Jahrtausendwende - Rainer Gross - E-Book

Jahrtausendwende E-Book

Rainer Gross

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Beschreibung

Vor zwei Jahren ist er nach Nürnberg gezogen. In die Großstadt. Er will versuchen, von der Schrift-stellerei zu leben. Vor zwei Jahren hat er geheiratet, seine Frau studiert und arbeitet am Flughafen, er verdient mit VHS-Kursen und als Plattenverkäu-fer im Drogeriemarkt dazu. Gott ist da, aber fern. Im Bestehen Tag für Tag drückt sich ein Leben aus, das seine Geschichte noch nicht gefunden hat. Eine unsichere Existenz, bedroht von der Gleichgültigkeit der Welt, getragen täglich von Mut und kleinen Hoffnungen. Der erste Band des Schriftsteller-Zyklus von Rainer Gross.

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Seitenzahl: 192

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Vor zwei Jahren ist er nach Nürnberg gezogen. In die Großstadt. Er will versuchen, von der Schriftstellerei zu leben. Vor zwei Jahren hat er geheiratet, seine Frau studiert und arbeitet am Flughafen, er verdient mit VHS-Kursen und als Plattenverkäufer im Drogeriemarkt dazu. Gott ist da, aber fern. Im Bestehen Tag für Tag drückt sich ein Leben aus, das seine Geschichte noch nicht gefunden hat. Eine unsichere Existenz, bedroht von der Gleichgültigkeit der Welt, getragen täglich von Mut und kleinen Hoffnungen.

Der erste Band des Schriftsteller-Zyklus von Rainer Gross.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt. Er wurde 2008 mit dem Friedrich-Glauser-Debütpreis ausgezeichnet.

Bisher sind rund siebzig Titel von Rainer Gross erschienen. Zuletzt veröffentlicht: Novemberland (2023); Schafsgezwitscher (2023); Das heiratende Mädchen (2023); Jesus trinkt den Kaffee schwarz (2024); Café im Hof (2024); Abschied in Cork (2024); Es kommt ein Schiff (2024); Seminaristenblues (2025).

Denen, die’s angeht.

Spazieren gehen in den Abend. Der Himmel klar und ein letztes Licht. Am Fluss entlang, über den Kettensteg, durch Gassen und Anlagen unter kahlen Bäumen, hinaus zum Pegnitzgrund. Wenn du hier weitergehst, kommst du bis nach Fürth, sagt seine Frau.

Das Wasser strömt grau und glatt, sachte Wirbel, Schwäne im Gesträuch. Durch einen Torbogen treten sie in die Novemberaue, ein Damm schützt den Flanierweg, der Fluss verschwindet in dämmriger Ferne. Kahler Himmel, Entenflug. Spaziergänger und Läufer, ein Herr mit Hund. Auf dem gegenüberliegenden Ufer würden sie durchs Gras gehen, durch einen totgesagten Park, der unter ihnen zu leben begänne.

Der Strom zieht, das Ziehen lässt an Ziele denken. Welche Ziele setzen sie sich? Welche Werke sollen entstehen? Welche Schiffe kommen geladen: ein flink treibender Nachen, eine wirbelnde Nussschale, ein behäbiger Lastkahn, ein kreuzender Weltumsegler?

Sie lehnt versunken am Geländer und isst eine Mandarine, er pafft Pfeifenrauch in die Abendluft. Sie schweigen. Sie sagen so viel. Eine Schnittstelle, ein Knotenpunkt, denkt er und schaut den Wirbeln zu, wie sie lautlos sich im Strom ebnen. Einer dieser weiten Kammern aus Zeit, in denen sich die Geschichte fügt zu gelungenem Leben. Ihre Ehe wie ein Haus, eine Stätte am Ufer, wo sie wohnen in friedlichen Gründen.

Er versteht sie erstmals. Als er aufschaut, ist es, als blickte er ihren Weg zurück, ihren und seinen und den gemeinsamen, und erst jetzt ist es ein Weg. Erst jetzt führt er zu einem Ziel.

Du und ich, denkt er, wir wissen nicht, was kommt. Sie lässt einen Schnitz in den Fluss fallen für die Enten und wird traurig, wie er versinkt. Er klopft die Pfeife aus und reibt die Hände gegen die Kälte. Sie wissen nun, was jeder will. Auf dem Rückweg gelangen sie durch die Weintraubengasse zum Hauptmarkt.

Der Christkindlmarkt hat begonnen. Die Geschäfte sind erleuchtet, Menschen sind unterwegs, die Buden umlagert von späten Gästen. Süßes lockt und Windlichter, Bratwürste und Lebkuchen. Unter dem beleuchteten Turm von Sankt Lorenz kaufen sie sich ihren Adventskranz: Er wird sie in dieser Zeit des Wartens, der langen Abende begleiten.

Beim Abwaschen des Geschirrs denkt er: Warte auf die Querschläger, Kind der Zeit! Sie werden kommen ...

Draußen ist es kalt. Es ist Ende November. Die Rollläden sind herabgelassen bis auf einen Spalt, durch den das Licht der Straßenlaternen dringt. Im Innern faucht der Gasbrenner im Ofen. Kerzen leuchten, Duft nach Tannenreisig und Gewürzen. Die Stunde nach Mitternacht.

Er sitzt auf dem Boden, hört der Musik zu, die aus dem Kopfhörer dringt. Ihre Einsamkeit war damals, als er sie zum ersten Mal hörte, eine Metapher und wird heute zur Lüge, wenn er nicht auf der Hut ist.

Vieles wird Lüge, denkt er. Die Hände, die in der Sommerhitze eines Burgennachmittags Efeublätter zerrupfen. Bananenblätter hinter Bretterzäunen in den Vororten von Melbourne, einst, wo – ich unzuhause, denkt er: Selbst das wird Lüge.

Der Tee dampft und schmeckt nach Rosen. – die Abende oft auf ein Wasser sahen, geht es weiter. So wie nun: Rosenwasser. Bananen pflanzt man in Plantagen als einjährige Stauden, die, fruchtbeladen, gefällt werden. Er hört, wie das scharfe Machetenblatt in den saftigen Stamm fährt, wie die Staude knickt, kein dürres Rohr, kein glimmender Docht, sondern schwer von diesem einen schwülen Jahr der Reife. Gefälltwerden, denkt er, schwer von Geschichte. Zählt das auch? Ist das auch ein Grund? Ist Geschichte nicht auch eine Frucht? Gefällt werden wollen. Wie damals, in Melbourne, die Bananenblätter über den Bretterzäunen.

Wer keine klare Sprache hat, verstrickt sich in Lügen, denkt er. Alles ist Lüge, was Menschen nicht als Menschen sieht. Alles ist Lüge außer dem Sohn, denkt er und nippt an dem dampfenden Rosenwasser. Menschen erhängen sich in Sicherheitszellen oder entleeren Magazine einer Schnellfeuerwaffe in ein Autofenster, weil sie sich selbst und andere nicht mehr als Menschen sehen können. Also fängt doch alles damit an, dass keiner weiß, was ein Mensch ist. Des Menschen Wirklichkeit. Des Menschen Angst und Qual. So hieß ein Büchlein, weiß, dünn, klein von Format, das er in der Schule als Preis für einen Vorlesewettbewerb erhalten hatte. Seither ist für ihn Angst weiß.

Draußen hat es geschneit. Leiser Flockenwirbel in den Großstadtstraßen, Träufeln im Neonlicht. Menschen gehen im blauen Dämmer, stumme Gestalten vor Backsteinkirchen wie vor einem übermächtigen Schicksal. Eingemummt gegen die Kälte geht er: Schal, Kapuze, Handschuhe. Die Schritte tun gut, auch wenn es keine Schritte im strahlenden Morgen von Melbourne mehr sind.

Es geht endlich heim!, könnte er jubeln und den knotigen Wanderstock von sich werfen. Aber es geht noch nicht heim.

An einem Obststand gibt es Mandarinen mit Blättern. Die Auslagen sind mit Planen abgedeckt wegen der Kälte. Im Teeladen erkundigt sich die Verkäuferin nach der Herkunft einer Kundin: Sie sei auf allen Christkindlesmärkten gewesen. Kräutertee mit Gewürzen. Weihnachtsmandeln. In einer Kaufhalle eine Fransendecke mit Schottenmuster, die sie zuhause vor die Fenster hängen. Wegen der Kälte. Damit er nachts lange sitzen und schreiben kann. Für seine Frau kauft er ein Nikolausgeschenk. Sie wird sich freuen am Montag, wenn sie von der Uni nach Hause kommt, sie wird sich freuen über die gefüllten Stiefel.

Über solche Dinge freuen wir uns gerade, denkt er. Denn es ist dunkel in uns und klein, klein ...

Auf dem Platz spielt eine Blaskapelle. Süßer die Glocken nie klingen. Später, gegen neun, klingen tatsächlich die Glocken. Um die Süße des Klanges zu beurteilen, müsste man ihre Botschaft kennen, in diesen Tagen und in den übrigen. Eine Backmischung und zwei Tüten Milch. In der Bank steckt er seine Kontokarte in einen Automaten, bedient einige Knöpfe und erhält schnarrend Geld aus einem Schlitz. Freitagabends um halb sechs. Oder sonstwann. Die Zahl auf dem Konto wird um den ausgezahlten Betrag verringert. Später leert er den Briefkasten und findet eine Rechnung von einer Inkassofirma vor, die alle Pläne über den Haufen wirft. Das bunte Licht am Fenster wird lächerlich und die Kälte bedrohlich. Er beschließt, seiner Frau die Rechnung zu zeigen und mit ihr das weitere Vorgehen zu besprechen.

Heimgekommen. Der Ofen heizt auf fünf, die Flamme faucht. Im Badezimmer, das keine Heizung hat, ist es ausreichend warm. Er legt die Decke auf dem Sofa bereit. Heißes Wasser aus dem Durchlauferhitzer. In allen Zimmern hat er die Rollläden herab gelassen. In die Wanne rauscht und dampft es. Unter Zusatz des grünen Kräuteröles steigt ein Duft auf: Wacholder. Bücher liegen bereit, frische Wäsche, das große Frottiertuch. Während er in der Wanne liegt, horcht er auf Schritte im Treppenhaus. Auf das Drehen eines Schlüssels im Schloss. Auf ihr Hereinkommen und Rufen. Hier bin ich!, wird er antworten. Darauf hat er gewartet. Und sie öffnet die Tür einen Spalt, der Dampf zieht sichtbar in den kühlen Flur hinaus, angezogen in Mantel und Schal steht sie da, während er nackt im grünen Wasser liegt.

Auf dem Stövchen wartet ein Weihnachtstee. Eine Schale mit Nüssen, ein Korb Mandarinen, ein Teller mit Süßigkeiten. Wie jeden Abend. Draußen im leisen Schneefall gehen die Leute knarrend. Manchmal schlägt eine Autotür und springt ein Motor an. Sie ist müde und muss morgen zu einer Vorlesung. Manchmal liegt einer von ihnen allein im Bett, nachts sie, wenn sie unruhig schläft und darauf wartet, sich an ihn drücken zu können, oder morgens er, wenn es kalt geworden ist neben ihm und der Tag, in dem sie bereits unterwegs ist, ihn nicht gefunden hat. Sie warten viel in diesen Tagen.

Zuhause schreibt seine Frau an ihrer Diplomarbeit. So lange kann er nicht an den Rechner. Im Sommer wird sie fertig sein. Sie arbeitet Teilzeit am Flughafen, Passagierabfertigung, sie macht es gern. Ein leichter Job, sagt sie, und wenn Feierabend ist, kann sie alles zurücklassen. Schichtdienst. Wenn das Drehkreuz stattfindet, hat sie viel zu tun. Er hat ein schlechtes Gewissen. Sie haben miteinander vereinbart, dass er schreibt und sie das Geld verdient, wenn sie fertig ist. Schriftsteller, denkt er. Er will mit Nebenjobs Geld dazu verdienen. Volkshochschulkurse. Vorträge. Seminare anbieten zum Thema Lebensgeschichte. Stellenangebote in Zeitungen. Einen Fuß in die Tür kriegen.

Während seines Studiums hat er in den Semesterferien in der Fabrik gearbeitet. Autozulieferer, namhaft. Maschinenbediener, Leiterplattenbestückung für Einspritzanlagen. Vier Wochen, sechs Wochen. Die Zulagen rechneten sich, und er gewöhnte sich bald an die Arbeit. So schlimm, wie er es sich vorgestellt hatte, war es gar nicht. Trotzdem fragte er sich danach immer, wie er das überstanden hatte. Die Monotonie, die große Halle voller Maschinen und Technik um ihn her, die Menschen Beiwerk, Sklaven der Automaten, Schichtdienst ab morgens halb sechs oder bis Mitternacht. Nach der Frühschicht hatte er noch den Nachmittag, musste aber am Abend früh ins Bett. Nach der Spätschicht strolchte er in der Nacht umher, konnte aber mit dem freien Morgen nichts anfangen. Es waren Wochen, in denen die Anspannung blieb, in denen er sich nicht sinken lassen, Kind sein konnte, arglos und unbeschwert. Er musste in der Männerwelt bestehen. Er musste überleben. Er will nicht mehr in der Fabrik arbeiten.

Einmal fährt er nach Langwasser hinaus, weil jemand gesucht wurde mit gutem Deutsch in Wort und Schrift. Ein Versicherungsmakler, der ihm auf einem Papier mit Kreisen und Pfeilen das Versicherungsprodukt vorstellt, das seine Firma verkauft. Er nickt. Das ist einfach zu verstehen. Aber was hat das mit gutem Deutsch zu tun? Der Makler führt ihn in ein kleines Büro, wo ein Telefonapparat steht. Er soll die Kunden anrufen und von diesem Produkt überzeugen. Die Anzeige sollte nur sicherstellen, dass sich keine Ausländer bewerben. Er ist enttäuscht. Das ist nicht das, was er tun möchte, aber er will es mit seiner Frau besprechen. Draußen in Langwasser liegt Schnee.

Weiß wie Schnee, denkt er. Weiß wie die Leere. Weiß wie das Hintergrundrauschen der Wirklichkeit, unentzifferbar weiß, eine der lügenhaften Rückwärtsbotschaften auf Schallplatten, ob rückwärts oder vorwärts, es ist dieselbe Lüge.

Er kocht Pasta und eine Soße mit passierten Tomaten, Pilzen, Speck und Gewürzen. Er steht am Gasherd, versunken in seine Handgriffe, seine Bewegungen, seine Verrichtungen mit Topf und Kochlöffel und den Spaghetti, die noch hart sind und sich nicht biegen lassen und aus dem Topf heraus stehen. Das Wasser brodelt und wird milchig. Der Dampf steigt auf und wird von der Abzugshaube aufgesogen.

Sein Leben lang hat er gegen die Lüge gekämpft und, weil die Lüge in ihm selbst eine Quelle hat, gegen sich selbst. Das hat sich durch seinen Glauben nicht geändert. Noch immer bin ich unzuhause, denkt er. Ausheimisch. Ein Schwan, federlos. Weißer Schwanenwahn.

Nachdem das Essen fertig ist und warmgehalten wird, bis sie vom Flughafen kommt, sitzt er im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Der Apparat läuft ohne Ton, die Bilder flimmern. Der Gasbrenner faucht im Ofen. Er hört hinter der Stille, hinter dem Hintergrundrauschen der Wirklichkeit eine Anwesenheit sich nähern.

Plötzlich tritt jemand ins Zimmer und will Gast sein.

Er kennt ihn. Er hat ihn erwartet. Er schaut auf und weiß wieder, dass er nicht allein ist, niemals mehr allein sein wird.

Sie sind beide bei mir, denkt er. Die Eine auf dem Nachhauseweg. Der Andere unsichtbar immer.

Am Sonntagabend singen sie Adventslieder. Der du die Zeit in Händen hast. Ist auch dir zur Seite. Die Lieder aus seiner Kindheit bewegen ihn. Er denkt an die vielen dunklen Zeiten in seinem Leben, solche wie jetzt, denkt er, in denen er mit seinem Gott rang, nach ihm suchte, sich nach ihm ausstreckte. Das hat sich nicht geändert. Auch heute noch ist ihm das Leben ein Rätsel und Gott ein Abgrund. Immer noch kann er ihn nicht greifen. Immer noch verkehren sie in Metaphern und Kassibern miteinander, kleine zerknüllte Zettelchen in Manteltaschen oder Pullovern, die er aus seinem Gefängnis nach draußen schmuggelt, durch seinen Anwalt, denn ohne Metaphern geht es nicht.

Max Frisch fällt ihm ein, was er im Stiller schreibt: Zuweilen habe ich das Gefühl, daß ich all dies nur träumte; das Gefühl: Ich könnte jederzeit aufstehen, die Hände von meinem Gesicht nehmen und mich in Freiheit umsehen, das Gefängnis ist nur in mir. Aber das ist es ja gerade, denkt er: Dadurch, dass das Gefängnis in mir ist, kann ich ihm nicht entrinnen. Ich selbst bin das Gefängnis.

Er bleibt lange wach. Singt leise die Kinderlieder vor sich hin, Tränen in den Augen. Wohin geht das alles bloß?, fragt er sich. Wozu das alles? Er schaut sich einen Film im Fernsehen an, einen stillen, bleiernen Film, der genau passt zu den Gedanken, die er sich nicht machen kann, weil sie ungreifbar bleiben. Die Geschichte zweier Schwestern. Die Geschichte einer Geschichte. Geschichte und Geschichte, Fabel und Historie, ein Thema, das sich durch diese Monate zieht, seit er hier ist. Die Geschichte, die ein Leben gewesen sein wird, und die Geschichte eines Lebens, das eine Geschichte schon zu Lebzeiten gewesen sein wird. Wie verlaufen Geschichten in dieser Welt?, fragt er sich. Wie geschieht so ein Leben, das hinterher eine Geschichte ergeben wird? Wie eine Feder im Wind? Planlos und doch mit sicherem Ziel? Beides: Aporie und unweigerliche Bahn, Willkür und Entscheidung, Zufall und Sinn?

Wie kann ein Mädchen, das brav das Tischgebet sprach und einen Bibelkreis übernahm, später Nahkampfunterricht in einem Wüstencamp nehmen und sich im toten Trakt erhängen? Wie können Menschen von sich und von anderen anders reden als von Menschen? Wie können Menschen anders vom Leben reden als von einem kurzen, verständnislosen Vorspiel, als von einer Reihe zusammenhangloser Tage, einer hinter dem andern, bis die Strecke abgegangen ist? Und dann?

Die grüne Kerze brennt. Das Glas ist zerbrochen, das Windlicht, das seine Frau mit in die Ehe gebracht hat vor zwei Jahren. Das ist eine andere Geschichte. Glas und Geschichte zählen nicht, denkt er. Was zählt, ist dieses ruhelose, hartnäckige, stumme Fragen in ihm.

Er kennt den nicht, an den er glaubt. Er kennt den nicht, dem er täglich die schmale Hoffnung seines Überstehens anvertraut. Er steht im dunklen Wasser, eine ferne blutrote Sonne am Horizont, sieht seinen Stand verschwinden im schwarzen Abgrund, tausend Meilen tief, kann unmöglich heraus ragen aus diesem Meer, kann unmöglich sein, und steht doch, wartet doch, auf den Tag, der kommen muss.

Die bunte Lichterkette, die sie gestern gekauft haben, brennt. Die Stimmen vom Fernseher. Leise, um seine Frau im Bett nicht aufzuwecken. Drüben neben dem Adventskranz noch eine Kerzenflamme, sonst nichts im Raum. Eine Stimme nur. Seine, unaufhörlich. Ein Kopfschütteln. Ein Nichtbegreifen, das ihn stumm macht. Eine Wut schließlich, die zum Kampf wird, die Pamphlete entwirft und auf den Straßen verteilt, vor den Mensen der Städte, landesweit, im leisen Flockenwirbel der Großstadtstraßen, wütende Worte auf kleinformatigem Blatt, ein grimmiges Stehen und Hinhalten mit der behandschuhten Hand, gegen die Kälte, die Gleichgültigkeit, gegen das Schweigen. Wohltuend, wenn nur einer zurückkäme und sich ereiferte gegen die Polemik, einer stehenbliebe und es zerknüllte aus Wut gegen die Wut, einer am Tisch über der Suppe säße und läse, nachdächte, am Schluss beim Hinausgehen sagte, dass er so etwas noch nicht gehört habe. Das täte schon wohl. Komitees zu gründen oder Read-ins abzuhalten auf dem Markt zwischen Lebkuchen und Mistelzweigen, frierend mit dem dünnen Papier in der Hand und ebenso dünner Stimme gegen den schalen Lärm des Tages anzureden – das ist vielleicht ein Holzweg, denkt er.

Aber es bleibt ihm das Schreiben.

In den Stunden nach Mitternacht. Was anderes hat er nicht. Nicht nach solch bleiernen Filmen, nicht nach solchen Büchern über die Geschichten von Menschen, nicht nach den zu grellen Versprechen des Ewigen inmitten dieser grauen Tage, die klappern im Wind dieser Zeit wie Hülsen winterdürrer Fruchtstände. Versprechen: Ihnen zufolge dürfte er sich darauf verlassen, dass er den Weg nicht kennen muss, um ihn zu finden. Warum tut er es nicht?

Eine Stimme nur. Hinter ihm. Weder rechts noch links. Mit tränenblinden Augen schreiben, sich die Kliffwände der Wirklichkeit hinunter tasten, und das alles umfasst von einem so starken, so bedingungslosen Willen, dass es nur Heilung, nur Erfüllung geben kann.

Das ist das Einzige, was ihm zu tun bleibt.

Er stellt sich bei der Studienleiterin der Volkshochschule vor. Mit seinen Qualifikationen, seinem Studienabschluss, seinen Ideen für Kurse. Literatur und Philosophie. Die Leiterin sitzt ihm seitwärts am Tisch gegenüber, er hält seine Unterlagen in der Hand und referiert. Sie trägt ein rotes Lederkostüm und grelle Schminke, die bestrumpften Beine übereinander geschlagen, die Spitze ihres Schuhs wippt ständig gegen ihn. Sie spricht freundlich mit ihm. Ihre Worte sind zuversichtlich. Sie redet davon, dass er den Ausschreibungstext für einen seiner Kurse schreiben soll, fürs nächste Semester, vierzig Mark pro Unterrichtseinheit, Das Leben als Geschichte, das klinge interessant. Er ist überrascht. Mit diesem Erfolg hat er nicht gerechnet. Erst als er zur Tür hinaus ist und die Treppen ins Foyer hinab steigt, geht ihm auf, dass er eine Verdienstmöglichkeit gefunden hat.

Er landete morgens in Dubai, dem Wüstenflughafen. Jeeps überquerten die Rollbahn, von Baracke zu Baracke. Riesige Benzintanks aus Stahlblech, Sanddünen, Sonne. Für ihn war es nur eine Zwischenlandung. Jumbo-Jets in Reihen, bunt in den Farben der Airlines, bereit zum Auftanken. Aus dem Bordlautsprecher klang das Ave Maria von Bach. Das Bordpersonal verteilte feuchte warme Tücher zum Erfrischen. Frühstück, Brotscheiben in Zellophan, Plastiktasse, Butterpäckchen. Sechs Uhr dreißig Bordzeit, die Außentemperatur betrug fünfzehn Grad. Alles war im Grunde richtig und hatte seinen Sinn. Er freute sich auf Melbourne. Dann nimmt er die Finger von den Tasten und schaut durchs Fenster hinaus auf die Straße. Wo ist er gewesen?

Er betet. Auf dem Sofa sitzend, eine Tasse Tee vor sich. Er faltet nicht die Hände und senkt den Kopf. Er schließt nur die Augen. Er sehnt sich nach Lebensfreude. Nach Unbeschwertheit. Nach sorglosem Promenieren. Herr, nimm alle Hindernisse weg! Mach mich offen für dich. Er redet mit Gott, weil es ihn drängt. Er will Kontakt, ein Gespräch, ein Gegenüber. Er redet mit Gott mal wie ein Sohn mit seinem Vater: devot, aufsässig, mal wie mit einer Geliebten: schwärmerisch, selig, mal wie mit einem Freund: ehrlich, kritisch, mal wie mit einem Retter: dankbar, ohnmächtig. Aber heute hilft alles nichts: Gott ist nicht da. Er ist nicht wirklich bei ihm, in ihm, um ihn herum. Gott ist immer dort und er hier. Ob in einer anderen Dimension oder im Himmel oder sonstwo, immer ist Gottes Dort nicht sein Hier. Etwas trennt sie beide. Das ist die Transzendenz, fällt ihm ein, aber schließlich ist er Mensch geworden, also bitte: Wo ist seine Immanenz? Wo ist er?

Er schreibt. Er schreibt, um zu überleben. Er kommt besser durch Schreiben über die Runden als durch Disziplin, Vernunft oder Einsicht. Wenn er den Bildschirm verlässt und kurze Zeit später wiederkehrt, leuchtet er violett zwischen den bunten Fensterlichtern, und eine gelbe Schrift erscheint darauf: Mache dich auf und werde licht!

Beim Abwasch trägt er gelbe Gummihandschuhe. Es ist die größte Größe, aber sie sind immer noch zu eng. Er kann sie nur ausziehen, indem er sie auf links abzieht. Er mag es nicht, wenn die Fingerspitzen im warmen Spülwasser verschrumpeln. Er wischt mit dem triefend nassen Lappen über die Teller, spült die Töpfe aus, fährt in die Gläser. Essensreste schwimmen im Wasser. Schlieren bleiben am Glas. Reste sind an den Messerklingen festgeklebt. Es ist nicht das erste Mal, dass er sich eine Spülmaschine wünscht.

Er mag sie: die Kaiserburg. Wahrzeichen. Ein besonderer Ort, besonders im Sommer, wenn die Straßen und Plätze weit und hell sind, wenn in den Altstadtgassen die Menschen flanieren. Sinwellturm, Fünfeckturm, Luginsland. Palas und Kemenate. Die Zinnen der Freiung. Wenn sie nicht so viele Fenster hätte, denkt er, wäre sie ein Verließ. Die vielen kleinen Fenster mit den rotweiß gestreiften Fensterläden. Im Zeichen der Burg warb früher ein Versicherungsunternehmen. Ein wenig fühlt er sich so: in ihrem Zeichen. Unter ihrer Obhut. Es gibt wenige Orte, von denen aus man sie sieht. Meist verschwindet sie hinter den steilen Dächern der Altstadthäuser. Er würde sie gern sehen von seinem Wohnzimmerfenster aus. Er mag die Burg.

Heute ist Krämermarkt auf dem Hauptmarkt und in den Gassen. Er sitzt hinter den Buden zwischen zwei Wagen, wohin immer Leute kommen, weil sie ihn sitzen sehen und durchgehen zu können glauben. Es ist aber eine Sackgasse. Am Imbissstand werden Drei em Weckla verkauft. Eine Frau hält mit schräggelegtem Kopf ein Fransentuch in sein Farbmuster. Ein rotgesichtiger Verkäufer erzählt sein Fliesenschneiden als Geschichte. Ein Mädchen, das aus einer Papiertüte isst, hat in dem Hosenrock zu dünne Beine. Von den gestreiften Sonnenschirmen her riecht es nach gebrannten Mandeln. In der Lichtgasse zwischen den Buden knöpft eine Mutter im Gehen ihre Geldbörse auf. Ein Tierpfeifenverkäufer lässt einen unbekannten Vogel trillern und macht das Treiben zu einem Mittelaltermarkt. Dann beginnt es zu schneien. Von den Plastikplanen der Buden tropft es. Er kauft sich eine Bratwurst und isst sie im Stehen, an den Eingang einer Buchhandlung gelehnt. Er schaut den Leuten zu, wie sie in anderen Zusammenhängen gehen, in losen, die mit ihm nichts zu tun haben. Das beruhigt ihn.

Sie schauen gemeinsam einen Film, abends auf dem Sofa. Der Fernseher steht mitten im Raum. Immer wenn sie fernsehen wollen, schieben sie ihn aus dem Eck. Er steht auf einem Tischchen mit Rollen. Der Film heißt Zeit des Erwachens. Robert de Niro spielt die Hauptrolle. Der Film beeindruckt ihn. Er will darüber reden, aber seine Frau ist müde und geht danach ins Bett. Sie hat morgen wieder Frühschicht am Flughafen. Als hätte einem einer die Jahre geraubt, denkt er an den Film, allein auf dem Sofa. Die Unfasslichkeit angesichts des Betrugs. Die Scham, die Sehnsucht, die Ungeduld: nun leben! Die Verzweiflung angesichts einen unwiederbringlichen Lebens. Dann lässt die Droge nach und das Vergessen kommt wieder, der Stillstand, der Tod. Das Leben versinkt im Limbo der Vergänglichkeit. Gott schweigt dazu, denkt er. Gottes Schweigen zu verstehen, deuten zu können, darin leben zu können, das wäre der erste Schritt in ein erfülltes Leben. Die Ewigkeit. Als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt, dichtet Rilke. Das ist das Gefängnis, denkt er. Der Kerker des Ich. Das ausweglose Inmich, die Selbstverkrümmung des aus Gottes Liebe gefallenen Geschöpfs. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille / sich lautlos auf. Dann geht ein Bild hinein, / geht durch der Glieder angespannte Stille / – und hört im Herzen auf zu sein.

Das Bild in der Pupille des Panthers, denkt er. Das ist alles. Von der Zeit des Erwachens können wir nur träumen.