Die dunkle Stunde der Serenissima - Donna Leon - E-Book

Die dunkle Stunde der Serenissima E-Book

Donna Leon

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Beschreibung

Eine von Paolas Studentinnen erkundigt sich bei Brunetti nach Möglichkeiten, die Ehre ihres Großvaters wiederherzustellen. Das Verbrechen liegt Jahre zurück, und so misst Brunetti der Frage zunächst wenig Bedeutung bei bis Claudia Leonardo erstochen in ihrer Wohnung aufgefunden wird.

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Donna Leon

Die dunkle Stunde der Serenissima

Commissario Brunettis elfter Fall

Roman Aus dem Amerikanischen von

Titel des Originals: ›Wilful Behaviour‹

Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 im Diogenes Verlag

Das Motto aus: Mozart, ›Le nozze di Figaro‹, in der Übersetzung von Lothar Fischer,

Booklet zur Aufnahme mit Claudio Abbado, 1994

Copyright © 1968/1991 by

Deutsche Grammophon GmbH, Hamburg

Covermotiv: Foto von Daniele Resini

Copyright © Daniele Resini

Für Daniel Hungerbühler

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2019

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23448 0

ISBN E-Book 978 3 257 60070 4

I dubbi, I sospetti Gelare mi fan.

Die Zweifel, das Mißtrauen Sie lassen mich erstarren.

[7] 1

Die Bombe platzte beim Frühstück. Und auch wenn Brunetti als Commissario der venezianischen Polizei eher auf so eine Explosion gefaßt sein mochte als andere Leute, hätte der Schauplatz nicht ungewöhnlicher sein können. Der hatte indes nichts mit seinem Beruf zu tun, sondern betraf Brunetti privat, als Ehemann einer Frau von leidenschaftlicher, wenngleich sprunghafter Wahrnehmung und politischer Gesinnung.

»Warum lesen wir dieses widerliche Revolverblatt eigentlich noch?« explodierte Paola und knallte den zusammengefalteten Gazzettino so wütend auf den Frühstückstisch, daß die Zuckerdose umkippte.

Brunetti beugte sich vor, schob mit dem Zeigefinger die Zeitungsecke beiseite und richtete die Zuckerdose wieder auf. Dann nahm er sich eine zweite Brioche und biß hinein in der Gewißheit, daß eine Erklärung folgen würde.

»Hör dir das an!« Paola griff nach der Zeitung und las die Überschrift des Aufmachers auf der Titelseite vor: »›Fulvia Prato enthüllt ihre grausame Leidensgeschichte‹.« Wie ganz Italien wußte auch Brunetti, daß Fulvia Prato, die Frau eines schwerreichen Florentiner Industriellen, vor dreizehn Monaten entführt und von den Kidnappern in einem Keller gefangengehalten worden war. Seit ihrer Befreiung durch die Carabinieri vor zwei Wochen hatte sie am Vortag erstmals ein Interview gegeben. Brunetti konnte sich nicht denken, was Paola an dieser Schlagzeile so empörte.

[8] »Und dann das«, sagte sie und blätterte weiter zur Seite fünf. »›Eingeständnis einer EU-Ministerin: Sexuelle Belästigung an früherem Arbeitsplatz.‹« Auch dieser Fall war Brunetti bekannt: Eine EU-Kommissarin (an ihr Ressort konnte er sich nicht erinnern – eins dieser belanglosen Referate, die man gern den Frauen überließ) hatte gestern auf einer Pressekonferenz zu sexuellen Übergriffen Stellung genommen, denen sie vor zwanzig Jahren, als Mitarbeiterin einer Hoch- und Tiefbaufirma, ausgesetzt war.

Mit einer Langmut, die er sich in über zwanzig Ehejahren erworben hatte, wartete Brunetti Paolas Erklärung ab. »Ist es nicht unglaublich, wie sie mit ihrer Wortwahl manipulieren? Das Entführungsopfer enthüllt und prangert an, aber die arme Frau, der man Gewalt angetan hat, die gesteht, so als läge die Schuld bei ihr. Und wie typisch für diese rückständigen Zeitungsfritzen«, fauchte Paola und stach wütend auf das Blatt ein, »sich hinter der Worthülse ›sexuelle Belästigung‹ zu verschanzen, statt die Dinge beim Namen zu nennen. Gott, ich weiß wirklich nicht, warum wir uns dieses Käseblatt halten.«

»Kaum zu glauben, nicht wahr?« stimmte Brunetti zu, nun selbst ehrlich schockiert über die unterschiedlichen Formulierungen und mehr noch darüber, daß er das verbale Mißverhältnis erst bemerkt hatte, als Paola ihn mit der Nase darauf stieß.

Vor Jahren hatte er die Temperamentsausbrüche, zu denen die Lektüre der Morgenzeitungen seine Frau verleitete, mit sanftem Spott ihre »Kaffeepredigten« getauft. Aber mit der Zeit lernte er, daß in scheinbarem Wahn tiefere Einsicht walten kann.

[9] »Hast du je mit solchen Fällen zu tun gehabt?« fragte Paola. Und da sie ihm die untere Zeitungshälfte hinhielt, wußte er, daß nicht die Entführung gemeint war.

»Einmal, aber das ist schon lange her.«

»Wo war das?«

»In Neapel. Als ich dort stationiert war.«

»Und was ist da vorgefallen?«

»Eine Frau kam auf die Wache, um eine Vergewaltigung anzuzeigen. Sie wollte eine offizielle denuncia machen.« Er hielt inne und dachte nach, um sich den Fall wieder zu vergegenwärtigen. »Gegen ihren eigenen Mann.«

Auch Paola ließ eine Pause verstreichen, bevor sie nachhakte: »Und?«

»Die Befragung übernahm der Commissario, dem ich damals unterstellt war.«

»Und?«

»Er riet ihr, sich gut zu überlegen, was sie da tue, daß sie ihren Mann in große Schwierigkeiten bringen würde.«

Diesmal genügte Paolas Schweigen, um ihn zum Weiterreden zu ermuntern.

»Sowie die Frau das hörte, sagte sie, sie brauchte Bedenkzeit, und ging.« Er sah sie immer noch vor sich, wie sie mit hängenden Schultern das Büro verließ. »Sie ist nicht wiedergekommen.«

Paola seufzte, dann fragte sie: »Hat sich seitdem viel verändert?«

»Ein bißchen was schon.«

»Zum Besseren?«

»Nun ja, immerhin versuchen wir heute, die erste Befragung weiblichen Beamten zu überlassen.«

[10] »Was heißt, ihr versucht es?«

»Sofern Kolleginnen im Dienst sind, wenn so ein Fall zur Anzeige kommt, übernehmen sie.«

»Und wenn nicht?«

»Dann telefonieren wir herum und sehen zu, ob eine Kollegin einspringen kann.«

»Und wenn nicht?«

Wie kam es, fragte er sich, daß das Frühstück unversehens in ein Verhör ausgeartet war. »Dann übernimmt die Befragung eben, wer gerade verfügbar ist.«

»Was vermutlich bedeutet, daß Männer wie Alvise oder Leutnant Scarpa so eine arme Frau vernehmen könnten.« Paola machte aus ihrer Empörung keinen Hehl.

»Es ist ja keine richtige Vernehmung, Paola, nicht so wie bei einem Verdächtigen.«

Sie zeigte auf Il Gazzettino, und ihr Fingernagel klopfte in raschem Dreiertakt auf die zweite Schlagzeile. »In einer Stadt, wo so was möglich ist, wage ich mir gar nicht vorzustellen, wie Befragungen gleich welcher Art ablaufen.«

Er wollte widersprechen, und vielleicht spürte Paola das, denn plötzlich fragte sie in völlig verändertem Ton: »Wie sieht’s heute bei dir aus? Kommst du zum Mittagessen nach Hause?«

Brunetti wußte wohl, daß er mit einer positiven Antwort das Schicksal herausforderte. Aber die Erleichterung über ihr Einlenken war so groß, daß er alle Vorsicht in den Wind schlug. »Ich denke schon. Die Verbrecher scheinen Ferien zu machen in Venedig.«

»Gott, ich wünschte, das könnte ich von meinen Studenten auch sagen«, versetzte sie müde und resigniert.

[11] »Aber Paola, du bist doch erst seit sechs Tagen wieder an der Uni.« Den Einwand konnte er sich nicht verkneifen. Wieso hatte eigentlich nur sie das Recht, über beruflichen Ärger zu klagen? Immerhin mußte er sich, wenn nicht tagtäglich, so doch erschreckend oft, mit Mord, Vergewaltigung und Mißhandlungen herumschlagen, während sie in ihrem Hörsaal schlimmstenfalls gefragt wurde, wer sich hinter der Dark Lady verbarg, oder jemand vergessen hatte, wie Die Erbin vom Washington Square ausging. Er war schon drauf und dran, etwas in diesem Sinne zu erwidern, als er das Flackern in ihren Augen sah.

»Was ist los?« fragte er.

»Hm?«

Doch Brunetti hatte ein feines Ohr und einen geschulten Blick für Ausweichmanöver jeder Art. »Ich hab dich gefragt, was los ist.«

»Ach, Ärger mit den Studenten. Das Übliche.«

Wieder merkte er ihr an, daß es da irgend etwas gab, worüber sie nicht sprechen mochte. Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf, ging um den Tisch herum, bückte sich, die Hand auf ihre Schulter gestützt, und küßte sie auf den Scheitel.

»Wir sehen uns beim Mittagessen.«

»An diese Hoffnung werde ich mich klammern«, gab sie spöttisch zurück und beugte sich vor, um den verschütteten Zucker zusammenzustreichen.

Allein am Tisch zurückgeblieben, stand Paola vor der Wahl, entweder die Zeitung zu Ende zu lesen oder den Abwasch zu machen: Sie entschied sich für den Abwasch. Als sie damit fertig war, zeigte ihr ein Blick auf die Uhr, daß [12] ihre einzige Vorlesung an diesem Tag in weniger als einer Stunde begann, und sie lief ins Schlafzimmer, um sich fertig anzukleiden. In Gedanken war sie dabei, wie so oft, ganz bei Henry James, auch wenn es diesmal nur um seinen Einfluß auf Edith Wharton ging, deren Romane sie zur Zeit in ihrer Vorlesung behandelte.

Neulich hatte sie über das Thema Ehre gesprochen und über den Ehrenkodex als Leitmotiv der drei großen Wharton-Romane, auch wenn es ihr fraglich schien, ob der Begriff für ihre Studenten noch die gleiche Bedeutung hatte wie für die Autorin – ja, ob sie überhaupt noch etwas damit anfangen konnten. Darüber hatte sie an diesem Morgen mit Guido sprechen wollen, denn sie schätzte seine Meinung, aber dann war ihr die Schlagzeile dazwischengekommen.

Nach all den Jahren konnte sie nicht mehr so tun, als merke sie nicht, wie sehr ihre Kaffeepredigten ihn jedesmal verstörten: so sehr, daß er am liebsten fluchtartig den Tisch verlassen würde. Insgeheim schmunzelte sie über seine Wortschöpfung und über den liebevollen Ton, in dem er sie normalerweise damit hänselte. Sie wußte, daß sie auf bestimmte Reizthemen zu vehement und vorschnell reagierte; einmal hatte ihr Mann ihr in der Hitze des Gefechts eine erdrückende Litanei all der Themen an den Kopf geworfen, bei denen es angeblich so mit ihr durchging, daß nicht mehr vernünftig mit ihr zu reden sei. Und er hatte damit so ins Schwarze getroffen, daß der Gedanke an diese Aufzählung sie heute noch nervös machte.

Da sich am Vortag die erste herbstliche Kühle über die Stadt gelegt hatte, nahm Paola eine leichte Wolljacke aus dem Schrank, bevor sie ihre Aktentasche holte und die [13] Wohnung verließ. Obgleich der Weg zur Uni sie durchs moderne Venedig führte, spazierte sie im Geiste durchs New York des vorigen Jahrhunderts, die Kulisse, vor der die Lebensdramen der Frauen aus Whartons Romanen spielten. Bei dem Versuch, all die Untiefen zu umschiffen, die durch gesellschaftliche Etikette, die Kluft zwischen alteingesessener Aristokratie und neureichen Emporkömmlingen, die etablierte Vorherrschaft der Männer und die manchmal noch stärkere Macht der eigenen Schönheit und Anmut drohten, prallten ihre Heldinnen beständig gegen die unsichtbaren Klippen der Ehre. Leider konnte sich die moderne Gesellschaft nicht mehr auf eine allgemeingültige Vorstellung dessen, was ehrenhaftes Verhalten ausmacht, einigen.

Nicht, daß in Whartons Romanen die Ehre triumphiert hätte: In einem Fall kostete sie die Heldin das Leben; eine andere hatte ihr Glück an sie verloren; die dritte behauptete sich nur, weil sie zu unbedarft war, um zu ermessen, was auf dem Spiel stand. Wie sollte man angesichts einer solchen Bilanz die Fahne der Ehre noch hochhalten, zumal vor einem jungen Publikum, das sich allenfalls mit der dritten Romanfigur identifizieren würde – sofern die Studenten von heute überhaupt noch fähig waren, sich in Charaktere hineinzuversetzen, die nicht aus dem Kino stammten?

Die Stunde verlief ganz so, wie Paola es erwartet hatte, und am Ende hätte sie am liebsten aus der Bibel zitiert (einem Buch, für das sie ansonsten keine besondere Vorliebe hegte), und zwar die Stelle über jene, die weder sehen noch hören, obwohl sie doch Augen und Ohren haben. Aber sie verzichtete darauf, in der weisen Voraussicht, daß die Studenten auf [14] den Psalmisten sicher genauso unempfänglich reagiert hätten wie auf Edith Wharton.

Einer nach dem anderen verließen die jungen Leute den Hörsaal, während Paola sich anschickte, ihre Bücher und Notizen einzupacken. Berufliche Fehlschläge setzten ihr nicht mehr so zu wie in der Zeit, als sie erstmals einsehen mußte, daß vieles von dem, was sie vortrug, und wahrscheinlich auch das, woran sie glaubte, ihren Studenten schlicht unverständlich war. In ihrem siebten Unterrichtsjahr hatte sie einmal einen Vergleich zur Ilias gezogen und angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit festgestellt, daß nur ein einziger Kursteilnehmer sich überhaupt erinnern konnte, sie gelesen zu haben. Und selbst der war außerstande, das antike Ideal der heroischen Tat nachzuvollziehen. Die Trojaner hatten doch verloren, nicht wahr, wen kümmerte es da noch, wie Hector die Niederlage ertrug?

»Die Zeit ist aus den Fugen«, murmelte sie auf englisch vor sich hin und fuhr überrascht zusammen, als sie merkte, daß jemand neben ihr stand, eine Studentin, die ihre professoressa jetzt vermutlich für verrückt hielt.

»Ja, Claudia?« fragte sie, halbwegs sicher, daß die junge Frau so hieß. Sie war klein, hatte dunkles Haar, dunkle Augen und einen so zarten milchweißen Teint, als käme nie ein Sonnenstrahl an ihr Gesicht. Sie hatte schon im Vorjahr ein Seminar bei Paola belegt, sich selten gemeldet, eifrig mitgeschrieben, die Klausur mit Sehr gut bestanden und bei Paola den vagen Eindruck einer intelligenten, aber durch ihre Schüchternheit gehemmten Person hinterlassen.

»Ich wollte fragen, ob ich Sie mal sprechen kann, Professoressa«, sagte das Mädchen.

[15] Getreu dem Grundsatz, daß Sarkasmus nur gegenüber den eigenen Kindern erlaubt sei, unterdrückte Paola die Frage, ob sie das denn nicht bereits täte, klickte statt dessen ihre Aktenmappe zu und sagte dann, zu dem Mädchen aufblickend: »Sicher. Worüber denn? Edith Wharton?«

»Ja, auch, aber eigentlich geht es um etwas anderes.«

Wieder verbot sich Paola den Hinweis, daß nur eins von beidem zutreffen könne. »Und um was?« fragte sie, aber diesmal mit einem Lächeln, damit es dem sonst so schweigsamen Mädchen nicht gleich wieder die Sprache verschlug. Und um nicht den Eindruck zu erwecken, daß sie es eilig habe, stellte sie die Mappe hin, lehnte sich mit dem Rücken ans Pult und lächelte wieder.

»Es handelt sich um meine Großmutter«, sagte das Mädchen und sah Paola so forschend an, als gelte es herauszufinden, ob sie wisse, was eine Großmutter sei. Ihr Blick schweifte zur Tür, zurück zu Paola und wieder zur Tür. »Ich hätte gern eine Antwort auf etwas, das ihr Kummer macht.« Hier stockte sie aufs neue.

Als Claudia keine Anstalten machte fortzufahren, nahm Paola ihre Mappe unter den Arm und ging langsam zum Ausgang. Das Mädchen schlängelte sich an ihr vorbei, öffnete die Tür und trat beiseite, um Paola den Vortritt zu lassen: eine Artigkeit, von der Paola sehr angetan war, auch wenn genau das sie andererseits irritierte. Nicht weil es ihr wichtig schien, sondern nur weil die Antwort das Mädchen vielleicht ermuntern würde, sich näher zu erklären, fragte sie: »Ist es Ihre Großmutter mütterlicher- oder väterlicherseits?«

»Eigentlich weder noch, Professoressa.«

[16] Paola versprach sich eine stattliche Belohnung für all die unausgesprochenen Kommentare, die sie sich bei dieser Unterhaltung, falls es denn eine war, bislang schon versagt hatte. »Also eine Art ehrenamtlicher Großmutter?«

Claudia lächelte, ein Lächeln, das sich vor allem in ihren Augen spiegelte und dadurch um so einnehmender wirkte. »Genau. Sie ist nicht meine richtige Großmutter, aber ich habe sie immer so genannt. Nonna Hedi. Weil sie nämlich Österreicherin ist, verstehen Sie.«

Paola verstand nicht, forschte aber trotzdem weiter: »Ist sie mit Ihren Eltern verwandt, eine Großtante oder so was?«

Die Frage war dem Mädchen sichtlich unangenehm. »Nein, sie ist überhaupt nicht verwandt mit uns.« Sie zögerte, dachte nach und platzte dann heraus: »Sie war eine Freundin meines Großvaters, verstehen Sie?«

»Ah«, sagte Paola. Das wurde alles sehr viel komplizierter, als die schlichte Bitte des Mädchens hatte vermuten lassen, weshalb Paola nachhakte: »Und was wollten Sie nun von mir wissen?«

»Also eigentlich wollte ich etwas von Ihrem Mann, Professoressa.«

Paola war so überrascht, daß sie nur wiederholen konnte: »Von meinem Mann?«

»Ja. Er ist doch bei der Polizei, oder?«

»Stimmt, ja.«

»Und da wollte ich Sie bitten, ob Sie ihn etwas für mich fragen würden, das heißt: für meine Großmutter.«

»Sicher. Und was, bitte, soll ich ihn fragen?«

»Also, ob er sich mit Begnadigungen auskennt.«

[17] »Begnadigungen?«

»Ja. Mit der Begnadigung von Straftätern.«

»Meinen Sie eine Amnestie?«

»Nein, Amnestien erteilt die Regierung, wenn die Gefängnisse überfüllt sind und der Unterhalt der Häftlinge zu teuer wird: Dann lassen sie einfach alle frei und geben zur Begründung irgendein denkwürdiges Ereignis an. Aber davon spreche ich nicht. Ich meine einen individuellen Straferlaß, den offiziellen Widerruf, daß jemand ein ihm zur Last gelegtes Verbrechen nicht begangen hat.«

Unterdessen waren sie langsam die Treppen vom vierten Stock hinuntergestiegen, aber jetzt blieb Paola stehen. »Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann, Claudia.«

»Das macht nichts, Professoressa. Ich wollte mich zuerst bei einem Anwalt kundig machen, aber der verlangt fünf Millionen Lire für die Auskunft, und da fiel mir ein, daß Ihr Mann bei der Polizei ist, also dachte ich, vielleicht könnte er mir weiterhelfen.«

Paola deutete mit einem flüchtigen Nicken an, daß sie verstanden habe. »Könnten Sie mir genau erklären, was ich ihn fragen soll, Claudia?«

»Ob es eine juristische Möglichkeit gibt, jemanden, der inzwischen verstorben ist, nachträglich in einer Sache zu rehabilitieren, derentwegen er zu Lebzeiten vor Gericht stand.«

»Nur vor Gericht stand?«

»Ja.«

Paolas Stimme verriet, daß sie ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt sah. »Er wurde nicht verurteilt und ins Gefängnis geschickt?«

[18] »Nicht direkt. Das heißt, verurteilt hat man ihn schon, aber er kam nicht ins Gefängnis.«

Paola lächelte und legte dem Mädchen die Hand auf den Arm. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz. Verurteilt, aber nicht inhaftiert? Wie ist das möglich?«

So wie das Mädchen jetzt übers Treppengeländer nach der offenen Eingangstür spähte, hätte man glauben können, sie wolle vor Paolas Fragen fliehen. Aber dann wandte sie sich ihr wieder zu und antwortete: »Weil das Gericht ihn für unzurechnungsfähig erklärte.«

Paola, die sich hütete, nach der Identität dieser Person zu fragen, überdachte die Antwort, ehe sie weiterforschte: »Und wohin kam er statt dessen?«

»Nach San Servolo. Und dort ist er gestorben.«

Wie alle Venezianer wußte auch Paola, daß auf der Insel San Servolo früher die städtische Irrenanstalt untergebracht war, und zwar so lange, bis mit Inkrafttreten der Legge Basaglia die Irrenhäuser geschlossen und die Patienten entweder freigelassen oder in weniger abschreckende Institutionen überstellt wurden.

Obwohl sie ahnte, daß das Mädchen es ihr nicht sagen würde, fragte Paola: »Wollen Sie mir verraten, um was für ein Verbrechen es sich handelt?«

»Nein, ich glaube nicht«, sagte Claudia im Hinuntergehen. Am Fuß der Treppe drehte sie sich um und rief Paola zu: »Werden Sie ihn fragen?«

»Natürlich«, antwortete Paola, die mittlerweile ebenso daran interessiert war, ihre eigene Neugier zu befriedigen wie diesem Mädchen einen Gefallen zu tun.

»Danke, Professoressa. Dann also bis nächste Woche, in [19] der Vorlesung.« Damit wandte Claudia sich zum Ausgang, wo sie noch einmal stehenblieb und zu Paola aufblickte. »Die Bücher haben mir wirklich gefallen, Professoressa«, rief sie nach oben. »Und daß Lily so sterben mußte, hat mir das Herz gebrochen. Aber es war ein ehrenhafter Tod, nicht wahr?«

Paola nickte, froh, daß offenbar wenigstens eine verstanden hatte, worauf es ankam.

[20] 2

Brunetti war an diesem Vormittag so sehr damit beschäftigt, den alarmierenden Anstieg der Kleinkriminalität in Venedig zu verfolgen, daß er nicht dazu kam, über etwas so Abstraktes wie Ehre und Ehrbegriffe nachzudenken. Bisweilen hatte es den Anschein, als sei das alles, was sie in der Questura machten: Formulare ausfüllen und in die Ablage geben, Listen erstellen und die Zahlen so auslegen, daß die Kriminalstatistik ihre für die Öffentlichkeit so beruhigend niedrige Quote halten konnte. Aber weil er einsah, daß exakte Bewertungen noch mehr Schreibarbeit erfordern würden, brachte er den leidigen Papierkram, wenn auch murrend, hinter sich.

Kurz vor zwölf, als er eben sehnsüchtig ans Mittagessen zu denken begann, klopfte es. Brunetti rief: »Avanti!«, und als er aufblickte, stand Alvise in der Tür.

»Da ist jemand, der Sie sprechen möchte, Commissario«, sagte der Beamte und lächelte.

»Wer denn?«

»Oh, hätte ich mir den Namen geben lassen sollen?« fragte Alvise, ehrlich erstaunt über ein solches Ansinnen.

»Nein, schicken Sie ihn einfach rein«, sagte Brunetti ergeben.

Alvise trat zurück und winkte mit ausgestrecktem Arm – eine Geste, die er offenbar den Verkehrspolizisten in italienischen Filmen mit ihrer weißbehandschuhten Grandezza abgeguckt hatte und die Brunetti glauben machte, es stünde [21] womöglich kein Geringerer als der Präsident der Republik persönlich vor der Tür. Also schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich, wie um nicht hinter dem beflissenen Alvise zurückzustehen. Doch als er Marco Erizzo hereinkommen sah, ging er um den Schreibtisch herum, begrüßte seinen alten Freund erst mit Handschlag, umarmte ihn dann und tätschelte ihm den Rücken.

Brunetti trat zurück und musterte das vertraute Gesicht. »Marco, das ist aber eine Freude! Mein Gott, wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?« Es war – wie lange? – ein, vielleicht sogar zwei Jahre her, seit sie sich zuletzt getroffen hatten, aber Marco hatte sich nicht verändert. Sein Haar war immer noch von diesem satten Kastanienbraun und so wuschelig, daß kein Friseur es hätte bändigen können, und um seine Augen strahlte ein reicher Kranz von Lachfältchen.

»Was glaubst du, wo ich gewesen bin, Guido?« fragte Marco zurück. Er sprach Venezianisch mit dem starken Giudecca-Akzent, mit dem ihn seine Klassenkameraden gehänselt hatten, als er und Brunetti vor fast vierzig Jahren zusammen in die Grundschule gingen. »Hier, zu Hause, bei der Arbeit.«

»Geht’s euch gut?« Indem er die Frage im Plural stellte, bezog Brunetti Erizzos Ex-Frau und ihre beiden Kinder sowie seine jetzige Lebensgefährtin und die gemeinsame Tochter mit ein.

»Alle gesund, alle wohlauf«, sagte Marco, eine Floskel, die zu seiner Standardreplik geworden war. Stets war alles in bester Ordnung, immer waren alle wohlauf. Aber was hatte ihn dann an diesem schönen Oktobermorgen in die [22] Questura geführt, obwohl er doch angesichts seines weitverzweigten Firmenimperiums gewiß Dringlicheres zu tun hatte?

Marco schaute auf seine Armbanduhr. »Zeit für un’ombra?«

Ein geborener Venezianer hatte nach elf Uhr vormittags immer Zeit für ein Gläschen Wein, und so ließ auch Brunetti sich ohne weiteres überreden.

Auf dem Weg zu der Bar am Ponte dei Greci plauderten sie über dies und jenes: ihre Familien, alte Freunde, darüber, wie schade es sei, daß man so selten dazu kam, mehr als ein kurzes Hallo auf der Straße zu tauschen, bevor jeder weiterhetzen mußte, um sich dem zu widmen, was immer seine Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

In der Bar wollte Brunetti sich an den Tresen stellen, aber Marco faßte ihn am Ellbogen und zog ihn zu einer Bank in einer Nische vor dem Fenster. Brunetti setzte sich ihm gegenüber. Nun würde er endlich erfahren, was seinen Freund auf die Questura geführt hatte. Sie hatten zwar nichts bestellt, aber der Wirt kannte Brunetti lange genug, um ihnen von sich aus zwei kleine Gläser Weißwein zu bringen, wonach er wortlos hinter den Tresen zurückkehrte.

»Cincin«, sagten beide im Duett und nahmen ein Schlückchen. Marco nickte anerkennend. »Besser als das, was in den meisten Bars ausgeschenkt wird.« Er trank noch einen Schluck und stellte sein Glas ab.

Brunetti sagte nichts, wohl wissend, daß Schweigen die beste Methode war, einen unentschlossenen Zeugen zum Sprechen zu bringen.

»Ich will uns nicht die Zeit stehlen, Guido«, sagte Marco, [23] der plötzlich sehr ernst klang. Er nahm den kurzen Stiel seines Weinglases zwischen Daumen und Zeigefinger der Rechten und drehte das Glas im Kreis, eine Geste, die Brunetti unversehens in die gemeinsame Kindheit zurückversetzte. Schon damals hatten immer Marcos Hände ihn verraten, wenn er nervös war, sei es, daß ihm bei den schriftlichen Prüfungen reihenweise die Bleistiftspitzen abbrachen oder er beständig an seinem Kragenknopf zupfte, wenn er mit einem Mädchen sprechen mußte, das ihm besonders gut gefiel. »Sag mal, ist das bei euch Jungs ähnlich wie bei den Priestern?« fragte Marco. Er schaute kurz hoch und senkte den Blick gleich wieder auf sein Glas.

»Welchen Jungs?« fragte Brunetti ehrlich verwirrt.

»Na, den Bullen. Auch wenn du Commissario bist. Ich meine, wenn ich dir was anvertraue, läuft das dann wie damals, als wir Kinder waren und zur Beichte gingen und der Priester es niemandem weitererzählen durfte?«

Brunetti verbarg sein Lächeln hinter dem Weinglas. »Ich bin nicht sicher, ob man das vergleichen kann, Marco. Die Priester durften nichts weitersagen, ganz egal, was wir ihnen erzählten oder wie schlimm es war. Aber wenn du mir von einer Straftat berichten würdest, müßte ich wohl etwas unternehmen.«

»Was für eine Straftat?« Als Brunetti nicht antwortete, fuhr Marco fort: »Ich meine, wie schlimm müßte das Vergehen sein, damit du es melden mußt?«

Wenn einer so eindringlich fragte, ging es um mehr als ein Gedankenspiel. Also überlegte Brunetti sich seine Antwort gründlich: »Ich kann’s dir nicht sagen. Das heißt, ich kann dir keine Aufstellung geben über das, was ich melden [24] müßte. Aber mit Sicherheit jedes schwerwiegende Delikt, jede Art von Gewaltanwendung.«

»Und wenn noch gar nichts passiert ist?« fragte Marco.

Daß ausgerechnet ein so handfester, praktischer Mensch wie Marco sich mit hypothetischen Fragen befaßte, überraschte Brunetti außerordentlich; selbst in seiner Ausdrucksweise war Marco für gewöhnlich so klar, knapp und präzise, daß Brunetti sich nicht erinnern konnte, aus seinem Munde jemals ein grammatikalisch komplexes Satzgefüge gehört zu haben.

»Marco«, sagte er, »warum vertraust du mir nicht einfach, sagst mir, was los ist, und läßt mich überlegen, ob und wie das Problem zu lösen ist?«

»Es ist nicht so, daß ich dir nicht vertrauen würde, Guido. Bei Gott, das tue ich! Wäre ich sonst zu dir gekommen? Ich will dir nur keine Scherereien machen, wenn ich dir was erzähle, das du vielleicht lieber nicht wissen solltest.« Sein Blick ging zur Theke hinüber, und Brunetti dachte schon, er wolle Wein nachbestellen, aber dann wandte Marco sich ihm zufrieden seufzend wieder zu, und Brunetti begriff, daß er nur hatte sehen wollen, ob jemand ihr Gespräch belauschte. Die Männer am Tresen schienen indes ganz in ihre eigene Unterhaltung vertieft.

»Also gut, ich sag’s dir«, versetzte Marco. »Und dann kannst du entscheiden, was du damit anfängst.«

Brunetti erkannte verblüfft, wie sehr Marcos Verhalten, bis hin zu seiner Sprechweise, auf einmal dem so vieler Verdächtiger ähnelte, die er im Lauf der Jahre verhört hatte. Stets kam irgendwann der Punkt, an dem sie aufgaben, sich nicht länger gegen das Bedürfnis sperrten, ihm zu erklären, [25] wie die Dinge lagen oder wie es gewesen war oder was sie dazu getrieben hatte zu tun, was immer sie getan hatten. Er wartete.

»Du weißt ja, oder vielleicht weißt du’s auch nicht, daß ich einen neuen Laden auf Torcello gekauft habe, gleich bei der Kirche Santa Fosca«, begann Marco und wartete auf Brunettis Antwort.

»Nein, wußte ich nicht.« Brunetti war klug genug, es bei dieser schlichten Verneinung bewenden zu lassen. Hake nie nach, verlange keine Klarstellung. Laß sie einfach reden, bis ihnen die Worte ausgehen und sie nichts weiter zu sagen haben: Das war dann der Moment, in dem man anfing, Fragen zu stellen.

»Es ist dieses Käsegeschäft, das dem Typen mit dem schütteren Haar gehörte, der nie ohne Hut ging. Netter Mensch; als wir noch drüben wohnten, hat meine Mutter immer bei seinem Vater eingekauft. Jedenfalls, letztes Jahr haben sie seine Miete verdreifacht, worauf er sich entschloß, in Rente zu gehen, und da habe ich die buonuscita gezahlt und den Mietvertrag übernommen.« Er sah Brunetti an, um sich zu vergewissern, ob der ihm folgen könne. »Nun will ich dort Masken und Souvenirs verkaufen, und dafür brauche ich Schaufenster, damit die Leute meine Waren auch sehen. Mein Vorgänger hatte nur eines auf der rechten Seite, wo er seinen Provolone und Scamorza ausstellte, aber links vom Eingang gab’s ursprünglich noch ein zweites, das hat sein Vater bloß vor gut vierzig Jahren dichtgemacht und zugemauert. Auf den Bauplänen ist es aber noch verzeichnet, kann also wieder freigelegt werden. Und ich brauche es. Ich muß zwei Schaufenster haben, denn nur, wenn den [26] Touristen der ganze Plunder ins Auge springt, lassen sie sich verführen und nehmen eine Maske mit heim nach Düsseldorf oder Liverpool.«

Er und Brunetti brauchten sich nicht eigens über die Torheit der Souvenirjäger zu verständigen oder darüber, daß vieles von dem, was Marco in seinem Laden als »Original venezianische Handarbeit« anbieten würde, aus Drittweltländern stammte, wo der einzige Kanal, mit dem die Hersteller je in Berührung kamen, der Abwassergraben hinter ihren Häusern war.

»Jedenfalls, ich habe den Mietvertrag übernommen, und mein Architekt hat die Pläne gezeichnet. Das heißt, die hatte er längst fertig, schon seit ich mit dem früheren Besitzer einig geworden bin, aber einreichen konnte er sie erst, als der Mietvertrag auf meinen Namen umgeschrieben war.« Wieder sah er Brunetti an. »Das war im März.« Marco hob die zur Faust geballte Rechte, reckte den Daumen hoch, wiederholte »März« und zählte dann die Monate an den Fingern ab. »Das ist sieben Monate her, Guido. Sieben Monate haben die Scheißkerle mich schmoren lassen. Ich zahle die Miete, mein Architekt geht einmal im Monat aufs Planungsbüro und erkundigt sich nach der Baugenehmigung, und jedesmal erzählen sie ihm, daß die Papiere noch nicht fertig sind oder daß irgendwas überprüft werden muß, bevor man mir die Bewilligung erteilen kann.«

Marco öffnete die Faust, ließ die flache Hand auf den Tisch sinken und legte die andere mit gespreizten Fingern daneben. »Du weißt, was dahintersteckt, oder?« fragte er.

»Ja«, sagte Brunetti.

»Also habe ich letzte Woche zu meinem Architekten [27] gesagt, er soll die Brüder endlich fragen, wieviel sie verlangen.« Marco spähte über den Tisch, gespannt, ob der Commissario sich überrascht, vielleicht sogar schockiert zeigen würde, aber Brunettis Miene blieb gelassen.

»Dreißig Millionen.« Marco machte eine lange Pause, aber Brunetti sagte immer noch nichts. »Wenn ich ihnen dreißig Millionen zahle, dann kriege ich nächste Woche die Genehmigung, und die Arbeiter können loslegen und mit der Renovierung anfangen.«

»Und wenn du nicht zahlst?« fragte Brunetti.

»Weiß der Himmel«, sagte Marco kopfschüttelnd. »Wahrscheinlich können sie mich dann noch mal sieben Monate zappeln lassen.«

»Warum hast du ihnen denn nicht schon früher ein Angebot gemacht?« fragte Brunetti.

»Weil mein Architekt dauernd sagte, das sei nicht nötig, er kenne die Herren von der Planungskommission, und es seien eben nur eine Menge Aufträge vor mir dran. Und ich habe im übrigen ganz andere Probleme.« Einen Moment lang glaubte Brunetti, Marco würde ihm auch davon erzählen, aber der sagte nur: »Nein, nein, das gehört nicht hierher.«

Brunetti erinnerte sich, wie vor ein paar Jahren eine Fastfood-Kette in vier verschiedenen Vierteln Lokale übernommen und im großen Stil renoviert hatte. Die Bauarbeiter waren Tag und Nacht im Einsatz gewesen. Ehe man sich’s versah und lange bevor irgend jemand mit der Eröffnung rechnete, waren sie bereits auf dem Markt, und der Geruch ihrer verschiedenen Hamburger-Kreationen verpestete die Luft wie ein Schlachthaus auf Sumatra zur Sommerzeit.

[28] »Und bist du entschlossen zu zahlen?«

»Mir bleibt ja kaum eine andere Wahl, oder?« fragte Marco resigniert. »Ich zahle ohnehin schon über hundert Millionen Lire pro Jahr für einen Anwalt, nur um der Prozesse Herr zu werden, mit denen man meine anderen Filialen traktiert. Wenn ich jetzt eine Zivilklage gegen städtische Beamte einreiche, die mich mutwillig an der Ausübung meiner Geschäfte hindern oder womit auch immer mein Anwalt sie belangen könnte, dann würde mich das noch mehr kosten; so ein Verfahren könnte sich über Jahre hinziehen, und am Ende käme doch nichts dabei heraus.«

»Warum bist du dann überhaupt zu mir gekommen?« fragte Brunetti.

»Ich wollte wissen, ob du vielleicht etwas unternehmen könntest? Gesetzt den Fall, ich würde die Scheine markieren oder so…« Marcos Stimme verhallte, und er preßte die Hände zusammen. »Es geht mir wirklich nicht ums Geld, Guido. Bei dem Umsatz, den ich mit diesem Ramsch mache, hole ich das in ein paar Monaten spielend wieder rein. Aber ich bin’s ein für allemal leid, unter solchen Bedingungen arbeiten zu müssen. Ich habe Filialen in Paris und Zürich, und dort wären solche Schikanen undenkbar. Man beantragt eine Baugenehmigung, die Behörden bearbeiten deine Papiere, und wenn sie damit durch sind, erteilen sie dir die Bewilligung, und du kannst loslegen. Ohne daß dir auch nur ein Mensch an die Brieftasche geht.« Seine Faust donnerte auf den Tisch. »Kein Wunder, daß diese Stadt so auf den Hund gekommen ist.« Seine Stimme schwoll an und klang plötzlich so schrill und gellend, daß Brunetti schon fürchtete, Marco würde vollends die Beherrschung [29] verlieren. »Hier hat man als Geschäftsmann keine Chance. Diese Scheißbeamten saugen uns doch aus bis aufs Blut.« Wieder knallte seine Hand auf den Tisch. Die Gäste an der Theke und der Wirt schauten her, aber da das, worüber Marco sich so ereiferte, keinem Italiener fremd war, nickten sie nur zustimmend und setzten ihre Unterhaltung fort.

Brunetti wußte nicht, ob Marcos vernichtendes Urteil speziell auf Venedig oder auf ganz Italien gemünzt war. Was indes kaum eine Rolle spielte: Er hätte so oder so recht gehabt.

»Was wirst du nun tun?« fragte Brunetti, und beide wußten, was die Frage bedeutete: Er würde Marco nicht helfen können. Als Freund mochte er ihn bedauern und seine Wut teilen, aber als Polizist war er machtlos. Die Bestechungssumme würde in bar ausbezahlt werden und folglich keine Spuren hinterlassen. Und wenn Marco sich offiziell über ein Mitglied der Planungskommission beschwerte, konnte er seine Läden gleich schließen und sich aus dem Geschäftsleben zurückziehen, denn er würde niemals mehr irgendeine Genehmigung bekommen, egal wie belanglos, egal wie dringlich.

Marco rückte lächelnd ans Ende der Bank. »Wahrscheinlich wollte ich bloß mal Dampf ablassen. Oder vielleicht wollte ich dich auch mit der Nase drauf stoßen, was hier läuft, Guido, weil du doch sozusagen für die arbeitest, und falls das der Grund war, dann tut’s mir leid, und ich entschuldige mich.« Marcos Stimme klang wieder ganz gefaßt, aber Brunetti hatte seine Finger im Blick, die gerade alle vier Kanten einer Papierserviette zu akkuraten Dreiecken falteten.

[30] Brunetti war selbst überrascht, wie sehr es ihn kränkte, daß einer von seinen Freunden annehmen konnte, er arbeite für »die«. Andererseits, wenn nicht für »die«, für wen arbeitete er dann?

»Nein, ich glaube nicht, daß das der Grund war«, sagte er endlich. »Hoffe ich wenigstens. Und auch mir tut es leid, weil ich nichts tun kann. Aber wenn ich dir zu einer Anzeige rate, könnte ich dir auch gleich empfehlen, dich umzubringen, und das will ich denn doch nicht.« Wie schaffte Marco es bloß, ständig neue Läden zu eröffnen, wenn man ihm immerfort solche Knüppel zwischen die Beine warf? Brunetti dachte an den rastlosen Jungen, den mit den hochfliegenden Träumen, der drei Jahre hintereinander mit ihm die Schulbank geteilt hatte, und er erinnerte sich, daß Marco, obwohl er nie lange stillsitzen konnte, doch immer wieder die Geduld aufbrachte, eine Aufgabe zu Ende zu führen, ehe er die nächste in Angriff nahm. Vielleicht war der Freund ja so ähnlich programmiert wie eine Biene und konnte gar nicht anders, als sich mit Feuereifer in eine Arbeit zu stürzen, um, sobald er damit fertig war, zur nächsten davonzufliegen.

»Also dann«, sagte Marco, rutschte von der Bank und erhob sich. Er langte in die Tasche, aber Brunetti gebot ihm mit einer Geste Einhalt. Marco verstand, zog die Hand zurück und streckte sie Brunetti hin, der sitzen geblieben war.

»Dann bin ich nächstes Mal dran?«

»Versteht sich.«

Marco sah auf die Uhr. »Ich muß los, Guido. Ich erwarte eine Lieferung Muranoglas«, erklärte er mit feinem Lächeln und starker Betonung auf Murano. »Die Ware kommt aus [31] Tschechien, und ich muß schauen, daß ich sie heil durch den Zoll kriege.«

Bevor Brunetti aufstehen konnte, war Marco fort und eilte, so wie er immer gelaufen war, im Sturmschritt einem neuen Projekt, einer neuen Aufgabe entgegen.

[32] 3

Als Brunetti und Paola sich nach dem Abendessen wie gewöhnlich über ihren Tag austauschten, sahen sie zunächst keinen Zusammenhang zwischen Claudias und Marcos Geschichte; geschweige denn, daß sie dabei an etwas so Hochtrabendes wie das Gebot der Ehre gedacht hätten. Paola bedauerte Marco und sagte, sie habe ihn immer gemocht, worauf Brunetti verblüfft erwiderte: »Also das hätte ich nie gedacht.«

»Und wieso nicht?«

»Wahrscheinlich weil er so ganz anders ist als die Leute, die dir normalerweise gefallen.«

»Wie soll ich denn das verstehen?«

»Ach, ich dachte immer, du hältst ihn für ein Schlitzohr.«

»Er ist ein Schlitzohr, gerade das gefällt mir ja so an ihm.« Als sie sein verdutztes Gesicht sah, erklärte Paola: »Sieh mal, beruflich habe ich doch vor allem mit Studenten oder Akademikern zu tun. Die einen sind in der Regel faul, die anderen beweihräuchern sich ständig selber. Meine Studenten liegen mir mit ihrem zartbesaiteten Gemüt in den Ohren, und wenn wieder mal einer unvorbereitet in den Kurs kommt, dann weil er, statt zu arbeiten, sein wundes Seelchen pflegen mußte. Und die Kollegen kennen kein anderes Gesprächsthema als ihre neueste Monographie über Calvinos Gebrauch des Semikolons, mit der sie die gesamte moderne Literaturkritik revolutionieren werden. Dagegen ist einer wie Marco, der ganz normal über seine Geschäfte [33] redet und übers Geldverdienen; der in all den Jahren nicht einmal versucht hat, mir mit seinem Wissen oder seinen ausgedehnten Reisen zu imponieren, und der mich auch nicht mit endlosen Leidensgeschichten langweilt – also so jemand ist im Vergleich dazu wie ein Glas Prosecco nach einem langen Nachmittag mit kaltem Kamillentee.«

»Kaltem Kamillentee?« wiederholte er verständnislos.

Sie lächelte. »Damit wollte ich den Gegensatz zum Prosecco unterstreichen. Weißt du, das ist so eine Art rhetorischer Kunstgriff, den ich meinen Kollegen abgeschaut habe.«

»Die vermutlich ganz und gar nicht wie Prosecco sind.«

Sie schloß die Augen, bog elegisch den Kopf zurück und ahmte jene köstliche Schmerzenspose nach, die man von Darstellungen der heiligen Agatha kennt. »Es gibt Tage, da bin ich versucht, dir deine Waffe zu entwenden und damit in die Uni zu marschieren.«

»Gegen wen würdest du sie richten, Studenten oder Professoren?«

»Das soll wohl ein Witz sein?« fragte sie mit gespieltem Erstaunen.

»Nein, sag schon!«

»Gegen die Kollegen natürlich. Die Studenten, mein Gott, das sind unreife Kinder, die werden schon noch erwachsen, die meisten jedenfalls, und mausern sich zu halbwegs angenehmen Zeitgenossen. Wen ich auslöschen möchte, das sind meine Kollegen, und sei’s nur, um der ewigen Selbstbeweihräucherung ein Ende zu machen.«

»Alle durch die Bank?« wunderte sich Brunetti, der es gewohnt war, daß Paola sich ihre Gegner sehr gezielt auswählte.

[34] Paola sah aus, als überlege sie, daß seine Waffe nur sechs Schuß habe und sie folglich eine Rangliste aufstellen müsse. Nach einer Weile antwortete sie, nicht ohne eine gewisse Enttäuschung in der Stimme: »Nein, nicht alle. Vielleicht fünf oder sechs.«

»Aber das wäre immer noch die Hälfte deines Fachbereichs, nicht wahr?«

»Offiziell sind wir zwölf, aber nur neun davon unterrichten.«

»Und was machen die drei übrigen?«

»Nichts. Doch es nennt sich Forschung.«

»Wie ist das möglich?«

»Einer ist aggressiv und obendrein verkalkt; Professoressa Bettin hatte eine sogenannte Nervenkrise und ist mit ärztlichem Attest bis auf weiteres beurlaubt, was bis zu ihrer Pensionierung reichen dürfte; und unser stellvertretender Vorstand, Professore Della Grazia, nun, der ist ein Sonderfall.«

»Was heißt das?«

»Er ist achtundsechzig und hätte vor drei Jahren emeritiert werden sollen, doch er weigert sich zu gehen.«

»Aber er unterrichtet nicht mehr?«

»Er ist nicht tragbar im Umgang mit den Studentinnen.«

»Was?«

»Du hast schon verstanden. Man kann ihn den Studentinnen nicht zumuten. Und eigentlich«, setzte sie nach einer gedankenvollen Pause hinzu, »den Dozentinnen auch nicht.«

»Ja, was macht er denn so Schlimmes?«

»Also die Studentinnen belästigte er in den Tutorien – solange er noch welche hielt – mit obszönen Anspielungen, [35] oder er zitierte im Seminar handfeste Sexszenen, aber immer nur aus den Klassikern, damit niemand sich beschweren konnte, und wenn sie’s doch taten, reagierte er so schockiert und verächtlich, als ob er als einziger am Institut die klassische Tradition hochhielte.« Paola machte eine Pause, doch da Brunetti sich offenbar nicht dazu äußern wollte, fuhr sie fort: »Und von den jüngeren Kolleginnen habe ich gehört, daß diejenigen, die ihm nicht ›entgegenkommen‹, auch keine Aufstiegschancen haben. Denn als stellvertretender Institutsvorstand muß er Beförderungen genehmigen oder kann sie, von Fall zu Fall, auch ablehnen.«

»Du sagtest, er sei achtundsechzig«, bemerkte Brunetti, nicht ohne einen gewissen Ekel in der Stimme.

»Was, wenn man’s recht bedenkt, nur beweist, wie lange er damit durchgekommen ist.«

»Aber nun nicht mehr?«

»Nicht mehr in dem Maße – zumindest, seit man ihm die Lehrbefugnis entzogen hat.«

»Was macht er jetzt?«

»Hab ich dir doch gesagt, er forscht.«

»Und was heißt das?«

»Er bezieht sein Gehalt, und wenn er sich entschließt aufzuhören, wird er eine großzügige Abfindung kassieren und danach eine noch großzügigere Pension.«

»Und ist das allgemein bekannt?«

»Innerhalb der Fakultät bestimmt, und wahrscheinlich auch unter den Studenten.«

»Und keiner unternimmt was dagegen?« fragte Brunetti, obwohl er sich beinahe denken konnte, was sie darauf antworten würde.

[36] »Der Fall liegt nicht viel anders als der, von dem Marco dir heute erzählt hat. Alle wissen, daß solche Dinge vorkommen, aber jeder scheut vor einer offiziellen Beschwerde zurück – aus Angst vor den Konsequenzen. Für den, der als erster damit an die Öffentlichkeit ginge, wäre es beruflicher Selbstmord. Man würde ihn in ein Kaff wie Caltanissetta versetzen, wo er Kurse geben müßte über…« Er sah, wie sie nach einem hinreichend abschreckenden Thema suchte. »…über Elemente des Bardengesangs in der frühkatalanischen Hofdichtung.«

»Ist schon eigenartig«, sagte er. »Obwohl man bei Ämtern und Behörden mittlerweile fast mit solchen Verhältnissen rechnet, glauben oder hoffen wir immer noch – zumindest gilt das für mich –, daß es an einer Universität nicht so zugeht.«

Paola nahm wieder ihre Heilige-Agatha-Pose ein, und bald danach gingen sie zu Bett.

Am Morgen, beim Kaffee, fragte Paola lächelnd: »Na, was ist?«

Brunetti wußte genau, was gemeint war: die Antwort auf die Bitte ihrer Studentin, die er Paola am Vorabend schuldig geblieben war. »Es hängt ganz davon ab«, begann er zögernd, »um was für ein Verbrechen es ging und wie das damalige Urteil lautete.«

»Über das Verbrechen hat sie nichts gesagt, nur, daß er schuldig gesprochen und nach San Servolo geschickt wurde.«

Brunetti rührte gedankenverloren in seinem Kaffee und fragte: »Diese Frau ist also Österreicherin, ja? Hat das Mädchen dir auch gesagt, wer der Mann war?«

[37] Paola versuchte sich zu erinnern, ob bei der kurzen Unterhaltung mit Claudia Namen gefallen waren. »Nein, aber sie erwähnte, daß die Frau eine alte Freundin ihres Großvaters war, also nehme ich an, es geht um ihn.«

»Und deine Studentin? Wie heißt sie?« fragte Brunetti.

»Warum mußt du das wissen?«

»Ich könnte Signorina Elettra bitten nachzusehen, ob wir was in den Akten haben.«

»Aber die alte Frau ist gar nicht mit ihr verwandt«, protestierte Paola, die das Mädchen keinesfalls kriminalistischen Ermittlungen aussetzen wollte, ganz gleich wie diskret oder wohlmeinend sie ausfallen mochten. Wer wußte schon, was es für Folgen haben würde, wenn man Claudias Namen in den Polizeicomputer eingab?

»Aber ihr Großvater war doch wohl mit ihr verwandt.« Brunettis Entgegnung klang pedantischer als beabsichtigt, aber es ärgerte ihn einfach, daß seine Frau sich auf diese heikle Geschichte eingelassen hatte.

»Guido«, begann Paola mit einer Stimme, die ihr selbst etwas zu schroff erschien, »sie wollte lediglich wissen, ob es theoretisch möglich wäre, diesen Mann nachträglich zu begnadigen. Sie hat nicht um eine großangelegte Untersuchung gebeten, sondern nur um eine Information.« Als Professorin alter Schule glaubte Paola nach wie vor, daß sie an ihren Studenten so etwas wie Elternstelle zu vertreten habe; eine Auffassung, die sie in dem Entschluß bestärkte, den Namen des Mädchens nicht preiszugeben.

Brunetti setzte seine Tasse ab. »Also ich fürchte, solange ich nicht weiß, weshalb dieser Mann – Großvater hin oder her – verurteilt wurde, kann ich gar nichts tun.« Sollte ihm [38] in seinem Jurastudium je ein ähnlicher Fall begegnet sein, so hatte er den längst vergessen. »Sieh mal, wenn es ein kleineres Vergehen war wie Diebstahl oder Körperverletzung, dann bräuchte man gar keine Begnadigung zu beantragen, dann wäre der Fall längst verjährt, aber wenn es sich um ein Kapitalverbrechen wie Mord handelt, dann wäre vielleicht…« Er überlegte weiter. »Hat sie gesagt, wie lange es her ist?«

»Nein, aber wenn er nach San Servolo kam, dann muß es vor der Legge Basaglia gewesen sein, und die wurde in den siebziger Jahren erlassen, oder?« fragte Paola.

Brunetti überlegte. »Hm«, brummte er und setzte nach langem Schweigen hinzu: »Es wird schwer werden, selbst wenn wir seinen Namen rauskriegen.«

»Wir brauchen den Namen nicht, Guido«, beharrte Paola. »Alles, was das Mädchen will, ist eine hypothetische Antwort.«

»Und die lautet, daß ich ihr keine Auskunft geben kann, solange ich nicht weiß, um was für ein Verbrechen es sich handelt.«

»Heißt das, du kannst gar nichts dazu sagen?« fragte sie scharf.

»Paola«, versetzte Brunetti in ziemlich dem gleichen Ton, »ich bin kein Hellseher. Du würdest doch auch nicht verlangen, daß ich ein Gemälde oder eine Graphik auf ihren Wert taxiere, ohne daß man sie mir zeigt.«

Beide sollten sich später an diesen Vergleich erinnern.

»Und was sage ich jetzt dem Mädchen?«

»Genau das, was du von mir gehört hast. Jeder gewissenhafte Anwalt…«, begann er – ignorierte Paolas erhobene [39] Brauen angesichts dieser absurden Paarung – und fuhr fort: »würde ihr das gleiche antworten. Wie sagt doch dieser Schulmeister in dem Buch, das du ständig zitierst, so schön: ›Fakten, Fakten, Fakten‹? Nun, bis ich oder sonst jemand die Fakten kennt, ist das die einzige Antwort, die sie kriegen wird.«

Paola hatte unterdessen nachgedacht und entschieden, es lohne sich nicht, noch länger Widerstand zu leisten. Guido handelte nach bestem Gewissen, und seine Antwort wurde nicht weniger glaubhaft dadurch, daß sie ihr nicht gefiel. »Gut, ich werd’s ausrichten«, erklärte sie. »Und, danke.« Lächelnd setzte sie hinzu: »Jetzt fühle ich mich selbst wie eine Dickens-Figur und würde ihr am liebsten sagen, daß sie fünf Millionen Lire an Anwaltskosten gespart hat und losziehen soll, um sie für etwas Schöneres auszugeben.«

»Du findest für alles ein Zitat aus einem Buch, nicht wahr?« fragte er schmunzelnd.

Statt einer einfachen Antwort, die bei ihr eine Seltenheit war, erwiderte Paola: »Ich glaube, es war Shelley, der gesagt hat, die Dichter seien die verkannten Gesetzgeber der Menschheit. Keine Ahnung, ob das stimmt oder nicht, aber daß die Romanciers die verkannten Tratschonkel dieser Welt sind, das weiß ich gewiß. Egal, welches Thema du wählst, sie haben es schon einmal durchgehechelt.«

Brunetti schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich überlasse dich jetzt deinen literarischen Höhenflügen.«

Als er sich hinabbeugte und sie auf den Scheitel küßte, machte er sich auf ein weiteres Zitat gefaßt, aber sie langte nur mit einer Hand nach hinten, tätschelte ihm die Wade und sagte dann: »Danke, Guido. Ich werd’s ihr ausrichten.«

[40] 4

Da die beiden, die bei ihnen Rat und Hilfe gesucht hatten, im Leben der Brunettis eher eine untergeordnete Rolle spielten, vergaßen der Commissario und Paola deren Anliegen wieder oder verdrängten sie zumindest. Notgedrungen, soweit es Brunetti betraf, denn ein Polizeiapparat, der angesichts der unkontrollierten Flut von osteuropäischen Einwanderern mit steigenden Kriminalitätsraten zu kämpfen hatte, wäre ebensowenig gegen eine kleine Korruptionsaffäre in einem städtischen Amt vorgegangen, wie Paola sich durch besagte Semikolons bei Calvino von der neuerlichen Lektüre der Goldenen Schale hätte abhalten lassen.

Als Claudia in der nächsten Vorlesung fehlte, war Paola beinahe erleichtert. Nicht nur, daß sie dem Mädchen ungern die Antwort ihres Mannes überbracht hätte – es widerstrebte ihr auch, sich näher auf das Privatleben oder die außeruniversitären Probleme einer ihrer Studentinnen einzulassen. Früher war das anders gewesen, damals hatte sie sich sehr wohl engagiert, aber wie bei den meisten ihrer Kollegen hatte es entweder nichts gefruchtet oder ein böses Ende genommen. Und um die mütterlichen Instinkte zu befriedigen, die sie als Frau nach gängigen Umfragewerten haben sollte, genügten ihr die eigenen Kinder vollauf.

Eine Woche später saß Claudia wieder im Hörsaal. Während der Vorlesung, die Henry James und Edith Wharton am Bild ihrer Heldinnen verglich, war sie ganz wie immer: [41] machte sich Notizen, stellte keine Fragen, schien aber irritiert über Bemerkungen ihrer Kommilitonen, die von Unwissenheit oder mangelndem Einfühlungsvermögen zeugten. Nach der Stunde wartete sie, bis die anderen den Hörsaal verlassen hatten, und kam dann zu Paola ans Pult.

»Ich wollte mich für mein Fehlen letzte Woche entschuldigen, Professoressa.«

Paola lächelte, aber bevor sie etwas sagen konnte, fragte Claudia: »Hatten Sie Zeit, mit Ihrem Mann zu sprechen?«

Es reizte Paola, zurückzufragen, ob das Mädchen vielleicht glaubte, sie hätte sich zwei Wochen lang nicht mit ihrem Mann unterhalten. Statt dessen wandte sie sich Claudia zu und sagte: »Ja, ich habe mit ihm gesprochen, aber er kann Ihnen leider keine Auskunft geben, solange er keine Vorstellung von der Schwere des Verbrechens hat, für das der Mann verurteilt wurde.«

Paola beobachtete das Mienenspiel, mit dem das Mädchen ihre Antwort aufnahm: Erstaunen, Argwohn und dann ein rasch abschätzender Blick auf Paola, wie um sich zu vergewissern, daß man sie nicht austricksen oder ihr eine Falle stellen wolle. All diese Empfindungen flackerten in Windeseile über ihr Gesicht, bevor sie sagte: »Aber im allgemeinen? Ich möchte ja nur wissen, ob er es für denkbar hält oder ob er von irgendeinem Verfahren weiß, das es… also das ermöglichen würde, den Ruf eines Menschen wiederherzustellen.«

Paola seufzte nicht, aber antwortete übertrieben langsam und geduldig: »Das kann er eben nicht sagen, Claudia. Solange er nicht weiß, um was für ein Verbrechen es sich handelt.«

[42] Das Mädchen dachte einen Augenblick nach und überraschte Paola dann mit der Frage: »Glauben Sie, ich könnte selbst mit Ihrem Mann sprechen?«

Entweder war sie so sehr auf eine Lösung ihres Problems fixiert, daß sie es in Kauf nahm, mit ihrer Bitte Paolas Vertrauenswürdigkeit in Frage zu stellen, oder sie war zu arglos, um überhaupt so weit zu denken. Im einen wie im anderen Fall bot Paolas Antwort eine vorbildliche Lektion in Gleichmut. »Ich wüßte nicht, was dagegen spräche. Wenn Sie in der Questura anrufen und sich mit ihm verbinden lassen, wird er Ihnen sicher einen Termin geben.«

»Aber wenn man mich gar nicht erst zu ihm vorläßt?«

»Dann berufen Sie sich auf mich. Sagen Sie, Sie riefen in meinem Auftrag an. Das sollte genügen, damit man Sie zu ihm durchstellt.«

»Danke, Professoressa«, sagte Claudia und wandte sich zum Gehen. Dabei stieß sie mit der Hüfte so ungeschickt gegen die Schreibtischkante, daß sie ihre Bücher fallen ließ. Paola, die sich bückte, um ihr beim Aufsammeln zu helfen, schielte als leidenschaftlicher Büchermensch unwillkürlich nach den Titeln. Sie entdeckte eine deutsche Ausgabe, aber da das Buch verkehrt herum lag, konnte sie nichts entziffern. Dafür erkannte sie Denis Mack Smiths Geschichte der italienischen Monarchie sowie seine Mussolini-Biographie, beide auf englisch.

»Können Sie Deutsch, Claudia?«

»Ja, meine Großmutter hat in meiner Kindheit Deutsch mit mir gesprochen. Sie war Deutsche.«

»Da sprechen wir aber jetzt über Ihre richtige Großmutter, oder?« fragte Paola mit einem ermunternden Lächeln.

[43] Immer noch auf den Knien und die Bücher sortierend, warf das Mädchen ihr einen sehr mißtrauischen Blick zu, antwortete aber ganz ruhig: »Ja, die Mutter meiner Mutter.«

Da sie nicht allzu neugierig erscheinen wollte, begnügte Paola sich mit der Feststellung: »Welch ein Glück für Sie, zweisprachig aufgewachsen zu sein.«

»Das sind Sie doch auch, Professoressa, oder nicht?«