Die dunkle Seite Gottes - Rainer Gross - E-Book

Die dunkle Seite Gottes E-Book

Rainer Gross

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Beschreibung

Die Welt hat ein Geheimnis. Das Geheimnis hat damit zu tun, dass ich nicht ich bin und die Dinge nicht die Dinge sind. Für den Glaubenden ist dieses Geheimnis Gott. Aber was heißt das? Die Welt ist nicht so gottlos, wie sie scheint. Überall sind Spuren von Gott zu finden. Dieses Buch wagt den Blick über den Tellerrand von Kirche und Gemeinde hinaus auf Wissenschaft, Kultur, Kunst und fremde Religionen, um einen Gott zu finden, der größer ist als geahnt.

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Seitenzahl: 169

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Welt hat ein Geheimnis. Das Geheimnis hat damit zu tun, dass ich nicht ich bin und die Dinge nicht die Dinge sind.

Für den Glaubenden ist dieses Geheimnis Gott. Aber was heißt das? Die Welt ist nicht so gottlos, wie sie scheint. Überall sind Spuren von Gott zu finden.

Dieses Buch wagt den Blick über den Tellerrand von Kirche und Gemeinde hinaus auf Wissenschaft, Kultur, Kunst und fremde Religionen, um einen Gott zu finden, der größer ist als geahnt.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt. Er wurde 2008 mit dem Friedrich-Glauser-Debütpreis ausgezeichnet.

Von Rainer Gross sind bisher über siebzig Romane und Erzählungen erschienen. Dies ist sein erstes Sachbuch.

When I come home cold and tired

It's good to warm my bones beside the fire.

PINK FLOYD, DARK SIDE OF THE MOON

Inhalt:

Vorwort

Aufbruch

Das Licht in den Völkern

Einer der Tausend Wege

Die Welt hat ein Geheimnis

Von der Raupe zum Schmetterling

Das Schweigen der Dinge

Zen und Gottes Bauchhöhle

Es liegt an Orten

Sakrale Räume

Wie besuche ich Kirchen?

Zwischenstand

Von Kraftfeldern und Energieströmen

Tao, Qi und der Heilige Geist

Quantenphysik und Feinabstimmung

Das Sehnen der Schöpfung

Schönheit und Verheißung

Seelengrund und christliche Mystik

Das In-Sein

Das Zwiegespräch des Gebets

Ein Raum der Stille

Fazit

Verzeichnis der Bibelstellen

Vorwort

Die Welt hat ein Geheimnis. Das Geheimnis hat damit zu tun, dass ich nicht ich bin und die Dinge nicht die Dinge sind.

Für den Glaubenden ist dieses Geheimnis Gott. Aber was heißt das? Die Welt ist nicht so gottlos, wie sie scheint. Überall sind Spuren von Gott zu finden.

Dieses Buch handelt von der Verborgenheit und Erkennbarkeit Gottes in der Welt. Von Erfahrungen, die ich gemacht, und Einsichten, die ich gehabt habe.

Deshalb wünsche ich mir, dass manche Leserin und mancher Leser seine eigenen Erfahrungen, Gedanken oder Einsichten darin wiederfindet. Dass dieses Buch für möglichst viele interessant und hilfreich sein wird.

Es will nicht dazu aufrufen, Gottesdiensten fernzubleiben oder die Gemeinden zu verlassen. Aber es soll dazu ermutigen, über den Tellerrand hinaus zu blicken und den eigenen Horizont zu erweitern.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, eine spannende und gewinnbringende Reise auf die dunkle Seite des Mondes!

Reutlingen, August 2025

Aufbruch

Ich sitze im Gottesdienst. Sonntagmorgen, feine Kleider, frischrasierte Wangen, Handschlaggruß und Liederbuch, all die bekannten Gesichter, ein paar unbekannte darunter. Abkündigungen, gemeinsames Singen, draußen zwitschern die Amseln, im Sommer hinter den Fenstern.

Ich wäre jetzt vielleicht lieber draußen. Freude am Leben. Herr, nimm alle Hindernisse weg, mach mich offen für Deine undsoweiter. Ich rede mit Gott mal wie ein Sohn mit seinem Vater: devot, aufsässig, mal wie mit einer Geliebten: schwärmerisch, selig, mal wie mit einem Freund: ehrlich, kritisch, mal wie mit einem Retter: dankbar, unterlegen. Aber es hilft alles nichts: Gott ist nicht da.

Er ist nicht wirklich bei mir, in mir, in allem. Er ist immer dort und ich hier. Ob um mich herum oder im Himmel oder sonstwo, immer ist sein Dort nicht mein Hier. Etwas trennt mich von ihm. Die Transzendenz, fällt mir ein, aber schließlich ist er Mensch geworden, also bitte: Wo ist seine Immanenz? Wo ist er?

In meinem Herzen. Sicher. So klein, dass ich ihn wegdrücken, überhören, ignorieren, hätscheln kann. Zu wem rede ich, wenn ich bete? Wohin? Und dann die Frage, ob ich gehört oder erhört werde, ob das einen Unterschied mache, und die Gewissheit, dass er mich immer hört.

Aber da kommt mir mein Bedürfnis nach einem echten Erlebnis in die Quere, das, was manche in der Gemeinde abschätzig »Gefühle« nennen.

Was ich meine, ist: Andacht, Ehrfurcht, Ergriffensein von der Präsenz des Heiligen, Gestimmtheit, den Atem Gottes spüren. Was ich meine, ist: Gottesbegegnung. Nicht übernatürlich, sondern im Glauben. Eine leichte Gänsehaut im Nacken, weil man eine Anwesenheit spürt. Das hätte ich schon gern. Ich glaube, dass man Gott spüren kann.

Ich glaube, dass wir einen Sinn für Gottes Nähe haben.

Ich glaube, dass wir Gott in der Welt wahrnehmen können.

Ich glaube, dass Gott auf irgendeine Weise in seiner Schöpfung anwesend ist.

Viele Kulturen, viele Menschen seit Tausenden von Jahren reden davon.

Ich glaube ..., sage ich.

Und jetzt muss ich mich fragen: Was glauben diesbezüglich meine Sitznachbarn? Was glaubt der Pastor? Was die Ältesten, die Diakone, der Bibelkreisleiter?

Glauben wir nicht alle dasselbe?

Woran glauben wir?

Wir glauben, dass Gott in Jesus Christus sich offenbart hat.

Wir glauben, dass Gott uns in Jesus Christus seine Liebe ein für alle Mal bewiesen hat.

Wir glauben, dass Gott eine Person ist, die Erde und Himmel erschaffen hat.

Wir glauben, dass Gott Licht ist und kein Dunkel in ihm? Trotzdem singen wir an Weihnachten gedankenlos Jochen Kleppers steilen Satz aus seinem Lied Die Nacht ist vorgedrungen: »Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.«

Reden wir mit Gott, als stünde er neben uns, als sähen wir wie Moses den Unsichtbaren? Oft reden wir doch mit Gott, als thronte er dort oben im Himmel oder drüben, in einer anderen Dimension.

Wir reden mit Gott, als könnte unsere Sprache ein Medium des Unsagbaren sein. Wir seufzen und stöhnen und der Heilige Geist übersetzt es.

All das tun wir. Und wir tun es zurecht.

Aber das ist nicht alles.

Lassen Sie uns darüber nachdenken, was das eigentlich bedeutet: Offenbarung. Was für eine unausdenkliche Tat Gottes das war, dass er sich uns offenbart hat, dass er uns eine helle, sichtbare Seite zugekehrt hat. Wie der Mond.

Und wir wollen nicht vergessen, dass es auch eine dunkle Seite Gottes gibt, einen Gott, der sich verbirgt und verhüllt, dessen Gesicht aus Schatten besteht, die wir deuten und deuten. Wie die dunkle Seite des Mondes, die wir nie zu sehen bekommen.

Einen Gott, in dem wir immer schon sind und es oft nicht erkennen. Ein Dunkel, so tief und abgründig wie das Sein, unfassbar, ein Geheimnis.

Ein kleiner Exkurs: Stimmt es, dass Gott im Dunkel wohnen will? Jochen Klepper hat sich diesen Satz nicht ausgedacht; er zitiert ein Bibelwort. In 1. Könige 8 Vers 12 heißt es:

Da sprach Salomo: Die Sonne hat der Herr an den Himmel gestellt. Er hat aber gesagt, er wolle im Dunkel wohnen.

Salomo spricht diese Worte im Zusammenhang mit der Einweihung des Tempels in Jerusalem. Er erwähnt, dass Gott zwar den Tempel mit Licht erfüllt, aber auch gesagt hat, dass er im Dunkel wohnen will.

Von den Theologen wird diese Aussage so verstanden, dass Gott auch in den dunklen Bereichen des Lebens bei uns sein will.

Ich sehe darin aber noch eine zweite Bedeutung, eingedenk der Geschichte von Mose, der Gott nur von hinten sehen darf und deshalb zu seinem Schutz in einen Felsspalt gestellt wird1 . Gott antwortet ihm auf seine Bitte, die Herrlichkeit des HERRN sehen zu wollen, in Vers 20: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.

Gott verbirgt sich in seiner ganzen Herrlichkeit vor dem Menschen, um ihn zu schützen. Wir können also Gottes Angesicht nicht schauen; aber wir können Gott in dem Verborgenen, in dem er wohnt, begegnen.

Das Dunkel birgt ein Geheimnis. Hat denn der offenbarte Gott noch ein Geheimnis?

Ja, er ist das Geheimnis. Wenn wir das im Blick behalten, dann erscheint uns auch das Offenbarte als Geheimnis und längst nicht so selbstverständlich und banal, wie wir oft damit umgehen.

Das Geheimnis Gottes nun verbirgt sich im Evangelium. Das Geheimnis des Glaubens, von dem Paulus spricht2, ist die Tatsache, dass er seinen Sohn für uns opferte aus Liebe, ist die Liebe Gottes in Jesus Christus.

Diese Liebe völlig zu erfassen, die ganze Fülle Gottes zu begreifen3, bleibt lebenslange Aufgabe des Glaubenden.

Ich verlasse nachdenklich und unzufrieden den Gottesdienst. Es ist eine menschliche, allzumenschliche Gemeinschaft. Wo da der Geist wehen soll, ist mir manchmal schleierhaft.

Ich vermisse eine Ergriffenheit, eine Begeisterung, eine Sehnsucht nach Gottes Nähe. Dazu braucht es, denke ich, wieder ein Suchen nach Gott, ein Entdecken und Erforschen. Ich beschließe plötzlich, dass ich mich wieder aufmachen will, Gott zu suchen. Aus der hermetischen Gemeindewelt auszubrechen und Gott außerhalb der Gemeinde zu suchen.

Draußen, in der Welt.

In den Völkern und Kulturen. In der Natur. Im menschlichen Geist, der schon seit Jahrtausenden über Gott nachdenkt. In den Religionen, die alle ein wenn auch fragmentarisches Wissen von Gott haben. Im Alltag. In den Dingen. Im Innewohnen Gottes in seiner Schöpfung.

Ich will in die dunkle Seite Gottes eintreten, nun, da ich sein sonnenhelles Antlitz kenne, nun, da ich ihm glaube, dass er es mir liebend zukehrt.

Ich will erfahren, wo Gott noch ist, wo er immer schon war und ich ihm immer schon am nächsten.

Ich will heraus finden, ob die Welt tatsächlich gottlos ist, ein Ort nur der Täuschungen und Irrwege.

Gott ist ja nicht fern von uns, wie Paulus den neuigkeitslüsternen Athenern auf dem Marsfeld verkündet, in ihm weben und leben und sind wir, sagt er4 Menschen können das seit Jahrtausenden wissen, und ich will es wie sie erleben, erfahren, erkennen, jetzt, da ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.

Es wird kein anderer Gott sein, den ich da finden werde; darauf vertraue ich. Es wird der Gott sein, der mich geschaffen hat, weil er will, dass es mich gibt, und der für mich gestorben ist, damit ich sein kann, was ich eigentlich bin.

Aber ich werde ihn mit anderen Augen sehen. Mit Augen, die sich ans Dunkel gewöhnt haben, mit Händen, die nicht greifen, sondern tasten, mit Ohren, die nicht hören, sondern lauschen auf die Stille.

Ich werde Gott begegnen in dem, was immer schon da ist, dem Selbstverständlichsten und Staunenswertesten, und die Welt wird sich öffnen wie ein Fenster und das weite Land enthüllen, dessen Bürger ich im Glauben längst bin.

Auch das ist eine Art von Offenbarung, natürlich. Man kann es mit den Theologen revelatio generalis oder allgemeine Gotteserkenntnis nennen im Sinne von Römer 1, und auch sie hat – davon bin ich überzeugt – ihr gottgegebenes Licht. Auch wenn sie nicht zum Entscheidenden führt, zu Jesus Christus, zu einem eindeutig liebenden Gott.

Es ist tatsächlich eine Offenbarung, die wir vergessen haben über aller Sonntagspredigt, über Sakrament und Soteriologie, über Vaterunser und Liederbuchvers.

Eine Offenbarung, die uns in fremden Kulturen und Religionen entgegentritt, die wir dort wiedererkennen können, in Teilen, in Sätzen, in Symbolen und Bildern, in Erfahrungen, und das sollen wir laut Paulus: Alles prüfen und das Gute behalten5.

Das Gute – was kann das sein?

Ein Gott, wie ich ihn bisher nicht kenne oder nicht für wahr gehalten habe.

Ein Schöpfer, der größer und herrlicher ist, als ich geglaubt habe.

Eine Präsenz, die ich ausgeblendet habe in meinem ständigen Ich-hier und Gott-dort.

Ein Wunder des Seins, in das ich schon längst gehöre und das mir heraus hilft aus der Isolation eines zweifelnden Subjekts, eines Ichs, das die Zusammengehörigkeit mit seiner Welt verloren hat.

Eine Sicht der Welt, die ökologischer ist als alle ökologische Wissenschaft.

Ich will, nehme ich mir an diesem Sonntag vor, nicht systematisch suchen, sondern intuitiv. Ich will verwachsene Pfade aufsuchen, die ich noch kenne aus der Zeit, als ich mit dem Glauben nichts am Hut hatte und Christus der verstaubte Heiland meiner Großtante war.

Ich will meine Erfahrungen, die ich damals gemacht habe mit dem Geheimnis der Welt, erneut befragen, vielleicht sogar wieder aufleben lassen.

Ich will Orte und Stätten aufsuchen, wo damals etwas von dieser geheimnisvollen Präsenz zu spüren war.

Und ich will die Wissenschaft und Philosophie, vor allem die ostasiatische, durchstöbern, neu bedenken, auf ihre Verknüpfbarkeit mit meinem Glauben hin prüfen. Jenes weltliche Gedankengut, das ich schon immer im Verdacht hatte, dass es mehr weiß, als ihm selbst klar ist.

Ich will meinen Gott größer, herrlicher, unfasslicher, geheimnisvoller erfahren.

Ich will ausbrechen aus meinem täglichen Gefangensein in der Trennung von Gott, immer wieder.

Ich will die Welt durchschauen wie mit einem Messgerät, und sie wird wimmeln von magnetischen Feldern und Strukturen und Kraftflüssen Gottes.

Der Gedanke, dass Gott ständig da ist, wird alle meine Gedanken, Gefühle und Handlungen begleiten können.

Das habe ich mir vorgenommen. Das wünsche ich mir.

Ein Aufbruch, ja. An gehisste Segel muss ich denken und Fahnen, die im Wind knattern; an Wellen, die an Kaimauern schlagen, an Überfahrten und Eselskarawanen und startende Düsenjets. An Reisen und fremde Länder. An ferne Horizonte und die Entdeckung neuer Kontinente. Der Sonntag riecht plötzlich nach Meer, eine Freude und Sehnsucht ergreift mich, die mich angesichts meines Gottes schon lange verlassen hatte.

Und zuhause greife ich mir als erstes die Bibel und lese die Stelle nach, die mich schon immer sehr beeindruckt hat: die Stelle über Gottes Erkennbarkeit in der Welt.

Das Licht in den Völkern

Ich lese den Text nach der Lutherübersetzung von 2017:

Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. 20Denn sein unsichtbares Wesen – das ist seine ewige Kraft und Gottheit – wird seit der Schöpfung der Welt (…) an seinen Werken ersehen. Darum haben sie keine Entschuldigung. 21Denn obwohl sie von Gott wussten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt (…)

(Römer 1,19-21)

Was wird hier Unglaubliches gesagt?

Die Theologen wissen es längst, gut, aber habe ich es in seiner ganzen Tragweite schon begriffen? Habe ich es denn konsequent angewendet auf mein Leben und meine Weltsicht?

Es geht darum, dass die Menschen aller Kulturen von dem, was sie von Gott in der Schöpfung sehen und verstehen können, abweichen. Selbst wenn sie nur das nehmen, was sie ohne Bibel und Jesus Christus von Gott wissen können, einfach weil sie die Welt anschauen, entsprechen die Menschen dieser Erkenntnis nicht.

Das Entscheidende dabei ist doch dieser Satz:

Denn sein unsichtbares Wesen – das ist seine ewige Kraft und Gottheit – wird seit der Schöpfung der Welt (…) an seinen Werken ersehen.

Das heißt für mich nichts weniger, als dass wir Menschen etwas von Gott wissen können, auch wenn wir nie eine Predigt gehört oder eine Bibel gelesen haben!

Und dieses Wissen ist nicht überflüssig oder obsolet, wenn wir durch die Predigt zum Glauben gekommen sind.

So wie es mir erging, als ich nach dreißig Jahren ohne Gott – von einem Kinderglauben in frühen Jahren abgesehen – zum Glauben kam.

Viele Erkenntnisse aus dieser Zeit wurden zunächst von der neuen christlichen Weltsicht nicht berührt. Ich sah da keinen Zusammenhang, keine Vereinbarkeit. Ich musste mir Stück für Stück die neue Weltsicht aneignen und mich von ihr durchdringen lassen.

Das war für mich ein langer Prozess. Ein Glaubensprozess, weil ich dann – auf der Grundlage einer ganz anderen Gewissheit – meine alte Weltsicht reformieren, verwandeln, aktualisieren konnte.

Dabei habe ich festgestellt, dass ich meine alte Weise, das Göttliche in der Schöpfung wahrzunehmen, nicht über Bord zu werfen brauchte. Ich lernte, dass nicht ausschließlich Bibel und Gottesdienst Wege sind, Gott zu erkennen.

Das Erkennen geschieht im Inneren, in unserem Herz. Es entsteht aus dem liebenden Zusammensein mit Gott.

Wir gehen als ganze Menschen, mit offenen Augen und Ohren und Herzen, durch die Welt. Wir dürfen lernen, den im Glauben gefundenen Gott in der Welt, in der wir immer schon gelebt haben, wiederzufinden.

Und hier, in Römer 1, erfahren wir, dass wir immer schon etwas Wahres von Gott gewusst haben oder zumindest wissen konnten.

Gemessen am Evangelium ist es vielleicht nicht viel, auch nicht hinreichend, aber wir haben eine Vorstellung von Gott bekommen, die uns lange Zeit – je nachdem wann wir zum Glauben gefunden haben – begleitet hat.

Beides soll und muss irgendwann in Einklang gebracht werden. Unsere alte Sicht wird sich ändern, unsere bisherige Gottesvorstellung genauso wie unser Weltbild. Und ebenso wird das neue Bild von Gott und der Welt sich erweitern, tiefer, schärfer, bunter, lebendiger werden durch die alten Erfahrungen.

Denn Gott hat ja schon in der Zeit, als ich nicht gläubig war, in meinem Leben gewirkt. In diesem Sinne sagt Tolstoi:

Liebe deine Geschichte, denn sie ist der Weg, den Gott mit dir gegangen ist.

Noch spannender ist dieser Satz aber für unsere Sicht der vielfältigen Religionen und Philosophien, die wir in der Welt, meist in fremden Kulturen, vorfinden.

Sie sind nicht von vornherein finster, verblendet und des Teufels. Es ist ihnen ein Licht gegeben, ein anfängliches, und ihre Geschichte wäre somit eine Geschichte der zunehmenden Verdunkelung und Entstellung dieser anfänglichen Erkenntnis.

Aber zumindest würde es sich lohnen, nach den Spuren dieser anfänglichen Wahrheit zu suchen und heraus zu finden, inwiefern sie noch gültig ist, auch für uns.

Denn gerade der uns fremde, ungewohnte Blick auf die Welt und Gott kann uns bereichernde neue Einblicke gewähren. Denn wir sind ja selbst geprägt von einer kulturellen und geistesgeschichtlichen Tradition.

Wer glaubt, dass Gott in der Schöpfung erkennbar ist, der wird ihn sehen und ihm begegnen.

Psalm 19 erzählt schön davon. Von einem Gott vor der Menschwerdung, vor der Selbstentäußerung, vor Bethlehem und Golgatha.

Von einem Schöpfergott, der seine Schöpfung liebt. Der sie nicht allein lässt, sondern sie trägt, erhält und ständig erneuert. Von einem Gott, der im Unsichtbaren wirkt, dessen Markenzeichen geradezu das Unsichtbare ist: das, was hinter der Welt und all ihren Erscheinungen steht.

Unsichtbarkeit, ewige Kraft und Göttlichkeit – das ist von Gott erkennbar. Doch nicht seine aufopfernde Liebe für uns, seine Bereitschaft, für uns in den Tod zu gehen.

In der natürlichen Erkenntnis behält die Welt ihr zwiespältiges Janusgesicht von Glück und Leid, Freude und Schmerz, Gut und Böse. Sie kann das Paradies, aber auch die Hölle sein.

Das Rätsel des Unheilen in der Welt bleibt ungelöst. Aber gerade hier wird für den natürlichen Menschen die Existenz des Heils sichtbar.

Leonard Cohen sagt:

Da ist ein Riss in allen Dingen. Das ist, wo das

Licht herein fällt.

Dieser Gott ist noch zwiespältig in seiner Güte und seinem Zorn. Er ist in seiner Göttlichkeit nicht hinterfragbar. Der einzige Gradmesser, den wir haben, ist unser Gewissen: anfechtbar und korrumpierbar genug, kulturell geprägt, oft geschrumpft auf ein bloßes Wissen um die Existenz des Guten und des Bösen.

All dies, was das Evangelium des bedingungslos liebenden Gottes klärt und beseitigt, ist hier noch in Kraft.

Von der natürlichen Erkenntnis aus führt kein Weg zu Jesus Christus und seinem Opfertod auf Golgatha. Dazu braucht es die Predigt des Evangeliums. Paulus sagt:

Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?6

Das sind die Grenzen der allgemeinen Offenbarung. Das ist es, was der Mensch von Gott wissen kann, ohne je von Christus gehört zu haben.

Aber dennoch: Es ist viel. Der Atem der Ewigkeit haucht uns aus der Schöpfung an, auch wenn sie von Vergänglichkeit überschattet ist. Das Wunder der ordnenden, Leben spendenden Kraft offenbart sich uns mitten im chaotischen Getriebe der Welt.

Und der herbe Geschmack des unzugänglichen Geheimnisses ernüchtert uns, denn wir müssen einsehen, dass das Sichtbare nicht aus Sichtbarem entsteht, sondern aus dem Unsichtbaren.

Selbst die Physik muss erkennen, dass die wahren Ursachen und Strukturen des Seins nicht materiell, sondern immateriell, geistig sind. Eine Einsicht, deren Konsequenzen von einigen namhaften Vertretern eingefordert werden. Ich möchte hier nur auf Carl Friedrich von Weizsäckers Bücher Aufbau der Physik und Einheit der Natur verweisen.

Hierzu ein kleiner Exkurs für Interessierte. Die Entdeckung der modernen Physik, dass die Ergebnisse eines Experiments nicht mehr unabhängig vom Betrachter sind, hat alles verändert. Wir tragen unsere Deutung eines Phänomens schon in den Aufbau des Experiments hinein.

So etwa beim Licht. Wir untersuchen es daraufhin, dass es sich wie eine Welle verhält, und bekommen entsprechende Ergebnisse (z.B. Interferenzen). Wir untersuchen es als Teilchen und bekommen wieder entsprechende Ergebnisse (z.B. Streuung). Je nachdem, welches Experiment wir ansetzen, erhalten wir andere Ergebnisse.

Die moderne Physik spricht deshalb von der Doppelnatur des Lichts.

Auch und gerade in der Quantenphysik wird das fatal. Wir können den Zustand eines Teilchens nicht mehr unabhängig vom Versuchsaufbau angeben. Wir wissen also nicht, was das Teilchen an sich ist, sondern nur, wie es bei unseren Experimenten, unter den Vorgaben, die wir machen, erscheint.

Carl-Friedrich von Weizsäcker geht in seinem Buch Aufbau der Physik so weit, dass er die Wirklichkeit selbst nicht mehr materiell sieht, sondern geistig. Die Dinge erscheinen je nach dem als das, als was wir sie deuten.