglich der Vorläufer eines weitaus bedeutenderen Himmelsereignisses, nämlich der Rückkehr eines »dunklen Sterns«, des Gegenstücks unserer Sonne, ihres dunklen Zwillings. Bei diesem auch als Nullpunktfeld bezeichneten dunklen Stern handelt es sich um eine bewegliche Masse negativer Energie, die alles Leben auf der Erde vernichten wird, wenn sie im März 2008 an den Rand unseres Sonnensystems zurückkehrt.
In Die sechs heiligen Steine wurde festgestellt, dass dieser dunkle Stern genau das tat. Außerdem wurde entdeckt, dass es auf unserem Planeten eine von einer geheimnisvollen alten Zivilisation gebaute Vorrichtung gibt, bekannt als DIE MASCHINE. Wird sie wiederaufgebaut, ist sie in der Lage, die negative Energie des dunklen Sterns abzuwehren und die Welt zu retten.
Dafür müssen jedoch erst sechs prachtvolle, über die Erde verstreute unterirdische »Tempelschreine« gefunden werden, die jeweils die Form einer auf dem Kopf hängenden Bronzepyramide aufweisen und als ECKPUNKT bezeichnet werden. An jedem solchen Eckpunkt muss eine lange verschollene, sogenannte SÄULE platziert werden – ein schillernder rechteckiger Diamant der Größe eines Ziegelsteins: die erste Säule am ersten Eckpunkt, die zweite am zweiten und so weiter. Auch der Verbleib der sechs verlorenen Säulen muss erst geklärt werden.
Diese Mission, das Unterfangen, die Maschine wiederherzustellen, wurde in Die sechs heiligen Steine begonnen.
Dabei stellte sich heraus, dass auch andere Parteien dasselbe Ziel verfolgten, nämlich eine mächtige Dreierallianz, bestehend aus der amerikanischen Caldwell Group, China und Saudi-Arabien.
Die amerikanische Seite dieser Allianz wurde von Jacks Vater angeführt, JACK WEST SR. (bekannt als WOLF), die Chinesen von OBERST MAO GONGLI und die Saudis von einem saudischen Spion namens VULTURE, der eine Zeit lang in Jacks Team mitgearbeitet hatte, bevor er es verriet. Unterstützt wurde Vulture von SCIMITAR, dem älteren Bruder von Pooh Bear, der sich Vulture bei seinem Verrat am Team anschloss.
Durch den Einfluss der zwielichtigen Caldwell Group – einer militärisch-industriellen Organisation, die früher den amerikanischen Präsidenten in der Hand gehabt hatte – befehligte Wolf immer noch eine Spezialeinheit des US-Militärs, die sogenannte Commander-in-Chief’s In Extremis Force, kurz CIEF, die er als Privatarmee benutzte.
Jack und sein Vater hatten sich schon vor langer Zeit einander entfremdet, und im Verlauf des Abenteuers versuchte Wolf in einer geheimnisvollen Mine in Äthiopien skrupellos, Jack zu töten, was jedoch misslang.
Außerdem wurde Wolf von einer Koalition aus drei europäischen Königshäusern unterstützt: Großbritannien, Dänemark und Russland. Vertreten wurde diese Gruppe von der wunderschönen IOLANTHE COMPTON-JONES, die der britischen Königsfamilie angehört.
Schließlich griff auch noch eine teuflische Bruderschaft der im Zweiten Weltkrieg schwer gedemütigten Japaner in das Geschehen ein, wenngleich mit einer völlig anderen Absicht: Diese Leute wollten nicht, dass die Maschine wieder zusammengesetzt wurde. Die Bruderschaft wurde von Wizards ehemaligem Kollegen TANK TANAKA angeführt und wollte die Vernichtung der Welt durch den dunklen Stern als Vergeltung für Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Um ihr Ziel zu erreichen, schleusten sie in Wolfs Team einen der ihren ein, einen japanisch-amerikanischen Marine mit dem Rufnamen SWITCHBLADE.
Nach zahlreichen Abenteuern gelang es Jack schließlich, die erste und die zweite Säule am ersten und zweiten Eckpunkt (in Abu Simbel beziehungsweise nahe Kapstadt) zu platzieren. Allerdings nicht ohne Verluste, denn am Ende von Die sechs heiligen Steine befindet sich das Team in einer verzweifelten Lage.
Eines der Mitglieder – Stretch – wurde von Wolf gefangen genommen und zurück nach Israel zu Stretchs wutentbrannten ehemaligen Arbeitgebern beim Mossad gebracht. Pooh Bear wurde zuletzt gesehen, als er loszog, um seinen Freund von dort zu retten.
Zoe, Wizard und Lily – die eine schreckliche Tortur beim Stamm der Neetha im Dschungel des Kongo überlebt hatten – rasten mit Jacks Flugzeug, der Halicarnassus, in den Süden Afrikas, um Jack beim zweiten Eckpunkt zu helfen.
Sie hatten DIANE CASSIDY dabei, eine amerikanische Archäologin, die sie aus den Händen der Neetha gerettet hatten. Bevor sie dazu kamen, Jack zu helfen, mussten sie mit der Halicarnassus die Flucht ergreifen, verfolgt von feindlichen Abfangjägern.
Ein unerwarteter Zeuge von Jacks erstaunlichem Erfolg am zweiten Eckpunkt war Lilys bester Freund, der zwölfjährige ALBY CALVIN, den Wolf als Gefangenen dorthin mitgenommen hatte. Nachdem Jack die Säule platziert hatte, ließ Wolf den jungen Alby zum Sterben in der dunklen Höhle mit dem zweiten Eckpunkt zurück.
Jack selbst wurde nach dem Platzieren der zweiten Säule – womit er Switchblades Plan vereitelt hatte – zuletzt gesehen, als er mit dem wutentbrannten Switchblade in den unergründlichen Abgrund unter dem zweiten Eckpunkt stürzte.
Um das Schicksal von Jack, Stretch, Pooh Bear, Lily und ihrem Team, die Suche nach den restlichen vier Eckpunkten und das Platzieren der weiteren vier Säulen geht es in Die fünf großen Krieger …
ERSTES GEFECHT
DER FALL EINES HELDEN
SÜDAFRIKA
17. DEZEMBER 2007 TAG DER ZWEITEN FRIST
DER ZWEITE ECKPUNKT
UNTER DEM KAP DER GUTEN HOFFNUNG
SÜDAFRIKA
17. DEZEMBER 2007, 3:25 UHR
Jack West fiel.
Rasant.
Hinab in den schwarzen Abgrund unter der auf dem Kopf hängenden Pyramide des zweiten Eckpunkts.
Im Fallen schaute Jack nach oben und beobachtete, wie die gigantische Pyramide kleiner und kleiner wurde, umrahmt von den zerklüfteten Wänden des Abgrunds.
Neben ihm fiel Switchblade, der japanisch-amerikanische US-Marine, der Wolf kurz zuvor verraten und beinahe seinen Plan vereitelt hätte, die zweite Säule an ihrem vorgesehenen Platz an der Spitze der Pyramide einzusetzen. Wie sich gezeigt hatte, stellte Switchblade sein japanisches Blut über seine amerikanische Erziehung.
Aber nach einem Akt der Verzweiflung und einem erbitterten Kampf über dem Abgrund war es Jack gerade noch gelungen, die Säule an ihren Platz zu rammen, bevor sie beide von der Spitze der umgedrehten Pyramide in die bodenlose Dunkelheit gestürzt waren.
Die felsigen Wände rasten verschwommen vor Geschwindigkeit an Jack vorbei. Da er und Switchblade immer noch ineinander verheddert waren, überschlugen sie sich unbeholfen.
Gleichzeitig hieb und griff Switchblade nach Jack, bevor er ihn am Hemd zu fassen bekam, ihn vernichtend anstarrte und über den Wind hinweg schrie: »Du! Du hast es versaut! Wenigstens weiß ich, dass du mit mir stirbst!«
Jack parierte im Fallen die Schläge des verrückten Marines.
»Nein, hab ich nicht vor …«, entgegnete er entschlossen, versetzte Switchblade einen unverhofften Tritt in die Brust und stieß den selbstmörderischen Verräter von sich. Gleichzeitig schnappte er sich vom Holster am Rücken des Mannes etwas, das jeder Marine der Force Recon bei sich trug.
Seinen Maghook.
Als Switchblade die Vorrichtung in Jacks Händen erblickte, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Er wollte danach greifen, doch mittlerweile befand sich Jack außer Reichweite.
»Nein! Nein!«
Jack drehte sich in der Luft, kehrte Switchblade den Rücken und der Felswand des Abgrunds das Gesicht zu.
Er feuerte den Maghook ab.
Fupp!
Der Hightech-Enterhaken schnellte aus seiner pistolenähnlichen Abschussvorrichtung. Die Metallklauen klappten im Flug schlagartig aus, während der Haken sein 45 Meter langes, verstärktes Nylonseil wie einen peitschenden Schwanz hinter sich herzog.
Die Krallen trafen auf die Wand, schrammten daran entlang, suchten nach Halt, bevor sie sich mit einem Klirren an einer unebenen Stelle verfingen. Abrupt straffte sich Jacks Seil, und sein Fall wurde brutal gebremst. Er musste alle Kraft aufbieten, um sich an der Abschussvorrichtung festzuklammern.
Aber es gelang ihm.
Und als er zur senkrechten Felswand des Abgrunds schwang, sah er als Letztes hinter sich den verdutzten, wutentbrannten, machtlosen und niedergeschlagenen Gesichtsausdruck von Switchblade, der weiter ins schwarze Nichts stürzte. Seine düstere Mission war gescheitert. Und die Erkenntnis, dass Jack West ihn mit einer seiner eigenen Waffen besiegt hatte und er allein sterben würde, verschlimmerte sein Versagen hundertfach.
Jack prallte mit einer Wucht gegen die Wand des Abgrunds, die ihm beinahe die linke Schulter auskugelte.
Stille.
Einen Moment lang baumelte Jack am Seil von Switchblades Maghook hoch über dem Mittelpunkt der Erde und mindestens 300 Meter unter der auf dem Kopf hängenden Bronzepyramide des Eckpunkts. Trotz ihrer gewaltigen Größe wirkte sie im Augenblick geradezu winzig.
Jack schloss die Augen und stieß den längsten Seufzer der Erleichterung seines Lebens aus.
»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, Jack?«, flüsterte er bei sich, schnappte nach Luft und ließ den Adrenalinrausch abklingen.
Beim Geräusch flatternder Federn wirbelte er herum, und plötzlich landete ein kleiner brauner Vogel auf seiner Schulter.
Horus.
Seine treue Wanderfalkendame pickte liebevoll an seinem Ohr, bevor sie den Schnabel an ihn schmiegte.
Jack lächelte erschöpft. »Danke, Vogel. Bin auch froh, dass ich überlebt hab.«
Entfernte Rufe aus der gigantischen Höhle des Eckpunkts ließen ihn nach oben spähen – Wolfs Leute mussten bemerkt haben, dass die Säule platziert worden war. Vermutlich schickten sie gerade Männer los, um den Diamantziegel zu holen.
Jack seufzte. Es bestand keinerlei Hoffnung, rechtzeitig nach oben zu klettern, um ihnen zuvorzukommen, geschweige denn sie aufzuhalten. Er mochte die Welt und ihr Leben gerettet und den Verräter in ihrer Mitte getötet haben, trotzdem würden sie die Beute bekommen: die Belohnung der zweiten Säule, das geheimnisvolle, nur als Wärme bekannte Konzept.
Jack konnte nichts daran ändern.
Er wandte sich an Horus. »Kommst du?«
Damit schaute er zur Pyramide hoch über sich hinauf. Nach einem tiefen Atemzug holte er den Maghook ein, suchte einen Halt an der rauen Oberfläche der Felswand und begann mit dem langen Aufstieg.
Jack brauchte fast eine Stunde nach oben, indem er immer wieder den Maghook abfeuerte und dann die nächsten 45 Meter an dessen Seil hochkletterte.
Es ging langsam voran, weil die Felswand überwiegend lotrecht und glatt war. Manchmal fand der Haken keinen Halt und fiel einfach zu Jack zurück.
Aber nach etwa 50 Minuten hievte sich Jack oben über die Kante einer Brüstung aus Stein, ließ sich am Rand des Abgrunds auf den Rücken plumpsen und blieb ausgestreckt liegen. Seine Brust hob und senkte sich heftig, während er gierig Luft einsaugte. Horus landete anmutig neben ihm.
Als sich Jack schließlich aufsetzte, erblickte er die prächtige unterirdische Stadt mit ihren hohlen Türmen, die sich wie ein Bittsteller vor der auf den Kopf gedrehten Pyramide erstreckte. Die mit pechschwarzer Flüssigkeit gefüllten Straßen verliefen kreuz und quer durch einen regelrechten Wald von Brücken und Türmen. In der Mitte ragte die große Stufenpyramide auf. Und alles wurde vom gelblichen Schein der allmählich erlöschenden Leuchtfackeln erhellt, die Wolf zurückgelassen hatte.
Natürlich lag die gesamte riesige Höhle mittlerweile verlassen da. Wolfs Truppe war längst abgerückt.
Wie Jack bedrückt feststellte, galt dasselbe für seine eigenen Gefährten – die Adamson-Zwillinge und Sea Ranger. Vermutlich hatten sie ihn mit Fug und Recht für tot gehalten und waren mit Sea Rangers Unterseeboot durch den langen unterirdischen Tunnel zurück zum offenen Meer geeilt …
Eine Bewegung. Jack wirbelte herum. Sein Blick heftete sich auf die Spitze der Zikkurat, die sich zwischen all den Türmen abzeichnete.
»O mein Gott …«, stieß er hervor, als er erkannte, um wen es sich handelte.
Dort oben auf der mächtigen Stufenpyramide hockte mit hängendem Kopf und einem Arm in einer Schlinge mutterseelenallein ein kleiner Junge: der beste Freund seiner Tochter, Alby Calvin.
Allein in dieser riesigen Höhle zurückgelassen saß Alby mit seiner schmerzenden, verwundeten Schulter und Jack Wests ramponiertem Feuerwehrhelm auf dem Schoß da. Er hatte bereits jede Hoffnung aufgegeben und wartete darauf, dass die letzten Leuchtfackeln erloschen, als er plötzlich eine Stimme rufen hörte.
»Alby! Aaaal-byyyyyy!«
Abrupt schaute er auf. Frische Tränen liefen ihm über die Wangen, als er drüben am Rand des Abgrunds eine winzige, die Arme schwenkende Gestalt erblickte.
Jack West.
Alby fielen fast die Augen aus dem Kopf.
Jack trat den Weg durch die unterirdische Miniaturmetropole zur Zikkurat in der Mitte an. Wo er konnte, benutzte er dafür Wolfs Bretterbrücken, wo er musste, schwang er sich mit dem Maghook über die breiteren Straßen.
Der schwarze Glibber, der den Boden überall in der Stadt bedeckte, schien eine breiige, schlammartige Substanz zu sein – zähflüssig und klebrig. Wenn man hineinfiele, würde man es nicht wieder heraus schaffen.
Während Jack die Straßen überquerte, versuchte er es am Funkgerät. »Sea Ranger, kommen. Hörst du mich?«
Keine Antwort.
Das kleine Handfunkgerät hatte nicht die nötige Signalstärke, um Sea Ranger in seinem U-Boot zu erreichen.
Auf seine unorthodoxe Weise eilte Jack durch die Stadt in der Höhle.
Schließlich erreichte er den Fuß der Zikkurat und sprang die Stufen förmlich hinauf. Als er oben ankam, rannte er zu Alby, bremste schlitternd ab und umarmte ihn, als wäre er sein eigener Sohn.
Auch Alby legte den heilen Arm um Jack und schloss die Augen, während ihm Tränen über die Wangen kullerten.
»Ich dachte, ich würde hier mutterseelenallein in der Dunkelheit sterben«, wimmerte er.
»Das würde ich nicht zulassen, Alby.« Jack entließ den Jungen aus seiner innigen Umarmung. »Dafür bist du ein zu guter Freund für Lily … und für mich. Außerdem würde mich deine Mutter glatt umbringen.«
Alby starrte ihn an. »Sie sind gerade mit einem Kerl in einen Abgrund gestürzt, der sämtliche Menschen auf der Welt umbringen könnte, und Sie fürchten sich vor meiner Mutter?«
»Und ob. Wenn’s um dein Wohl geht, ist deine Mutter echt Furcht einflößend.«
Darüber lächelte Alby. Dann hob er Jacks Feuerwehrhelm von seinem Schoß und hielt ihn Jack hin. »Ich glaube, das gehört Ihnen.«
Jack nahm den Helm entgegen, setzte ihn auf und zog den Kinnriemen fest. Mit ihm auf dem Kopf fühlte er sich wieder vollständig. »Danke. Der hat mir gefehlt.«
Er deutete mit dem Kopf auf Albys Schlinge. »Und was ist mit dir passiert?«
»Bin angeschossen worden.«
»O mein Gott, deine Mutter wird mich wirklich umbringen. Von wem?«
»Von dem Kerl, der mit Ihnen in den Abgrund gefallen ist. In Afrika, im Reich der Neetha.«
»Vielleicht gibt’s ja doch Gerechtigkeit auf der Welt«, meinte Jack. »Komm, kleiner Freund. Es ist noch nicht vorbei. Wir müssen los. Wir müssen Sea Ranger und die Zwillinge einholen.«
Er zog Alby auf die Beine.
»Wie wollen wir das anstellen?«, fragte Alby.
»Auf die altmodische Art«, erwiderte Jack.
Zusammen eilten sie durch die Stadt in Richtung des Hafens im Nordosten. Dabei rannten sie entweder über Brücken oder sie schwangen sich hinüber – mit Alby huckepack auf Jacks Rücken.
Nachdem sie sich 20 Minuten lang so vorangekämpft hatten, erreichten sie den Hügel mit den Stufen aus Stein, die zum umschlossenen Hafen hinabführten.
»Ich hoffe nur, sie haben den Tunnel noch nicht verlassen und sind im offenen Meer«, sagte Jack, nahm den Helm ab und watete knietief ins Wasser.
Dann begann er, unter der Wasserlinie mit dem Metallhelm gegen die erste Steinstufe zu klopfen.
Ein dumpfes Pochen ertönte. Dreimal kurz, dreimal lang, dann wieder dreimal kurz.
Morsecode, erkannte Alby.
Jack hämmerte weiter mit dem Helm gegen den Stein, diesmal eine andere Botschaft.
»Hoffen wir, dass der Mann am Sonar das Morsealphabet beherrscht«, meinte er.
»Woher sollen die wissen, dass Sie es sind?«, fragte Alby. »Sie könnten es für eine Falle halten – von Wolf, der sie zurücklocken will.«
»Was ich durchgebe, lautet: ›SOS. COWBOYS, KOMMT ZURÜCK.‹ Die Zwillinge haben ihre Spitznamen gerade erst bekommen. Wolf kann sie unmöglich kennen.«
»Und woher wissen Sie, ob man Sie gehört hat?«
Mit dem Helm schlaff in der Hand setzte sich Jack auf die oberste Stufe. »Gar nicht. Wir können nur abwarten und hoffen, dass sie noch nicht außer Reichweite sind.«
Jack und Alby saßen im schwindenden gelben Licht von Wolfs Leuchtfackeln auf der obersten Stufe der Treppe, die sich aus dem uralten ummauerten Hafen erhob.
Die Schatten wurden länger, als die Fackeln nach und nach niederbrannten und ausgingen. Die majestätische unterirdische Stadt und die darüber thronende Pyramide, die so viele Jahrhunderte in Dunkelheit verbracht hatten, würden demnächst wieder in Schwärze getaucht werden.
Und als die letzte Fackel zu flackern begann, legte Jack den Arm um Alby. »Tut mir leid, Junge.«
Die Fackel erlosch.
Dunkelheit umhüllte sie.
Gleich darauf drang ein gewaltiges Rauschen durch die Luft, gefolgt von einem Plätschern und dem Geräusch von rinnendem Wasser.
Zack!
Ein Scheinwerfer strahlte aus der Dunkelheit und erfasste Jack und Alby mit einem grellweißen Lichtkegel, so gleißend, dass sie die Augen abschirmen mussten.
Ein russisches U-Boot der Kilo-Klasse tauchte dunkel und riesig vor ihnen im Wasser auf.
Neben dem Außenscheinwerfer öffnete sich eine Luke, aus der Sea Ranger hervorkam – J. J. Wickham, Jacks langjähriger Freund und Kapitän des Unterseeboots namens Indian Raider. Bei ihm befanden sich die Adamson-Zwillinge Lachlan und Julius, Jacks Experten für Mathematik und Geschichte.
»Jack!«, rief Sea Ranger. »Und du musst Alby sein – Jack hat mir alles über dich erzählt. Tja, dann kommt mal! Steigt ein! Wir waren gerade mitten in einer gelungenen Flucht, als ihr uns zurückgerufen habt. Jack, du kannst uns in allen Einzelheiten schildern, wie du dem sicheren Tod entronnen bist, sobald wir hier raus sind. Los, Bewegung!«
Jack konnte nur lächeln. Er ergriff Albys Hand. Zusammen stiegen sie hinunter ins Wasser und kletterten an Bord des U-Boots.
Eine Stunde später tauchte das Unterseeboot aus dem alten Tunnel auf und pflügte in den Indischen Ozean. Es entging nur knapp einer Fregatte der südafrikanischen Marine, die man zum Patrouillieren der Gewässer vor dem Kap der Guten Hoffnung losgeschickt hatte.
Sobald sie sich in Sicherheit befanden, kam Sea Ranger in Jacks Unterkunft. Jack wechselte gerade den Verband an Albys Schussverletzung.
»Du hast Glück gehabt, es war ein glatter Durchschuss«, erklärte Jack dem Jungen. »Das Projektil hat nur ein bisschen Gewebe herausgerissen. In ungefähr sechs Wochen kannst du den Arm wieder uneingeschränkt bewegen.«
»Was soll ich meiner Mutter sagen?«, fragte Alby.
Jack flüsterte verschwörerisch: »Ich hab gehofft, du lässt mich dir einen Gips anlegen und wir erzählen ihr, du hättest dir den Arm gebrochen, als du von einem Baum gefallen bist.«
»Geht klar.«
»Äh, Jack«, unterbrach Wickham die beiden. »Was machen wir jetzt?«
Jack schaute auf.
»Wir formieren uns neu. Sobald wir in sicherem Funkraum sind, rufst du die anderen an Bord der Halicarnassus an und sagst ihnen, sie sollen sich mit uns auf World’s End treffen.«
»World’s End? Ich dachte, man hat die Insel längst verlassen.«
»Hat man auch. Deshalb ist sie jetzt perfekt für uns. Zoe und Wizard kennen die Koordinaten.«
»Ich kümmere mich darum.« Damit ging Wickham.
Jack schaute ihm grüblerisch nach.
Alby musterte Jack aufmerksam. »Mr. West?«
»Ja?« Jack schüttelte die Gedankenverlorenheit ab.
»Dieser Wolf hat nicht nur die beiden ersten vollständig aufgeladenen Säulen, sondern auch den Feuerstein und den Stein der Weisen. Diese Frau aus England, Iolanthe, sie hat die vierte Säule. Wir haben keine heiligen Steine, keine Säulen, gar nichts. Haben wir den Kampf verloren?«
Jack senkte den Blick auf seine Füße. Schließlich antwortete er: »Alby, wir haben ein völlig anderes Ziel als die. Sie wollen Macht, Stärke und Reichtum. Wir wollen nur, dass sich die Welt weiterdreht. Und solange wir atmen, sind wir noch im Spiel. Kein Kampf ist vorbei, bevor der letzte Schlag ausgeteilt ist.«
KAPSTADT, SÜDAFRIKA
17. DEZEMBER 2007, 6 UHR
Das Patrouillenboot der südafrikanischen Marine steuerte längsseits ein Militärdock im Schatten des Tafelbergs an.
Sobald die Gangway angelegt war, verließ Jack West sr. – Jacks Vater und erbitterter Rivale bei dieser Mission – das Schiff und stieg direkt in eine wartende Limousine. Man kannte ihn als Wolf. Er war Ende 50, stämmig, kraftvoll und Jack West jr. mit dem zerfurchten Gesicht und den eisblauen Augen wie aus dem Gesicht geschnitten, nur 20 Jahre älter.
Wolf wurde von einer fünfköpfigen gemischten Gruppe begleitet. Sie bestand aus Vertretern der Koalition von Nationen und Organisationen, die Wolfs Beteiligung an dem Vorhaben unterstützten, die sechs Säulen an den sechs Eckpunkten zu platzieren. Zu der Koalition gehörten China, Saudi-Arabien, die europäischen Königshäuser und Wolfs eigene amerikanische militärisch-industrielle Truppe, die Caldwell Group.
Für China war Oberst Mao Gongli anwesend. Der als »Schlächter von Tiananmen« bekannte Offizier hatte für das Unterfangen chinesische Waffen und Truppen bereitgestellt. Seine leblosen Augen ließen kaum je Emotionen erkennen, nicht mal wenn er jemandem in den Hinterkopf schoss.
Zusammen mit Wolf vertrat auch sein zweiter Sohn die Caldwell Group, ein kaltblütiger CIEF-Soldat, früher bei der Delta Force. Sein Rufname lautete Rapier.
Der Vertreter Saudi-Arabiens hatte zu Beginn der Mission das Team von Jack West jr. verraten. Der dünne, kantige Mann mit der langen, rattenähnlichen Nase, bekannt als Vulture, war Agent des berüchtigten saudischen Geheimdiensts.
Zu Vulture gehörte ein gut aussehender junger Hauptmann aus den Vereinigten Arabischen Emiraten namens Scimitar.
Der erste Sohn des obersten Scheichs – und somit der ältere Bruder von Pooh Bear – hatte sich Vulture beim Verrat an Jack und Pooh Bear angeschlossen. Er war sogar so weit gegangen, seinen jüngeren Bruder in einer äthiopischen Mine zum Sterben zurückzulassen.
Das letzte Mitglied von Wolfs Gruppe war eine Frau, eine schöne, selbstbewusste Mittdreißigerin: Miss Iolanthe Compton-Jones, die Archivarin der königlichen persönlichen Aufzeichnungen für das Haus Windsor.
Als sie zu sechst in der Limousine auf dem Weg zum Militärflugplatz von Kapstadt saßen, zog Wolf eine glitzernde Säule aus seinem Rucksack und reichte sie Vulture.
»Wie vereinbart, Saudi«, sagte Wolf. »Ich habe die zweite, vollständig aufgeladene Säule, also haben Sie Anspruch auf die erste Säule, ebenfalls aufgeladen.«
Vulture nahm die erste, im Eckpunkt von Abu Simbel aufgeladene Säule entgegen und betrachtete sie voll kaum verhohlener Freude.
Als er antwortete, sah er Wolf eindringlich in die Augen. »Das war unsere Abmachung, Colonel West. Ich danke Ihnen, dass Sie sich daran halten. Viel Glück für den weiteren Verlauf Ihrer Mission. Sollten Sie zusätzliche Unterstützung vom Königreich Saudi-Arabien brauchen, rufen Sie einfach an.«
Die Limousine traf am Militärstützpunkt ein. Sie passierte das Wachhaus ohne Kontrolle und fuhr weiter zu zwei nebeneinander geparkten Privatjets des Typs Gulfstream IV.
Vulture und Scimitar stiegen in einen davon und flogen unverzüglich ab.
Wolf, Rapier, Mao und Iolanthe schauten ihnen nach.
Mao sagte: »Ich traue den Saudis nicht weiter, als ich sie werfen kann. Sie haben vielleicht Geld, aber nicht mehr Ehrgefühl als eine Bande von Wüstenräubern.«
»Sie hatten ihre Verwendung«, meinte Iolanthe schulterzuckend. »Wir haben sie benutzt.«
»Und sie haben geliefert«, fügte Wolf hinzu.
»Und was jetzt?«, fragte Mao.
»Jetzt«, erwiderte Wolf, »haben wir eine Verschnaufpause von etwa drei Monaten, bis nächsten März. Die Zeit werden wir auch brauchen, um den Verbleib der restlichen vier Säulen und die Lage der anderen Eckpunkte zu klären.«
»Die vierte Säule habe ich bereits«, sagte Iolanthe. »Die dritte vermutet man im Besitz der japanischen Kaiserfamilie. Soweit ich weiß, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein Team amerikanischer Agenten losgeschickt, um sie zu finden, hat aber versagt. Stimmt das?«
Wolf nickte. »Hirohito hat sie während des Kriegs versteckt. Wir haben sie nie gefunden. Aber wir gehen davon aus, dass sie noch irgendwo in Japan ist.
»Wir haben also die zweite und die vierte Säule in unserem Besitz«, fuhr er fort. »Die dritte, fünfte und sechste müssen wir noch finden. Außerdem müssen alle vier verbleibenden Eckpunkte aufgespürt werden, bevor die dunkle Sonne nächsten März zurückkehrt. Während wir uns in Afrika herumgetrieben haben, hat mein wissenschaftliches Personal an den Daten aus Stonehenge gearbeitet. Und ich könnte mir vorstellen, dass unser neuer afrikanischer Freund, der Hohepriester der Neetha, auch einzigartige Kenntnisse besitzt.«
»Was ist mit dieser Koalition minderer Nationen?« Mao knurrte. »Diese Gruppe wird von Ihrem ersten Sohn angeführt, dem Australier.«
»Er führt sie nicht mehr an.« Wolf dachte daran zurück, wie Jack in den Abgrund gestürzt war. »Ohne ihn ist die Gruppe zwar geschwächt, aber nicht ausgeschaltet. Die irische Frau ist beeindruckend, wie wir in Afrika festgestellt haben, und Professor Epper ist unverwüstlich. Kurzfristig muss Druck auf die Nationen dahinter ausgeübt werden.«
»Und längerfristig? Was, wenn sie uns wieder über den Weg laufen?«
»Dann vernichten wir sie mit überwältigender Gewalt«, antwortete Wolf.
»Gut«, erwiderte Mao. »Endlich.«
LUFTRAUM ÜBER NAMIBIA
17. DEZEMBER 2007, 6:45 UHR
Die Halicarnassus donnerte durch den Himmel und schwenkte dramatisch, um der Salve von Leuchtspurgeschossen auszuweichen, die um sie herum durch die Luft zischten. Abgefeuert wurden sie von einer F-15 der südafrikanischen Luftwaffe, dem ersten von vier Kampfjets, die der Halicarnassus auf den Fersen klebten.
Die große schwarze 747 raste nach Westen, überquerte die Grenze zwischen der tristen braunen Wüste Namib und dem Atlantik und flog über die blauen Weiten.
Seit fast einer Stunde befand sie sich auf der Flucht. Seit Südafrika – bezahlt von den Saudis – eine Luftpatrouille losgeschickt hatte, um sie abzuschießen. Und in den letzten zehn Minuten, als die Kampfjets die viel größere Maschine eingeholt hatten, war daraus ein regelrechtes Luftgefecht entbrannt.
Die Halicarnassus erwiderte im Flug das Feuer der vordersten F-15 aus einem der an den Innenbereichen der Tragflächen montierten 50-Millimeter-Geschütztürme.
Das nach hinten geschwenkte Steuerbordgeschütz wurde von Zoe Kissane bedient. Sie richtete das Fadenkreuz auf die sie verfolgende F-15 aus und nahm den Kampfjet mit einer vernichtenden Salve von 50-Millimeter-Projektilen unter Beschuss.
Aber der südafrikanische Pilot erwies sich als geschickt und wich dem Kugelhagel mit einer Seitwärtsrolle aus.
»Sky Monster!«, rief Zoe in ihr Funkgerät. »Das ist, als wollte man verdammte Hummeln abschießen! Wie sieht unser Plan aus?«
Sky Monsters Stimme kam aus dem Cockpit: »Sie sind vielleicht kleiner und schneller als wir, aber wir können weiter fliegen. Denen muss allmählich der Treibstoff ausgehen. Der Plan ist also, dass du sie uns vom Leib hältst, während ich uns so weit wie möglich übers offene Meer bringe, bis sie feststellen, dass sie zu wenig Sprudel haben, und umkehren müssen. Wir schlagen sie mit unserer Reichweite.«
Sky Monsters Einschätzung erwies sich als richtig.
Wenige Minuten später feuerte der vorderste südafrikanische Kampfjet eine AIM-9 Sidewinder Luft-Luft-Rakete ab, drehte ein und trat mit seinen Kameraden den Weg zurück zum Festland an.
Zoe erledigte die Sidewinder mit einem gezielten Mikrowellenstoß, der das kuppelförmige Infrarot-Zielsystem der Rakete buchstäblich grillte, und das Geschoss stürzte harmlos ins Meer.
Nach geschlagener Luftschlacht schleppte sie sich müde zum Cockpit der 747, wo sie Wizard und Lily bei Sky Monster antraf.
Merkwürdigerweise grinsten sie, ja strahlten geradezu.
»Zoe«, sagte Wizard. »Sea Ranger hat uns gerade angefunkt. Jack ist am Leben und hat Alby bei sich. Sie sind beide bei Sea Ranger. Wir sollen uns auf World’s End mit ihnen treffen.«
Zoe seufzte vor Erleichterung. »Gott sei Dank. Sky Monster, bring uns dorthin.«
KLEINE McDONALDINSEL
INDISCHER OZEAN
20. DEZEMBER 2007
DREI TAGE SPÄTER
Im Süden des Indischen Ozeans in einer der entlegensten Regionen der Welt befindet sich eine Ansammlung karger Felsinseln.
Die Kerguelen unterstehen Frankreich, während Südafrika Anspruch auf die Prinz-Edward-Inseln erhebt. Noch weiter südlich jedoch – jahrein jahraus von eisigen antarktischen Winden und den stampfenden Wellen der südlichen Meere bestürmt – liegen Heard und die McDonaldinseln. Sie werden Australien zugerechnet.
Eine der Inseln der Gruppe heißt Kleine McDonaldinsel. Auf ihr gibt es keinerlei Fauna und so gut wie keine Flora. Es gibt buchstäblich keinen Grund, sich dort aufzuhalten. Wahrscheinlich wurde die Insel deshalb während des Zweiten Weltkriegs als Nachschubbasis für die australische Marine genutzt, mit Treibstoffdepots, Lagerhallen und sogar einer kurzen Landebahn.
Ende der 1980er-Jahre wurde der Stützpunkt längst nicht mehr wirklich verwendet und Ende 1991 endgültig geschlossen. Ganze Container voll Lebensmittelkonserven und Dieselkraftstoff wurden zurückgelassen, und in 16 Jahren wurde rein gar nichts davon gestohlen. Die Mühe der Anreise lohnte sich schlichtweg nicht.
Daher bemerkte keine Menschenseele das U-Boot der Kilo-Klasse und die schwarze Boeing 747, die zwei Tage nach den dramatischen Ereignissen beim zweiten Eckpunkt auf der Kleinen McDonaldinsel eintrafen.
Natürlich kannten sie das Eiland unter einem anderen Namen: World’s End.
Für Jack und sein Team wurde es ein freudiges Wiedersehen.
Lily stürzte sich in seine Arme und drückte ihn innig, dann rannte sie zu Alby und herzte ihn noch fester.
Auch Zoe und Jack umarmten sich herzlich und hielten sich gegenseitig eine geschlagene Minute lang fest.
»Alby hat mir alles darüber erzählt, was bei den Neetha passiert ist«, sagte Jack leise. »Du musst unglaublich gewesen sein.«
Zoe erwiderte nichts.
Stattdessen schluchzte sie an Jacks Schulter, vergrub den Kopf an seinem Hals und ließ den Emotionen freien Lauf, die sich seit der blutigen Begegnung mit dem geheimnisvollen Stamm afrikanischer Kannibalen in ihr aufgestaut hatten.
Als sie schließlich das Wort ergriff, klang sie heiser. »Lassen wir nächstes Mal jemand anderen die Welt retten.«
Jack lachte und streichelte sanft ihr Haar.
Während er Zoe festhielt, sah er Wizard an. Bei ihm befanden sich die Archäologin und Neetha-Expertin Diane Cassidy sowie der junge Neetha namens Ono, der ihnen bei ihrer Flucht vor dem abgeschieden lebenden Stamm geholfen hatte.
Wizard lächelte. »Mit einem schlichten Sturz bist du offensichtlich nicht umzubringen, Jack.«
»Ganz recht«, bestätigte Jack.
»He.« Lily wirkte plötzlich besorgt und sah sich um. »Wo ist Pooh Bear? Und wo ist Stretch?«
Nach der Wiedervereinigung und der Vorstellungsrunde für die neuen Gesichter in der Gruppe begab sich das Team in eine alte, baufällige Lagerhalle neben dem Rollfeld der Insel. Wasser zum Duschen wurde erhitzt, Konserven wurden geöffnet und gegessen. Jack schilderte den anderen, was ihm vor seiner Ankunft in Kapstadt widerfahren war.
Er erzählte ihnen, was sich in der Mine in Äthiopien ereignet hatte: Vultures und Scimitars Verrat, seine eigene grausame Kreuzigung, die blutige Flucht zusammen mit Pooh Bear und das Abschiedsgeschenk, das sie von den äthiopischen Sklaven erhalten hatten – die sagenumwobenen Zwillingstafeln des Thutmosis.
Jack holte sie aus seinem Rucksack, den er während des Geschehens am zweiten Eckpunkt an Bord des U-Boots gelassen hatte.
Wizard schnappte beim Anblick der Artefakte hörbar nach Luft.
»Wenn Thutmosis tatsächlich Moses war«, sagte er, »dann wären das die Zehn Ge…«
»Ja«, fiel Jack ihm ins Wort.
»Heilige Muttergottes …«
»Und was Stretch angeht«, fuhr Jack fort, »den hat Wolf nicht in die Mine mitgenommen. Er hat ihn zurück zum Mossad nach Israel schicken lassen, um sich das Kopfgeld von 16 Millionen Dollar zu sichern.«
»O nein …«, hauchte Lily.
Jack fuhr fort: »Nach der Flucht aus der Mine in Äthiopien sind wir nach Süden zur alten Farm in Kenia. Aber als ich nach Sansibar zu Sea Ranger aufgebrochen bin, hat Pooh Bear mich nicht begleitet. Er wollte los, um Stretch aus den Verliesen des Mossad zu befreien. Das war vor neun Tagen. Seitdem hab ich nichts mehr von ihm gehört.«
Betretenes Schweigen senkte sich über die Gruppe.
Lily brach es.
»Bei den hängenden Gärten«, erklärte sie für jene, die es nicht wussten, »hat sich Stretch einem Trupp der israelischen Armee widersetzt und mir das Leben gerettet. Er hat uns den Vorzug gegeben, und jetzt lassen sie ihn dafür bezahlen.«
Sie erinnerte sich noch lebhaft daran: Gefangen in rasch ansteigendem Treibsand hatte sie sich auf Stretchs Schultern gestellt, um Nase und Mund über die Oberfläche zu strecken. Er selbst hatte durch den Lauf seines Scharfschützengewehrs geatmet, den er wie einen Schnorchel benutzt hatte.
Alby streute eine Frage ein: »Was macht der Mossad mit israelischen Soldaten, wenn sie die Seiten wechseln und sich gegen ihn stellen?«
Jack warf einen Blick zu Zoe und Wizard. Zoe nickte stumm. Wizard senkte nur den Kopf.
Als Jack schließlich antwortete, sprach er mit leiser Stimme und ernster Miene. »Der Mossad ist nicht gerade für Gnade gegenüber seinen Feinden bekannt. Verrätern wie Stretch blüht die härteste Strafe von allen. Es gibt Geschichten über Hochsicherheitsgefängnisse in der Wüste. Ihre Lage ist streng geheim. Dort werden besondere Gefangene rund um die Uhr bewacht und … misshandelt. Jahrelang.«
»Misshandelt?«, hakte Lily nach.
»Jahrelang?« kam von Alby.
»Selbst wenn es Pooh Bear gelingt herauszufinden, wo man Stretch festhält, wird es nahezu unmöglich, dort einzudringen und mit ihm zu fliehen. Das wäre so, als würde man in Guantanamo einbrechen und mit einem Terroristen flüchten.«
»Das hast du schon mal gemacht, Daddy«, merkte Lily an. »Können wir nicht los und Pooh Bear helfen?«
Jack sah sie traurig an. »Lily. Schatz. Es gibt Operationen, die würde selbst ich nicht versuchen wollen, und das ist eine davon. Es tut mir leid, ehrlich. Aber das müssen wir Pooh Bear überlassen und uns auf die größere Mission konzentrieren. Die Entscheidung fällt mir schwer, das kannst du mir glauben. Aber wenn ich die Möglichkeiten und Erfolgsaussichten abwäge, bleibt mir keine andere Wahl. Es tut mir leid.«
Jack ließ den Kopf sinken. Davor jedoch bemerkte er den Blick, mit dem Lily ihn bedachte – einen Blick, den er noch nie in ihrem Gesicht gesehen hatte. Es war ein Ausdruck tiefster Enttäuschung, und in dem Moment hasste er sich.
»Und was machen wir dann?«, fragte Lily mürrisch.
»Zunächst mal«, erwiderte Jack, »bringen wir Alby zurück zu seiner Mutter nach Perth. Sie wird ausflippen, wenn sie seinen Arm sieht. Und nach Weihnachten schicke ich dich zu ihm. So seid ihr beide eine Zeit lang außer Gefahr.«
»Was?«, protestierte Lily. »Und was ist mit dem Rest von euch?«
»Wir versuchen, die anderen Säulen und Eckpunkte aufzuspüren, bevor die Welt nächsten März untergeht.«
EINE PRIVATE MISSION
DAS VERLIES IN DER WÜSTE
ÄTHIOPIEN – ISRAEL
DEZEMBER 2007VOR UND NACH DER ZWEITEN FRIST
WOLFS MINE
LALIBELA, ÄTHIOPIEN
11. DEZEMBER 2007
EINE WOCHE ZUVOR
Wolf und Mao Gongli verließen die Mine und traten in den strahlenden Sonnenschein.
Es war sechs Tage vor den Ereignissen beim zweiten Eckpunkt.
Wolf hatte gerade mitangesehen, wie sein Sohn Jack West jr. von einer massiven Steinplatte zerquetscht und scheinbar getötet worden war. Auch Pooh Bear hatte er in der Mine zurückgelassen. Er sollte von den fanatisch religiösen Wächtern dort unten geopfert werden.
Oben wartete ruhig und gelassen die Britin Iolanthe. Weniger gelassen wirkte Stretch. Er lag an Händen und Füßen gefesselt mit dem Gesicht nach unten auf der Ladefläche eines Pick-ups, blutend von einer Tracht Prügel, die Augen mit einem schmutzigen Lappen verbunden.
Als Wolf den Pick-up erreichte, stand er eine lange Weile über Stretch und begutachtete ihn.
»Leutnant Benjamin Cohen«, sagte Wolf nachdenklich. »Früher bei Sajaret Matkal, der berühmten israelischen Scharfschützentruppe. Dort haben Sie den Rufnamen Archer erhalten. 2003 zum Mossad versetzt. Wenig später damit beauftragt, das von Jack West jr. geleitete multinationale Team zu infiltrieren und dessen Versuche zu überwachen, die Teile des goldenen Schlusssteins der großen Pyramide zu finden. Aber Sie haben sich einwickeln lassen und sich in Wests Team integriert. Was in einer entsetzlichen Zwickmühle gegipfelt hat, als Sie sich zwischen Ihren neuen Freunden und Ihren alten Herren entscheiden mussten.«
Wolf verstummte kurz. »Und Ihre Wahl ist auf Ihre neuen Freunde gefallen.«
Neben ihm brummte Mao angewidert.
»Deshalb haben Ihre früheren Vorgesetzten beim Mossad Sie zum Staatsfeind Israels der Kategorie 5 ernannt – was normalerweise Ex-Nazis und Terroristenanführern vorbehalten ist. Das Kopfgeld für Sie beträgt 16 Millionen Dollar, und ich werde es mir mit Freuden holen. Sie haben sich falsch entschieden, Leutnant Cohen.«
Mit dem Kopf auf der harten Stahlpritsche des Pick-ups schloss Stretch unter der Augenbinde gequält die Lider.
Eine Träne kam unter der Binde zum Vorschein und lief ihm über die Wange.
Interessanterweise brachte Wolf höchstpersönlich Stretch nach Israel.
Natürlich blieben Stretch für die Dauer der kurzen Reise die Augen verbunden. Unterwegs sprach Wolf vereinzelt über ein Satellitentelefon mit seinem Team in Afrika, das Wizard, Zoe, Lily und Alby durch Ruanda und den Kongo verfolgte.
Für die letzte Etappe der Reise zu seinen früheren Vorgesetzten wurde Stretch mit Drogen betäubt, und seine Welt wurde schwarz.
Als er erwachte, stellte er entsetzt fest, dass er aufrecht in einem telefonzellengroßen Behälter aus dickem Glas hing, die Arme und Beine sternförmig gespreizt an die vier Ecken gekettet.
Er war nackt.
Stretch bemerkte eine Infusionsleitung in seinem rechten Arm. Der dünne, durchsichtige Schlauch verlief durch die offene Oberseite seines quaderförmigen Glassargs hinaus. Seine Ausscheidungen wurden von einer katheterähnlichen Vorrichtung in seiner Leistengegend aufgefangen.
Draußen vor dem Glaskasten unterhielt sich Wolf mit einem älteren Mann, dem Stretch in seiner Zeit beim Mossad nur einmal begegnet war: Mordechai Muniz, der skrupellose frühere Leiter des Geheimdiensts, mittlerweile »offizieller Berater«.
Der kahle, fette, blasse Mann mit den erbarmungslosen schwarzen Augen hatte zu dem Team gehört, das Adolf Eichmann 1960 aus Argentinien entführt hatte. Auch den Drahtzieher der für das Massaker bei den Olympischen Spielen in München verantwortlichen Terrorgruppe Schwarzer September hatte er gefasst – lebend. Seither hatte man den Terroristen nie wieder gesehen. In der Welt der Geheimdienste galt Muniz als Legende und hatte sich seinen Spitznamen »Altmeister« redlich verdient.
Der Mann drehte sich Stretch zu und begutachtete dessen angeketteten, nackten Körper wie ein Großwildjäger einen gefangenen Löwen.
Muniz setzte ein schmales Lächeln auf und entblößte dabei ungleichmäßige, vergilbte Zähne. »Leutnant Cohen. Willkommen zurück in der Heimat. Wissen Sie, manch einer findet, Verräter wie Sie sollten für ihre Verbrechen einfach hingerichtet werden. Aber in den höheren Rängen des Mossad sind wir der Meinung, dass der Tod als Strafe für jemanden wie Sie zu harmlos ist und zu schnell geht. Schließlich sollen Sie ja die Konsequenzen Ihrer Handlungen spüren und ausgiebig darüber nachdenken können, was Sie getan haben.«
Während Muniz sprach, erklommen zwei Techniker Trittleitern auf beiden Seiten des knapp drei Meter hohen Glastanks. Einer fasste von oben herein, stülpte Stretch einen Atemregler über Mund und Nase und befestigte ihn so an seinem Kopf, dass er nicht verrutschen konnte. Der Sauerstoffschlauch des Atemreglers schlängelte sich oben aus dem Tank zu einer an der Rückseite befestigten Pressluftflasche.
Was der zweite Techniker tat, fand Stretch deutlich beängstigender.
Er verlegte einen breiten Feuerlöschschlauch in den Tank, zog an einem Hebel und leitete Liter um Liter einer stinkenden grünen Flüssigkeit in den Glaskasten. Die Brühe breitete sich schwappend um Stretchs Füße herum aus und stieg schnell zu seinen Knien an … zur Taille … zur Brust …
Wumm!
Die beiden Techniker knallten einen dicken Glasdeckel oben auf den offenen Tank und begannen, ihn mit Lötlampen zu verschweißen.
Verschweißen …
Stretch traten über dem Atemregler die Augen aus den Höhlen.
Die schweißen mich in dem Tank ein!
Die widerliche grüne Flüssigkeit stieg höher und höher und erreichte seine Kehle.
Mittlerweile klang Muniz’ Stimme entfernt und blechern. »Nein, Leutnant Cohen. Für Sie ist der Tod als Strafe viel zu gut. Ihr Verbrechen verdient mehr als das. Es verdient anständiges Leiden. Dabei komme ich ins Spiel. Glauben Sie mir, nach einigen Jahren hier unten bei mir werden Sie sich wünschen, wir hätten Sie hingerichtet.«
Und damit schwappte die faulige grüne Flüssigkeit über Stretchs Gesicht. Seine Atmung durch das Mundstück des Atemreglers beschleunigte sich und wurde panisch.
Die Welt um ihn herum verschwamm und wurde von fahlem Grün verschleiert. Stretch konnte gerade noch erkennen, wie sich Muniz und Wolf die Hände schüttelten, bevor Muniz einen Koffer an Wolf überreichte.
Dann ging Wolf.
Muniz kehrte allein zurück.
Mit vor der Brust verschränkten Armen stellte er sich vor seinen Gefangenen und starrte zu ihm hoch, während Stretch nackt in der stinkenden grünen Flüssigkeit hing, eingeschlossen in dem verschweißten Tank aus Glas.
Er konnte sich nicht rühren und hörte nur die eigenen Atemgeräusche im Kopf, während er Muniz’ verschwommene Gestalt beobachtete.
Dann ging der Altmeister zu seinem Schreibtisch, setzte sich unbekümmert hin und telefonierte. Und in einem Moment reinsten Grauens begriff Stretch, wie er den Rest seines natürlichen Lebens verbringen sollte.
RIO DE JANEIRO, BRASILIEN
31. DEZEMBER 2007, 23:58 UHR
Pooh Bear hatte etwa drei Wochen und zwei Millionen Dollar gebraucht, um ihn aufzuspüren.
Geld konnte Dinge wirklich erheblich beschleunigen, fand er. Die Israelis hatten 60 Jahre lang vergeblich versucht, Wolfgang Linstricht zu fassen. Einmal, in Buenos Aires, hatte ihn zwar ein Attentäter des Mossad aufgespürt. Aber Linstricht hatte den Mann mit einem Brotmesser durch die Rippen getötet, nachdem er den Spieß umgedreht und seinen Verfolger seinerseits durch die schmutzigen Gassen der argentinischen Hauptstadt verfolgt und überrumpelt hatte.
In einem anderen Leben war Linstricht Offizier im berüchtigten Nazi-Konzentrationslager Treblinka gewesen. Dort hatte er als Vollstrecker von Franz Stangl fungiert: Wenn der Lagerkommandant anordnete, jemanden zu erschießen, wurde der Befehl von Linstricht ausgeführt, seinem über 1,90 großen, grobschlächtigen Henker.
Als sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die ranghohen Nazis wie Stangl aus dem Staub machten, schlüpfte auch Linstricht durch die Maschen und setzte sich nach Südamerika ab. Seither galt er als unauffindbar.
Wie Pooh Bear herausgefunden hatte, zog Linstricht ständig zwischen südamerikanischen Ländern hin und her, um der Gefangennahme zu entgehen: von Brasilien über Argentinien nach Chile und zurück. Die Entführung Adolf Eichmanns durch die Israelis musste ihm eine Heidenangst eingejagt haben. Aber wie der Vorfall mit dem Mossad-Agenten zeigte, war Linstricht auch mit 86 Jahren und krummer Haltung, um seine Körpergröße zu verschleiern, immer noch tödlich.
Und nun hatte Pooh Bear ihn auf der anderen Straßenseite vor sich, einen alten Mann, der inmitten der Feuerwerke und Feierstimmung der Silvesternacht in Rio mit einer langbeinigen brasilianischen Prostituierten plauderte.
Pooh Bear beobachtete sie aus dem Schatten und blieb ihnen auf den Fersen, als sie zu Linstrichts Hotel zurückkehrten.
Nachdem sich die Wege von Pooh Bear und Jack vor drei Wochen am Flughafen von Nairobi getrennt hatten, war Pooh Bear zunächst in seine Heimat zurückgekehrt, die Vereinigten Arabischen Emirate. Sein vorrangiges Ziel: herauszufinden, wo der Mossad seinen Freund Stretch gefangen hielt.
Außerdem wollte er seinen Vater Anzar al Abbas, den obersten Scheich der Emirate, über den verabscheuungswürdigen Verrat seines Bruders Scimitar informieren.
Doch unterwegs nach Dubai erfuhr Pooh Bear von einem Freund beim Geheimdienst, dass sein Vater erst am Tag zuvor plötzlich verschwunden war. Scimitar hatte den alten Scheich zu sich nach Riad gerufen. Kurz danach war jeglicher Kontakt zu seinem Vater abgebrochen.
Pooh Bears Freund teilte ihm mit, dass sich Dubai derzeit in den Händen der Spießgesellen seines Bruders befand. Somit wäre eine Rückkehr für ihn nicht sicher.
Trotz der Lage in der Heimat hatte es seine Vorteile, der zweitgeborene Sohn des obersten Scheichs der Emirate zu sein. Pooh Bear hatte Kontakte bei internationalen Geheimdiensten und verfügte über erhebliche finanzielle Mittel aus seinem eigenen Treuhandfonds – mehrere Millionen Dollar.
Eine Woche lang telefonierte Pooh Bear herum, stellte Nachforschungen an, bezahlte Schmiergeld und sprach sowohl mit legitimen als auch weniger legitimen Beobachtern des Mossad. Für eine Viertelmillion Dollar erwarb er mehrere von der CIA abgehörte Telefongespräche zwischen hochrangigen Beamten des Mossad.
Nach alledem lautete seine wichtigste Erkenntnis: Benjamin Cohen – früher bekannt als Archer, bis Lily ihn in Stretch umgetauft hatte – war wegen Hochverrats als Staatsfeind Israels der Kategorie 5 eingestuft worden.
Eine Kategorie, die Israel für seine schlimmsten Feinde reservierte.
Doch trotz aller Kontakte, gekaufter Abhörprotokolle und Schmiergelder gelang es Pooh Bear nicht, herauszufinden, wo Gefangene der Kategorie 5 festgehalten wurden. Niemand wusste es. Staatsfeinde niedrigerer Kategorien wurden in Militärstrafanstalten oder Hochsicherheitsgefängnissen untergebracht. Aber nicht solche der Kategorie 5. Falls man sie einsperrte, wusste niemand, wo. Und falls sie hingerichtet wurden, wusste auch niemand, wo es sich vollzog.
Fest stand für Pooh nur, dass von Israel zum Feind der Kategorie 5 erklärte Menschen spurlos vom Antlitz der Erde verschwanden.
Also fasste er einen Plan.
Er würde einen anderen Staatsfeind Israels der Kategorie 5 ausfindig machen und dem Mossad ausliefern – allerdings erst, nachdem er eine Kleinigkeit erledigt hätte.
Seine Zielperson war Wolfgang Linstricht.
Am Himmel über Rio funkelten immer noch Feuerwerke, als Pooh Bear zehn Minuten nach Anbruch des neuen Jahrs die Tür von Zimmer 6 eines heruntergekommenen Hotels in Küstennähe eintrat.
Wolfgang Linstricht sprang nackt aus dem Bett, stieß die Frau von sich und tastete zwischen seiner Kleidung nach einer Waffe – aber Pooh Bear stürmte bereits quer durchs Zimmer und erwies sich als schneller. Auf den betagten Deutschen musste er furchterregend gewirkt haben: ein stämmiger, dunkeläugiger, bärtiger Araber mit olivfarbener Haut, der durch den schäbigen Raum auf ihn zupflügte. Bevor Linstricht seine Waffe ergreifen konnte, trat Pooh ihn zu Boden und rammte ihm einen Elektroschocker in die Rippen.
Linstricht zuckte krampfhaft, bevor er zusammensackte. Die Prostituierte schrie wie am Spieß.
»Verschwinde«, raunte Pooh Bear ihr zu.
Auf dem schnellen Weg nach draußen sammelte sie ihre Kleidung ein, dann blieb Pooh Bear allein über dem bewusstlosen Linstricht in der feuchten Kammer zurück.
Pooh Bear holte eine Kapsel aus der Hosentasche, etwa so groß wie eine gewöhnliche Kopfschmerztablette. Er steckte sie Linstricht in den Mund und drückte ihm die Nase zu, bis er schlucken musste.
Danach rief Pooh Bear den Mossad an.
KERNFORSCHUNGSZENTRUM DIMONA
WÜSTE NEGEV, ISRAEL
10. JANUAR 2008, 5:30 UHR
Zehn Tage später lag Pooh Bear flach auf dem Bauch in den Hügeln mitten in der kargen Wüste Negev in Israel.
200 Meter vor ihm befand sich eine riesige Militäranlage, deren Herzstück eine 20 Meter hohe, silbrig glänzende Kuppel bildete. Um die Kuppel herum verteilten sich ein Dutzend lagerhallengroße Gebäude, zwei Schlote aus Beton sowie eine Ansammlung von Satellitenschüsseln und Funkantennen. An jeder Ecke des Stützpunkts befanden sich Flugabwehrstellungen, rund um die Uhr bemannt, wie Pooh bereits festgestellt hatte.
Es handelte sich um das Kernforschungszentrum Dimona, das Herzstück des israelischen Atomwaffenprogramms, dessen Existenz Israel seit den 1960er-Jahren weder bestätigte noch leugnete.
Wie Pooh Bear sehr genau wusste, besaß Israel durchaus Atomwaffen – etwa 200. Und gebaut wurden sie in Dimona, der am strengsten bewachten Anlage des Landes.
Pooh fand es eigenartig, dass ihn der kapselgroße GPS-Transponder, den er Wolfgang Linstricht hatte schlucken lassen, ausgerechnet hierher geführt hatte. Nachdem der Mossad den Mann aufgrund von Poohs anonymem Hinweis abgeholt hatte, war er nach einem dreitägigen Umweg um die halbe Welt in Dimona gelandet.
Und laut Poohs GPS-Monitor hielt sich Linstricht in einem kleinen bunkerähnlichen Gebäude auf, das halb vergraben in der abgelegenen nordöstlichen Ecke des Stützpunkts lag.
Die Negev-Wüste gehört zu den trostlosesten Gegenden der Welt.
Zwischen den felsigen Hügeln und in den Tälern findet man noch die Ruinen uralter Wegstationen der einstigen Gewürzroute. Auch Steinbrüche und Bergwerke aus der Zeit der Römer sind keine Seltenheit: König Herodes’ riesiges Salzbergwerk Baqaba liegt 40 Kilometer südlich von Dimona, nicht weit von seinem kleineren Schwesterbergwerk Uqaba entfernt. Die Aussicht besteht überwiegend aus bröckelnden Tafelbergen und Kratern. Es ist ein totes Land: groß, leer, uninteressant. In der Wüste Negev wächst nichts.
Pooh Bear hatte vier Tage gebraucht, um in der Nähe der Umzäunung in Stellung zu gehen.
Vier Tage lang war er langsam und vorsichtig gekrochen, um keine Bewegungssensoren auszulösen, hatte unter einer Thermodecke in Tarnfarbe geschlafen, um sich nicht durch seine Wärmesignatur zu verraten, und hatte tagsüber still gelegen, um nicht die Aufmerksamkeit der Wachen zu erregen, die regelmäßig im Umkreis der Anlage patrouillierten.
Einen halben Tag lang hatte er eine Schwachstelle in der Umzäunung gesucht – und sie in Form einer erodierten Spalte bröckligen Gesteins unter dem Zaun an der Ostseite gefunden. In der zweiten Hälfte jenes Tages hatte er den Spalt geduldig so vergrößert, dass er sich unter dem Zaun hindurchschlängeln konnte.
Danach hatte er sich zurückgezogen und auf diesen Morgen gewartet, um loszulegen.
Der Grund: Seinen Informationen zufolge sollte Dimona in der vergangenen Nacht eine große Lieferung angereicherten Urans erhalten. Dabei wurden die Sicherheitsvorkehrungen immer verschärft.
Seine Informationen erwiesen sich als richtig: In jener Nacht erhellten Flutlichter den gesamten Stützpunkt wie ein Fußballstadion, und zusätzliche Wachen patrouillierten an den Zäunen. Gegen Mitternacht fuhr ein Sattelschlepper mit bleiverkleidetem Frachtcontainer, eskortiert von Jeeps mit Maschinengewehren Kaliber 50, durch das Haupttor auf der Westseite der Anlage und steuerte die Lager- und Anreicherungseinrichtung des Stützpunkts an, Machon-2.
An diesem Morgen nach dem reibungslosen Abschluss der Operation wurden die zusätzlichen Wachen abgezogen. Und Pooh hätte zu wetten gewagt, dass sich die Wachleute des Stützpunkts entspannen würden, froh darüber, dass alles ohne Zwischenfall abgelaufen war. Sie würden lockerer sein. Unvorsichtig.
Pooh Bear starrte auf die riesige silberne Kuppel, die vor ihm den Stützpunkt überragte – der Hauptreaktor, bekannt als Machon-1.
Jetzt gilt es, sagte er sich.
In der Morgendämmerung legte Pooh los.
Er schlängelte sich unter dem Zaun hindurch und eilte tief geduckt in Richtung des abgelegenen Bunkers. Ein kleiner Sprengsatz erledigte das Schloss der schweren Stahltür, und Pooh Bear war drin.
Dunkle Betonkorridore und ein noch dunkleres Betontreppenhaus, das tief in die Eingeweide der Erde hinabführte. Plötzlich nahm Pooh einen eigenartigen beißenden Geruch wahr, der ihn die Nase rümpfen ließ. Einen Geruch, der ihn an Formaldehyd erinnerte.
Mit fest umklammerter MP-7 folgte Pooh Bear der blinkenden Anzeige seines GPS-Empfängers, trat aus dem Treppenhaus in einen größeren Raum …
… und sein Mund klappte auf.
»Allah stehe mir bei …«, entfuhr es ihm entgeistert.
Pooh Bear befand sich in einer uralten unterirdischen Kammer, vor über 2000 Jahren von römischen Ingenieuren errichtet. Mehrere Sandsteinbogen und verzierte Säulen beherrschten jede Seite des quadratischen, drei Stockwerke hohen Raums. An einer Seite entdeckte er ein kleines wasserloses Becken, einst ein römisches Bad.
In einem anderen Winkel standen ein großer Schreibtisch und ein Lederstuhl mit hoher Lehne, beides dem Grund für Poohs Entsetzen zugewandt.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Kammer befanden sich in drei Viererreihen innerhalb der römischen Bogen zwölf Wassertanks, jeder ungefähr so groß wie eine Telefonzelle. Jeder Tank enthielt eine hellgrüne Flüssigkeit. Darin trieben, in demütigender, sternförmiger Pose gestreckt, Menschen – nackte Menschen mit Atemreglern, angeschlossen an Infusionen und Ausscheidungsschläuche.
Pooh Bear stellte fest, dass er nicht atmen konnte.
Es handelte sich um eine Art Trophäenwand.
Mit menschlichen, lebenden Trophäen.
Wie ein Dutzend Harry Houdinis, die alle bei dem Trick versagt hatten, sich aus dem Wassertank zu befreien. Aus den Mundstücken stiegen Luftbläschen auf. Einige der Gefangenen blinzelten, trieben hellwach in ihren flüssigen Höllen.
Das also passiert mit Israels verhasstesten Feinden, ging Pooh durch den Kopf.
Dann wurde ihm die Bedeutung des stechenden Geruchs klar: Bei der grünen Flüssigkeit handelte es sich tatsächlich um Formaldehyd oder eine verdünnte Form davon, und Formaldehyd war ein hervorragendes Konservierungsmittel. Diese Männer wurden in ihren Tanks am Leben erhalten und konserviert.
Pooh Bear wurde schlecht.
Schließlich schüttelte er den Gedanken ab und begann, die Tanks nach seinem Freund abzusuchen.
Im ersten Tank entdeckte er Wolfgang Linstricht in der grünen Brühe, die Augen schlafend geschlossen. Im nächsten sah Pooh einen weiteren älteren Weißen, den er nicht kannte. Im dritten trieb ein jüngerer Mann mit dem charakteristisch langen Bart eines islamischen Extremisten. Und im vierten …
… Stretch.
Pooh Bear schnappte nach Luft, als er seinen Freund mit gesenktem Kopf, gespreizten Gliedmaßen und geschlossenen Augen in der grünen Flüssigkeit sah.
Als Pooh gegen die Glaswand des Tanks schlug, öffnete Stretch die Augen. Zuerst kniff er sie in der grünen Brühe zusammen, dann jedoch schien er zu erkennen, dass jemand anders als sonst vor dem Glas stand.
Und als ihm klar wurde, dass es sich um Pooh Bear handelte, riss er die Augen weit auf. Blasen sprudelten explosionsartig aus seinem Atemregler.
»Halt durch«, sagte Pooh Bear, obwohl Stretch ihn unmöglich hören konnte. »Ich hole dich da raus …«
In dem Moment spürte Pooh Bear einen Stich im Nacken.
Als er reflexartig mit der Hand hinfuhr, ertastete er an der Stelle einen kleinen Pfeil.
Dann erschlaffte plötzlich sein Arm, und mit einem Anflug von Grauen stellte er fest, dass er die Gliedmaßen nicht mehr bewegen konnte.
Pooh sackte vor Stretchs Tank zu Boden, als schlagartig alle Kraft aus seinem Körper entwich.
Er hörte eine Stimme.
»Man sollte sich nur in ein Spinnennetz wagen, wenn man wirklich sicher ist, dass die Spinne nicht zurückkehrt, solange man dort ist.«
Eine Gestalt trat in Pooh Bears Blickfeld, ein älterer Mann, kahl, dick, blass und mit einem fiesen Grinsen im Gesicht. Neben ihm befand sich ein israelischer Soldat mit einem Betäubungsgewehr in der Hand.
»Hallo, Zahir al Anzar al Abbas«, grüßte der betagte Mann vergnügt. »Ich bin Mordechai Muniz. Wir beobachten Sie schon seit zwei Tagen mit unseren Wärmebildkameras. Sie haben bei mir und den Wachen des Stützpunkts für immense Unterhaltung gesorgt. Das muss ich Ihnen lassen, Sie sind wirklich ein hartnäckiger Mistkerl. Dass Sie es überhaupt so weit geschafft haben, ist äußerst beeindruckend. Idiotisch, aber beeindruckend.«
Der Altmeister grinste. »Gefällt Ihnen mein lebendes menschliches Dekor? Die verdünnte Formaldehydlösung funktioniert wunderbar – ein fabelhaftes Konservierungsmittel. Obwohl nach etwa zehn Jahren genug durch die Haut eindringt, dass sich die karzinogenen Eigenschaften bemerkbar machen und schmerzhafte Krebserkrankungen bei meinen Gästen verursachen. Diese Technik der ›Lebensgefangenschaft‹ habe ich von einem russischen Freund gelernt, einem ehemaligen sowjetischen General, der eine eigene Sammlung besitzt. Wir haben einen freundschaftlichen Wettbewerb darüber am Laufen, wer mehr Menschen anhäufen kann.«
Pooh Bear konnte sich immer noch nicht rühren.
Muniz zuckte mit den Schultern. »In Anbetracht des langen stillen Lebens, das Ihr Freund noch vor sich hat, haben Sie ihm heute ein seltenes Geschenk gemacht: ein Ereignis. Herzlichen Glückwunsch. Leutnant Cohen darf zusehen, wie Sie vor seinen Augen sterben.«
Pooh Bear konnte nur hilflos auf dem Boden liegen, die Augen weit aufgerissen, die Gliedmaßen nutzlos.
Dann fiel sein Blick in einem Moment einer plötzlichen Erkenntnis auf seine Armbanduhr – die Uhr, die Jack ihm bei ihrem Abschied auf der Rollbahn des Flughafens von Nairobi geschenkt hatte. Laut Jack besaß sie einen GPS-Notsignaltransmitter, den Pooh nur zu aktivieren brauchte, falls er je in Gefangenschaft geriete oder in Gefahr schwebte.
Pooh Bear bot alle Willenskraft auf, um die rechte Hand zum linken Handgelenk mit der Uhr zu bewegen. Doch sosehr er sich auch bemühte, die Hand rührte sich nicht, konnte es nicht.
Die Uhr, seine einzige Möglichkeit, jemandem mitzuteilen, wo er sich aufhielt, blieb unerreichbar.
Niedergeschlagen ließ Pooh den Kopf auf den harten Marmorboden zurücksinken. In dem Moment begriff er, dass sein Rettungsversuch zu Ende war, ein wackerer, aber tollkühner Fehlschlag. Angewidert schloss er die Augen …
… als von irgendwo draußen ein dumpfer Knall ertönte, der sowohl Pooh Bear als auch Mordechai Muniz überraschte.
Überall im Kernforschungszentrum Dimona brach Sirenengeheul los, und blinkende Alarmleuchten gingen an.
Von einem Ende von Machon-2, der Uranlagerhalle neben der Hauptreaktorkuppel Machon-1, stieg eine mächtige schwarze Rauchwolke auf. Die verkohlten Überreste des riesigen Sattelschleppers, der in der Nacht zuvor das Uran angeliefert hatte, standen als qualmendes Wrack an einer der Laderampen des Gebäudes.
Menschen in Uniform und Zivil rannten von der aufsteigenden Rauchsäule weg, so schnell sie konnten. Wenige Minuten später rasten zwei Löschfahrzeuge und drei Jeeps mit Soldaten in gelben Bioschutzanzügen zu der Katastrophe.
Trotz des relativ schlichten Äußeren bildete Machon-2 das wichtigste Gebäude der gesamten Anlage. Bei einer Reihe von mittlerweile berüchtigten Überprüfungsbesuchen amerikanischer Atomwaffeninspektoren zwischen 1962 und 1969 hatten die Israelis eine falsche Wand eingezogen und einen getürkten Kontrollraum errichtet. So hatten sie die vier unterirdischen Ebenen versteckt, in denen sie ihre Atomwaffen bauten.
Ein Unfall dort oder in unmittelbarer Nähe konnte verheerende Folgen haben.
Im Bunker griff Altmeister Mordechai Muniz zum Telefon. »Was ist da los?«
»Wir haben einen Notfall der Stufe 4«, antwortete eine angespannte Stimme am anderen Ende der Leitung. »Das gesamte Personal muss sofort vom Stützpunkt evakuiert werden. Bitte melden Sie sich an Ihrem Treffpunkt zum Appell.«
Muniz legte auf und warf einen Blick zu Pooh Bear auf dem Boden seiner persönlichen Kammer.
Nein, dachte er. Der Araber ist zwar leidenschaftlich, aber nicht annähernd clever genug, um so etwas abzuziehen.
Muniz nickte seinem Leibwächter zu. »Gehen wir.«
Die beiden eilten aus Muniz’ Trophäenkammer, stiegen die Treppe hoch und schoben die schwere Stahltür zum Versteck des Altmeisters auf – wonach der Leibwächter prompt von zwei Schüssen einer Desert Eagle Pistole in der Hand von Jack West jr. niedergestreckt wurde.
Jack trug einen knallgelben Bioschutzanzug mit über die Schulter hängender Kapuze.
Muniz zog blitzschnell die eigene Pistole, doch Jack schoss ihm in den Unterarm, und die Waffe flog davon. Muniz schrie auf, umklammerte den Arm und biss die Zähne mehr vor Wut als vor Schmerz zusammen.
»Guten Morgen, General. Ich bin Jack West jr. und hier, um meine Freunde zurückzuholen.«
In Handschellen und geknebelt wurde Muniz über den Boden seines unterirdischen Verstecks geschleudert, als Jack es betrat.
»Also, das ist mehr als ein bisschen gruselig …«, meinte Jack beim Anblick der Tanks mit den Feinden Israels darin.
Er ging geradewegs zu Pooh Bear und sank neben seinem arabischen Freund auf ein Knie. Pooh Bear bekam kaum noch Luft.
»Jack?«, stieß er atemlos hervor. »Wie?«
»Erzähl ich dir später«, erwiderte Jack. Er holte aus dem Einsatzgurt unter seinem Schutzanzug eine Spritze hervor, die er schnell und präzise direkt in Poohs Herz stach. Abrupt setzte sich Pooh Bear auf und schnappte tief und rasselnd nach Luft. Die Augen traten ihm aus den Höhlen.
»Das Zeug bringt einen morgens besser in Schwung als eine Kanne Kaffee«, kommentierte Jack.
Während sich Pooh sammelte, steuerte Jack bereits auf Stretchs Tank zu. Er blieb davor stehen, nur für einen Moment, der sich jedoch wie eine Ewigkeit anfühlte, während er seinen in der Stille der grünen Lösung treibenden Freund betrachtete, am Leben erhalten durch den intravenösen Tropf, eine lebende, atmende Trophäe.