Die Dürre - J.G. Ballard - E-Book

Die Dürre E-Book

J.G. Ballard

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Beschreibung

Auf der Erde breitet sich eine nie gekannte Dürre aus. Eine hauchdünne, widerständige Polymerschicht entstanden aus Industrieabfällen bedeckt die Ozeane und verhindert jedes Verdunsten des Meerwassers. Flüsse werden zu Rinnsalen, die Wälder stehen in Flammen und die unerträglich helle Sonne brennt auf die verdorrten Landschaften nieder. Während die meisten Menschen an die Küsten strömen, bleibt der Arzt Ransom mit wenigen anderen in der Stadt zurück. Das Klima verändert die zurückgebliebenen Bewohner und Gewalt und Verzweiflung breiten sich aus – während einige, in Einklang mit der apokalyptischen Wüstenlandschaft, ihre Erfüllung finden.

 

Wie sein Roman »Die Flut« ist »Die Dürre« eine Blaupause der »Climate Fiction« und ragt mit seinen grellen, surrealen Bildern einer Klimakatastrophe weit in unsere Gegenwart hinein.

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Titel der englischen OriginalausgabeThe Drought © 1965, J. G. Ballard

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2023 © diaphanes, Zürichwww.diaphanes.net Alle Rechte vorbehalten

Satz und Layout: 2edit, Zürich Druck: Steinmeier, Deiningen ISBN 978-3-0358-0539-0

Erster Teil

 

1

Ein See verschwindet

Am Mittag, als Dr. Charles Ransom sein Hausboot an der Flussmündung vertäute, sah er Quilter, den tumben Sohn der Alten, die auf dem maroden Kahn draußen vor dem Yachthafen hauste. Er stand auf einem Felsvorsprung am gegenüberliegenden Ufer und lächelte den toten Vögeln zu, die vor seinen Füßen im Wasser vorübertrieben. Wie ein verzerrter Heiligenschein wogte das Spiegelbild seines unförmigen Kopfes zwischen dem erschlafften Gefieder auf und ab. Die verkrustete Schlammbank war mit Papierfetzen und Treibholz übersät, und auf Ransom wirkte Quilters traumgesichtige Gestalt wie ein dem Wahnsinn anheimgefallener Faun, der sich aus Trauer über die verlorene Seele des Flusses mit Laub bestreut.

Beim Festmachen der Bug- und Achterleinen am Steg erschien ihm der Vergleich freilich eher unpassend. Auch wenn Quilter mindestens ebenso viel Zeit wie Ransom und die anderen am Fluss verbrachte, tat er dies aus völlig abseitigen Motiven. Der stetig sinkende Wasserspiegel, bedingt durch die Dürre im Frühjahr und Sommer, bereitete ihm ein irgendwie perverses Plaisir, obwohl er und seine Mutter die ersten waren, die darunter zu leiden hatten. Ihr maroder Kahn – ein ausgefallenes Geschenk von Quilters Gönner, Richard Foster Lomax, dem Architekten und Nachbarn Ransoms – hatte bereits jetzt dreißig Grad Schlagseite, und ein weiteres Absinken des Pegels um nur wenige Zentimeter würde seinen Rumpf wie einen vertrockneten Kürbis spalten.

Ransom beschirmte seine Augen vor dem Sonnenlicht und betrachtete die stillen Ufer des Flusses, die sich in westlicher Richtung bis zur acht Kilometer entfernten Stadt Mount Royal ­erstreckten. Eine Woche lang war er mit dem Hausboot auf dem See unterwegs gewesen, hatte es zwischen versickernden Rinnsalen und Schlammbänken hindurchnavigiert und auf das Ende der Evakuierung der Stadt gewartet. Nach Schließung des Krankenhauses in Mount Royal wollte er eigentlich an die Küste fahren, beschloss dann aber im letzten Moment, noch einige Tage auf dem See zu verbringen, bevor er für immer verschwand. Gelegentlich hatte er zwischen den aus der Mitte des Sees aufragenden feuchten Schlammbuckeln den fernen Bogen der Straßenbrücke gesehen, die den Fluss überspannte, darauf Tausende von Autos und Lastwagen, die über die Küstenstraße nach Süden fuhren und deren Fenster wie juwelenbesetzte Lanzen aufblitzten; doch die meiste Zeit war er allein gewesen. Nicht anders als das Hausboot, das über dem schwindenden Wasserspiegel schwebte, schien auch die Zeit stillzustehen.

Ransom zögerte seine Rückkehr so lange hinaus, bis sich auf der Brücke nichts mehr regte. Unterdessen bestand der See, einst eine knapp fünfzig Kilometer lange zusammenhängende Wasserfläche, nur noch aus einer Reihe zwischen Schlammbänken eingebetteter kleiner Becken und Kanäle. Nur wenige Fischerboote, die Besatzung Schulter an Schulter am Bug aufgereiht, kreuzten dazwischen noch umher. Die dunkel gekleideten Männer aus der Siedlung, die hohlwangigen Gesichter unter schwarzen Mützen verborgen, starrten wie ein Haufen verirrter Walfänger mit ausdrucksloser Miene auf Ransoms Hausboot, als seien sie durch eine private Tragödie viel zu erschöpft, um diesen gestrandeten Beifang einzuholen.

Ransom hingegen beschwingte die allmähliche Transformation des Sees. Als die ausgedehnte Wasserfläche stetig kleiner wurde und zunächst seichte Lagunen, dann mäandernde Rinnsale bildete, wirkten die vom Grund des Sees emporsteigenden nassen Dünen, als entstammten sie einer anderen Dimension. Am letzten Morgen wachte er auf und entdeckte, dass das Hausboot am Ende einer kleinen Bucht gestrandet war. Wie Traumgestade erhoben sich über ihm die mit toten Vögeln und Fischen übersäten Schlammhügel.

Als er sich der Flussmündung näherte und das Hausboot zwischen den gestrandeten Yachten und Fischerbooten hindurchsteuerte, war Hamilton, die Stadt am See, wie ausgestorben. Die Bootsschuppen an den Fischerkais, in deren Schatten reihenweise weiße Fische an den Haken aufgespannter Leinen trockneten, waren verlassen. Abfallfeuer schwelten in ufernahen Gärten, deren Rauch an den offenen Fenstern, durch die warme Luft eindrang, vorüberzog. Auf den Straßen rührte sich nichts. Ransom hatte angenommen, dass einige Leute zurückbleiben und warten würden, bis der große Exodus an die Küste vorbei war, doch allein Quilters Anwesenheit und sein zweideutiges Lächeln waren in gewisser Weise ein Menetekel, eines von zahlreichen irrationalen Zeichen, die in den Wirren der letzten Monate das tatsächliche Ausmaß der Dürre angezeigt hatten.

Hundert Meter zu seiner Rechten, hinter den Betonpfeilern der Straßenbrücke, ragten aus dem rissigen Schlamm die hölzernen Pfähle des Treibstoffdepots auf. Die schwimmende Mole war auf den Grund gesunken, und die Fischerboote, die bisher dort ankerten, waren zur Kanalmitte weitergezogen. Im Spätsommer war der Fluss gewöhnlich neunzig Meter breit, jetzt aber führte er nur noch halb so viel Wasser – ein dünner Strahl, der sich in dem flachen Bett zwischen den Ufern träge dahinschlängelte.

Neben dem Treibstoffdepot befand sich der Yachthafen, an dessen Außengrenze der Kahn der Quilters ankerte. Lomax hatte dem Paar das Boot am Depot übergeben und in einem Anfall quichotischer Großzügigkeit gar fünf Liter Diesel spendiert, gerade ausreichend, um die fünfundvierzig Kilometer bis zum Hafenbecken zurückzulegen. Da man ihnen die Einfahrt jedoch verweigerte, hatten sie den Kahn außerhalb des Hafens festgemacht. Nun saß Mrs. Quilter dort tagein, tagaus vor der Luke ihres Kahns, eingehüllt in ihr schwarzes Schultertuch, über das ihr ausgebleichtes rotes Haar wehte und giftete die Leute an, die mit ihren Eimern zum Wasser hinuntergingen.

Ransom konnte sie jetzt sehen. Wie der Schnabel eines gereizten Papageis schoss ihre krumme Nase nach links und rechts, während sie sich mit einem chinesischen Fächer vor dem dunklen Gesicht Luft zufächelte, gänzlich unbeeindruckt von der Hitze und dem Gestank des Flusses. Als er mit dem Hausboot aufgebrochen war, hatte sie an derselben Stelle gesessen und mit ihrem unflätigen Geschrei die Freizeitmatrosen provoziert, die mit Zementsäcken die Zufahrt zum Yachthafen abriegelten. Nicht einmal bei Flut gelangte jetzt noch genug Wasser in den Hafen, um die engen Docks zu füllen. Inzwischen versickerte es bereits im Fluss, so dass die schmucken Boote in ihrem eigenen Schlamm versanken. Über die von ihren Besitzern aufgegebenen Yachten wachte nun wie eine Hexe ganz allein Mrs. Quilter.

Trotz ihrer grotesken Erscheinung und ihres tumben Sohns bewunderte Ransom diese alte Frau und Hüterin der Kähne. Im Winter war er oft bei ihr gewesen und über die morschen Planken ins düstere Innere des Kahns gelangt, wo sie auf einer am Kartentisch arretierten Federkernmatratze lag und nach Luft schnappte. Ihre Kajüte, von einer Anzahl verstaubter Funzeln beleuchtet, bestand aus einem Labyrinth schmutziger, mit alten Spitzenschals verhängter Nischen und Winkel. Sobald er dann aus der Ginflasche, die er in seinem Arztkoffer verwahrte, ihre Teekanne befüllt hatte, wurde Ransom im leckenden Schlauchboot ihres Sohnes über den Fluss zurückgerudert, wobei ihn Quilters große Augen unter der ausladenden Stirn seines Wasserkopfs wie wilde Monde durch den Regen hindurch anglotzten.

Regen! – Ransom erinnerte sich, was dieser Begriff einmal bedeutete, und blickte unwillkürlich zum Himmel hoch. Wie ein dauerpräsentes Gespenst hing die Sonne, von keiner Wolke und keinem Nebel getrübt, über seinem Kopf. Auch über den Feldern und Straßen entlang des Flusses lag dieses stets gleichbleibende Licht wie ein gläserner, gelber Schild, der alles unter seiner Hitze begrub.

Unterhalb des Landestegs hatte Ransom eine Reihe farbiger Pfähle ins Wasser gerammt, doch das rasche Absinken des Pegels bedurfte keiner Berechnung mehr. In den vergangenen drei Monaten war der Wasserstand um etwa sechs Meter gefallen und der Fluss auf weniger als ein Viertel seines ursprünglichen Volumens geschrumpft. Es schien, als risse er beim Absinken alles mit sich in die Tiefe. Die Ufer bildeten nun Klippen, die nur überragt wurden von auf dem Kopf stehenden, an den Schornsteinen der ufernahen Häusern befestigten Zelten. Ursprünglich als Regenfänger gedacht – doch Regen war nie in sie gefallen –, hatten sich die Zeltplanen mit der Zeit in luftige Müllkippen verwandelt, angefüllt mit Staub und Laub, die sich gleichsam wie Opfergaben der Sonne darboten.

Ransom ging über das Deck seines Hausboots zum Steuerhaus hinab. Er winkte Quilter zu, der ihn mit schiefem Lächeln musterte. Hinter ihm, entlang der menschenleeren Kais, drehten sich die Leiber der trocknenden Fische gemächlich in der Luft.

»Sag’ deiner Mutter, sie soll den Kahn wegbringen«, rief ihm Ransom über das stille Wasser zu. »Der Fluss sinkt noch weiter.«

Quilter reagierte nicht. Er deutete auf die verschwommenen Umrisse, die sich unter der Wasseroberfläche langsam fortbewegten.

»Wolken«, sagte er.

»Was?«

»Wolken«, wiederholte Quilter. »Voller Wasser, Doktor.«

Ransom stieg durch die Luke in die Kajüte des Hausbootes. Quilters bizarrer Humor ließ ihn schmunzeln. Trotz seines deformierten Schädels und seiner calibanischen Erscheinung war Quilter nicht dumm. Das verträumt-ironische Lächeln, mit dem er ihn zuweilen bedachte, als wüsste er um Ransoms intimste Geheimnisse, der zerfurchte Schädel mit dem rostroten Haar und das zerknautschte ­Gesicht, dessen um zwei oder drei Zentimeter zurückweichende Wangenknochen tiefe Höhlen unter den Augen bildeten – das alles sowie eine gewisse unberechenbare Naivität und Einfalt machten Quilter zu einer angsteinfößenden Erscheinung. Die meisten Menschen gingen ihm geflissentlich aus dem Weg, vielleicht auch deshalb, weil er beharrlich und mit untrüglichem Instinkt ihre Schwächen erkannte und sich wie ein Inquisitor an ihnen abarbeitete.

Vermutlich war es dieser Riecher für menschliche Fehler, so folgerte Ransoms amüsiert, der Quilters anhaltende Neugier ihm gegenüber erklärte, als er ihn unverdrossen von seinem Aussichtspunkt weit oberhalb der Vogelkadaver beobachtete. Seit einiger Zeit schon war ihm Quilter beharrlich auf den Fersen, wohl in der Annahme, dass Ransoms einsame Wochenenden in den südlichen Sumpfgebieten des Sees ein Zeichen dafür waren, dass er gewisse Rückschläge in seinem Leben nicht verkraftet hatte – insbesondere die Entfremdung von seiner Frau Judith. Doch Quilters Versuche, sich diese Situation zu Nutzen zu machen und Ransom ein wenig zu provozieren – indem er die Decksausrüstung des Hausbootes stahl und die Stromleitungen am Ufer kappte –, vermochten Ransoms tolerante Einstellung und Gutmütigkeit nicht zu erschüttern.

Natürlich verstand Quilter nicht, dass das Scheitern von Ransoms Ehe weniger ein persönliches Versagen war als ein Versagen des städtischen Umfelds, oder besser gesagt der Landschaft, und dass Ransom mit seiner Entdeckung des Flusses endlich eine Umgebung gefunden hatte, in der er sich ganz und gar heimisch fühlte, eine Zone, in der Raum und Zeit übereinstimmten. Quilter konnte nicht wissen, wie sehr sich Ransom dieser Flussgemeinschaft zugehörig fühlte, jenen unsichtbaren Verbindungen zwischen den Menschen, die am Rand des Kanals lebten und für Ransom wichtiger geworden waren als seine Ehe und seine Arbeit im Krankenhaus. Das alles war durch die Dürre nun zu Ende.

Einen Sommer lang hatte Ransom beobachtet, wie der Fluss immer schmaler wurde und sein komplexes Gefüge weitgehend verlor. Vor allem aber wurde ihm klar, dass die Rolle des Flusses in der Zeit eine andere geworden war. Früher fungierte der Fluss als riesiger, fluider Zeitmesser, und alle darin befindlichen Dinge verhielten sich zueinander wie Sonne und Planeten in ihren jeweiligen Konstellationen. Die steten Seitwärtsbewegungen des Flusses, sein Steigen und Fallen sowie die Druckschwankungen, die auf den Schiffskörper einwirkten, waren Teil eines riesigen Evolutionssystems, dessen kumuliertes Vorwärtsstreben so irrelevant und bedeutungslos war wie die anscheinend lineare Bewegung der Zeit selbst. Die einzig wahren Bewegungen beruhten auf den zufälligen und diskontinuierlichen Beziehungen zwischen den Objekten im Fluss der Zeit, zwischen ihm und Mrs. Quilter, ihrem Sohn und den toten Vögeln und Fischen.

Mit dem Absterben des Flusses würde also auch jeder Kontakt zwischen den im trockenen Flussbett Gestrandeten abbrechen. Die Sorge um das eigene physische Überleben würde zunächst die Notwendigkeit überlagern, ein anderes Maß für zwischenmenschliche Beziehungen zu finden. Dennoch war Ransom überzeugt, dass die Absenz dieser großen Mediatorin, die gleichermaßen alle belebten und unbelebten Objekte miteinander verband, von entscheidender Bedeutung war. Ein jedes Ding und ein jeder Mensch würde sich bald schon auf einer Insel in einem zeitlosen Archipel ­wiederfinden.

2

Andenken

Ransom schenkte sich den restlichen Whisky aus der im Kombüsen­schrank verwahrten Flasche ein, setzte sich auf den Rand des Spülbeckens und schickte sich an, die Teerflecken von seiner Baumwollhose zu kratzen. Innerhalb der nächsten Stunde würde er an Land gehen und das Hausboot unwiderruflich verlassen müssen, doch nach einer Woche an Bord fiel es ihm schwer, das Boot aufzugeben und sich, wie geringfügig auch immer, sozial und mental wieder seiner Umgebung anzupassen. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, und sein blonder Haarschopf war durch das Sonnenlicht nahezu weiß. Damit und mit seinem nackten, sonnenverbrannten Oberkörper wirkte er wie ein seefahrender Anthropologe aus dem Norden, der, die eine Hand am Mast, in der anderen seinen Malinowski, an der Schiffsreling lehnte. Ransom sah sich gerne in dieser neuen Funktion, wusste aber zugleich, dass sie nur fiktiv war und seine eigentliche Odyssee ihm noch bevorstand: die Reise durchs Land hinunter zur Küste.

Doch so sehr ihm die Rolle des einsamen Seefahrers in seiner Vorstellung auch gefiel, schien das Hausboot, wenngleich erst seit wenigen Monaten in seinem Besitz, schon seit Längerem sein wahres Zuhause zu sein. Als er im letzten Winter einen Patienten im Yachthafen besuchte, sah er, dass es zum Verkauf stand und erwarb es spontan, aus einem jener unerklärlichen Impulse heraus, die seinem Leben eine mitunter unerwartete Wende gaben. Zum Erstaunen der anderen Yachtbesitzer schleppte Ransom das Boot ab und vertäute es am exponierten Ufer unterhalb der Straßenbrücke. Es war ein ungünstiger Liegeplatz, der darum nur wenig kostete und über dem der Gestank der Fischkais waberte, doch über den nahe gelegenen Zubringer gelangte er rasch nach Hamilton zum Krankenhaus. Die einzige Gefahrenquelle waren die Zigarettenstummel, die aus den Autos beim Überqueren der Brücke herabgeworfen wurden. Wenn er sich dann nachts im Steuerhaus zurücklehnte, sah er glühende Pünktchen, die rings um ihn her im Wasser erloschen.

Während er an seinem Getränk nippte, betrachtete er die Kajüteneinrichtung und überlegte, welche seiner Besitztümer er mitnehmen sollte. Die Kajüte war gänzlich unbeabsichtigt zum Depot für alle Glücksbringer seines Lebens geworden. Im Bücherregal standen die Anatomiebücher, die er als Student im Seziersaal benutzt hatte, die Seiten mit Formalin befleckt, das von den Leichen auf die Tische getropft war, irgendwo dazwischen das fremde Gesicht seines Chirurgenvaters. Auf dem Schreibtisch am Heckfenster lag der Briefbeschwerer aus Kalkstein, den er als Kind aus einem Kreidefelsen gebrochen hatte und dessen fossile Muscheleinschlüsse, kostbar wie ein Juwel, ein Stück Jurazeit in sich bargen. Dahinter standen zwei Fotografien in einem Scharnierrahmen aus Palisanderholz – seine Bundeslade. Links ein Schnappschuss, der ihn als Vierjährigen zwischen seinen Eltern auf dem Rasen sitzend zeigte. Das war vor ihrer Scheidung. Rechts davon, wie um die Erinnerung daran zu tilgen, befand sich die vergilbte Reproduktion eines kleinen Gemäldes, das er aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte: »Jours de lenteur« von Yves Tanguy. Dieses Gemälde mit seinen glatten, kieselsteinartigen Objekten, die frei von allen Assoziationen auf einem von den Gezeiten blank gefegten Untergrund schwebten, hatte ihm geholfen, sich aus der beschwerlichen Alltagsroutine zu lösen. Die runden, milchigen Gebilde lagen auf dem Grund des Ozeans ebenso isoliert wie das Hausboot am exponierten Flussufer.

Ransom ergriff den Rahmen und betrachtete sein Abbild. Ihm war das kleine, kantige Gesicht des Kindes auf dem Rasen durchaus vertraut, doch jetzt schien es zwischen ihnen keinerlei Verbindung mehr zu geben. Die Vergangenheit war entschwunden und hatte eine Moräne loser Erinnerungspartikel hinterlassen, Teilstücke eines geschmolzenen Gletschers, brüchig gewordene Erinnerungsknoten, die ihn nun im Hausboot umgaben. Wie die stählerne Raumkapsel den Astronauten vor den Unwägbarkeiten des Alls abschirmt, so schützte ihn das Boot vor dem Druck und dem Vakuum der Zeit. Hier waren all seine halbbewussten Erinnerungen an die Kindheit und die Vergangenheit versammelt, inventarisiert wie prähistorische Mineralien und verschlossen wie hinter Glasvitrinen in geologischen Museen.

3

Die Fischer

Eine Warnsirene heulte auf. Ein Flussdampfer mit einem einzelnen hohen Schornstein, die leeren Stuhlreihen mit weißen Planen bedeckt, näherte sich der Durchfahrt zwischen den zentralen Brückenpfeilern. Auf dem Dach des Steuerhauses, hoch über dem Steuermann, saß Captain Tulloch, ein knollennasiger alter Mann, und starrte mit zusammengekniffenen Augen hinunter auf die sich verengende Fahrrinne. Dank seines geringen Tiefgangs konnte der Dampfer über Untiefen gleiten, die kaum sechzig Zentimeter unter Wasser lagen. Ransom vermutete, dass Tulloch inzwischen halb blind war und seine sinnlosen Fahrten mit dem leeren Dampfer, der einst Ausflügler über den See transportierte, erst dann aufgeben würde, wenn das Schiff unwiderruflich auf eine Schlammbank aufliefe.

Als der Dampfer vorüberfuhr, stieg Quilter ins Wasser hinunter und schwang sich, die Füße in den Speigatts, behänd zur Reling hinauf.

»Volle Kraft voraus!« Mit einem Schrei sprang Captain Tulloch von seinem Sitz auf. Er griff nach einem Bootshaken und humpelte das Deck hinunter zu Quilter, der ihm, an die Heckreling geklammert, eine spöttische Grimasse schnitt. Laut brüllend setzte Tulloch dem Jungen nach, der sich wie ein Schimpanse an den Streben der Reling entlanghangelte, während Tulloch mit dem Bootshaken erbost auf die Verstrebung einschlug. Sie fuhren unter der Brücke hindurch und näherten sich dem Kahn der Quilters. Mrs. Quilter, die sich unermüdlich Luft zufächelte, richtete sich auf und überschüttete den Captain mit einem Schwall unflätiger Bemerkungen. Doch Tulloch nahm sie gar nicht wahr, sondern scheuchte Quilter weiter die Reling entlang und stürzte sich schließlich auf ihn wie ein schwitzender Pikenier. Der Steuermann schrammte mit dem Dampfer haarscharf am Kahn vorbei und suchte ihn so aus der Vertäuung zu reißen. In dem Moment löste Mrs. Quilter blitzartig die Festmacherleine. Die prallte erst gegen den Bug des Dampfers und sauste dann wild zwischen beiden Rümpfen hin und her. Quilter sprang flink von der Reling hinab in den Kahn und landete auf allen Vieren auf dem Deck, gerade als Captain Tulloch ihm den Bootshaken über den Schädel ziehen wollte, doch nur Mrs. Quilters Fächer traf, der ihr aus der Hand fiel und im Wasser versank.

Hell glitzerte das Sonnenlicht im Kielwasser des Dampfers, begleitet von Mrs. Quilters Hohngelächter. Ransom freute sich, die alte Frau so gut gelaunt zu sehen, und winkte ihr vom Deck seines Hausboots aus zu, doch sie war Quilter bereits durch die Luke ins Innere des Kahns gefolgt. Der Fluss, nun wieder zur Ruhe gekommen, floss träge dahin, nur gelegentlich bildeten sich ölige Wogen. Seine weißen Ufer begannen wie trockener Zement zu bröckeln, und an den Hängen formten die Schatten toter Bäume filigrane Chiffren. Oben, auf der verlassenen Straßenbrücke, fuhr ein Auto in Richtung Küste.

Ranson ging auf den Steg hinaus, um seinen Niederschlagsmesser zu überprüfen. Als er den Staub aus dem Zylinder leerte, schlenderte eine Frau in einem weißen Strandkleid keine fünfzig Meter von ihm entfernt am Ufer entlang. Ihr gemächlicher Gang erinnerte an eine Person, die, von einer langen Krankheit genesen, in dem Gefühl lebt, über alle Zeit der Welt zu verfügen. Staubwolken wie von Knochenmehl schwebten von der bröckelnden Uferböschung hinauf in die Luft. Nachdenklich sah die Frau auf das Rinnsal hinab. Als sie den Kopf zum Himmel reckte, glaubte Ransom zu sehen, wie ihre einsame Gestalt, einer Geisterscheinung gleich, aus der aufgewirbelten Staubsäule hervortrat.

Sie hatte ein markantes Gesicht und musterte ihn eindringlich, schien aber keineswegs überrascht, ihm am trockenen Flussbett zu begegnen. Ransom wiederum wusste, dass sie, obwohl er sie seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen hatte, zu jenen gehörte, die bis zuletzt in der Stadt ausharren würden. Seit dem Tod ihres Vaters, dem vormaligen Zoodirektor von Mount Royal, lebte ­Catherine Austen allein in dem Haus am Fluss. Oft sah Ransom sie abends am Ufer spazierengehen, eine ferne Schwester der Löwen, deren roter Haarschopf sich bei Sonnenuntergang im Farbenmeer spiegelte. Manchmal, wenn er im Boot vorüberfuhr, hatte er sich durch Zuruf bemerkbar gemacht, doch nie eine Antwort erhalten.

Sie kniete am Ufer und betrachtete stirnrunzelnd die toten Fische und Vögel, die vorbeitrieben. Sie stand auf und ging hinüber zu Ransoms Steg.

Sie deutete auf einen alten Eimer, der am Holzgehäuse des Niederschlagsmessers hing. »Darf ich mir den ausleihen?«

Ransom reichte ihr den Eimer und sah zu, wie sie ihn vom Stegrand aus zu füllen suchte. »Haben Sie kein Wasser mehr?«

»Nur ein bisschen Trinkwasser. Es ist so heiß, ich wollte ein Bad nehmen.« Sie zog den Eimer aus dem Wasser und kippte die dunkle Flüssigkeit dann vorsichtig zurück in den Fluss. Die Innenseite des Eimers war mit einem öligen Film überzogen. Ohne sich umzudrehen, sagte sie: »Ich dachte, Sie seien wie alle anderen an die Küste gefahren, Doktor.«

Ransom schüttelte den Kopf. »Ich war eine Woche lang mit dem Boot auf dem See.« Er deutete auf die Schlickbänke, die sich hinter der Flussmündung erstreckten und aus deren feuchten Hängen die Nässe hervorperlte. »Bald schon wird man zum anderen Ufer hinüberlaufen können. Werden Sie bleiben?«

»Vielleicht.« Sie blickte hinüber zum Fischerboot, das gerade in die Flussmündung einbog und sich ihnen mit tuckerndem Motor näherte. Zwei Männer standen am Bug und betrachteten die verwaisten Kais. Eine grobe schwarze Plane hing über dem Bootsheck, unter der sich drei weitere Männer um die Ruderpinne scharten und mit verkniffenem Gesicht über das Wasser auf Ransom und Catherine Austen starrten. Mittschiffs lagen die leeren Netze des Bootes, die Breitseiten aber waren auf eine Weise verziert, die Ransom noch nie gesehen hatte. An den Ruderdollen hatten sie jeweils einen riesigen, bis zum Bauch aufgeschlitzten Karpfen befestigt und so nach außen gedreht, dass sie zum Wasser blickten. Stramm wie Wachtposten standen die sechs silbrigen Fischleiber aufrecht zu beiden Seiten des Bootes. Ransom nahm an, dass das Boot und seine Besatzung aus einer der Marschlandkolonien stammte und die Dürre und das Verschwinden des Sees die Siedler zum Fluss und nach Mount Royal getrieben hatte.

Die Bedeutung der aufgespießten Fische entzog sich ihm freilich. Die meisten Fischer aus den Marschen lebten sehr naturverbunden, und die Karpfen waren vermutlich eine Art rudimentäres Totem, ein Ausdruck des Vertrauens der Fischer in ihre eigene Existenz.

Catherine Austen berührte seinen Arm. »Sehen Sie doch bloß ihre Gesichter.« Lächelnd flüsterte sie: »Sie glauben, Sie seien schuld.«

»Am Verschwinden des Sees?« Ransom zuckte mit den Schultern. »Das nehme ich an.« Er sah, wie das Boot unter der Brücke verschwand. »Die armen Teufel, ich hoffe, sie machen auf See einen besseren Fang.«

»Die gehen doch nicht von hier weg. Haben Sie nicht die Fische gesehen?« Catherine schlenderte zum Ende des Stegs, so dass ihr weißes Kleid von den Hüften abwärts bis zu den staubigen Brettern in Schwingung geriet. »Wir leben in einer interessanten Zeit – nichts bewegt sich, und doch passiert so viel.«

»Zu viel. Es bleibt kaum genug Zeit, um auf Wassersuche zu gehen.«

»Seien Sie nicht so prosaisch. Wasser ist unser geringstes Problem.« Dann setzte sie hinzu: »Ich nehme an, Sie bleiben hier?«

»Wie kommen Sie darauf?« Ransom wartete, bis ein Lastwagen mit großem Anhänger die Brücke überquerte. »Ich habe eigentlich vor, in ein oder zwei Tagen abzureisen.«

Catherine starrte auf das freigelegte Seebett. »Fast ausgetrocknet. Merken Sie nicht, Doktor, wie alles versiegt, alle Erinnerungen und faden Gefühle?«

Aus irgendeinem Grund überraschte Ransom diese betont ironisch gemeinte Frage. Er schaute auf sie hinab, spürte ihren durchdringenden Blick und hielt ihm stand. Catherines Frotzelei sollte offenbar kaschieren, dass sie seine eigenen Ansichten und Gedanken vollkommen verstand. Auflachend hob er abwehrend die Hände. »Soll ich das als Warnung verstehen? Oder gar meinen Liegeplatz verlegen?«

»Keineswegs, Doktor«, sagte Catherine sanft. »Ich brauche Sie hier.« Sie reichte ihm den Eimer. »Haben Sie noch Wasser übrig?«

Ransom steckte die Hände demonstrativ in die Hosentaschen. Die während der letzten Monaten entstandene unentrinnbare und obsessive Fixierung auf Wasser hatte die Abwehrreflexe gesteigert. Er war erleichtert, sich ausnahmsweise einmal auf sie verlassen zu können, und schüttelte trotzig den Kopf. »Hab’ ich nicht. Oder ist das ein Appell an mein Mitgefühl?«

Catherine wartete noch ein Weilchen, dann wandte sie sich ab. Sie raffte ihr Gewand zusammen, bückte sich und füllte den Eimer.

Ransom packte sie am Arm. Er deutete auf die Zubringerstraße, die vom Uferdamm hinunterführte. Direkt unter der Brücke stand ein Wohnwagen, dem Familien mit vier oder fünf Erwachsenen und einem halben Dutzend Kinder entstiegen, um ein kleines Lager zu errichten. Zwei der Männer trugen ein Chemie-Klo aus dem Trailer. Damit gingen sie, gefolgt von den Kindern, zum Ufer hinab und versanken knietief in weißem Staub. Am Wassersaum angelangt, leerten sie den Behälter und spülten ihn aus.

»Um Gottes willen…!« Catherine Austen blickte suchend zum Himmel. »Doktor, warum hinterlassen die Leute nur immer so viel Dreck?«

Ransom nahm ihr den halbvollen Eimer aus der Hand und ließ ihn zum Wasser hinab. Mit blassem, ausdruckslosem Gesicht sah Catherine zu, wie der Eimer in der öligen Brühe verschwand. Professor Austens Frau, ihrerseits eine anerkannte Zoologin, war in Afrika gestorben, als Catherine noch ein Kind war. Ransom musterte sie verstohlen und dachte, dass ein Mann, so einsam er sein mochte, jederzeit Frauen finden konnte, die sich ihm als Gefährtinnen zugesellten, während eine alleinstehende Frau immer und überall einsam und allein blieb.

Catherine raffte ihr Gewand und machte sich auf den Weg zum Ufer.

»Warten Sie«, rief Ransom. »Ich leihe Ihnen ein wenig Wasser.« Mit aufgesetztem Humor fügte er hinzu: »Sie können es mir zurückgeben, sobald wieder Druck in der Leitung ist.«

Er half ihr an Bord und ging in die Kombüse. Solange der Fluss noch Wasser führte, würde Catherine Austen zur Flussgemeinschaft gehören. Darüber hinaus gab es zwischen ihnen allerlei charakterliche Übereinstimmungen, vielleicht mehr als ihm lieb war. Aber das alles würde bald ein Ende haben. Der Tank auf dem Dach enthielt noch knapp hundert Liter, die er mühsam in Kanister abgefüllt und mit seinem Auto zum Fluss gebracht hatte. Die öffentliche Wasserversorgung, seit Sommer ohnehin nur noch ein klägliches Rinnsal, war vor drei Wochen endgültig zusammengebrochen, so dass er den sinkenden Wasserstand im Tank nicht mehr ausgleichen konnte.

Er füllte einen Kanister halbvoll mit Wasser und trug ihn in die Kajüte. Dort spazierte Catherine Austen auf und ab und begutachtete seine Bücher und kuriosen Andenken.

»Sie sind ja gut vorbereitet, Doktor. Wie ich sehe, haben Sie sich hier Ihre eigene kleine Welt geschaffen. Was außerhalb davon geschieht, berührt Sie vermutlich nur wenig.« Sie nahm den Kanister und wandte sich zum Gehen. »Sie kriegen ihn zurück. Sie werden ihn bestimmt brauchen.«

Ransom hielt sie am Ellbogen fest. Die offenkundigen Verständigungsschwierigkeiten zwischen ihm und der jungen Frau waren wie eine Warnung vor all den unsichtbaren Gefahren der im Wandel begriffenen Landschaft. »Vergessen Sie das Wasser, Catherine. Und halten Sie mich bitte nicht für selbstgefällig. Wenn ich gut vorbereitet bin, dann nur, weil…«, er suchte nach den richtigen Worten, »…ich das Leben immer schon als eine Art Katastrophengebiet, als Zumutung begriffen habe.«

Sie musterte ihn argwöhnisch. »Mag sein, Doktor, doch ich glaube, Sie haben mich nicht richtig verstanden.«

Sie stieg zum Ufer hinauf und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, in Richtung ihres Hauses.

Unter der Brücke, im Schatten der Pfeiler, scharten sich die Wohnwagenfamilien unterdessen um ein gewaltiges Abfallfeuer, dessen lodernde Flammen ihre Gesichter erglühen ließen wie bei Voodoo-Anhängern. Unten, am Wasser, stand Quilters einsame Gestalt und sah von seinem Kahn zu ihnen hinauf. Wie ein schaumgeborener Hirtenjunge stand er da auf seine Stocherstange gestützt, umgeben von Fischkadavern, so als ruhe er sich bei seiner schlafenden Herde aus. Als Ransom zum Hausboot zurückkehrte, bückte sich Quilter, schöpfte eine Handvoll Brackwasser, führte die Hand zum Mund und trank hastig, bevor er seinen Beobachtungsposten unter der Brücke verließ und mit tollpatschiger Anmut davonstakte.

4

Der sterbende Schwan

»Doktor! Schnell!« Eine halbe Stunde später, als Ransom gerade das Licht in der Kombüse löschen wollte, hörte er einen Schrei. Ein langes, hölzernes Skiff, gesteuert von einem hochgewachsenen, sonnenverbrannten Jüngling, der bis auf seine verblichenen Baumwollshorts nackt war, prallte gegen das Hausboot, als es phantomgleich aus dem Lichtschein über dem schwarzen Wasserspiegel auftauchte.

Ransom ging an Deck und sah, dass der Jüngling, Philip Jordan, das Skiff längs der Reling befestigte.

»Was gibt’s, Philip?« Ransom spähte hinab in das schmale Gefährt, in dem sich ein großes Nest aus nassem Werggarn befand, bedeckt mit Öl und Baumwollresten und eingewickelt in feuchtes Zeitungspapier.

Plötzlich schnellte ein schlangenartiger Kopf aus dem Nest und reckte sich schwankend Ransom entgegen. Erschrocken rief er: »Schmeiß es ins Wasser zurück! Was ist das – ein Aal?«

»Ein Schwan, Doktor!« Philip Jordan hockte im Heck des Skiffs und strich das verklumpte Gefieder an Kopf und Hals glatt. »Das Öl erstickt ihn.« Leicht verlegen sah er Ransom mit großen Augen an. »Ich habe ihn draußen in den Dünen gefunden und zum Fluss gebracht. Ich will, dass er wieder schwimmt. Können Sie ihn retten?«

Ransom kletterte über die Reling ins Skiff. Er untersuchte Schnabel und Augen des Vogels. Zu kraftlos, um sich zu bewegen, starrte der Schwan mit glasigen Augen zu ihm auf. Das Öl hatte das Gefieder verklebt und Schlund und Atemwege verstopft.

Ransom stand kopfschüttelnd auf. »Spreize seine Flügel. Ich hole ein Lösungsmittel aus der Kajüte.«

»Gut, Doktor!«

Philip Jordan, ein Ziehkind des Flusses und dessen letzter amtierende Ariel, nahm den Vogel in die Arme und spreizte seine Flügel, bis die Spitzen des Gefieders ins Wasser eintauchten. Ransom kannte Philip seit mehreren Jahren und hatte sein Aufwachsen vom zwölfjährigen Knaben zum schlaksigen, langbeinigen Jüngling miterlebt, ausgestattet mit den flinken Augen und der feinnervigen Anmut eines Aborigine.

Vor fünf Jahren, als Ransom erstmals seine Wochenenden auf dem See verbrachte und sich aus Wasser, Wind und Sonne seine Welt neu erschuf, war Philip Jordan die einzige Person, die er in diese andersartige Lebenswirklichkeit einbeziehen konnte. Eines Nachts, als er lesend im Schein einer Laterne im Steuerhaus seines Bootes saß, das an einem verfallenen Kai irgendwo in den Marschen vertäut war, hörte er ein Plätschern im Wasser und sah, dass ein schlanker, braungesichtiger Jüngling in einem selbstgebauten Dinghi aus der Dunkelheit herbeipaddelte. Der Jüngling blieb einige Meter auf Abstand, antwortete nicht auf Ransoms Fragen, sondern musterte den Arzt lediglich aus großen Augen. Er trug ein ausgeblichenes Khakihemd und eine Hose, die früher wohl einmal zu einer alten Pfadfinderuniform gehörte. Für Ransom war er halb Waisenkind, halb Wasserelf.

Als Ransom seine Lektüre wieder aufnahm, griff der Jüngling zum Paddel, tauchte es in das flüssige Silber des nächtlichen Wassers und zog sich zwanzig Meter zurück. Dann näherte er sich erneut und holte zwischen seinen Füßen eine kleine braune Eule hervor. Er nahm sie hoch und zeigte sie ihm – oder besser, wie Ransom mutmaßte, zeigte ihn der Eule, der Schutzgottheit seiner Wasserwelt – und verschwand dann erneut im Schilf.

Nach ein oder zwei Nächten tauchte er wieder auf und nahm diesmal bereitwillig die Reste eines kalten Huhns entgegen, die Ransom ihm anbot. Schließlich beantwortete er ihm auch einige seiner Fragen, doch nur die nach der Eule, dem Fluss und seinem Boot. ­Ransom vermutete, dass er zu einer der Familien gehörte, die in einer Hausbootkolonie im Dickicht der Sümpfe lebten.

Im Laufe des nächsten Jahres sah er den Jüngling von Zeit zu Zeit. Er ließ sich gelegentlich mit Ransom im Steuerhaus des Bootes zum Essen nieder und half ihm, das Boot zur Flussmündung zu steuern. Hier nahm er jedes Mal von Ransom Abschied, denn das offene Seegewässer wollte er nicht verlassen. Er war ein Freund der Wasservögel und konnte Schwäne und Wildgänse zähmen. Er nannte beharrlich immer nur seinen Nachnamen, was darauf schließen ließ, dass er aus einer Einrichtung geflohen war und nun in der Wildnis lebte. Seine eigentümliche Kostümierung – manchmal erschien er in einem Paletot oder einem Paar alter Schuhe, die drei Nummern zu groß waren – schien diese Vermutung zu bestärken. Im Winter war er oft dem Hungertod nahe und zog sich mit dem Essen, das ihm Ransom gab, eilig wieder zurück.