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Ein tödlicher Zwilling unserer Sonne aus dunkler Materie droht die Erde zu vernichten! Ex-Soldat Jack West und seine Freunde wissen, wie die Katastrophe aufzuhalten ist. Nur wenn sie einen antiken Schutzapparat wieder zusammensetzen, lässt sich das Ende der Welt abwenden. Sie reisen rund um den Globus, von Stonehenge über die Wüsten Ägyptens bis ins ferne China, um alle Teile des Apparates zu bergen. Doch im Wettlauf gegen die Zeit sind Jack und sein Team nicht allein auf der Jagd: Zwei gegnerische Parteien wollen die Bauteile für sich gewinnen und sie nicht unbedingt zum Wohle der Menschheit einsetzen, denn wer den uralten Schutzschirm kontrolliert, beherrscht die Welt … Spektakuläre Fortsetzung des Action-Abenteuers Die sieben tödlichen Wunder mit Jack West. Kirkus: »Ein Videospiel in Buchform.« The Daily Telegraph: »Matthew Reillys Romane sollten mit Gesundheitswarnungen auf dem Umschlag versehen werden … Was für ein wilder Ritt!« Booklist: »Bei Reilly fühlt man sich wirklich wieder wie ein Kind. Ein Riesenspaß!« Das Buch erschien bereits 2009 in Deutschland unter dem Titel Die Macht der sechs Steine.
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Seitenzahl: 523
Veröffentlichungsjahr: 2022
Aus dem australischen Englisch von Michael Krug
Impressum
Die australische Originalausgabe The Six Sacred Stones
erschien 2007 im Verlag Macmillan Australia.
Copyright © 2007 by Matthew Reilly
Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Published by arrangement with Rachel Mills Literary Ltd.
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-979-4
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Für John Schrooten
Ein großer und wahrer Freund
Das Mysterium der Kreise
EIN TÖDLICHER KAMPF
ZWISCHEN VATER UND SOHN,
EINER KÄMPFT FÜR ALLE,
UND DER ANDERE FÜR EINEN.
Anonym
(Aus einer Inschrift, gefunden in einem 3000 Jahre alten chinesischen Schrein in der Wu-Schlucht, Zentralchina)
JEDE AUSREICHEND FORTGESCHRITTENE TECHNOLOGIE IST VON MAGIE NICHT ZU UNTERSCHEIDEN.
Arthur C. Clarke
ES IST ABER NAH GEKOMMEN
DAS ENDE ALLER DINGE.
1. Petrus 4,7
EINLEITUNG
DIE DUNKLE ZEREMONIE
MITTERNACHT
20. AUGUST 2007
ORT: UNBEKANNT
In einer dunklen Kammer unter einer großen Insel in einem der entlegensten Winkel der Welt wurde eine uralte Zeremonie abgehalten.
Ein unbezahlbarer Stein aus Gold – pyramidenförmig mit einem Kristall an der Spitze – wurde an seinen Platz gefügt.
Eine seit Tausenden Jahren nicht mehr gehörte Beschwörung wurde gesprochen.
Kaum waren die Worte verhallt, schoss ein mächtiger violetter Strahl vom sternenübersäten Himmel herab und erleuchtete den pyramidenförmigen Schlussstein.
Die einzigen Zeugen der Zeremonie waren fünf zornige Männer.
Als es vorbei war, sprach der Anführer der Gruppe in ein Satellitenfunkgerät: »Das Ritual ist vollzogen. Theoretisch müsste die Macht des Tartarus gebrochen sein. Das muss getestet werden. Erledigt morgen einen von ihnen im Irak.«
Am nächsten Tag wurde auf der anderen Seite der Welt im vom Krieg zerrissenen Irak ein australischer Spezialist für Sondereinsätze namens Stephen Oakes von Aufständischen erschossen.
Beim Passieren eines Kontrollpunkts wurde er vom wilden Beschuss sechs maskierter Angreifer regelrecht zerfetzt.
Sein Körper wurde von über 200 Einschusslöchern durchsiebt. Seine Mörder wurden nie gefunden.
Dass ein Soldat der Alliierten während der Besetzung des Irak ums Leben kam, war nichts Neues. Dasselbe Schicksal hatte dort bereits über 3200 amerikanische Soldaten ereilt.
Ungewöhnlich daran war vielmehr, dass es sich bei dem Toten um einen Australier handelte.
Denn kurioserweise hatte es seit März 2006 keinen einzigen australischen Toten mehr in irgendeinem Krisengebiet weltweit gegeben.
Aber mit dem Tod von Specialist Steve Oakes am 21. August 2007 fand das unheimliche Glück der australischen Truppen ein blutiges und unumkehrbares Ende.
Am Tag danach wurde eine verschlüsselte Nachricht an einen der mächtigsten Menschen der Welt übermittelt.
Sie lautete:
SICHERE ABSCHRIFT 061-7332/1A
SICHERHEITSSTUFE: ALPHA-SUPER
NUR FÜR A-1 PERSÖNLICH
22. August 2007
BEGINN DER SICHEREN NACHRICHT:
Beachten Sie den Tod des australischen Soldaten Oakes im Irak. Die Macht des Tartarus ist aufgehoben. Jemand hat den anderen Schlussstein.
Die Karten sind neu gemischt.
Jetzt müssen wir die Steine finden.
ENDE DER SICHEREN NACHRICHT.
PROLOG
HEXENBERG
HEXENBERG
NAHE DER WU-SCHLUCHT, DREI-SCHLUCHTEN-REGION
PROVINZ SICHUAN, ZENTRALCHINA
1. DEZEMBER 2007
Professor Max Epper hing mit Gurtzeug an einem langen Seil in fast völliger Dunkelheit. Er zündete eine Handfackel an, um die unterirdische Kammer zu erhellen, in der er sich befand.
»O mein Gott …«, hauchte er. »Oooo mein …«
Die Kammer war schlichtweg atemberaubend.
Sie bildete einen perfekten, aus dem Gestein gehauenen Würfel mit einer Kantenlänge von vielleicht 15 Metern. Und jeden Quadratzentimeter der Wände bedeckten eingeritzte Inschriften: Buchstaben, Symbole, Bilder, Figuren.
Er musste vorsichtig sein.
Das gelbliche Licht seiner Fackel verriet, dass sich im Boden direkt unter ihm ein Brunnenschacht befand, das perfekte Pendant der Öffnung in der Decke. Ein klaffendes, dunkles Loch ungewisser Tiefe.
In manchen Kreisen kannte man Max Epper unter dem Rufnamen Wizard, also Zauberer – ein Spitzname, dem er durchaus gerecht wurde. Mit seinen 67 Jahren, einem üppigen weißen Bart und wässrigen blauen Augen, die von Warmherzigkeit und Intelligenz zeugten, sah er aus wie ein moderner Merlin. Er war Professor für Archäologie am Trinity College in Dublin.
Es hieß, er habe unter anderem einem internationalen Geheimteam angehört, das den goldenen Schlussstein der großen Pyramide von Giseh gefunden und wieder zusammengesetzt hatte.
Wizard ließ sich zum Boden der Kammer hinab, klinkte sich vom Gurtzeug aus und betrachtete staunend die Inschriften an den Wänden.
Einige der Symbole erkannte er – chinesische Schriftzeichen und sogar ein paar ägyptische Hieroglyphen. Wenig überraschend: Immerhin hatte dieses Tunnelsystem vor langer Zeit dem großen chinesischen Philosophen Laotse gehört, der es auch entworfen hatte. Laotse wurde nicht nur als Denker verehrt, er war auch weit gereist. Man wusste, dass er sich im vierten Jahrhundert vor Christus bis nach Ägypten gewagt hatte.
Genau in der Mitte der Wand befand sich ein großes Relief, das Wizard schon einmal gesehen hatte:
Man kannte es als das bisher noch nicht entschlüsselte Mysterium der Kreise. Moderne Beobachter vermuteten darin eine Darstellung unseres Sonnensystems. Allerdings gab es ein Problem mit dieser Interpretation, nämlich zu viele Planeten, die um die Sonne in der Mitte kreisten.
Wizard hatte das Mysterium der Kreise weltweit bisher um die zehn Mal gesehen, unter anderem in Mexiko und Ägypten, sogar in Wales und Irland. Und in verschiedenen Formen: von grob in kahle Felswände geritzt bis hin zu kunstvoll über antike Portale gemeißelt. Aber keine dieser Darstellungen war auch nur annähernd so schön und aufwendig gestaltet wie diese.
Es handelte sich um ein geradezu überwältigendes Exemplar. Mit Rubinen, Saphiren und Jade besetzt. Jeder konzentrische Kreis aus Gold. Es glitzerte im Schein von Wizards leuchtstarker Taschenlampe.
Direkt unter dem Mysterium der Kreise befand sich eine Art Durchgang, vielleicht einen guten halben Meter breit und knapp zwei Meter hoch, aber nicht tief, nur wenige Handbreit in die solide Felswand gehauen. Die Vertiefung erinnerte Wizard an einen stehenden Sarg. Merkwürdigerweise war die hintere Wand gekrümmt.
Darüber prangte ein kleines Symbol, das Wizards Augen vor Freude zum Leuchten brachte:
»Das Zeichen für Laotses Stein …«, hauchte er. »Für den Stein der Weisen. Mein Gott. Wir haben ihn gefunden.«
Inmitten dieser Fundgrube uralten Wissens und unbezahlbarer Schätze holte Wizard ein topmodernes UHF-Funkgerät von Motorola heraus und sprach hinein: »Tank. Du wirst es nicht glauben. Ich habe die Vorkammer gefunden, und sie ist atemberaubend. Außerdem enthält sie einen versiegelten Durchgang. Ich vermute, er führt zum Fallensystem. Wir sind nah dran. Sehr nah. Du musst runterkommen und …«
»Wizard«, wurde ihm das Wort abgeschnitten. »Wir haben gerade eine Meldung von unserem Späher an den Docks unten am Jangtse erhalten. Die chinesische Armee schnüffelt herum. Kanonenbootpatrouille. Neun Boote, unterwegs zu unserer Schlucht. Sie kommen in diese Richtung.«
»Das ist Mao. Wie konnte er uns nur finden?«, murmelte Wizard.
»Vielleicht ist er es ja nicht. Könnte auch eine gewöhnliche Patrouille sein«, sagte die Stimme von Yobu »Tank« Tanaka.
»Was sogar noch schlimmer sein könnte.« Chinesische Militärpatrouillen waren berüchtigt dafür, von archäologischen Expeditionen in dieser Gegend Bestechungsgeld zu erpressen. »Wie viel Zeit bleibt uns noch, bis sie hier sind?«, fragte Wizard.
»Eine Stunde, vielleicht weniger. Ich denke, es wäre klug, nicht mehr hier zu sein, wenn sie kommen.«
»Da stimme ich dir zu, alter Freund«, sagte Wizard. »Wir sollten uns besser beeilen. Komm runter und bring mehr Licht mit. Sag Chow, er soll den Computer hochfahren: Ich fange an, Bilder aufzunehmen und zu ihm hochzuschicken.«
Die unterirdische Kammer, in der sich Wizard befand, lag in der Drei-Schluchten-Region Chinas, einer Gegend, die zu ihm passte.
Zumal das chinesische Schriftzeichen »wu« je nach Zusammenhang »Hexe« bedeutete oder »Zauberer« – genau wie sein Spitzname Wizard. Das Zeichen wurde auch häufig für die geografische Namensgebung in der Gegend verwendet. Beispielsweise für die Wu-Schlucht, die zweite der berühmten drei Schluchten; für Wushan, die alte Festungsstadt, die einst an den Ufern des Jangtse gelegen hatte; und natürlich für den Berg Wushan, jenen kolossalen, über 3000 Meter hohen Gipfel, der über Wizards Kammer aufragte.
Übersetzung: Hexenberg.
Das Gebiet der Wu-Schlucht strotzte vor Geschichte – Schreine, Tempel, Inschriften wie die Kong-Ming-Tafel und in Fels gehauene Höhlen wie die Grünsteinhöhle. Fast alles davon lag unter der Oberfläche des 550 Kilometer langen Sees, der sich hinter den gigantischen Mauern des Drei-Schluchten-Damms gebildet hatte.
Die Gegend war aber auch für bestimmte ungewöhnliche Ereignisse bekannt.
Sie galt als Roswell Chinas und verzeichnete seit Hunderten von Jahren zahlreiche seltsame Sichtungen: unerklärliche Himmelserscheinungen, Schwärme von Sternschnuppen und nordlichtähnliche Erscheinungen.
Es wurde sogar behauptet, an einem schauerlichen Tag im 17. Jahrhundert habe es aus den Wolken über Wushan Blut geregnet.
An Geschichte mangelte es dem Gebiet der Wu-Schlucht wahrlich nicht.
Im 21. Jahrhundert jedoch hatte man diese Geschichte im Namen des Fortschritts ertränkt. Das Wasser des Jangtse hatte sie verschluckt, als sich der mächtige Strom am größten je von der Menschheit errichteten Bauwerk aufgestaut hatte. Die alte Stadt Wushan ruhte mittlerweile 90 Meter unter der Oberfläche.
Auch rauschende Nebenflüsse, die einst über spektakuläre Schluchten in den Jangtse gemündet waren, hatte der weitläufige Stausee gebändigt – statt 120 Meter in die Tiefe zu stürzen, ergossen sie sich nur noch über 30 Meter in ruhiges Wasser darunter.
Winzige, aus Stein errichtete Dörfer an den Ufern dieser kleinen Flüsse, schon damals weit abgelegen, waren mittlerweile komplett aus der Geschichte verschwunden.
Aber nicht für Wizard.
In einer teilweise gefluteten Schlucht tief in den Bergen nördlich des Jangtse hatte er einen abgeschiedenen Weiler auf höherem Gelände entdeckt – und darin den Eingang zu diesem Höhlensystem.
Es handelte sich um eine primitive, uralte Siedlung, nur ein paar Hütten aus unregelmäßigen Steinen und Schrägdächern aus Stroh.
Die Bewohner hatten sie vor 300 Jahren verlassen, und Einheimische hielten sie für verwunschen.
Wegen des hochmodernen, 160 Kilometer entfernten Staudamms stand der verlassene Weiler mittlerweile knietief unter Wasser.
Den Eingang zum Höhlensystem schützten weder irgendwelche Fallen noch aufwendige Tore. Er war vielmehr durch seine Gewöhnlichkeit über zwei Jahrtausende lang geheim geblieben.
Wizard hatte ihn in einer kleinen Steinhütte gefunden, die an den Fuß des Bergs grenzte. In der unscheinbaren kleinen Behausung, die einst der große chinesische Philosoph Laotse bewohnt hatte, Erfinder des Taoismus und Lehrmeister des Konfuzius, verbarg sich ein Steinbrunnen mit einer Umrandung aus Ziegeln.
Und am Grund des Brunnens bedeckte eine Schicht aus abgestandenem schwarzem Wasser einen doppelten Boden, der diese wunderschöne Kammer versteckte.
Wizard machte sich an die Arbeit.
Er holte einen leistungsstarken Laptop von Asus aus seinem Rucksack, schloss ihn an eine hochauflösende Digitalkamera an, klickte drauflos und schoss Aufnahmen von den Wänden der Kammer.
Während die Kamera ihre Bilder erfasste, lief auf Wizards Computerbildschirm eine Reihe rasanter Berechnungen ab.
Es handelte sich um ein Übersetzungsprogramm, eine komplexe Datenbank, die Wizard in jahrelanger Kleinarbeit zusammengestellt hatte. Sie enthielt Tausende uralte Symbole aus vielen Ländern und Kulturen sowie ihre als gültig anerkannten Übersetzungen. Das Programm beherrschte auch »Fuzzy«-Übersetzungen, bestmögliche Vorschläge, wenn die Bedeutung eines Symbols mehrdeutig war.
Jedes von der Digitalkamera aufgenommene Symbol wurde an den Computer übertragen und mit einer Übersetzung versehen. Zum Beispiel:
ÜBERSETZUNG ZEICHEN:Chi tau (Stein) si (Tempel)
ÜBERSETZUNG BEGRIFF: »Tempel aus Stein«
FUZZY-VARIANTEN: »Steinschrein«, »Steintempel der dunklen Sonne«, »Stonehenge« (Katalog-Ref. ER:46-2B)
Unter den anderen Glyphen und Reliefs an den Wänden fand der Computer auch Laotses berühmteste philosophische Erfindung, das Taijitu:
Der Computer übersetzte: »Taijitu; Ref. Tao Te Ching. Westliche Umgangssprache: ›Yin-Yang‹. Verbreitetes Symbol für die Dualität aller Dinge: Gegensätze beinhalten Grundzüge voneinander, zum Beispiel Gutes im Bösen und Böses im Guten.«
Bei anderen Gelegenheiten fand der Computer keine früheren Aufzeichnungen eines Symbols:
In solchen Fällen wurde ein neuer Datensatz erstellt und der Datenbank hinzugefügt, damit es beim nächsten Auftreten des jeweiligen Symbols einen Eintrag geben würde.
So ratterte Wizards Computer vor sich hin und verarbeitete begierig die Bilder.
Nach einigen Minuten erregte eine bestimmte Übersetzung Wizards Aufmerksamkeit. Sie lautete:
DIE ERSTESÄULE* MUSS GENAU 100 TAGE VOR DER RÜCKKEHR PLATZIERT WERDEN.
DER LOHN DAFÜR ISTWISSEN**.
__________________
MEHRDEUTIGE BEGRIFFE:
* »Barren«, »Diamantblock«
** »Weisheit«
»Die erste Säule …«, hauchte Wizard. »Ach du meine Güte.«
Zehn Minuten später, während Wizard weitere Fotos in den Computer speiste, ließ sich eine zweite Gestalt in die Kammer herab.
Es handelte sich um Tank Tanaka, einen stämmigen japanischen Professor der Universität Tokio, Wizards langjähriger Freund und Forschungspartner bei diesem Projekt. Mit seinen sanften braunen Augen, einem freundlichen runden Gesicht und grauen Strähnen an den Schläfen verkörperte Tank einen Professor, wie ihn sich jeder Geschichtsstudent wünschte.
Als er sich auf festen Boden schwang, piepte Wizards Rechner laut, um eine neue Übersetzung anzuzeigen.
Die beiden alten Professoren blickten auf den Bildschirm. Dort stand:
DIE ANKUNFT VON RAS ZERSTÖRER
DIE ANKUNFT VON RAS ZERSTÖRER
BEDEUTET DENSTART* DER GROSSENMASCHINE**
UND DAMIT DEN AUFSTIEG DES SA-BENBEN.
EHRE DEN SA-BENBEN,
BEHALTE IHN NAHE BEI DIR,
DENN ER ALLEIN BEHERRSCHT DIE SECHS,
UND NUR DIE SECHS MIT IHRER MACHT
KÖNNEN DIE SÄULEN BEREITEN,
DICH ZU DEN SCHREINEN FÜHREN UND SO
DIE MASCHINE VERVOLLSTÄNDIGEN
VOR DERZWEITEN ANKUNFT.***
DAS ENDE ALLER DINGE IST NAHE.
__________________
MEHRDEUTIGE BEGRIFFE:
* »Beginn« oder »Auslöser«
** »Mechanismus« oder »Welt«
*** »Rückkehr«
KATALOGREFERENZ:
Ref XR: 5–12, Teilinschrift, gefunden im Kloster Zhou-Zu, Tibet (2001)
»Der Sa-Benben?«, fragte Tanaka.
Wizards Augen wurden vor Aufregung groß. »Das ist eine selten gebrauchte Bezeichnung für das oberste und kleinste Teil des goldenen Schlusssteins der großen Pyramide. Der gesamte Schlussstein wurde Benben genannt. Aber der oberste Teil ist etwas Besonderes. Im Gegensatz zu den anderen Teilen, die alle die Form eines Pyramidenstumpfs haben, ist er eine vollwertige Miniaturpyramide und somit im Grunde ein kleiner Benben. Daher die Bezeichnung Sa-Benben. Der fernöstliche Name dafür ist ein bisschen dramatischer, nämlich Feuerstein.«
Wizard starrte auf das Symbol über der Übersetzung. »Die Maschine …«, flüsterte er.
Aufmerksam betrachtete er die Übersetzung und die Katalogreferenz am Ende. »Jaja, das hab ich schon mal gesehen. Auf einer gesprungenen Steintafel, die man im Norden von Tibet ausgegraben hat. Durch die Beschädigung der Tafel konnte man nur die erste und die dritte Zeile lesen: ›Die Ankunft von Ras Zerstörer‹ und ›Und damit den Aufstieg des Sa-Benben‹. Aber das ist der vollständige Text. Das ist monumental.«
Wizard begann, rasant vor sich hin zu murmeln: »Ras Zerstörer ist Tartarus, der Tartarus-Sonnenfleck … Aber Tartarus wurde abgewendet … Nur … Nur was, wenn das Tartarus-Ereignis etwas anderes ausgelöst hat? Etwas, das wir nicht vorhergesehen haben? Und wenn der Feuerstein die sechs heiligen Steine beherrscht, ihnen ihre Macht verleiht, dann ist er unabdinglich für alles … für die Säulen, für die Maschine und für die Rückkehr der dunklen Sonne – o großer Gott!«
Jäh schaute er mit aufgerissenen Augen auf.
»Tank. Das Tartarus-Ereignis in Giseh war mit der Maschine verbunden. Ich habe nie vermutet … Ich meine, ich hätte … hätte es von Anfang an erkennen müssen, aber ich …« Ein verzweifelter Ausdruck huschte über seine Züge. »Für wann haben wir die Rückkehr berechnet?«
Tank zuckte mit den Schultern. »Zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche nächstes Jahr. 20. März 2008.«
»Was ist mit dem Platzieren der Säulen? Da war etwas über die erste Säule. Hier ist es: ›Die erste Säule muss genau 100 Tage vor der Rückkehr platziert werden. Der Lohn dafür ist Wissen.‹«
»100 Tage.« Tank rechnete. »Das ist … verdammt … Am 10. Dezember dieses Jahr …«
»In neun Tagen«, stieß Wizard hervor. »Großer Gott, wir haben gewusst, dass die Zeit nah ist, aber das …«
»Max, soll das heißen, wir haben nur neun Tage, um die erste Säule zu platzieren? Wir haben die erste Säule ja noch nicht mal gefunden …«, sagte Tank.
Aber Wizard hörte schon nicht mehr zu. Mit glasigen Augen starrte er ins Leere.
Er drehte sich um. »Tank. Wer weiß noch davon?«
Tank zuckte erneut mit den Schultern. »Nur wir. Und wohl auch jeder, der diese Inschrift gesehen hat. Wir wissen von der Tafel in Tibet, aber du sagst, sie war unvollständig. Wo ist sie gelandet?«
»Das chinesische Amt für Kulturgut hat sie in Beschlag genommen und nach Peking gebracht. Seither hat man sie nicht mehr gesehen.«
Tank musterte Wizards stirnrunzelnde Züge. »Meinst du, die chinesischen Behörden haben die anderen Teile der zerbrochenen Tafel gefunden und sie wieder zusammengesetzt? Glaubst du, sie wissen bereits davon?«
Plötzlich richtete sich Wizard auf.
»Was hast du gesagt, wie viele Kanonenboote die Schlucht herauf unterwegs sind?«
»Neun.«
»Neun. Man schickt nicht neun Kanonenboote zu einer Routinepatrouille oder einer gewöhnlichen Erpressung. Die Chinesen wissen Bescheid und haben es auf uns abgesehen. Und wenn sie davon wissen, dann auch vom Schlussstein. Verdammt! Ich muss Jack und Lily warnen.«
Hastig kramte er ein Buch aus seinem Rucksack. Merkwürdigerweise handelte es sich um kein Fachbuch, sondern um die Taschenbuchausgabe eines bekannten Romans. Er blätterte durch die Seiten und schrieb Zahlen in sein Notizbuch.
Als er fertig war, schnappte er sich sein Funkgerät und kontaktierte ihr Boot oben.
»Chow! Schnell, schreib etwas mit und poste es sofort im Forum.«
Wizard übermittelte Chow eine lange Abfolge von Zahlen. »Okay, das war’s. Los! Lade es hoch – sofort, sofort, sofort!«
30 Meter über Wizard dümpelte ein alter, ramponierter Flusskahn zwischen den halb versunkenen Hütten des Bergdorfs im Wasser. Das Boot lag neben der Steinhütte vor Anker, die den Zugang zur unterirdischen Kammer enthielt.
In der Hauptkabine tippte ein eifriger Student namens Chow Ling hastig Wizards Code und veröffentlichte ihn ausgerechnet in einem Forum zu Der Herr der Ringe.
Als er fertig war, funkte er Wizard an. »Der Code ist gesendet, Professor.«
Wizards Stimme drang aus Chows Headset: »Danke, Chow. Gute Arbeit. Jetzt möchte ich, dass du jedes Bild, das ich dir hochgeschickt habe, per E-Mail an Jack West weiterleitest. Danach löschst du alle von der Festplatte.«
»Ich soll sie löschen?«, vergewisserte sich Chow ungläubig.
»Ja. Alle. Jedes einzelne Bild. So viel du kannst, bevor unsere chinesischen Freunde eintreffen.«
Chow arbeitete schnell. Fieberhaft rasten seine Finger über die Tasten, leiteten Wizards unglaubliche Fotos weiter und löschten sie gleich darauf.
Während er wild tippte, entging ihm, wie das erste Kanonenboot der Volksbefreiungsarmee die überschwemmte Straße des Dorfs entlang von hinten heranglitt.
Als eine megafonverstärkte raue Stimme ertönte, erschrak er. »Eh! Zou chu lai dao jia ban shang! Wo yao kan de dao ni. Ba shou ju zhe gao gao de!«
Übersetzung: »Heda! Komm raus an Deck! Bleib in Sichtweite! Nimm die Hände hoch!«
Chow löschte ein letztes Bild, bevor er der Aufforderung nachkam. Er stieß sich vom Schreibtisch ab und trat hinaus aufs offene Vordeck seines Kahns.
Das vorderste Kanonenboot ragte über ihm auf. Es handelte sich um ein modernes, schnelles Fahrzeug mit getarnten Flanken und einem riesigen Buggeschütz.
Chinesische Soldaten mit Colt Commando Sturmgewehren aus amerikanischer Produktion säumten das Deck und hielten die kurzen Läufe auf Chow gerichtet.
Dass sie moderne amerikanische Waffen hatten, war ein schlechtes Zeichen: Es bedeutete, dass es sich um Elitetruppen handelte, um Spezialisten für Sondereinsätze. Gewöhnliche chinesische Infanteristen trugen klobige alte Sturmgewehre des Typs 56 – ein chinesischer Abklatsch des AK-47.
Diese Männer waren nicht gewöhnlich.
Chow hob die Hände – etwa eine Sekunde bevor jemand feuerte, seine gesamte Vorderseite von blutigen Löchern zerfetzt wurde und die Wucht der Einschläge ihn rückwärts schleuderte.
Wizard betätigte sein Funkmikrofon.
»Chow? Chow, bist du da?«
Keine Antwort.
Dann sauste das Gurtzeug, das bisher vom Brunnenloch in der Decke herabgehangen hatte, plötzlich wieder hinauf in das Loch wie eine aufgescheuchte Schlange, von irgendjemandem nach oben gezogen.
»Chow!«, rief Wizard ins Funkgerät. »Was …«
Wenige Augenblicke später geriet das Gurtzeug wieder in Sicht …
… mit Chow daran.
Wizard gerann das Blut in den Adern.
»O du meine Güte, nein …« Er stürmte vorwärts.
Chows Leichnam sank auf Wizards Augenhöhe, fast unkenntlich vor lauter Schussverletzungen.
Wie auf ein Stichwort erwachte plötzlich das Funkgerät zum Leben.
»Professor Epper«, sagte eine Stimme auf Englisch. »Hier spricht Oberst Mao Gongli. Wir wissen, dass Sie dadrin sind, und kommen jetzt rein. Versuchen Sie nichts Dummes, sonst blüht Ihnen dasselbe Schicksal wie Ihrem Assistenten.«
Die chinesischen Soldaten seilten sich schnell und mit chirurgischer Präzision in die Kammer ab.
Innerhalb von zwei Minuten umgab ein Dutzend mit Gewehren bewaffneter Männer Wizard und Tank.
Oberst Mao Gongli folgte als Letzter. Er war 55 Jahre alt und korpulent, bestach jedoch mit kerzengerader Haltung. Wie so viele Männer seiner Generation war er patriotisch nach dem Parteivorsitzenden Mao benannt worden. Einen Einsatzspitznamen hatte er nicht. Nur jenen, den ihm seine Feinde nach seinen Handlungen auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 als Major gegeben hatten – Schlächter von Tiananmen.
Stille breitete sich aus.
Mao starrte Wizard mit gefühlsleeren Augen an. Als er schließlich das Wort ergriff, sprach er klares, abgehacktes Englisch.
»Professor Max T. Epper, Rufname Merlin, jedoch auch als Wizard bekannt. Gebürtiger Kanadier, Professor für Archäologie am Trinity College in Dublin. Verwickelt in den recht ungewöhnlichen Vorfall, der sich am 20. März 2006 auf der großen Pyramide in Giseh ereignet hat. Und Professor Yobu Tanaka von der Universität Tokio. Keine Verbindung zu dem Vorfall in Giseh, aber Experte für antike Zivilisationen. Meine Herren, Ihr Assistent war ein begabter und intelligenter junger Mann. Sie sehen ja, wie viel ich darauf gebe.«
»Was wollen Sie?«, verlangte Wizard zu erfahren.
Mao setzte ein verkniffenes, freudloses Lächeln auf.
»Tja, Professor Epper, ich will Sie.«
Wizard runzelte die Stirn. Mit der Antwort hatte er nicht gerechnet.
Mao trat vor und betrachtete die prunkvolle Kammer, in der sie sich befanden. »Uns stehen große Zeiten bevor, Professor. In den kommenden Monaten werden Reiche aufsteigen und Nationen fallen. In solchen Zeiten braucht die Volksrepublik China kenntnisreiche Männer wie Sie. Deshalb arbeiten Sie ab sofort für mich, Professor. Und ich bin sicher, dass Sie mir mit der richtigen Überredungskunst – in einer meiner Folterkammern – helfen werden, die sechs Ramses-Steine zu finden.«
ERSTE PRÜFUNG
DER FLUG DES FEUERSTEINS
AUSTRALIEN
1. DEZEMBER 2007NEUN TAGE VOR DER ERSTEN FRIST
GROSSE SANDWÜSTE
NORDWESTLICHES AUSTRALIEN
1. DEZEMBER 2007, 7:15 UHR
Am Tag, an dem die Farm von Jack West jr. von einer überwältigenden Streitkraft angegriffen wurde, hatte er bis sieben Uhr morgens geschlafen.
Normalerweise stand er gegen sechs Uhr auf, um sich den Sonnenaufgang anzusehen, aber in letzter Zeit verlief sein Leben beschaulich. In seiner Welt herrschte seit fast 18 Monaten Frieden. Daher hatte er beschlossen, auf den Sonnenaufgang zu pfeifen und sich eine zusätzliche Stunde Schlaf zu gönnen.
Die Kinder waren natürlich schon auf den Beinen. Lily hatte in den Sommerferien einen Schulfreund zu Besuch, einen kleinen Jungen namens Alby Calvin.
In den letzten drei Tagen hatten sie ununterbrochen geräuschvoll und ausgelassen gespielt, am Tag jeden Winkel der weitläufigen Farm in der Wüste erkundet und nachts die Sterne durch Albys Teleskop betrachtet.
Albys Teiltaubheit war sowohl für Lily als auch für Jack bedeutungslos. An ihrer Schule für Hochbegabte in Perth galt Lily als Sprachengenie und Alby als Mathematikstar, und das war alles, was zählte.
Mit erst elf Jahren beherrschte sie bereits sechs Sprachen, darunter zwei uralte und die Gebärdensprache, die sie mühelos erlernt hatte.
Tatsächlich hatten sie und Jack das zusammen gemacht. An diesem Tag waren die Spitzen von Lilys wunderschönem, langem schwarzen Haar knallrosa gefärbt.
Alby war zwölf Jahre alt, dunkelhäutig und trug eine große Brille mit dicken Gläsern. Er hatte ein Cochleaimplantat, eine wundersame Technologie, durch die Gehörlose hören konnten, und er sprach mit etwas weicher Flexion. Gebärden brauchte er dennoch, wenn er besondere Emotionen oder die Dringlichkeit einer Angelegenheit verstehen musste. Aber ungeachtet seiner Behinderung konnte Alby Calvin mit den Besten mithalten.
West stand mit nacktem Oberkörper auf der Veranda und nippte an einem Becher Kaffee. Sein linker Arm funkelte in der Morgensonne – vom Bizeps abwärts bestand er vollständig aus Metall.
Er ließ den Blick über die schier endlose, im morgendlichen Licht verschwommene Wüstenlandschaft wandern. Jack war mittelgroß, hatte blaue Augen und zerzaustes dunkles Haar und war auf kernige Weise gut aussehend. Einst wurde er als viertbester Sondereinsatzspezialist der Welt eingestuft, ein einzelner Australier auf einer von Amerikanern dominierten Liste.
Aber er war kein Soldat mehr. Nachdem er eine waghalsige, zehn Jahre währende Mission geleitet hatte, um den sagenumwobenen goldenen Schlussstein der großen Pyramide aus den Überresten der sieben Weltwunder der Antike zu bergen, sah er sich eher als Schatzsucher denn als Krieger. Mittlerweile war er geübter darin, mit Fallen gespickte Höhlensysteme zu bewältigen und uralte Rätsel zu knacken, als Menschen zu töten.
Durch das Abenteuer mit dem Schlussstein, das auf der großen Pyramide geendet hatte, war auch Wests Beziehung zu Lily geschmiedet worden. Da ihre Eltern tot waren, hatte Jack sie aufgezogen – zusammen mit einem wahrhaft einzigartigen Team internationaler Soldaten. Kurz nach dem Ende der Schlusssteinmission hatte er sie offiziell adoptiert.
Und seit jenem Tag vor fast zwei Jahren lebte er hier draußen herrlich abgeschieden, weit weg von Missionen, fernab der Welt. Den Weg nach Perth trat er nur an, wenn Lilys Schulausbildung es erforderte.
Der goldene Schlussstein lagerte in voller Pracht in einer stillgelegten Nickelmine hinter seinem Farmhaus.
Vor ein paar Monaten hatte ein Zeitungsartikel Jack beunruhigt.
Ein Soldat der australischen Special Forces namens Oakes war im Irak umgekommen, bei einem Hinterhalt erschossen. Das erste australische Opfer in irgendeinem Konflikt seit fast zwei Jahren.
Es beunruhigte West, weil er einer von sehr wenigen Menschen auf der Welt war, die haargenau wussten, warum bis dahin in den vergangenen 18 Monaten kein Australier im Kampf gefallen war. Es lag an der Tartarus-Rotation 2006 und dem Schlussstein: West hatte dabei ein uraltes Ritual durchgeführt und so Australiens Unverwundbarkeit sichergestellt. Die eigentlich sehr lange anhalten sollte.
Mit dem Tod jenes Soldaten im Irak jedoch schien es damit vorbei zu sein.
Ihm war das Datum aufgefallen, an dem der Mann gestorben war: 21. August. Verdächtig nahe an der nördlichen Herbst-Tagundnachtgleiche.
West hatte das Tartarus-Ritual auf der großen Pyramide persönlich vollzogen, und zwar am 20. März 2006, dem Tag der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche. Dem Tag, an dem die Sonne perfekt so stand, dass Tag und Nacht auf der Erde gleich lang waren.
Die Frühjahrs- und die Herbst-Tagundnachtgleiche waren wie Himmelsphänomene, die zu gegensätzlichen Zeiten des Jahres stattfanden.
Gegensätzlich und doch gleich, dachte West. Yin und Yang.
Irgendjemand hatte irgendwo um die Herbst-Tagundnachtgleiche herum etwas getan, das Tartarus aufgehoben hatte.
Eine kleine braune Gestalt, die im Osten sein Sichtfeld querte, riss West aus seinen Gedanken.
Es handelte sich um einen Vogel, einen Falken, der anmutig mit weit ausgebreiteten Flügeln über den staubigen Himmel schwebte. Horus, seine Wanderfalkendame und treue Gefährtin. Das Tier landete neben ihm auf dem Geländer und krächzte in Richtung des östlichen Horizonts.
Als West in die Richtung schaute, sah er, wie mehrere schwarze Punkte am Himmel erschienen und eine Formation bildeten.
Ungefähr 500 Kilometer entfernt fanden alle zwei Jahre in der Nähe der Küstenstadt Wyndham militärische Übungen namens Talisman Sabre statt, die Australien mit den USA veranstaltete. Groß angelegte Manöver, bei denen alle Bereiche der Streitkräfte beider Nationen einbezogen wurden: Marine, Armee und Luftwaffe.
Dieses Jahr wies Talisman Sabre eine Besonderheit auf: Zum ersten Mal überhaupt nahm China daran teil. Niemand gab sich irgendwelchen Illusionen hin. Unter der Schirmherrschaft des neutralen Australien – das bedeutende Handelsbeziehungen zu China und langjährige militärische Beziehungen zu den USA unterhielt – wogen sich China und Amerika gegenseitig ab, die zwei größten Fische im Teich. Zunächst hatten sich die USA gegen die Teilnahme Chinas gesperrt. Aber die Chinesen hatten erheblichen Handelsdruck auf Australien ausgeübt, um eingeladen zu werden, und die Australier hatten die USA geradezu um deren Zustimmung angefleht.
Aber zum Glück, so dachte West, ging ihn das alles nichts mehr an.
Er drehte sich um und beobachtete Lily und Alby, die beide um die Scheune flitzten und Staub aufwirbelten, als in der Küche der Computer piepte.
Piep, piep, piep, piep.
E-Mails.
Eine ganze Menge.
Mit dem Kaffee in der Hand ging Jack hinein und warf einen Blick auf den Monitor.
Über zwei Dutzend E-Mails von Max Epper waren soeben eingegangen. Jack klickte auf eine Nachricht und starrte auf ein Digitalfoto eines uralten, in Stein geritzten Symbols. Sah chinesisch aus.
»O Wizard.« Er seufzte. »Was ist jetzt wieder passiert? Hast du vergessen, deine externe Festplatte mitzunehmen?«
So war Wizard schon einmal verfahren. Damals musste er etwas sichern, hatte aber vergessen, eine zweite Festplatte einzupacken. Also hatte er die entsprechenden Fotos per E-Mail an Jack geschickt.
Jack stöhnte, als er in einem Internetbrowser ein Forum zu DerHerr der Ringe aufrief und sich mit seinem Benutzernamen anmeldete: STRIDER101.
Ein wenig genutztes Forum wurde angezeigt. So kommunizierten Lily und er mit Wizard – anonym über das Internet. Wenn Wizard einen Schwall von E-Mails geschickt hatte, dann hatte er wahrscheinlich auch eine erklärende Nachricht im Forum veröffentlicht.
Und tatsächlich stammte die neueste Mitteilung darin von GANDALF101: Wizard.
West scrollte nach unten, um die Nachricht anzuzeigen. Er rechnete mit der üblichen verschämten Bitte um Entschuldigung von Wizard …
… und wurde überrascht.
Zahlen.
Jede Menge Zahlen, unterteilt mit Klammern und Schrägstrichen:
(3/289/-5/5) (3/290/-2/6) (3/289/-8/4) (3/290/-8/4) (3/290/-1/12)
(3/291/-3/3) (1/187/15/6) (1/168/-9/11)
(3/47/-3/4) (3/47/-4/12) (3/45/-163) (3/47/-1/5)
(3/305/-3/1) (3/304/-8/10)
(3/43/1/12) (3/30/-3/6)
(3/15/7/4) (3/15/7/3)
(3/63/-20/7) (3/65/5/1-2)
(3/291/-14/2) (3/308/-8/11) (3/232/5/7) (3/290/-1/9)
(3/69/-13/5) (3/302/1/8)
(3/55/-4/11-13) (3/55/-3/1)
Jack runzelte besorgt die Stirn.
Es handelte sich um eine verschlüsselte Nachricht von Wizard. Den speziellen Code dafür kannten nur die vertrauten Mitglieder ihres inneren Kreises.
Offenbar etwas Ernstes.
Rasch griff sich Jack die Taschenbuchausgabe eines Romans aus dem nahen Bücherregal – des gleichen Romans, mit dem Wizard die Nachricht in China verfasst hatte. Jack blätterte durch die Seiten, um die Mitteilung zu entschlüsseln.
Er kritzelte Wörter unter jeden Zahlencode, bis er schließlich die vollständige Botschaft vor sich hatte – die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ:
(3/289/-5/5) (3/290/-2/6) (3/289/-8/4) (3/290/-8/4) (3/290/-1/12)
HAU AB HAU AB SOFORT!
(3/291/-3/3) (1/187/15/6) (1/168/-9/11)
NIMM FEUER STEIN
(3/47/-3/4) (3/47/-4/12) (3/45/-163) (3/47/-1/5)
UND MEIN SCHWARZES BUCH
(3/305/-3/1) (3/304/-8/10)
UND FLIEH
(3/43/1/12) (3/30/-3/6)
NEUER NOTFALL
(3/15/7/4) (3/15/7/3)
SEHR GEFÄHRLICH
(3/63/-20/7) (3/65/5/1-2)
FEIND IM ANMARSCH
(3/291/-14/2) (3/308/-8/11) (3/232/5/7) (3/290/-1/9)
WIR TREFFEN UNS BEIM
(3/69/-13/5) (3/302/1/8)
GROSSEN TURM
(3/55/-4/11-13) (3/55/-3/1)
DAS SCHLIMMSTE NAHT
»Heilige Scheiße …«, stieß Jack hervor.
Sein Blick schnellte zum Küchenfenster, durch das er Lily und Alby draußen bei der Scheune spielen sah. Dann schaute er zum dunstigen orangefarbenen Himmel hinter ihnen, den die Morgensonne prunkvoll erhellte …
… und der sich mit herabfallenden Gestalten füllte, mit Dutzenden davon. Gestalten, über denen sich Fallschirme ausbreiteten und ihren Fall verlangsamten.
Fallschirmjäger. Hunderte Fallschirmjäger.
Unterwegs zu seiner Farm.
West stürmte aus dem Haus und rief: »Kinder! Kommt her! Schnell!«
Verdattert drehte sich Lily um. Alby folgte ihrem Beispiel.
West deutete in Zeichensprache, während er rief: »Lily, pack einen Koffer! Alby, hol deine Sachen! Wir brechen in zwei Minuten auf!«
»Wir brechen auf? Warum?«, fragte Alby.
Lily jedoch kannte den Ausdruck in Wests Gesicht.
»Weil wir müssen«, antwortete sie sowohl mit Worten als auch in Zeichensprache. »Komm mit.«
West eilte zurück ins Farmhaus und hämmerte an die Türen der beiden Gästezimmer. »Zoe! Sky Monster! Aufwachen! Wir stecken wieder in Schwierigkeiten!«
Aus dem ersten Gästezimmer trat Sky Monster, ein stark behaarter Neuseeländer, Wests guter Freund und Stammpilot.
Mit seinem buschigen schwarzen Bart, dem Wanst und den dicht wuchernden Augenbrauen war Sky Monster am frühen Morgen nicht gerade eine Augenweide. Er hatte auch einen echten Namen, den jedoch außer seiner Mutter niemand zu kennen schien.
»Nicht so laut, Huntsman«, brummte er. »Was ist los?«
»Wir werden überfallen.«
West zeigte aus dem Fenster.
Mit trübem Blick schaute Sky Monster hinaus und sah den Schwarm der Fallschirmspringer am Morgenhimmel. Seine Augen weiteten sich. »Australien wird überfallen?«
»Nein, nur wir. Nur diese Farm. Zieh dich an und schwing dich zur Halicarnassus. Mach sie zum sofortigen Abheben bereit.«
»Verstanden.« Sky Monster eilte davon.
In dem Moment öffnete sich die Tür des zweiten Gästezimmers. Zum Vorschein kam ein wesentlich erfreulicherer Anblick.
Zoe Kissane trat aus ihrem Zimmer. Sie trug einen von Wests Pyjamas. Mit himmelblauen Augen, kurzem blondem Haar und leicht sommersprossigem Gesicht verkörperte sie eine wahre irische Schönheit. Sie hatte Urlaub vom berühmten irischen Elitekommando Sciathan Fhianoglach an Airm. Als Veteranin des Schlusssteinabenteuers standen sie und West sich nahe und schienen sich allmählich sogar noch näher zu kommen. Auch ihr blondes Haar wies rosa Spitzen auf, weil sie es zusammen mit Lily am Vortag gefärbt hatte.
Als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, zeigte West nur aus dem Fenster.
»Also, das sieht man auch nicht alle Tage«, meinte sie. »Wo ist Lily?«
Jack trat in sein Zimmer und griff sich von allen Seiten verschiedene Gegenstände: eine Bergmannsjacke aus Segeltuch, einen Feuerwehrhelm und einen Pistolengurt mit zwei Holstern, den er sich um die Taille schnallte. »Ihre Sachen holen. Alby ist bei ihr.«
»O Gott, Alby. Was sollen wir …«
»Wir nehmen ihn mit.«
»Ich wollte sagen, was wir seiner Mutter erzählen sollen. ›Hi, Lois. Ja, die Kinder haben einen tollen Sommer. Wir sind gerade einer einfallenden Armee von Fallschirmjägern entkommen.‹«
»Etwas in der Art«, gab Jack zurück, eilte in sein Arbeitszimmer und kam gleich darauf mit einer großen schwarzen Ledermappe wieder heraus.
Dann hastete er an Zoe vorbei den Flur entlang zur Hintertür des Farmhauses. »Hol deine Sachen und die Kinder. Wir brechen in zwei Minuten auf. Ich muss das oberste Teil des Schlusssteins holen.«
»Wie bitte?«, fragte Zoe, doch West war bereits ins Sonnenlicht hinausgestürmt, und die Insektenschutztür fiel hinter ihm zu.
»Schnappt euch auch die Codebücher und Computerfestplatten!«, ertönte sein entfernter Ruf.
Gleich darauf kam Sky Monster aus dem Gästezimmer gestürmt und schnallte sich seinen Gürtel um. In der Hand hielt er seinen Pilotenhelm. Auch er schob sich an Zoe vorbei, brummte dabei »Morgen, Princess« und stapfte zur Hintertür hinaus.
Und plötzlich wurde Zoe der Ernst der Lage bewusst.
»Heilige Scheiße …« Sie hastete zurück in ihr Zimmer.
Jack West lief über den Hinterhof seines Farmhauses und durch den Eingang einer alten, verlassenen Mine in einem niedrigen Hügel.
Im Licht der Stiftlampe an seinem Feuerwehrhelm eilte er einen dunklen Tunnel entlang. Nach etwa 100 Metern erreichte er einen größeren Raum, eine weitläufige Kammer, und sie enthielt …
… den goldenen Schlussstein.
Die drei Meter hohe, golden funkelnde Miniaturpyramide hatte einst als Spitze der großen Pyramide von Giseh gedient, ein Monument, bei dessen Anblick Jack jedes Mal aufs Neue Ehrfurcht empfand.
Um den Schlussstein herum befanden sich einige andere Artefakte aus seinem vorherigen Abenteuer. Alle standen in irgendeiner Weise mit den sieben Weltwundern der Antike in Verbindung: der Spiegel des Leuchtturms von Alexandria, der Kopf des Kolosses von Rhodos.
Gelegentlich kam Jack her, saß einfach nur da und betrachtete die unbezahlbare Sammlung von Schätzen in der Höhle.
Aber nicht an diesem Tag.
Diesmal schnappte er sich eine alte Trittleiter, kletterte neben dem Schlussstein hinauf und entfernte vorsichtig den oberen Teil davon, den einzigen, der selbst eine Pyramide bildete. Den Feuerstein.
Das Teil war klein. Die quadratische Grundfläche hatte ungefähr die Abmessungen eines gebundenen Buchs. An der Spitze prangte ein winziger, gerade mal zwei Zentimeter großer, klarer Kristall. Alle anderen Teile des Schlusssteins wiesen in der Mitte ähnliche Kristalle auf. In zusammengesetztem Zustand bildeten alle sieben eine Reihe.
West verstaute den Feuerstein in seinem Rucksack und eilte zurück durch den Ausgangstunnel.
Unterwegs löste er mehrere an den Stützen aus Holz montierte schwarze Kästen aus. Rote Lämpchen blinkten daran. Beim letzten Stützbalken schaltete er einen weiteren Kasten ein und griff sich eine Fernbedienung, die eigens für eine solche Gelegenheit darauf lag.
Dann kehrte West zurück in die Morgensonne und blieb vor dem Eingang zur alten Mine stehen.
»Eigentlich wollte ich das nie tun müssen«, murmelte er bedauernd.
Er drückte die Taste SPRENGUNG auf der Fernbedienung. Eine Abfolge gedämpfter Explosionen dröhnte aus dem Tunnel, als eine Ladung nach der anderen von innen nach außen detonierte.
Dann schoss mit einem mächtigen Wusch eine wallende Staubwolke aus dem Eingang der Mine. Die letzte Ladung löste einen Erdrutsch aus, der sich von dem niedrigen Hügel über den Mineneingang ergoss und ihn mit Geröll, Sand und Steinbrocken verschüttete.
Jack wandte sich ab und rannte zurück zum Farmhaus.
Hätte er Zeit gehabt zurückzuschauen, hätte er gesehen, wie sich die gewaltige Staubwolke setzte. Danach blieb nur noch ein Hügel zurück – ein völlig gewöhnlicher, von Gestein und Sand bedeckter Hügel, der sich nicht von den anderen in der Umgebung unterschied.
Als Jack zum Farmhaus zurückkehrte, sah er gerade noch, wie Sky Monster in einem Pick-up nach Süden zum Hangar davonraste.
Die Fallschirme segelten noch vom Himmel, viele mittlerweile bereits nahe dem Boden. Es waren buchstäblich Hunderte.
An einigen hingen offensichtlich bewaffnete Männer, während andere wesentlich größere Objekte wohlbehalten zu Boden beförderten: Jeeps und Trucks.
»Heilige Muttergottes …«, flüsterte Jack.
Zoe scheuchte Lily und Alby durch die Hintertür des Farmhauses hinaus. Unter den Arm geklemmt trug sie eine Computerfestplatte.
»Hast du dir die Codebücher geschnappt?«, rief West hinüber.
»Lily hat sie!«
»Hier lang, zur Scheune!« West bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
Zusammen rannten die vier los, zwei Erwachsene und zwei Kinder, die Rucksäcke und unverzichtbare Ausrüstung schleppten. Über ihnen flog Horus.
Unterwegs bemerkte Alby die Waffen, die West trug.
Jack fiel der verdatterte Gesichtsausdruck des Jungen auf. »Ist schon gut, Kleiner. So was passiert uns immer wieder.«
West erreichte das riesige Scheunentor und scheuchte die anderen hinein, bevor er Sky Monsters Pick-up hinterherschaute. Er raste gerade eine Hügelkette entlang nach Süden und wirbelte dabei eine dicke Staubwolke auf.
Plötzlich versperrte ihm ein Fallschirmspringer die Sicht, ein voll ausgerüsteter chinesischer Soldat, der auf dem staubigen Boden aufsetzte, sich gekonnt abrollte, aus dem Fallschirm befreite und flink ein automatisches Gewehr zückte.
Der Mann rannte geradewegs auf das Farmhaus zu.
Ein anderer landete hinter ihm. Dann noch einer und ein weiterer.
West schluckte. Er und die anderen waren von Sky Monster abgeschnitten. »Verdammt noch mal«, fluchte er.
Dann huschte er in die Scheune, als über 100 weitere Fallschirmjäger überall um seine Farm herum aufsetzten.
Die Ostzufahrt
Wenige Augenblicke später wurden die Scheunentore aufgeschleudert und zwei kompakte Allradfahrzeuge bretterten heraus.
Sie sahen aus wie etwas aus einem Mad Max-Film.
Es handelte sich um umgebaute sogenannte »Light Strike Vehicles«, kurz LSV – sehr leichte, zweisitzige Dünenbuggys mit dicken Geländereifen, robuster Querlenkeraufhängung und einer schlanken Karosserie, die im Wesentlichen aus Überrollbügeln und Streben bestand. Jack und Alby saßen im ersten Fahrzeug, Zoe und Lily im zweiten.
»Sky Monster!«, rief Jack in das Funkmikrofon an seinem Hals. »Wir sind von dir abgeschnitten! Wir werden auf dem Highway zu dir stoßen müssen! Wir nehmen die Ostzufahrt und überqueren den Fluss.«
»Verstanden«, bestätigte Sky Monsters Stimme. »Auf dem Highway.«
»Jack«, meldete sich Zoe. »Wer sind diese Leute und wie zum Teufel haben sie uns gefunden?«
»Keine Ahnung«, antwortete West. »Wirklich nicht. Aber Wizard hat gewusst, dass sie kommen würden. Er hat uns eine Warnung …«
In dem Moment zeichnete eine Salve eine Linie über die Schotterpiste vor Jacks Auto. Jack riss das Lenkrad hart herum und pflügte durch die Staubwolke.
Die Schüsse stammten von einem großen Geländewagen, der sich donnernd von der Wüstenebene im Norden näherte.
Es handelte sich um ein markantes Fahrzeug mit sechs Rädern, einen gepanzerten Mannschaftstransporter des Typs WZ-551, der von der chinesischen North Industries Corporation für die Volksbefreiungsarmee gebaut wurde. Neben schwerer Panzerung und einem Dragar-Geschützturm aus französischer Produktion auf dem Dach besaß der Transporter eine kastenförmige Karosserie mit einer flachen, bugartigen Front, die schräg nach unten und hinten verlief. Den Dragar-Turm bestückten eine verheerende 25-mm-Kanone und ein Koaxial-Maschinengewehr Kaliber 7,62 Millimeter.
Es war der erste von vielen Mannschaftstransportern, die sich aus Norden näherten. Jack zählte sieben … neun … elf Fahrzeuge dahinter, dazu etliche kleinere Jeeps und Trucks, alle vollgestopft mit bewaffneten Männern.
Im Süden bot sich das gleiche Bild: Auch dort waren Männer und Fahrzeuge gelandet, hatten die Fallschirme gelöst und hielten in nördlicher Richtung auf die Ostzufahrt zu.
Eine regelrechte Armada von Fahrzeugen hielt direkt auf sie zu, sowohl aus Norden als auch aus Süden.
Zoes Stimme: »Jack! Die Mannschaftstransporter sehen chinesisch aus!«
»Ich weiß!«
Er tippte auf den Regler seines Funkgeräts und wählte die Frequenz für die Talisman Sabre Truppenübungen. Eine Stimme brüllte: »Red Force 3! Melden! Sie sind beim Absprung weit vom Kurs abgekommen! Was zum Teufel ist da los?«
Clever, dachte West. Seine Angreifer ließen es wie eine schiefgelaufene Übung aussehen.
West wog seine Möglichkeiten ab.
Die Ostzufahrt führte zum Fitzroy River, einem von Norden nach Süden verlaufenden Fluss. Da gerade Regenzeit herrschte, führte er Hochwasser. Nur eine einzige Brücke spannte sich darüber.
Hinter dem Fluss erstreckte sich ein alter Highway mit einem geraden Abschnitt, der West als persönliches Rollfeld diente.
Wenn es seine Autos über den Fluss schafften, bevor sie von den nahenden Streitkräften davon abgeschnitten wurden, konnten sie es zum Highway schaffen und sich dort mit Sky Monster treffen.
Aber ein kurzer Blick auf die beiden Kolonnen aus Norden und Süden offenbarte eine einfache mathematische Wahrheit: Es würde eng werden.
Wests LSV brauste die staubige Ostzufahrt entlang.
Auf dem Beifahrersitz klammerte sich Alby am Überrollbügel fest, die Augen vor Angst geweitet.
West spähte zu dem kleinen Jungen hinüber.
»Ich wette, so was hast du noch bei keinem anderen Kind erlebt, bei dem du im Sommer gewesen bist!«
»Stimmt!«, brüllte Alby, um den peitschenden Wind zu übertönen.
»Bist du Pfadfinder, Alby?«
»Ja!«
»Und wie lautet das Motto der Pfadfinder?«
»Allzeit bereit!«
»Ganz genau! Und jetzt, junger Mann, wirst du gleich merken, warum ihr nicht auf den Viehübergängen oder der Brücke spielen dürft.«
Die beiden LSV bretterten die Schotterstraße entlang. Die zwei Verfolgerkolonnen hielten von beiden Seiten aus in einer V-Formation auf sie zu und wirbelten dabei gigantische Staubwolken auf.
»Zoe! Schwing dich vor mich!«, rief West.
Zoe kam der Aufforderung nach und lenkte ihr Fahrzeug vor das von West, als sie beide über einen Viehrost rasten.
West scherte dabei nach links aus und pflügte direkt in ein niedriges Schild mit der Aufschrift VORSICHT VIEHTRIEB.
Der Pfosten war – bei einem flüchtigen Blick nicht erkennbar – mit einem Stolperdraht präpariert. Als das LSV darüber hinwegrollte, zerriss er und löste einen versteckten Mechanismus aus, der hundert Krähenfüße mit je sechs Spitzen auf die Fahrbahn hinter dem flüchtenden Auto warf.
Alby drehte sich um und beobachtete, wie die sternförmigen Gebilde über die Straße holperten und sich verteilten. Gleich darauf fuhr das erste Verfolgerfahrzeug – ein Jeep mit wild feuernden Männern darin – geradewegs in das Nagelfeld hinein.
Die Reifen des Jeeps platzten geräuschvoll. Der Wagen geriet ins Schlingern und überschlug sich. Die Männer darin wurden in alle Richtungen geschleudert.
Einen zweiten Jeep ereilte ein ähnliches Schicksal. Die restlichen Fahrzeuge jedoch wichen dem verdächtigen Straßenabschnitt holpernd aus.
Alby drehte sich zu West um, der über dem Fahrtwind brüllte: »Bereithalten!«
Dann schwenkte der Junge zurück und beobachtete, wie die Mannschaftstransporter ihrer Verfolger langsamer als die Jeeps die Krähenfüße erreichten – mit ihren pannensicheren Reifen donnerten sie einfach darüber hinweg.
Und verfolgten ihre Beute gnadenlos weiter.
Während Zoe fuhr, überwachte sie mit dem eingebauten Funkgerät des Autos weiterhin den Funkverkehr. Kurz nach dem Unfall der beiden Jeeps ertönten auf einer sicheren Militärfrequenz mehrere Stimmen, die Mandarin sprachen.
»Jack!«, rief Zoe in ihr Mikrofon. »Ich hab die Angreifer auf UHF 610,15!«
Jack wechselte in seinem Wagen auf den Kanal und hörte die Stimmen des Feindes auf Mandarin:
»… in zwei Autos unterwegs Richtung Osten …«
»Bodentruppe 7 verfolgt sie …«
»Bodentruppe 6 visiert die Brücke an …«
»Zentrale. Hier Bodentruppe 2. Wir sind dicht an ihnen dran. Bitte um Wiederholung der Anweisungen für die Gefangennahme …«
Eine neue Stimme meldete sich. Sie klang ruhiger und vermittelte deutlich mehr Autorität.
»Bodentruppe 2, hier Black Dragon. Die Anweisungen für die Gefangennahme lauten: Höchste Priorität hat der Feuerstein. Zweithöchste haben das Mädchen und West. Beide sind nach Möglichkeit lebend zu ergreifen. Alle anderen sind hinzurichten. Es darf keine Zeugen unseres Auftritts hier geben.«
Bei den Worten wirbelte Wests Kopf zu Alby herum. Dann schaute er nach vorn zu Zoe im vorderen Fahrzeug.
Es war schön und gut zu wissen, dass man selbst nicht draufgehen würde, falls es schiefginge. Aber es war ein völlig anderes Paar Schuhe zu erfahren, dass Menschen, die einem nahestanden, nicht überleben würden.
»Gehört?«, fragte Zoe über Funk.
»Ja.« West spannte die Kieferpartie an.
»Bitte schaff uns hier weg, Jack.«
Während Jack und Zoe in ihren Autos nach Osten davonrasten, traf ein von mehreren Jeeps begleiteter chinesischer Mannschaftstransporter bei Jacks Farmhaus ein.
Als das Fahrzeug zum Stehen kam, stiegen zwei Männer aus, ein Chinese und ein Amerikaner. Die Kragen ihrer Uniformen wiesen beide als Majore aus, doch der Chinese war deutlich älter.
Es handelte sich um Black Dragon, die Stimme aus dem Funkverkehr. Man kannte Black Dragon für seine kalte, methodische Effizienz. Er war ein Mann, der Aufgaben kompromisslos erledigte.
Der jüngere Amerikaner bei ihm – groß, breit, kräftig – trug die maßgeschneiderte Uniform eines Sondereinsatzspezialisten der US Army. Er hatte einen scharfkantigen Bürstenhaarschnitt und den starren Blick eines Psychopathen. Sein Rufname lautete Rapier.
»Gebäude sichern«, befahl Black Dragon einer nahen Einheit der Fallschirmjäger. »Aber Achtung vor unkonventionellen Sprengfallen. Captain West ist eindeutig auf solche Eventualitäten vorbereitet.«
Rapier schwieg. Er starrte nur mit eindringlichem Blick auf das verlassene Farmhaus, als wollte er sich jede Einzelheit daran einprägen.
Die Flussüberquerung
Die Brücke lag vielleicht zwei Kilometer entfernt vor ihnen – alt, aus Holz, einspurig.
Als sie in Sichtweite geriet, beobachtete West, wie drei Mannschaftstransporter und fünf chinesische Jeeps davor anhielten und sie blockierten. Eine Straßensperre.
Sie haben die Brücke vor uns erreicht.
Verdammt.
Der vordere Mannschaftstransporter senkte bedrohlich die am Geschützturm montierte Kanone.
In dem Moment holten vier chinesische Jeeps Wests Autos von hinten ein, zwei auf jeder Seite. Die Soldaten in den Jeeps wirkten verdammt wütend, während sie vom unebenen Gelände durchgeschüttelt wurden und versuchten, mit den Gewehren auf Wests Reifen zu zielen.
»Jack!«, rief Zoe über Funk. »Jack!«
»Bleib auf der Straße! Was immer passiert, bleib auf der Straße, bis du die Windräder erreichst!«
Vor ihnen flankierten zwei schmale Windräder die Straße auf halbem Weg zwischen ihnen und der Brücke.
Kaum einen Meter hinter Jacks LSV dröhnte eine Explosion und riss einen Krater in die Fahrbahn. Ein Schuss vom Geschütz des Mannschaftstransporters.
»Sch…eibenkleister.« Jack wandte sich an Alby. »Tu mir einen Gefallen, Junge. Erzähl deiner Mutter nichts von diesem Teil deines Aufenthalts bei uns.«
Zoes Auto erreichte die Windräder und bretterte dazwischen hindurch, dicht gefolgt von Jack und Alby in ihrem LSV – das immer noch von den vier chinesischen Jeeps bedrängt wurde.
Auch Jack raste zwischen den Windrädern hindurch. Die Jeeps hingegen wählten einen anderen Ansatz – nur einer schwenkte auf die Straße und folgte Jack direkt. Die drei anderen fuhren weiter außen um die Windräder herum …
Und plötzlich verschwand einer dieser Jeeps aus dem Blickfeld. Dann der nächste unmittelbar dahinter und jener, der außen am Windrad auf der anderen Seite der Straße vorbeiwollte.
Die drei Jeeps gerieten einfach außer Sicht, als hätte die Erde sie verschluckt.
Tatsächlich war genau das passiert. Sie waren in indische Tigerfallen gekippt – große, getarnte Löcher im Boden, die Jack eigens für eine Flucht wie diese neben den Windrädern gegraben hatte.
»Zoe! Schnell! Lass mich vorbei und fahr dann genauso wie ich!«
Jack überholte Zoe, bevor er abrupt nach links ausscherte, runter von der Straße und durch holpriges Buschland. Zoe folgte ihm und schwenkte ihr LSV ebenfalls nach links, gejagt vom einzigen noch intakten Jeep der Chinesen.
Sie rumpelten über Gestrüpp hinweg. Der Fluss lag vor ihnen, die Straßensperre rechts.
»Genau da, wo ich fahre!«, betonte West in sein Mikro.
Damit bretterte er eine Böschung hinunter auf den Fitzroy River zu – ein selbstmörderischer Kurs. Es schien unmöglich zu sein, die schnelle Strömung des Gewässers mit dem tief liegenden LSV zu durchqueren.
Trotzdem fuhr er in den Fluss. Mit Vollgas.
Das LSV tauchte in den Fitzroy und spritzte Gischt zu beiden Seiten in spektakulärer Fächerform auf, als es an einer ungewöhnlich ebenen Stelle durch das unerwartet seichte Wasser schoss: Es handelte sich um eine versteckte Furt aus Beton.
Als Jacks LSV den Fluss auf der anderen Seite verließ und mit einem hohen Satz die gegenüberliegende Böschung hinaufraste, erreichte Zoes Fahrzeug ihre Seite des Ufers. Gleichzeitig schloss der letzte chinesische Jeep zu ihr auf.
Zoe traf die Furt und folgte exakt Jacks Weg. Der Jeep ihrer Verfolger nicht. Die Furt war bewusst schmal gehalten, eine nur einspurige Betonbrücke unter Wasser. Deshalb stürzte der chinesische Jeep in die Strömung und kam abrupt mit lautem Platschen zum Stehen, während Zoes LSV weiterfuhr und auf der anderen Seite wohlbehalten ans Ufer holperte.
Als die chinesischen Truppen an der Brücke sahen, wie die beiden LSV den Fluss erfolgreich in nördlicher Richtung überquerten, sprangen sie in ihre Jeeps und Mannschaftstransporter und nahmen über die Brücke die Verfolgung auf.
Nur brach sie unter dem ersten Jeep vollständig zusammen.
Mit einem Gewirr manipulierter Balken und Streben aus Holz stürzte der Wagen in den Fluss. Die anderen Fahrzeuge blieben hinter der Kluft zurück und hatten keine Möglichkeit mehr, sie zu überqueren.
Also eilten sie stattdessen los zur Furt. Doch als sie die Stelle der schmalen, verborgenen Furt endlich fanden, rasten Jacks fliehende LSV längst den Highway entlang.
Das Rettungsflugzeug
Während Jack und Zoe nach Osten flüchteten, Krähenfüße verstreuten und über versteckte Flussübergänge rasten, war auch Sky Monster nicht untätig geblieben.
Er war mit dem Pick-up am südlichsten Ende des Farmgeländes angekommen. Dort war er in einer in den Hang gebauten Hütte verschwunden. Bei näherer Betrachtung erwies sich der Hang als ein mit Tarnnetzen bedecktes Gebäude …
Ein Hangar.
Und darin befand sich eine riesige schwarze 747.
Bei einem genauen Blick auf den unteren Teil des Rumpfs konnte man noch eine Aufschrift in arabischer Schrift erkennen, die besagte: PRESIDENT ONE – AIR FORCE IRAQ. HALICARNASSUS.
Das Flugzeug hatte einst in einem geheimen Hangar vor Basra gestanden, eine von mehreren solchen Maschinen, die über den Irak verteilt darauf gewartet hatten, Saddam Hussein im Fall einer Invasion an sichere Orte in Ostafrika zu bringen. Saddam war nie dazu gekommen, dieses spezielle Flugzeug zu benutzen. Jack West hingegen schon, als er 1991 von feindlichen Truppen in die Enge getrieben und von seinen eigenen Leuten im Stich gelassen worden war.
Mittlerweile gehörte die 747 namens Halicarnassus ihm.
Die Halicarnassus holperte aus dem Hangar und eine breite, unbefestigte Rollbahn entlang, die den Fitzroy River an einer zweiten Unterwasserfurt wenige Kilometer südlich der manipulierten Brücke querte.
Auf der anderen Seite steuerte Sky Monster die große 747 nach links auf den Highway in Richtung Norden.
Das riesige Flugzeug donnerte die Wüstenstraße entlang, ein mächtiges schwarzes Ungetüm auf flimmerndem schwarzem Asphalt.
Dann sah Sky Monster, wie die beiden LSV von Jack und Zoe ein paar Hundert Meter vor ihm auf den Asphalt schwenkten.
Eine Rampe am Heck der Halicarnassus senkte sich auf die Fahrbahn. Funken stoben auf. Während die mächtige Maschine mit beachtlicher Geschwindigkeit weiterrollte, reihten sich die beiden LSV dahinter ein und rasten schließlich die Rampe hinauf in den Bauch des Flugzeugs, dicht gefolgt von Horus’ winziger Gestalt.
Sobald sich das zweite Auto im Inneren befand und mit einem Spanngurt festgeschnallt war, schloss sich die Rampe. Das Flugzeug beschleunigte, erreichte die Startgeschwindigkeit, hob langsam, anmutig von der verwaisten Straße in der leeren Wüste ab und ließ die Farm, auf der es mittlerweile von chinesischen Fahrzeugen und Soldaten wimmelte, hinter sich zurück.
West marschierte ins Cockpit der Halicarnassus.
»Wir sind noch nicht aus dem Schneider, Boss«, verkündete Sky Monster. »Feindliche Maschinen im Anflug. Vier Stück. Sieht nach Abfangjägern aus, J-9. Chinesische Variante einer MiG.«
West eilte zurück in die Hauptkabine, wo Zoe gerade die Kinder anschnallte.
»Zoe«, sagte er. »An die Geschütze.«
Wenige Augenblicke später saßen Zoe und er angeschnallt in den Geschütztürmen an den Tragflächen der Halicarnassus. Das Flugzeug besaß außerdem schwenkbare Kanonen auf dem Dach und am Unterboden, die Sky Monster vom Cockpit aus bedienen konnte.
»Sie können uns nicht abschießen, oder?«, fragte Sky Monster über die Sprechanlage. »Sonst würden sie den Feuerstein zerstören.«
»Der besteht aus fast massivem Gold«, antwortete West. »Außer einem intensiven Treibstoffbrand würde er so gut wie alles überleben. Ich an deren Stelle würde uns abschießen und ihn aus den Trümmern bergen.«
»Na toll. Da kommen sie …«
Vier chinesische J-9 Abfangjäger rasten im Tiefflug über die Wüste hinweg der Halicarnassus hinterher und feuerten ihre Raketen ab.
Vier kleine Luftgeschosse lösten sich von ihren Tragflächen und zogen spiralförmige Rauchfahnen hinter sich her.
»Gegenmaßnahmen einleiten!«, rief West.
»Leite Gegenmaßnahmen ein!«, meldete Sky Monster zurück.
Er drückte einige Knöpfe. Sofort lösten sich mehrere Täuschkörper von der Unterseite der Hali.
Drei der Raketen schluckten den Köder und detonierten harmlos an den falschen Zielen.
Um die vierte kümmerte sich West, indem er sie mit seinem Geschütz in Stücke schoss.
»Sky Monster! Abtauchen! Rawson’s Canyon! Wir werfen die Leine aus und hoffen, dass Super Betty noch funktioniert! Los! Los! Los!«
Die Halicarnassus drehte ab und sank auf den flachen Wüstenboden zu. Zwei der Abfangjäger nahmen die Verfolgung auf, die beiden anderen blieben hoch darüber.
Die schwarze 747 gelangte in ein felsiges Gebiet voller Schluchten, eine weitläufige trockene Ebene, durchsetzt von niedrigen Mesas und Hügeln. Sie schoss in den Rawson’s Canyon, eine lange, schmale rinnenartige Schlucht, die mit einer Öffnung zwischen zwei Mesas endete. Auf dem Papier gehörte das Gebiet der Armee, doch außer Jack West jr. hatte seit Jahren niemand mehr einen Fuß hierhergesetzt.
Verfolgt von den beiden chinesischen Abfangjägern raste die Halicarnassus im Tiefflug durch die Schlucht.
Die Kampfjets feuerten auf sie, Jack und Zoe feuerten aus ihren Geschütztürmen zurück.
Leuchtspurgeschosse zischten zwischen den Gejagten und den Verfolgern durch die Luft. Die Landschaft sauste verschwommen vor Geschwindigkeit vorbei.
Dann erfasste Zoe ihr Ziel und ließ auf den linken Abfangjäger eine Salve einprasseln, die direkt den Lufteinlass erfasste. Sofort ging ein heftiger Ruck durch die J-9. Schwarzer Rauch quoll aus dem Triebwerk, bevor der Jet ins Taumeln geriet und gefährlich nach links trudelte. Der Schleudersitz wurde ausgelöst, und die Maschine krachte mit einer Geschwindigkeit von 800 Stundenkilometern in die Felswand der Schlucht.
Der verbliebene Abfangjäger feuerte weiter, aber Sky Monster wich in der engen Schlucht geschickt aus. Die Projektile zischten an dem rasenden schwarzen Flugzeug vorbei, streiften zwar die Flügelspitzen, trafen aber nichts Essenzielles.
Dann erreichte die Halicarnassus das Ende des Canyons und raste durch den schmalen Ausgang hinaus. In dem Moment brüllte Jack: »Sky Monster! Wirf Super Betty an! Jetzt!«
Prompt legte Sky Monster an seiner Konsole einen Schalter mit der Beschriftung START SUP BET um.
30 Meter unter und hinter ihm wurde die Magnetspule eines großen Sprengkörpers ausgelöst, der sich seit vielen Monaten unverändert auf dem Wüstenboden befunden hatte.
Es handelte sich um einen mächtigen RDX-Sprengkörper, der auf dem Prinzip einer auch als »Bouncing Betty« bekannten Springmine beruhte. Beim Auslösen erfolgte eine Vorexplosion, mit der die Hauptbombe 30 Meter hoch in die Luft geschossen wurde.
Drei Sekunden später detonierte die Hauptladung. Wie bei einer Springmine, nur viel größer. Groß genug für ein Flugzeug. Mit Splittern gefüllt.
Super Betty.
In der Luft hinter der fliehenden Halicarnassus folgte eine gewaltige sternförmige Explosion mitten im Weg des zweiten heranrasenden Abfangjägers.
Splitter schnellten dem Kampfjet frontal entgegen, prallten gegen die Cockpithaube, bohrten sich ins Panzerglas und verursachten unzählige spinnwebartige Sprünge. Weitere Splitter schlugen in die Lufteinlässe der J-9 ein und zerfetzten das Innenleben der Triebwerke.
Nach dem Auswurf des Piloten mit dem Schleudersitz stürzte die Maschine ab und zerschellte mit einer heftigen Explosion. Abfangjäger ausgeschaltet.
»Ich hab Betty seit Monaten nicht mehr überprüft«, sagte West. »Bin froh, dass sie noch funktioniert hat.«
Die Hali stieg wieder in den Himmel auf.
Dort warteten die beiden letzten Abfangjäger.
Mittlerweile hatte Sky Monster sie auf nordwestlichen Kurs in Richtung der Küste gebracht. Und als die Halicarnassus das australische Festland verließ und über den Indischen Ozean schoss, griffen die beiden Jets sie an.
Raketen, Geschütze – sie warfen alles ins Gefecht, was sie hatten.
West und Zoe erwiderten den Beschuss genauso wild, bis West schließlich einen Abfangjäger erwischte und … ihm die Munition ausging.
»Rechtes Geschütz leer!«, rief er in die Sprechanlage. »Wie sieht’s bei dir aus, Zoe?«
»Ein paar Patronen hab ich noch übrig«, meldete sie zurück, während sie auf die letzte J-9 feuerte. »Aber nicht mehr viele … Scheiße! Jetzt hab ich auch nichts mehr!«
Keine Munition und noch ein Angreifer übrig.
»Äh, Huntsman …«, rief Sky Monster erwartungsvoll. »Was machen wir jetzt? Mit Steinen werfen?«
Jack spähte zu ihrem verbliebenen Verfolger – der Abfangjäger schwebte am Himmel hinter ihnen, wartete ab, beobachtete, hielt sich zurück, als spürte er, dass etwas nicht stimmte.
»Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße«, fluchte er leise.
Er schnallte sich ab und eilte zurück in die Hauptkabine. Unterwegs überlegte er rasend.
Dann kam ihm eine Idee.
Er aktivierte sein Headset. »Sky Monster. Zieh uns hoch. So senkrecht wie möglich.«
»Wie bitte? Was hast du vor?«
»Ich werd hinten im Frachtraum sein.«
Sky Monster zog das Steuerhorn zurück, und die Nase der Halicarnassus stieg steil in den Himmel.
Höher, höher, höher …
Der Abfangjäger ließ nicht locker und raste aufwärts hinterher.
Jack kämpfte auf dem Weg in den Frachtraum gegen die Neigung an, hakte ein Sicherungsseil an seinem Gürtel ein und öffnete die Laderampe am Heck.
Luft wirbelte herein, und durch die Öffnung sah er den Abfangjäger knapp hinter ihnen – unter ihnen – vor dem Hintergrund des tiefblauen Ozeans.
Der Kampfjet feuerte.
Sengend heiße Leuchtspurgeschosse zischten in den Frachtraum und schlugen in die Träger um Jack herum ein. Im selben Moment betätigte er einen Hebel – jenen, der die Spanngurte seines verzurrten LSV fixierte. Die Gurte peitschten schlagartig zurück, das Fahrzeug rollte nach hinten aus dem Flugzeug und fiel in den Himmel.
Von außen betrachtet musste es spektakulär merkwürdig ausgesehen haben.
Die Halicarnassus stieg nach wie vor steil auf, die J-9 befand sich dahinter und darunter, als plötzlich das LSV – ein vollständiges Auto – aus der Hali fiel und …
… an der J-9 vorbei, da das chinesische Kampfflugzeug im letzten Moment ausscherte und ausweichen konnte.
Der Pilot grinste, sichtlich stolz auf seine Reflexe.
Allerdings reichten sie nicht aus, um auch dem zweiten LSV auszuweichen, das einen Moment später aus dem Laderaum der Halicarnassus stürzte.
Das Fahrzeug krachte wuchtig in die Nase des Abfangjägers und ließ die gesamte Maschine wie einen Stein vom Himmel fallen. Der Jet stürzte ins Meer ab. Der Pilot wurde unmittelbar vor dem Aufprall ausgeworfen und der Wagen schlug mit einem gigantischen Platschen ins Wasser.
Hoch darüber pendelte sich die Halicarnassus wieder auf eine horizontale Flugbahn ein, schloss die Heckrampe und raste unversehrt nach Nordwesten davon.
»Huntsman«, ertönte Sky Monsters Stimme über die Sprechanlage. »Wohin jetzt?«
Jack stand im Frachtraum und rief sich Wizards Botschaft ins Gedächtnis. TREFFEN UNS BEIM GROSSEN TURM.
Er drückte eine Taste der Sprechanlage. »Dubai, Sky Monster. Nimm Kurs auf Dubai.«
Auf Wests Farm bewachten chinesische Soldaten jedes Tor.
Die beiden Majore, Black Dragon und Rapier, warteten auf der Veranda, als ein Hubschrauber auf der staubigen Zufahrt vor ihnen landete.
Zwei Gestalten stiegen aus, ein älterer Amerikaner in Begleitung seines Leibwächters, eines US-Marines Mitte 20 asiatisch-amerikanischer Herkunft.
Der Ältere betrat ungezwungen die Veranda, unbehelligt von den Wachsoldaten.
Niemand wagte es, ihn aufzuhalten. Alle wussten, wer er war und welche Macht er besaß.
Es handelte sich um ein hohes Tier aus dem Pentagon, einen amerikanischen Colonel Ende 50, körperlich ungewöhnlich fit. Breite Brust. Harte blaue Augen. Blondes Haar mit Ansätzen von Grau. Zerfurchte, kantige Gesichtszüge. In Haltung und Auftreten ähnelte er einem 20 Jahre älteren Jack West.
Sein allzeit wachsamer Leibwächter, ein Marine, hörte auf den Rufnamen Switchblade. Er sah aus wie ein menschlicher Kampfhund.
Black Dragon begrüßte den älteren Mann mit einer Verbeugung.
»Sir«, sagte der chinesische Major. »Sie sind entkommen. Wir haben eine gewaltige Streitkraft mitgebracht und sind perfekt gelandet. Aber die Zielpersonen … Nun ja, sie waren …«
»Sie waren vorbereitet«, fiel ihm der ältere Mann ins Wort. »Sie waren auf diese Eventualität vorbereitet.«
Er marschierte an den beiden Majoren vorbei und betrat das Farmhaus. Langsam schlenderte er durch Wests verlassenes Haus. Gelegentlich hielt er inne und betrachtete etwas genauer – an der Wand ein gerahmtes Foto von West mit Lily und Zoe in einem Wasserpark, auf einem Regal eine von Lilys Ballettauszeichnungen. Am längsten verweilte er bei einem Foto der großen Pyramide von Giseh.
Black Dragon, Rapier und der Leibwächter namens Switchblade folgten ihm in diskretem Abstand und warteten geduldig auf Anweisungen von ihm.
Der ältere Mann ergriff das Foto von West, Lily und Zoe im Wasserpark. Die drei wirkten glücklich, lächelten für die Kamera, grinsten im Sonnenschein.
»Gut gemacht, Jack …«, murmelte der Mann, während er auf das Bild starrte. »Diesmal bist du mir entkommen. Immer noch misstrauisch genug mir gegenüber für einen Fluchtplan. Aber du lässt nach. Du hast uns zu spät bemerkt, und das weißt du auch.«
Der ältere Mann betrachtete die lächelnden Gesichter auf dem Foto und verzog die Lippen zu einem hämischen Grinsen. »Ach, Jack, du bist häuslich geworden. Sogar glücklich. Und das ist deine Schwäche. Es wird dein Untergang sein.«
Er ließ das Foto fallen. Das Glas zerbrach auf dem Boden. Der Mann drehte sich den beiden Majoren zu.