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Florence Taylor, eine schwarze Journalistin aus Deutschland, reist nach Grenada, um ein Reisebuch über die kleine Antilleninsel zu schreiben. Sie ist auf Grenada geboren, wurde aber als Kind zu Verwandten nach England geschickt. Mehr und mehr verliebt sie sich in die Insel und glaubt, ihre verlorene Heimat darin wiederzufinden. Bei ihren Recherchen jedoch stößt sie auf ein Kapitel der grenadischen Geschichte, das ihre Kindheit betrifft. Es lässt sie nicht los, bis sie heraus findet, was damals wirklich geschah.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Florence Taylor, eine schwarze Journalistin aus Deutschland, reist nach Grenada, um ein Reisebuch über die kleine Antilleninsel zu schreiben. Sie ist auf Grenada geboren, wurde aber als Kind zu Verwandten nach England geschickt. Mehr und mehr verliebt sie sich in die Insel und glaubt, ihre verlorene Heimat darin wiederzufinden. Bei ihren Recherchen jedoch stößt sie auf ein Kapitel der grenadischen Geschichte, das ihre Kindheit betrifft. Es lässt sie nicht los, bis sie heraus findet, was damals wirklich geschah.
Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theo-lo-gie. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schrift-steller wieder in seiner Heimatstadt. Er wurde 2008 mit dem Friedrich- Glauser- Debütpreis ausgezeichnet.
Bisher sind rund siebzig Titel von Rainer Gross erschienen. Zuletzt veröffentlicht: Novemberland (2023); Schafsgezwitscher (2023); Das heiratende Mädchen (2023); Jesus trinkt den Kaffee schwarz (2024); Café im Hof (2024); Jahrtausendwende (2025); Gezeitenwechsel (2025); Zeugenberg (2025); Tagundnachtgleiche (2025).
1 Welcome to Grenada
2 Petula
3 Ein rosa T-Shirt
4 Regenwald
5 Zitronenhaie
6 Frederic
7 Grenville
8 Muskat
9 Cricket
10 Foreward ever
11 Kaffee schwarz
12 Oil down
13 Grandma
13 No, woman, no cry
14 Aussprache
15 Der Weltenbummler
16 Tobago Cays
17 Der Obeah-Mann
18 Klausenberg
19 Farewell, Grenada
Florence kommt an. Grenada, Kleine Antillen. Sie steigt aus dem zweistrahligen Flieger der Bri-tish Airways am Maurice Bishop International Airport.
Die Flughalle aus Beton und Glas. Welcome to Grenada auf einem Schild und zwei Muskatnüsse darunter. Draußen Asphalt und Taxis. In der Ferne die Häuser von St. George‘s.
Palmen. Frei verlegte Stromleitungen. Blaugrünes Wasser beim Anflug. Karibik eben.
Sie setzt die Sonnenbrille auf.
Niemand erwartet sie hier. Mit federndem Schritt geht sie zur Flughalle. Ihre langen Haare wehen wie eine Fahne. Sie hat sich auf dem Zwischenstopp in Miami umgezogen: Shorts, Bluse, Sandaletten. Den Koffer zieht sie auf Rollen hinter sich her.
Sie ist nicht zum ersten Mal in der Karibik. St. Lucia, Tobago und Saba. Und jetzt Grenada.
Warum Grenada?
Zwei Wochen liegen vor ihr. Recherchear-beit für ein Reisebuch über Grenada. Der Verlag will den Titel neu auflegen, er ist über zehn Jahre alt. Zwei Wochen sind nicht viel. Aber für eine Insel kleiner als Bornholm müsste es reichen.
Sie will keinen Stress. Sie hat in ihrem Beruf genug Stress. Auch auf Reisen. Sie will auf Grenada Gelassenheit lernen.
Florence kennt die Insel nicht. Sie ist zwar hier geboren, hat ihre Kindheit hier verbracht. Aber da war sie erst fünf. Sie weiß kaum mehr etwas davon.
Da fällt ein Flieger aus den Wolken und hält im Steilflug auf den Flughafen zu. Sie schaut nach oben. Das schrille Geräusch der Motoren.
Unwillkürlich zieht sie den Kopf ein. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Ein Anflug von Panik. Sie schaut sich nach einem Unterschlupf um, will sich verstecken.
Dann geht der Flieger zur Landung über.
Sie atmet auf.
Dass ich das nicht ab kann!, denkt sie. Ich sitze lieber in einem Flugzeug, als dass ich es über meinem Kopf habe.
Sie geht hinüber zum Taxistand und winkt ein Taxi herbei. Die Unterkunft liegt in der Innenstadt von St. George‘s.
Warum Grenada?
Warum nicht?
Sie dachte, weil sie hier geboren ist und von der Insel stammt, wäre das doch sehr passend.
Zudem wollte sie das Land ihrer Kindheit wiedersehen. Auch wenn sie sich an nichts erinnert. Irgendetwas zieht sie an, sie weiß nicht was.
Mit ihrer kakaobraunen Haut fällt sie hier gar nicht auf. Man könnte sie für eine Einheimische halten.
Der schwarze Fahrer hält und spricht sie in einem Idiom an, das Grenada-Kreolisch sein muss.
Sie hat es noch nie authentisch gehört. Ihre Antwort kommt auf Englisch. Das astreine Oxfordenglisch, das sie in England gelernt hat.
Der Fahrer hebt theatralisch die Brauen und entschuldigt sich auf Englisch. Den Namen der Lodge, wo sie ein Zimmer gebucht hat, kennt er.
Er hilft ihr, den Koffer in den Kofferraum zu heben. Sie nimmt auf dem Beifahrersitz Platz.
Er schaltet das Taxameter ein, ein Blechkasten, ganz neu und modern. Es tickt. Er fährt los und fädelt sich in den Verkehr des Zubringers ein.
Florence ist ein wenig aufgescheucht durch das Erlebnis mit dem Flugzeug in der Luft. Die Hauptstadt ist trubelig, nichts von karibischer Gelassenhit.
Sie holt aus ihrem Tagesrucksack das Smart-phone heraus und notiert sich in ihrem Notizbuch eine Frage.
Warum heißt der Flughafen nach Maurice Bis-hop? Wer war Maurice Bishop?
Im Jahr 2009 hat man den Point Salines Air-port umbenannt, sagt das Smartphone. Er war 1979 erbaut worden.
Sie schaut eine Zeitlang dem Gewimmel in den Straßen zu. Den neumodischen Autos, den vollgepackten Kleinlastwagen, den bunt gekleideten Fußgängern dazwischen.
Linksverkehr. Die Insel gehört zum Commonwealth.
Moderne Architektur für Touristen wechselt sich ab mit ein- oder zweistöckigen Häuschen aus Holz und Stein. Stromleitungen überall. Hängeampeln, die blass leuchten in der karibischen Sonne.
Dann wird es ihr zu viel. Sie holt die Ohrhö-rer aus dem Rucksack, schließt sie an ihr Smart-phone an und wählt ein Musikstück aus ihrer Mediathek.
Gregorianische Gesänge. Die beruhigen sie immer.
Sie schließt die Augen.
Wenigstens kurz.
Ad te levavi animam meam.
Sie wird ruhig. Eine kleine Freude blitzt auf.
Sie mag die Karibik. Das leichtmütige Leben. Die Lässigkeit. Die Blumen und Früchte. Die Sandstrände. Der Dschungel im Inselinnern, in den Bergen.
Sie freut sich auf Grenada.
Eigentlich ein Witz, denkt sie: der Welt zweitgrößter Muskatnussproduzent, und sie hasst Muskat! Hat ihn aus ihrer Küche verbannt. Kann das Zeug nicht ausstehen.
Sie kann es nicht einmal riechen.
Ich bin schon eine merkwürdige Type, denkt sie.
Deus meus in te confido.
Dann hält das Taxi vor der Gästelodge. Nut-meg Guest Lodge steht auf dem Schild. Neubau, viel Holz, in einer belebten Nebenstraße.
Florence lässt die Ohrhörer drin und lauscht dem Choral, der näselnden Orgel, den getragenen Männerstimmen, während es nach Fisch und Bananen riecht von einem kleinen Markt um die Ecke.
Sie bezahlt in ostkaribischen Dollars, der Fahrer tippt sich an die Mütze und fährt davon.
Da steht sie, ihren Koffer neben sich, und schaut sich ihre Herberge für die nächsten zwei Wochen an.
Drinnen ist es sauber und heimelig. Moderner Service gepaart mit viktorianischer Gemütlichkeit.
Sie nimmt die Ohrhörer heraus und steckt das Smartphone weg.
Am Tresen eine freundliche junge Frau in einem bunten Kleid. Eine dicke Kette aus künstlichen Perlen um den Hals. Schwarzhäu-tig wie Florence.
Sie hat das Zimmer vorbestellt. Die Buchung hat geklappt, sie hat ein Zimmer nach hinten raus, zum Garten.
»Woher kommen Sie?«, fragt die Frau auf Englisch. Sie trägt ein Namensschild am Ausschnitt.
Mrs. Petula Clark.
»Aus Deutschland.«
»Und Sie machen hier Urlaub?«
Smalltalk.
Dann begleitet Mrs. Clark sie die Treppe hinauf in den ersten Stock und zeigt ihr das Zimmer.
Sauber und ordentlich. Ein Ventilator an der Decke. Ein großes Bett, ein Tisch, an dem sie wird arbeiten können. Eine Sitzgruppe, eine Kommode, ein Schrank.
Die Nasszelle mit Dusche und Waschbecken. Zwei Handtücherhängen an einem Wandhalter. Ein Stückchen eingepackte Seife liegt in der Seifenschale.
WLAN, Telefon, Fernseher, alles da.
»Sehr schön«, sagt Florence.
Mrs. Clark bedankt sich nickend und verlässt sie mit dem Hinweis, dass sie sie jederzeit rufen kann, wenn sie etwas braucht.
Florence schließt die Zimmertür hinter sich, stellt den Koffer ans Bett und lässt sich in die weiche Matratze fallen.
Dort liegt sie, Blick zur Decke.
Erst einmal ankommen. Entspannen.
Vom Balkon weht eine Brise, die die Gardine bauscht.
In einem Deckenwinkel entdeckt sie ein Reptil. Es sitzt reglos mit seinen Saugnapfpfo-ten und seinen atmenden Flanken.
Ein Gecko.
Nützliche Tierchen, weiß sie, kein bisschen lästig. Fangen die Moskitos und das ganze Ungeziefer, das durch die Fenster herein kommt.
Außer man hat Aircondition.
Sie steht auf und geht auf den Balkon. Der Blick hinunter in den Garten ist tropisch. Blühende Büsche und große, Schatten spendende Bäume. Wuchernde Stauden, Liegestühle.
Kaffeetische.
Hier kann sie also ihre Nachmittage verbringen. Ihre Kapitel schreiben mit dem Laptop.
Welche Büsche und Bäume?
Sie muss sich das von Mrs. Clark erklären lassen, nachher.
Dann packt sie ihren Koffer aus. Hängt die Kleider und Hosen in den Schrank, räumt die Unterwäsche, die Oberteile und T-Shirts in die Fächer. Stellt die Schuhe darunter. Sonnenhut. Sonnenbrille. Flip-Flops.
Als der Koffer leer ist, klappt sie ihn zusammen und stellt ihn neben den Schrank.
Zeit, zuhause anzurufen.
Sie sucht auf ihrem Smartphone die Nummer in Deutschland heraus und stellt die Verbindung her.
Sechs Stunden später als hier.
Richard ist nicht da. Nur der Anrufbeant-worter erklärt sich mit Richards ruhiger Stimme und dem hanseatischen Akzent.
Sie hinterlässt ihm eine Nachricht. Sie rufe heute Abend noch einmal an, wenn sie von den ersten Erkundungen zurück sei.
Sie atmet einmal tief durch.
Sie ist immer noch nervös.
Vielleicht macht es doch etwas aus, dass ich hier geboren bin, denkt sie. Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln.
Aber bisher kennt sie nichts wieder. Grenada ist eine kleine Antilleninsel wie die anderen auch.
Sie beschließt, einen kleinen Imbiss zu nehmen und dann die Straßen ringsum zu erkunden.
Nebenher will sie sich im Internet über Maurice Bishop schlau machen.
Sie erinnert sich, den Namen schon einmal gelesen zu haben. Bei ihrer Kurzrecherche über die Geschichte Grenadas.
Sie duscht und zieht sich um, ein frisches Oberteil, die Shorts lässt sie an. Dazu Flip-Flops. So laufen hier alle herum.
Kein Parfüm.
Sie bürstet ihr wildes Haar durch und bindet es zu einem Pferdeschwanz.
Sie legt die silbernen Kreolen an – wie passend!, denkt sie – und zieht ein wenig die Lippen nach.
Dann geht sie hinunter zu Mrs. Petula Clark und mischt sich unters Volk.
Florence geht zielstrebig und angespannt, in einem Schritt, den sie sich in Hamburg angewöhnt hat, wo ihre Hautfarbe noch auffällt.
Geteerte Sträßchen, steil aufwärts oder abwärts, schmal und voller Verkehr, bereiht von Häusern im Kolonialstil. Tausend Treppen, abenteuerlich. Die Bauten wirken alle ziemlich neu. Seltsam.
Warum?
Sie notiert sich die Frage.
Die Menschen, schwarzhäutig wie sie selbst. Bunte Stoffe, ein Lächeln auf den Lippen. Nur wenige Weiße, Touristen in Gruppen oder als Pärchen, mit Sonnenbrillen und rotgesichtig.
Sie steigt die Treppen hinunter zum Hafen.
Ein rostiger Frachter hat festgemacht, gemächlich bewegen sich die Portalkräne mit ihren geduldigen Armen.
In der blaugrünen Bucht ankert ein Kreuzfahrer, höher als die Kirchtürme. Eine strahlend weiße Argo, bald bewimmeln die Massen das Städtchen.
Wolken am Himmel. Träg ziehende Luftschiffe, eine Armada auf Passatwinden.
Sie atmet noch einmal tief ein und spürt einen Freudenstich im Bauch.
Sie setzt sich in ein kleines Café am Hafen und schaut sich die vorbei gehenden Menschen an.
Der Kaffee tut gut.
Sie googelt auf ihrem Smartphone. Kein Wunder, dass die Häuser so neu wirken. Ein Wirbelsturm hat 2004 fast die gesamte Stadt zerstört. Neuaufbau im ursprünglichen Kolonialstil.
Ja, das ist auch sowas, denkt sie und macht sich eine Notiz. Die Hölle im Paradies. Grenada liegt am Rand der Zugbahn der Hurri-kane.
Arme Länder trifft es immer besonders hart.
Haben die Menschen Angst vor den Wirbelstürmen? Wie lebt es sich mit der Katastrophe?
Dazu wäre ein Kapitel im Reiseführer gut. Samt Interview mit Betroffenen. Hölle im Paradies die Überschrift.
Über ihr ist wieder eine Maschine im Anflug auf den Airport. Sie merkt es erst, als sie unruhig wird.
Sie schaut auf und sieht den Flieger silbern in der Sonne blitzen.
Sie wird nervös. Sie spürt ihren Puls. Dann konzentriert sie sich auf ihr Smartphone.
Arbeit lenkt ab.
Sie macht eine Liste der Sehenswürdigkeiten, die sie abklappern möchte.
Entwürfe für zehn Kapitel hat sie bereits. Vierzehn oder fünfzehn sollen es werden.
Der berühmteste Strand in Grenada, in der Grand Anse-Bucht. Der Grand Etang-National-park. Ein Trip durch den Regenwald und Baden in einem der Wasserfälle. Bei Grenville gibt es die größte Muskatnussplantage. Eigentlich ein Muss, aber für Florence eine echte Überwindung. Allein von dem Geruch würde ihr übel werden. Die älteste Rum-Destillerie im Nordosten der Insel, ein Strand mit schwarzem Sand.
Um Grenville, merkt sie mit dem Finger auf dem Touchscreen, macht sie einen Bogen.
In Grenville hat sie ihre Kindheit verbracht.
Ach, denkt sie, warum nicht? Ich werde mich eh an nichts erinnern. Ist fast vierzig Jahre her.
Ein Ausflug nach Carriacou, der Insel im Nordosten. Verschlafene Idylle, hat sie gelesen. Am besten auf einem Segeltörn.
Dazu muss sie noch die Kontakte herstellen.
Und ein Kapitel über Maurice Bishop. Wer er war und was er für das Land geleistet hat, dass man einen Flughafen nach ihm benannte. Was er den Menschen heute noch bedeutet.
Maurice Bishop, googelt sie. Grenadischer Politiker, Premierminister Grenadas von 1979 bis 1983. Studierte Jura in England und arbeitete als Rechtsanwalt. Rückkehr nach Grenada 1969. Mitbegründer der sozialistischen New Jewel Movement.
Auch so ein Stichwort. Sie googelt weiter. Basisdemokratisch. Aus der Graswurzelbewe-gung hervor gegangen. Gründung von Arbeiterräten nach sowjetischem Vorbild. Bau von Schulen und Krankenhäusern. Enge Zusam-menarbiet mit Cuba und der Sowjetunion.
Dann kommt es: Bishop ließ 1980, statt des alten Flughafens in Pearls nahe Grenville, einen neuen Flughafen für den Tourismus bauen. Den Point Salines Airport, 2009 umbenannt in Maurice Bishop Airport.
Sieh da!, denkt Florence. Über Bishop muss ich mehr heraus kriegen. Dann steckt sie das Smartphone für heute weg.
Heute Abend will sie bei einem Tee im Garten das erste Kapitel schreiben.
Nach drei Stunden, in denen sie noch auf dem Markt frisches Obst eingekauft hat, kehrt sie in die Lodge zurück.
Richard ist am Telefon.
»Und, wie geht’s dir in deiner Heimat?«
»Hamburg ist meine Heimat. England ist meine Heimat.«
»Na ja, ich dachte eben. Warst du schon an deinem Geburtsort?«
»Mach ich einen Bogen drum. Aber ich werde mir Grenville wohl einmal anschauen. Schadet ja nichts.«
»Wie geht es dir? Was macht deine Nervosität?«
»Du sollst mich nicht bemuttern.«
»Ich bemuttere dich nicht«, sagt Richard geduldig. »Ich will bloß wissen, wie es dir geht.«
»Prächtig«, sagt sie.
»Das war Sarkasmus.«
»Fangen wir nicht wieder damit an.«
»Klappt das mit dem Mietwagen?«
»Ich hab mich noch nicht erkundigt. Ich möchte die ersten Tage in St. George’s bleiben. Auf der Insel herum fahren kann ich später.«
Schweigen.
Achttausend Kilometer entfernt.
»Du fehlst mir«, sagt er leise.
»Du mir auch.«
Eine Träne hat sich in ihren Augenwinkel gestohlen.
»Ich glaub, wir müssen aufhören. Ich werde sentimental.«
»Wie du willst.«
»Bis morgen. Danke, dass du’s mit mir aushältst.«
»Ich liebe dich. Bis morgen. Und hab keine Albträume.«
»Ach, das ist seit Langem vorbei. Ich habe sie nur noch selten. Hier geht’s mir gut.«
»Wenn irgendwas ist, kannst du ja Klausen-berg anrufen.«
»Den rufe ich nur im Notfall an.«
»Dann bis morgen.«
Ein Kuss ins Telefon. Das war’s.
Sie drückt auf den roten Hörer.
Am nächsten Morgen weiß sie nicht, wo sie ist. Das passiert ihr immer am ersten Tag an einem fremden Ort.
Aber die sich bauschende Gardine, der Ge-cko in der Ecke und das Licht vom Balkon beruhigen sie wieder.
Sie ist auf Grenada. In der Nutmeg-Gäste-Lodge.
Sie streckt alle Viere von sich, dass die Gelenke knacken. Dann wälzt sie sich in dem breiten französischen Bett von einer Seite auf die andere.
Sie fühlt sich fast wie im Urlaub. Nur etwas angespannt, weil sie eine Menge Arbeit vor sich hat.
Eine Dusche, dann das Frühstück.
Sie hat Halbpension gebucht. Frühstück und Abendessen. Zu Mittag braucht man in der Karibik nur einen Imbiss. Den kann sie sich unterwegs besorgen.
Heute muss sie sich um einen Mietwagen kümmern. Gestern Abend war sie zu müde, um das erste Kapitel zu schreiben. Für heute nimmt sie es sich vor.
Sie hat Lust zum Schreiben.
Unter der Dusche wäscht sie ihre Haare und lässt sie an der Luft trocknen. Dann kriegt sie eine kräuselige Mähne, die ihr heute gefällt.
Ach, denkt sie, als sie angezogen die Treppe hinunter steigt in den Speisesaal, eigentlich bin ich froh, mal wieder aus Hamburg heraus zu kommen.
In letzter Zeit ist ihr klar geworden, dass sie sich in Hamburg nicht wohl fühlt.
In Deutschland.
Aber von England hat sie auch die Nase voll.
Nirgendwo ist sie richtig zuhause.
Mrs. Clark begrüßt sie und fragt, ob sie gut geschlafen hat.
Florence holt sich ein paar Happen, Müsli und Fruchtsaft, eine Papaya, frisch aufgeschnitten, und ein wenig vom englischen Frühstück.
Sie setzt sich mit dem Tablett hinaus in den Garten. An einen kleinen Tisch im Schatten.
Ein Schluck von dem Earl Grey.
Eine Gabel Rührei, eine Scheibe Speck.
Im Schatten ist es lau, der Wind geht durch den Garten.
Während sie sitzt und isst, hüpfen kleine gelbschwarze Vögel auf dem Tisch herum und versuchen, etwas zu stiebitzen.
Besonders auf den Zucker in der Schale sind sie scharf.
»Das sind Bananaquits«, sagt Mrs. Clark, als sie einmal nach ihr schaut. »Wir nennen sie Zuckervögel. Sie sind gierig nach allem Süßen. Ich hoffe, sie stören Sie nicht allzu sehr.«
»Darf ich Sie etwas fragen, Mrs. Clark?«
»Gern.«
»Sagt Ihnen der Name Maurice Bishop etwas?«
Sie überlegt kurz. Zögernd antwortet sie: »Das war, soweit ich weiß, ein Politiker auf Grenada. Anfang der Achtziger, wenn ich mich nicht irre.«
»Er war Premierminister von 1979 bis 1983«, hilft Florence nach.
»Meine Grandma hat manchmal von ihm erzählt. Daher kenne ich den Namen. Warum fragen Sie?«
»Mich interessiert, was die Leute heute noch von ihm halten.«
Mrs. Clark setzt sich auf den Stuhl neben Florence und nimmt sich Zeit.
»Er hat eine Politik für uns arme Leute gemacht, erzählt meine Großmutter. Sie hat ihn gekannt. Er hat Gewerkschaften für die Mus-katpflücker gegründet. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Und was halten Sie von ihm?«
Mrs. Clark zuckt mit den Schultern.
»Wissen Sie, ich interessiere mich nicht sehr für Politik. Für uns Einheimische ist es egal, von wem wir regiert werden. Es geht nur um zwei Dinge: den Tourismus und den Muskat-anbau. Mehr haben wir nicht.«
Sie verscheucht einen der gelbschwarzen Zuckervögel und steht wieder auf.
»Die Meisten hier warten nur auf eine Gelegenheit, ins Ausland abzuhauen, wissen Sie? In die Staaten oder nach England. Hier auf der Insel gibt es keine Zukunft.«
Sie seufzt, dann lacht sie wieder und zeigt ihre weißen Zähne in dem schwarzen Gesicht.
»Wenn Sie mehr über Bishop wissen wollen, kann ich Sie mit meiner Grandma bekannt machen. Dann können Sie sie selbst fragen.«
»Das wäre nett, vielen Dank!«
Florence merkt, dass die Frau gerne mehr erzählen würde. Über sich und die Leute hier. Über das Leben auf Grenada.
Aber Florence ist eine Touristin. Noch dazu aus dem kühlen Deutschland.
Vielleicht kochen wir mal gemeinsam, überlegt sie. Dann erzählt sie mir mehr.
Sie denkt über Maurice Bishop nach. Ein sozialistischer Politiker. Grenada hat eine rote Vergangenheit. Da steckt mehr dahinter, das spürt sie. Irgendwas ist mit Bishop.
Ihre Eltern haben sie mit fünf Jahren nach England geschickt. Zu ihrem Onkel. Warum eigentlich?
Damit du es mal besser hast.
Aber das kann nicht alles sein.
Maurice Bishop wurde in dem Jahr ermordet, in dem sie die Insel verließ.
Als sie fertig ist und Mrs. Clark abräumt, bestellt sie noch eine Tasse Tee und fragt, ob sie sich noch einen Moment zu ihr hersetzen kann.