Millennium People - J.G. Ballard - E-Book

Millennium People E-Book

J.G. Ballard

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Beschreibung

Nachdem seine Ex-Frau bei einem Bombenanschlag am Flughafen ­Heathrow getötet wurde, begibt sich der Psychologe David Markham auf die Suche nach den wahren Motiven in ein zeitgenössisches Herz der Finsternis: Chelsea Marina – eine Mittelklassesiedlung in London, deren Bewohner, angeführt von einem enigmatischen Kinderarzt und einer exzentrischen Filmdozentin, gegen ihre eigenen Lebensentwürfe rebellieren. Im Visier der verzweifelten Revolte stehen Reisebüros, Einkaufszentren, Katzenausstellungen, Videotheken, Parkuhren, Immobilienbüros, und die für bildungs­bürgerliche Abgrenzung so integralen Museen und Kulturinstitutionen der Stadt. Gelangweilt von ihrem Pflichtprogramm, empört über steigende Kosten und neue Parkverbotszonen führt sich die Mittelklasse dabei selbst ad absurdum und sieht sich als neues Proletariat, eine Revolte gegen die existenzielle Leere anzettelnd, die in ihren vom Konsumismus verödeten Habitaten umso greller scheint.
Im zentralen Roman seiner späten Gegenwarts-Tetralogie kehrt Ballard die unter­schwellige Selbstverachtung einer gesellschaftlichen Generation nach außen und entlarvt, wie sich Konformität in Nihilismus verkehren kann.

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Seitenzahl: 415

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J.G. Ballard

Millennium People

Aus dem Englischen von Jan Bender

DIAPHANES

1 Die Rebellion in Chelsea Marina

Eine kleine Revolution war im Gange, so bescheiden und manierlich, dass nahezu niemand davon Kenntnis genommen hatte. Wie ein Besucher eines verlassenen Filmsets stand ich an der Zufahrt zu Chelsea Marina und lauschte dem Morgenverkehr in der King’s Road, eine beruhigende Klangcollage aus Autoradios und Krankenwagensirenen. Jenseits des Pförtnerhauses lagen die Straßen der verödeten Wohnsiedlung, eine apokalyptische Vision, ihrer Tonspur beraubt. Protestbanner hingen lose von den Balkonen, und ich zählte ein Dutzend umgekippte Autos und mindestens zwei ausgebrannte Häuser.

Doch keiner der Einkaufenden, die an mir vorbeiliefen, zeigte das kleinste Anzeichen von Besorgnis. Wieder einmal war in Chelsea eine Party außer Kontrolle geraten, aber die Gäste waren zu betrunken, um das zu begreifen. Und in gewisser Weise entsprach das der Wahrheit. Kaum einer der Rebellen, ja nicht einmal die meisten Rädelsführer begriffen, was in ihrer komfortablen Enklave vor sich ging. Doch dann rebellierten diese netten und übermäßig gebildeten Revolutionäre gegen sich selbst.

Sogar ich, David Markham, ein ausgebildeter Psychologe, der als Polizeispitzel nach Chelsea Marina eingeschleust worden war – eine Täuschung, die ich als Letzter durchschaute –, vermochte nicht zu erkennen, was sich abspielte. Aber ich war abgelenkt von meiner ungewöhnlichen Freundschaft mit Richard Gould, dem tüchtigen Kinderarzt, welcher der Anführer der Revolte war – der Doktor Moreau der Chelsea-Clique, wie ihn unsere gemeinsame Geliebte Kay Churchill taufte. Bald nach unserem ersten Treffen verlor Richard das Interesse an Chelsea Marina und ging zu einer weitaus radikaleren Revolution über, die mir, wie er wusste, mehr am Herzen lag.

Ich näherte mich den Absperrbändern der Polizei, die den Zugang von der King’s Road zur Siedlung abriegelten, und zeigte den beiden Polizisten, die auf die Ankunft des Innenministers warteten, meinen Ausweis. Der Fahrer eines Blumenlieferservice diskutierte mit ihnen, auf ein großes Calla-Gebinde auf dem Sitz neben ihm deutend. Vermutlich war ein Anwohner, irgendein glücklich verheirateter Rechtsanwalt oder Großkundenbetreuer, zu beschäftigt mit der Revolution gewesen, um das Geburtstagsbouquet für seine Frau abzubestellen.

Die beiden Polizisten waren ungerührt und verweigerten dem Fahrer den Zutritt zur Siedlung. Sie ahnten, dass in dieser einst gesetzestreuen Gemeinde etwas zutiefst Zweifelhaftes vorgefallen war, ein Ereignis, das die Anwesenheit eines Ministers samt Gefolge erforderte. Die Besucher – Berater aus dem Innenministerium, besorgte Kirchenvertreter, Sozialpädagogen und Psychologen, darunter ich selbst – würden ihren Rundgang am Mittag beginnen, in ungefähr einer Stunde. Wir sollten ohne die Begleitung bewaffneter Polizisten auskommen, in der sicheren Annahme, dass die aufständische Mittelschicht zu gute Manieren besaß, um eine Gefahr für Leib und Leben darzustellen. Aber wie ich nur zu gut wusste, lag genau darin die Gefahr.

Der äußere Anschein bewies alles und nichts. Nach einem flüchtigen Blick auf meinen Ausweis winkten mich die Polizisten durch. Nachdem sie sich wochenlang die Tiraden wortgewandter Mütter in abgerissenen Jeans hatten anhören müssen, wussten sie, dass mein modischer Haarschnitt, das der BBC zu verdankende Make-up, der taubengraue Anzug und die Solariumsbräune mich als Einheimischen von Chelsea Marina ausschlossen. Die Bewohner würden eher sterben als einem belanglosen Fernsehguru zu ähneln, einem abtrünnigen Intellektuellen aus der dubiosen Welt der Videokonferenzen und Flughafenseminare.

Aber der Anzug war eine Verkleidung, die ich zum ersten Mal seit sechs Monaten trug, nachdem ich meine zerrissene Lederjacke und die Jeans in die Mülltonne gestopft hatte. Leichtfüßig sprang ich über die Absperrung, weitaus agiler, als die Polizisten mich einschätzten. Einen vom langjährigen Verweilen in Flughafenlounges und Hotellobbys verweichlichten Körper hatten die »terroristischen Aktivitäten«, wie der Innenminister sie nannte, schnell abgehärtet. Selbst Sally, meine unendlich nachsichtige und durch nichts zu überraschende Frau, war von meinen muskulösen Armen beeindruckt, als sie die Prellungen zählte, welche die Handgemenge mit Polizisten und Wachmännern hinterlassen hatten.

Aber eine Verkleidung konnte zu weit gehen. Als ich mich in den zerbrochenen Fenstern des Pförtnerhauses erblickte, löste ich den Knoten meiner Krawatte. Ich wusste immer noch nicht genau, welche Rolle ich spielte. Man hatte mich und Richard Gould so oft zusammen gesehen, und die Beamten hätten mich als den Hauptkomplizen dieses gejagten Terroristen erkennen müssen. Als ich ihnen zuwinkte, wandten sie sich ab, um in der King’s Road nach der Limousine des Innenministers Ausschau zu halten. Die Enttäuschung versetzte mir einen plötzlichen Stich. Einige Sekunden lang hatte ich mir gewünscht, sie würden mich zur Rede stellen.

Vor mir lag Chelsea Marina, die Straßen so leer wie nie zuvor in den zwanzig Jahren ihres Bestehens. Die gesamte Einwohnerschaft war verschwunden und hatte eine Zone der Stille hinterlassen, wie ein urbanes Naturschutzgebiet. Achthundert Familien waren geflohen, hatten ihre behaglichen Küchen, Kräutergärten und von Büchern gesäumten Wohnzimmer verlassen. Ohne das geringste Bedauern hatten sie sich selbst und allem, woran sie einst geglaubt hatten, den Rücken gekehrt.

Jenseits der Dächer konnte ich den Verkehr von West-London hören, aber er verklang, als ich die Beaufort Avenue hinunterging, die Hauptdurchgangsstraße der Siedlung. Die riesige Metropole, die Chelsea Marina umgab, hielt noch immer den Atem an. Hier hatte die Revolution der Mittelklasse begonnen, nicht der Aufstand eines verzweifelten Proletariats, sondern die Rebellion der Bildungsschicht, die Kiel und Anker der Gesellschaft war. In diesen ruhigen Straßen, Schauplatz zahlloser Dinnerpartys, hatten Chirurgen und Versicherungsvertreter, Architekten und Funktionäre aus dem Gesundheitswesen ihre Barrikaden errichtet und ihre Autos umgekippt, um die Löschfahrzeuge und Bergungstrupps zu blockieren, die sie zu retten versuchten. Sie schlugen alle Hilfsangebote aus und weigerten sich, ihre Beschwerden kundzutun oder sich zu äußern, ob überhaupt Beschwerden vorhanden waren.

Den Unterhändlern, die vom Stadtrat von Kensington und Chelsea entsandt worden waren, begegnete man zunächst mit Schweigen, dann mit Hohn und zuletzt mit Molotowcocktails. Aus Gründen, die niemand nachvollziehen konnte, hatten die Einwohner von Chelsea Marina sich darangemacht, ihre Mittelklassewelt zu demontieren. Sie entzündeten Freudenfeuer aus Büchern und Gemälden, Lernspielzeug und Videos. Die Nachrichten zeigten Familien Arm in Arm, inmitten von umgekippten Autos, ihre stolzen Gesichter von den Flammen erleuchtet.

Ich passierte einen ausgebrannten BMW, der mit den Rädern nach oben neben dem Bordstein lag, und starrte auf seinen aufgerissenen Benzintank. Eine Passagiermaschine flog über Londons Zentrum hinweg und unter dem Dröhnen der Turbinen erzitterten Hunderte von zerbrochenen Fensterscheiben, als ob sie ihrer letzten Wut Luft machen würden. Seltsamerweise hatten die Bewohner, die Chelsea Marina zerstörten, keinerlei Wut gezeigt. Sie hatten sich in aller Ruhe ihrer Welt entledigt, als ob sie ihren Müll hinausbrächten.

Diese unheimliche Gelassenheit und die noch besorgniserregendere Gleichgültigkeit der Bewohner gegenüber den immensen Geldstrafen, die sie zahlen würden, hatten zum Besuch des Innenministers geführt. Henry Kendall, ein Kollege vom Institut mit engen Kontakten zum Innenministerium, erzählte mir, dass auch an anderen Schauplätzen mittelständische Unruhen aufflackerten, in wohlhabenden Vororten von Guildford, Leeds und Manchester. In ganz England verweigerte sich eine ganze Kaste allem, wofür sie so hart gearbeitet hatte.

Ich beobachtete, wie das Flugzeug die Skyline von Fulham kreuzte, dann verlor ich es unter den freiliegenden Dachbalken eines ausgebrannten Hauses am Ende der Beaufort Avenue aus den Augen. Dessen Besitzer, eine örtliche Schuldirektorin und ihr Ehemann, ein Arzt, hatten Chelsea Marina mit ihren drei Kindern verlassen, nachdem sie dort bis wenige Minuten vor der Erstürmung durch die Bereitschaftspolizei ausgeharrt hatten. Sie hatten in vorderster Front der Rebellion gestanden, dazu entschlossen, die eklatante Ungerechtigkeit zu entblößen, die ihr Dasein beherrschte. Ich stellte sie mir vor, wie sie in ihrem verdreckten Land Rover endlose Kreise auf der M25 zogen, gefangen in einer tiefen Trance.

Wohin waren sie verschwunden? Viele der Bewohner hatten sich in ihre Cottages auf dem Land zurückgezogen oder waren bei Freunden untergekommen, die sie mit Essenspaketen und heiteren E-Mails in ihrem Kampf unterstützten. Andere hatten sich auf unbestimmte Zeit auf Rundreise durch den Lake District und die schottischen Highlands begeben. Mit ihren Wohnwagen im Schlepptau waren sie die Vorhut einer umherziehenden Mittelklasse, eines neuen Stamms akademisch gebildeter Zigeuner, die ihre Rechte kannten und den Gemeindeverwaltungen die Hölle heiß machen würden.

Kay Churchill, Dozentin für Filmwissenschaften an der South Bank University, die meine Vermieterin wurde, war von der Polizei verhaftet und auf Kaution entlassen worden. Immer noch die Revolution ausrufend, ließ sie sich im Mittagsprogramm eines Kabelsenders aus. Ihr beengtes, aber gemütliches Zuhause mit seinen schäbigen Sofas und Standfotos war von den starken Löschschläuchen der Feuerwehr von Chelsea unter Wasser gesetzt worden.

Ich vermisste Kay und ihren wirren aschgrauen Haarschopf, ihre sprunghaften Ansichten und den nie versiegenden Wein, aber ihr verlassenes Haus war der Grund, weshalb ich eine Stunde vor dem Innenminister da war. Ich hoffte, mein Laptop läge noch immer auf dem Couchtisch in Kays Wohnzimmer, wo wir unsere Karten ausgebreitet und die Brandanschläge auf das National Film Theatre und die Albert Hall geplant hatten. In den letzten Augenblicken der Revolte, als die Polizeihelikopter am Himmel schwebten, war Kay derart entschlossen, den attraktiven Feuerwehrchef für ihr Anliegen zu gewinnen, dass dessen Männer reichlich Zeit hatten, die Fenster mit ihren Wasserstrahlen zum Bersten zu bringen. Ein Nachbar hatte Kay aus dem Haus gezerrt, aber der Laptop wartete dort noch immer darauf, von den Forensikern der Polizei gefunden zu werden.

Ich erreichte das Ende der Beaufort Avenue im stillen Zentrum von Chelsea Marina. Ein siebenstöckiger Wohnblock stand neben dem Cadogan Circle, Banner hingen schlaff von den Balkonen und boten ihre Parolen der unempfänglichen Luft feil. Ich überquerte die Straße zu Grosvenor Place, Kays verwegene Sackgasse und eine Erinnerung an ein anderes, älteres Chelsea. Die kurze Straße hatte einen vorbestraften Antiquitätenhändler, zwei lesbische Ehepaare und einen trunksüchtigen Concordepiloten beherbergt und war eine Oase schlechten Umgangs und ausgelassener Fröhlichkeit.

Ich ging auf Kays verwüstetes Haus zu, hörte meine eigenen Schritte hinter mir klacken, schuldbehaftete Echos, die vom Tatort zu fliehen versuchten und doch immer wieder dorthin strebten. Vom Anblick so vieler leerer Häuser abgelenkt, stolperte ich über den Bordstein und stützte mich an einen Bauschuttcontainer, in dem sich Hausrat türmte. In der Woche vor dem Aufstand hatten die Revolutionäre, rücksichtsvolle Nachbarn, die sie waren, ein Dutzend von diesen riesigen Containern bestellt.

Ein ausgebrannter Volvo stand am Straßenrand, doch herrschten die Anstandsregeln nach wie vor, denn er war in eine Parkbucht geschoben worden. Die Rebellen hatten aufgeräumt nach ihrer Revolution. Fast alle umgekippten Autos waren aufgerichtet worden, die Schlüssel noch in ihren Zündschlössern, bereit für die Gerichtsvollzieher.

Der Container war gefüllt mit Büchern, Tennisschlägern, Kinderspielzeug und einem Paar verkohlter Skier. Neben einem Schulblazer mit versengten Paspeln fand sich ein fast neuer Kammgarnanzug, die Alltagsuniform einer mittleren Führungskraft, zwischen den Abfällen liegend wie der abgelegte Kampfanzug eines Soldaten, der sein Gewehr fallen gelassen und sich eilig davongemacht hatte. Der Anzug wirkte seltsam verletzlich, die herrenlose Flagge einer ganzen Zivilisation, und ich hoffte, der Innenminister würde von einem seiner Berater darauf hingewiesen werden. Ich versuchte, mir eine Antwort einfallen zu lassen, sollte ich um einen Kommentar gebeten werden. Als Mitglied des Adler Institute, das auf Arbeitsbeziehungen und Betriebspsychologie spezialisiert war, verfügte ich über eine ausgewiesene Expertise, was das Gefühlsleben im Büro und die psychischen Probleme des mittleren Managements betraf. Aber für den Anzug gab es keine einfache Erklärung.

Kay Churchill hätte eine Antwort parat gehabt. Während ich durch die Wasserlachen rund um ihr Hauses schritt, konnte ich ihre Stimme in meinem Kopf hören: herrisch, flehend, empfindsam und vollkommen verrückt. Die Mittelklasse war das neue Proletariat, Opfer einer jahrhundertealten Verschwörung, die schließlich die Ketten der Pflicht und der bürgerlichen Verantwortung abwarfen.

Ausnahmsweise war die absurde Antwort vermutlich die richtige.

Die Feuerwehrleute hatten das Haus unter Wasser gesetzt, um sicherzugehen, dass Kay es nicht in Brand stecken würde. Wasser tropfte noch immer von den Traufen, und ein schwacher Dunst stieg vom Mauerwerk auf. Das offene Wohnzimmer war eine Meeresgrotte, Feuchtigkeit sickerte durch die rissige Decke und verwandelte die Wände in klamme Tapisserien. Ich stand zwischen den Ozu- und Bresson-Postern und rechnete fast damit, dass Kay mit zwei Gläsern und einer Weinflasche von irgendeinem ihrer Bewunderer aus der Küche treten würde, darauf beharrend, dass die Schlacht gewonnen sei.

Kay war verschwunden, aber ihre fröhliche, ausgelassene Welt bestand fort – die Post-it-Notizen auf dem Spiegel über dem Kamin, die Vortragseinladungen von anarchistischen Gruppierungen und die Steinpyramide aus weißen Kieseln auf dem Kaminsims. Jeder Stein, sagte sie mir, sei ein Andenken an eine sommerliche Liebesaffäre an einem griechischen Strand. Wasserperlen bedeckten die gerahmte Fotografie ihrer Tochter, inzwischen ein Teenager in Australien, aufgenommen in einem letzten Urlaub, bevor das Sorgerecht ihrem Ehemann zugesprochen wurde. Kay hatte weitergemacht, behauptete, dass Erinnerungen Köderfallen seien, der Bodensatz von letzter Nacht in einem mit Lippenstift verschmierten Glas, aber manchmal ertappte ich sie, wie sie ihre Tränen von dem Bild wischte und den Rahmen an ihre Brust presste.

Das Sofa, auf dem Kay und ich zusammen gedöst hatten, war ein durchnässter Klotz. Aber unter den Filmskripten und Zeitschriften lag mein Laptop. Die Festplatte enthielt mehr als genug Beweismaterial, um mich als Richard Goulds Mitverschwörer zu überführen. Es gab Listen von geplanten Brandanschlägen auf Videotheken, Attacken auf Reisebüros, Sabotageakten in Galerien und Museen sowie Listen mit den Anwohnerteams, die der jeweiligen Aktion zugeteilt waren. Um Kay zu imponieren, hatte ich Anmerkungen über die entstandenen Schäden, Verletzungen von Teammitgliedern und voraussichtliche Versicherungsansprüche hinzugefügt. Wenn ich mit Kays warmem Arm um die Schultern diese unnötigen Details ausbreitete, kam es mir manchmal vor, als würde ich einen Teppich ausrollen, der geradewegs in meine Gefängniszelle führte.

In zärtlichen Gedanken an Kay streckte ich die Hand aus, um das Porträt ihrer Tochter aufzurichten. Ein Glassplitter löste sich vom Rahmen und schnitt in meine Handfläche, fuhr durch die Lebenslinie. Als ich auf die grelle Schliere starrte und nach meinem Taschentuch suchte, wurde mir bewusst, dass dies das einzige Blut war, das ich während der gesamten Rebellion in Chelsea Marina vergossen hatte.

Den Laptop unter dem Arm, schloss ich die Eingangstür hinter mir. Ein letztes Mal starrte ich auf die Holzvertäfelung und sah in der glatten Lackierung, wie sich ein Fenster bewegte und die Sonne reflektierte. Im obersten Stockwerk des Wohnblocks am Cadogan Circle schwenkte ein Fensterflügel auf. Bizarrerweise wurde eine Hand ausgestreckt und putzte die Scheiben, schüttelte einen Staubwedel aus und zog sich wieder zurück.

Ich trat auf die Straße und ging auf die Apartments zu, vorbei an einem ausgebrannten Saab in seiner Langzeitparkbucht. Kamen jetzt die Hausbesetzer nach Chelsea Marina, hatten sie Abschied genommen von weichen Drogen und harten Matratzen? Waren sie reif, einen neuen Lebensstil auszuprobieren, sich den Problemen um Schulgebühren und brasilianischen Haushaltshilfen, Ballettstunden und Zusatzversicherungen zu stellen? Unsere bescheidene Revolution würde in die folkloristische Zeitrechnung eingehen und feierlich begangen werden wie die Last Night of the Proms und das Tennisturnier von Wimbledon.

Das Taschentuch in meine Hand gepresst, drückte ich die Aufzugknöpfe im Eingangsbereich des Apartmenthauses. Es war frustierend: Die gesamte Stromversorgung von Chelsea Marina war gekappt worden. Ich stieg die Treppen hinauf, hielt bei jedem Absatz inne, umgeben von den offenen Türen verlassener Wohnungen, ein Schauspieler auf der Suche nach dem richtigen Bühnenbild. Mir war schwindelig, als ich das oberste Stockwerk erreichte. Ohne nachzudenken, stieß ich die entriegelte Tür auf und blickte durch das leere Wohnzimmer auf das Fenster, das im Sonnenlicht geschwungen hatte.

Eine Mieterin aus dem dritten Stock desselben Wohnhauses, Vera Blackburn, war eine vormals im Regierungsauftrag tätige Forscherin und eine enge Freundin von Kay Churchill. Ich erinnerte mich, dass die Dachwohnung einer jungen Optikerin und ihrem Gatten gehörte. Die Wohnzimmerfenster boten die unverstellteste Aussicht in ganz Chelsea Marina und überblickten die Beaufort Avenue entlang der Route, die der Innenminister auf seiner Inspektionstour nehmen würde.

Ich stieg über einen weggeworfenen Koffer und betrat den Raum. Eine blaue Stofftasche lag auf dem Schreibtisch, seitlich war das Emblem der Metropolitan Police eingeprägt, Teil der Ausrüstung, die Einheiten bei Demonstrationen mitführen. Darin waren gewöhnlich Elektroschocker, Tränengasdosen und die Viehtreiber, mit denen sich die Polizei gegen ihre allgegenwärtigen Feinde verteidigte.

Der Laptop in meiner Hand war schwerer geworden, ein halbbewusstes Warnsignal. Im Schlafzimmer nebenan hörte ich zwei Leute miteinander reden, die knappen, aber tiefen Laute eines Mannes und die schrilleren Erwiderungen einer Frau. Vermutlich überwachten ein Constable und seine Kollegin das Herannahen des Innenministers. In übersteigerter Dienstbeflissenheit mochten sie die Fenster geputzt haben, um später eine möglichst ungetrübte Sicht auf den Minister und seine weise nickenden Berater zu haben. Wenn sie mich auf ihrem Beobachtungsposten antrafen, würden sie vom Schlimmsten ausgehen und zu dem Schluss kommen, dass der Laptop eines Psychologen eine potentielle Angriffswaffe war.

Bemüht, nicht über den Koffer zu stolpern, bewegte ich mich vorsichtig auf die Tür zu, wobei mir zum ersten Mal die Optikertafeln auffielen, die an die Wand über dem Schreibtisch gepinnt waren, zielscheibenähnliche Kreise und bedeutungslose Buchstabenreihen, die verschlüsselten Botschaften glichen.

Die Schlafzimmertür öffnete sich, und ein zerstreuter Mann in einem schäbigen Anzug trat ins Wohnzimmer. Die Sonne stand hinter ihm, aber ich konnte sein ausgezehrtes Gesicht sehen und das Licht, das um seine Geheimratsecken flackerte. Er bemerkte mich, schien aber mit einem eigenen Problem beschäftigt, als wäre ich ein Patient, der seine Praxis ohne einen Termin aufsuchte. Er starrte durch das Fenster auf die leeren Straßen und die vom Feuer versehrten Gebäude mit dem müden Blick eines überarbeiteten Arztes, der in einer kriegsgeschundenen Vorstadt im Nahen Osten seiner Arbeit nachzugehen versucht.

Schließlich wandte er sich mir unvermittelt mit einem warmen Lächeln zu.

»David? Kommen Sie herein. Wir haben alle auf Sie gewartet.«

Unwillkürlich wusste ich, dass ich begierig darauf war, ihn zu sehen.

2 Die Bombe von Heathrow

Meine Verführung durch Dr.Richard Gould und die Revolution, die er in Chelsea Marina anstieß, hatten erst vor vier Monaten begonnen, obgleich es mir oft schien, als hätte ich diesen in Ungnade gefallenen Kinderarzt seit meiner Studienzeit gekannt. Er war der Unangepasste, der weder Vorlesungen besuchte noch Prüfungen ablegte, ein Einzelgänger in ungebügeltem Anzug, der seinem eigenen Lehrplan folgte und es dennoch zu einem Doktortitel und einer erfolgreichen Karriere brachte. Er trat in unser Leben wie eine Figur aus den Träumen von morgen, ein Fremder, der wie selbstverständlich davon ausging, dass wir seine treuesten Jünger werden würden.

Ein Anruf war für uns die erste Ankündigung von Goulds Erscheinen. Gerade als wir zu einer dreitägigen Konferenz von Wirtschaftspsychologen in Florida zum Flughafen Heathrow aufbrechen wollten, klingelte mein Handy. Ich war dabei, Sally die Treppe hinunterzubugsieren, und dachte, es sei wieder einmal eine in letzter Minute eintreffende Mitteilung aus dem Institut, die darauf abzielte, meinen Transatlantikflug zu stören – die Kündigung einer geschätzten Sekretärin, die Nachricht, dass ein befreundeter Kollege in eine Entzugsklinik eingewiesen worden war, eine dringliche E-Mail eines Vorstandsvorsitzenden, der Jungs Theorie der Archetypen für sich entdeckt hatte und darin das zukünftige Design von Küchenutensilien skizziert sah.

Ich überließ es Sally, ans Telefon zu gehen, während ich unsere Koffer in den Flur brachte. In ihrer beschwichtigenden und versöhnlichen Art besaß sie die natürliche Gabe, die Stimmung aller zu heben. Innerhalb von Minuten würden sich in Heathrow die Warteschlangen am Check-in auflösen, der Atlantik würde sich zu einer Tanzfläche glätten. Ich stand vor der Haustür und hielt die Straße entlang Ausschau nach unserem Mietwagen. Ein paar Taxis drangen in diese ruhige Abzweigung der Abbey Road vor, doch wurden sie sogleich von Beatles-Fans auf Pilgerfahrt zu den Tonstudios in Beschlag genommen oder von wohlgenährten Marylebone-Clubmitgliedern, die vom Lord’s Cricket Ground in die unübersichtliche Welt jenseits von Kreidelinien und Schienbeinschonern wogten. Der Wagen, den ich bestellt hatte, sollte zwei Stunden vor unserem Abflug von Terminal 3 nach Miami bereitstehen, aber der sonst so verlässliche Mr.Prashar hatte sich bereits um zwanzig Minuten verspätet.

Sally telefonierte noch immer, als ich wieder ins Wohnzimmer kam. Sie lehnte am Kaminsims und strich mit einer ungezwungenen Geste ihre schulterlangen Haare glatt, elegant wie eine Schauspielerin in einem Hollywood-Film der Dreißiger. Die Spiegel um Sally herum hielten den Atem an.

»Also …« Sie legte auf. »Wir warten und hoffen.«

»Sally? Wer war das? Bitte nicht Professor Arnold …«

Sally umklammerte mit jeder Hand einen Gehstock und stemmte sich weg vom Kamin. Ich trat einen Schritt zurück und gewährte ihr wie immer ihr kleines Hirngespinst, behindert zu sein. Noch am vorigen Nachmittag hatte sie Pingpong mit der Frau eines Kollegen gespielt, auf dem Tisch die vergessenen Krücken, während sie den Ball hin und her schlug. Seit Monaten brauchte sie keine Stöcke mehr, griff aber in aufreibenden Momenten noch immer nach ihnen.

»Dein Freund Mr.Prashar.« Sie lehnte sich an mich, das duftende Haar an meine Wange gepresst. »Es gibt ein Problem in Heathrow. Rückstau bis nach Kew. Er meint, es mache keinen Sinn loszufahren, bevor der sich nicht aufgelöst hat.«

»Und der Flug?«

»Verspätet. Alles bleibt am Boden. Der ganze Flughafen steht still.«

»Was machen wir also?«

»Einen großen Drink.« Sally schob mich auf die Hausbar zu. »Prashar klingelt in einer Viertelstunde. Wenigstens kümmert er sich.«

»Stimmt.« Während ich zwei Whisky Soda vorbereitete, blickte ich durch das Fenster auf Sallys Auto mit seiner verblichenen Behindertenplakette auf der Windschutzscheibe, auf dem Rücksitz der zusammengeklappte Rollstuhl. »Sally, ich kann uns hinfahren. Wir nehmen dein Auto.«

»Meins? Du kommst mit der Steuerung nicht zurecht.«

»Liebes, ich habe sie entworfen. Ich nehme den Standstreifen, blende auf, hupe ordentlich dazu. Wir werden es auf dem Kurzzeitparkplatz abstellen. Besser, als hier herumzusitzen.«

»Hier können wir uns betrinken.«

Auf dem Sofa liegend, hob Sally ihr Glas, um mich aufzumuntern. Der Erbfolgekrieg am Adler Institute, das Ringen um Professor Arnolds Stelle hatte mich ermattet und mürrisch gemacht, und sie war erpicht darauf, mich auf die andere Seite des Atlantiks zu befördern. Die Konferenz in Celebration, Disneys Mustersiedlung in Florida, war eine willkommene Gelegenheit, einen erschöpften Ehemann an einem Hotelpool zu parken. Reisen ins Ausland waren anstrengend für sie – die gelenkbelastende Geometrie von Taxis und Duschkabinen, dazu die amerikanischen Psychologen, die in einer bezaubernden, auf Krücken balancierenden Frau einen erotischen Reiz besonderer Art sahen. Aber Sally war für alles zu haben, auch wenn sie die meiste Zeit lediglich in Gesellschaft der Minibar verbringen würde.

Ich lag neben ihr auf dem Sofa, und während wir anstießen, lauschte ich dem Verkehr. Er war lärmiger als sonst, der Stau vor Heathrow leitete seine Frustrationen bis ins Zentrum Londons ab.

»Zehn Minuten.« Ich trank meinen Scotch aus und hatte dabei nicht den nächsten Drink im Sinn, sondern bereits den übernächsten. »Ich habe das Gefühl, dass wir’s nicht schaffen werden.«

»Entspann dich …« Sally schüttete ihren Whisky in mein Glas. »Du wolltest doch sowieso nicht hinfahren.«

»Ja und nein. Dass ich Mickymaus die Hand schütteln soll, das bringt mich auf die Palme. Die Amerikaner lieben diese Disney-Hotels.«

»Sei nicht gemein. Sie erinnern sie an ihre Kindheit.«

»Eine Kindheit, die sie nicht wirklich hatten. Und wir – warum müssen wir an amerikanische Kindheiten erinnert werden?«

»Im Kern ist das die moderne Welt.« Sally roch an ihrem leeren Glas, die Nasenlöcher weit wie die Kiemen eines exotischen, grazilen Fisches. »Immerhin kommst du mal raus hier.«

»All diese Reisen? Seien wir ehrlich, das ist doch reine Verblendung. Flugreisen, diese ganze Heathrow-Sache, das ist kollektive Realitätsflucht. Die Leute gehen zum Check-in und ausnahmsweise wissen sie mal, wohin die Reise geht. Arme Schweine, es steht ja auch auf ihren Tickets. Schau mich an, Sally. Ich bin kein Stück besser. Nach Florida zu fliegen ist nicht das, was ich wirklich möchte. Es ist eine Ersatzhandlung, anstatt am Adler abzutreten. Dazu fehlt mir der Mut.«

»Den hast du.«

»Noch nicht. Das Adler ist ein Auffangbecken, ein besseres Universitätsinstitut voller ehrgeiziger Neurotiker. Denk drüber nach – da sind dreißig leitende Psychologen zusammengepfercht, und jeder einzelne hasste seinen Vater.«

»Du etwa nicht?«

»Ich bin ihm nie begegnet. Das war die eine gute Sache, die meine Mutter für mich getan hat. Wo bleibt denn jetzt Prashar?«

Ich stand auf und ging zum Telefon. Sally hob die Fernbedienung des Fernsehers vom Teppich auf und schaltete die Mittagsnachrichten ein. Das Bild erschien, und ich erkannte eine vertraute Flughafenhalle wieder.

»David … schau mal.« Sally beugte sich vor und umklammerte die Stöcke neben ihren Füßen. »Etwas Schreckliches …«

Ich hörte auf Prashars Stimme, aber meine Augen waren auf die Nachrichten fixiert. Der Kommentar des Reporters ging in heulenden Polizeisirenen unter. Er trat von der Kamera zurück, als ein Team von Sanitätern eine Bahre durch das Gedränge von Passagieren und Fluglinienpersonal schob. Eine Frau, kaum bei Bewusstsein, lag auf der Bahre, Kleidungsfetzen auf ihrem Brustkorb, Blutsprengsel auf den Armen. Staub wirbelte in der Luft und hing in Schwaden über den Boutiquen und Wechselstuben, ein hektisches Mikroklima, das durch die Lüftungsschächte nach draußen drängte.

Hinter der Bahre lag das größte Ankunftsgate von Terminal 2, bewacht von Polizisten, die mit Maschinengewehren bewaffnet waren. An der Barriere wartete eine Gruppe aufgelöst wirkender Chauffeure, die gehissten Pappschilder mit Namen darauf bereits auf Halbmast. Ein Mann mit Aktenkoffer verließ das Ankunftsgate, die Weste seines Zweireihers entblößte einen blutbefleckten Arm. Er starrte auf die Schilder, die ihm entgegengestreckt wurden, als versuchte er sich an seinen eigenen Namen zu erinnern. Zwei Sanitäter und eine Aer-Lingus-Stewardess knieten auf dem Boden und behandelten einen entkräfteten Passagier, der einen leeren Koffer umklammert hielt, welcher seinen Deckel verloren hatte.

»Mr.Markham?« Schwach vernahm ich eine Stimme an meinem Ohr. »Hier spricht Prashar …«

Ohne nachzudenken legte ich auf. Ich stand neben dem Sofa, hatte Sally die Hände auf die Schultern gelegt. Sie zitterte wie ein Kind, ihre Finger wischten über ihre Nase, als hätten die Bilder der Gewalt im Fernsehen sie an ihren eigenen, beinahe tödlichen Unfall erinnert.

»Sally, du bist hier in Sicherheit. Du bist bei mir.«

»Es geht schon.« Sie beruhigte sich und deutete auf den Bildschirm. »Auf einem Gepäckband war eine Bombe. David, wir hätten dort sein können. Wurde jemand getötet?«

»›Drei Tote, sechsundzwanzig Verletzte … ‹« Ich las die Einblendung im Bild ab. »Hoffentlich sind keine Kinder darunter.«

Sally hantierte mit der Fernbedienung und stellte den Ton lauter. »Sprechen sie denn keine Warnung aus? Irgendwelche Codewörter, die die Polizei erkennt? Warum legt jemand eine Bombe im Ankunftsbereich?«

»Manche Menschen sind verrückt. Sally, uns geht es gut.«

»Niemandem geht es gut.«

Sie hielt mich am Arm fest und zog mich neben sich aufs Sofa. Zusammen starrten wir auf die Bilder aus der Flughafenhalle. Polizisten, Ersthelfer und Duty-free-Personal geleiteten verletzte Fluggäste zu den bereitstehenden Rettungswagen. Dann wechselte das Bild, und wir sahen nun eine Amateuraufnahme von einem Passagier, der den Gepäckausgabebereich kurz nach der Explosion betreten hatte. Der Filmer stand mit dem Rücken zur Zollkontrolle, offensichtlich zu schockiert von der Gewalt, die die überfüllte Halle erschüttert hatte, um seine Kamera niederzulegen und den Opfern seine Hilfe anzubieten.

Staubschwaden sammelten sich unter der Decke und wirbelten um die Leuchtbänder, die in Fetzen vom Dach hingen. Umgestürzte Gepäckwagen lagen auf dem Boden, von der Druckwelle verbogen. Benommene Passagiere saßen neben ihren Koffern, die entblößten Rücken voller Blut, Glassplitter und Lederfetzen.

Die Kamera blieb weiter auf das stillstehende Band gerichtet, die Lamellen gespreizt wie ein Fächer aus Gummi. Aus der Gepäckrinne kamen noch immer Koffer, und ein Satz Golfschläger und ein Kinderwagen purzelten gleichzeitig über die sich stauenden Reisetaschen.

Drei Meter entfernt saßen zwei verletzte Passagiere auf dem Boden und sahen zu, wie die Koffer aus dem Schacht auftauchten. Einer von ihnen war ein Mann zwischen zwanzig und dreißig, bekleidet mit Jeans und den Fetzen einer Windjacke aus Kunststoff. Als die ersten Helfer ihn erreichten, ein Polizist und ein Beamter der Flughafensicherheit, begann der junge Mann einen Afrikaner mittleren Alters, der neben ihm lag, zu beruhigen.

Die andere Person, die auf den Gepäckschacht starrte, war eine Frau Ende dreißig mit kantiger Stirn und einem knochigen, aber attraktiven Gesicht, das dunkle Haar hochgesteckt. Sie trug einen schwarzen Maßanzug, der mit Glassplittern gespickt war wie der paillettenbesetzte Smoking einer Nachtclubhostess. Ein verirrtes Trümmerteil hatte ihr die Unterlippe aufgeschnitten, doch schien sie von der Explosion fast unversehrt. Sie wischte sich den Staub vom Ärmel und starrte finster in das Durcheinander um sie herum, eine vielbeschäftigte Karrierefrau, die ihren nächsten Termin versäumen würde.

»David …?« Sally griff nach ihren Krücken. »Was ist los?«

»Ich bin mir nicht sicher.« Ich stand vom Sofa auf und kniete mich vor den Bildschirm, beinahe gewiss, dass ich die Frau wiedererkannte. Aber der Amateurfilmer schwenkte nun an die Decke, um zu begutachten, wie sich aus einer Leuchtstoffröhre eine Funkenkaskade entlud, Feuerwerk in einem Irrenhaus. »Ich glaube, das ist jemand, den ich kenne.«

»Die Frau, in dem dunklen Anzug?«

»Schwer zu sagen. Ihr Gesicht erinnerte mich an …« Ich schaute auf meine Uhr und bemerkte unser Gepäck im Flur. »Wir haben unseren Flug nach Miami verpasst.«

»Ist doch egal. Diese Frau, die du gesehen hast – war das Laura?«

»Ich glaube.« Ich nahm Sallys Hände und bemerkte, wie ruhig sie sich anfühlten. »Sie sah aus wie sie.«

»Das kann nicht sein.« Sally wandte sich ab und setzte sich auf das Sofa, auf der Suche nach ihrem Whisky. Die Berichterstattung kehrte wieder in die Flughafenhalle zurück, wo die Chauffeure mit gesenkten Schildern davongingen. »Es gibt eine Rufnummer für Angehörige. Ich wähle sie für dich.«

»Sally, ich bin kein Angehöriger.«

»Ihr wart acht Jahre verheiratet.« Sally sprach mit nüchterner Stimme, als ginge es um meine Mitgliedschaft in einem Lunch-Club, der sich nicht mehr trifft. »Sie werden dir sagen, wie es ihr geht.«

»Sie sah in Ordnung aus. Es könnte Laura gewesen sein. Dieser Gesichtsausdruck, den sie hat, immer ungeduldig …«

»Ruf Henry Kendall im Institut an. Er wird Bescheid wissen.«

»Henry? Warum?«

»Er lebt mit Laura zusammen.«

»Das stimmt. Trotzdem, ich will den armen Mann nicht in Panik versetzen. Was, wenn ich mich täusche?«

»Ich denke nicht, dass du das tust.« Sally sprach in ihrer ruhigsten Stimme, ein verständiger Teenager im Gespräch mit einem zerstreuten Elternteil. »Du musst es rausfinden. Laura bedeutete dir sehr viel.«

»Das ist lange her.« Ihren unterschwellig drohenden Tonfall bemerkend, sagte ich: »Sally, ich bin dir begegnet.«

»Ruf ihn an.«

Ich durchquerte den Raum, mit dem Rücken zum Bildschirm. Das Handy in der Hand, trommelte ich mit den Fingern auf den Kaminsims und versuchte über die Fotografie von Sally zu lächeln, wie sie zwischen ihren Eltern im Rollstuhl sitzt, aufgenommen im St. Mary’s Hospital am Tag unserer Verlobung. Wie ich in meinem weißen Laborkittel hinter ihr stehe, wirke ich erstaunlich selbstsicher, als ob mir zum ersten Mal in meinem Leben bewusst gewesen wäre, dass ich glücklich sein würde.

Bevor ich die Nummer des Instituts wählen konnte, klingelte das Handy. Durch das Gewirr aus Hintergrundgeräuschen, Sirenengeheul und den lauten Rufen von Notfallpersonal hörte ich Henry Kendalls erhobene Stimme.

Er rief aus dem Ashford Hospital an, unweit von Heathrow. Laura war von der Druckwelle der Explosion in Terminal 2 erfasst worden. Als eine der Ersten, die evakuiert wurden, war sie in der Notaufnahme zusammengebrochen und lag nun auf der Intensivstation. Henry gelang es, sich zu beherrschen, aber seine Stimme erbebte in einem Schwall planloser Wut, und er gestand ein, dass er Laura gebeten hatte, einen späteren Flug von Zürich zu nehmen, damit er einen Termin am Institut wahrnehmen und sie vom Flughafen abholen konnte.

»Die Schriftenkommission … Arnold hatte mich gebeten, den Vorsitz zu übernehmen. Um Himmels willen, er hat seinen eigenen verfluchten Artikel vorgestellt! Hätte ich mich geweigert, wäre Laura immer noch …«

»Henry, das ginge jedem so. Du kannst dir nicht die Schuld geben …« Ich versuchte, ihn zu beruhigen und dachte dabei an den Blutschwall aus Lauras Mund. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich, als sei ich selbst maßgeblich an dem Verbrechen beteiligt, als hätte ich die Bombe selbst auf dem Gepäckkarussell platziert.

Der Rufton klang an mein Ohr, ein verebbendes Signal aus einer anderen Welt. Ein paar Minuten lang waren alle Verbindungen zur Wirklichkeit gekappt. Ich betrachtete mich im Spiegel, irritiert über die Reiseklamotten, die ich trug, eine leichte Jacke und ein Sporthemd, die taktlose Kleidung eines Strandtouristen, der sich auf eine Beerdigung verirrt hatte. Auf meinen Wangen zeichnete sich bereits ein Schatten ab, als ob der Schock der Heathrow-Bombe meinen Bart hätte sprießen lassen. Auf eine besonders englische Art wirkte mein Gesicht gequält und verschlagen, die argwöhnische Miene eines abartigen Rektors an einer kleineren Grundschule.

»David …« Sally stand auf, die Krücken waren vergessen. Ihr Gesicht wirkte kleiner und kantiger, der Mund gespitzt über einem kindlichen Kinn. Sie nahm mir das Telefon weg und ergriff meine Hände. »Dir geht es gut. Laura hatte Pech.«

»Ich weiß.« Ich umarmte sie, an die Bombe denkend. Hätte der Terrorist sich für Terminal 3 entschieden, ein bis zwei Stunden später, würden Sally und ich nun womöglich zusammen auf der Intensivstation liegen. »Weiß Gott, warum, aber ich fühle mich verantwortlich.«

»Natürlich tust du das. Sie war dir wichtig.« Sie blickte mich starr an und nickte ruhig, fast überzeugt, dass sie mich bei einem kleinen, aber entlarvenden Fauxpas ertappt hatte. »David, du musst hinfahren.«

»Wohin? Ins Institut?«

»Ins Ashford Hospital. Nimm meinen Wagen. Damit wirst du besser durchkommen.«

»Warum? Henry wird bei ihr sein. Laura gehört nicht mehr zu meinem Leben. Sally …?«

»Nicht ihretwegen. Tu’s für dich.« Sally wandte sich ab. »Du liebst sie nicht, das weiß ich. Aber du hasst sie noch immer. Darum musst du hinfahren.«

3 »Warum ich?«

Eine Stunde später erreichten wir das Ashford Hospital, eine kurze Reise in eine sehr weit entfernte Vergangenheit. Sally fuhr mit Verve und Elan, ihre rechte Hand umklammerte den Beschleunigungsregler, der neben dem Lenkrad angebracht war, ein Hebel, den sie wie ein Jagdpilot handhabte, mit der Linken betätigte sie den Bremsarm neben der Armatur für die Schaltautomatik. Ich hatte die Bedienelemente entworfen, mit Unterstützung eines Ergonomieexperten vom Institut, der Sallys Maße mit der akribischen Sorgfalt eines Schneiders aus der Savile Row genommen hatte. Inzwischen hatte sie die ganze Kraft in ihren Beinen wiedererlangt, und ich schlug vor, wir sollten uns bei der Saab-Werkstatt nach einem Rückbau erkundigen. Aber Sally mochte die auf sie zugeschnittenen Armaturen, besondere Fertigkeiten, die nur sie besaß. Als ich nachgab, neckte sie mich, dass ich insgeheim den perversen Reiz auskosten würde, eine behinderte Frau zu haben.

Was auch dahintersteckte, ich sah sie mit dem Stolz eines Ehemanns an. Sie lenkte den Saab durch den dichten Mittagsverkehr, ließ bei den überarbeiteten Polizisten auf der Autobahn die Scheinwerfer aufblenden und tippte erbittert an die Behindertenplakette an der Windschutzscheibe. Als sie den Rollstuhl auf der Rückbank sahen, wiesen sie uns auf den Standstreifen, eine Schnellspur, die nur einer bezaubernden Frau vorbehalten sein konnte.

Wie wir so die Straße entlangrasten, den Warnblinker eingeschaltet, glaubte ich fast, dass Sally erpicht darauf war, ihre einstige Rivalin zu treffen, die nun auf der Intensivstation lag. In gewisser Hinsicht war eine Art Gerechtigkeit wiederhergestellt worden. Sally hatte ihren Unfall stets als ein zufälliges Ereignis betrachtet, ein grausames Defizit in der moralischen Ordnung des Daseins, das dadurch tief in ihrer Schuld stand.

Als sie mit ihrer Mutter auf Besichtigungstour im Bairro Alto in Lissabon war, einem Labyrinth steil ansteigender Gassen, hatte Sally hinter einer stehenden Trambahn die Straße überquert. Die antike Wagenflotte mit ihren Holzvertäfelungen und gusseisernem Gestänge war fast ein Jahrhundert zuvor von britischen Ingenieuren eingeführt worden. Aber sowohl Charme als auch Industriearchäologie hatten ihren Preis. Die Bremsen der Straßenbahn versagten für ein paar Sekunden, und bevor die Sicherheitskupplung die Räder blockierte, rollte sie rückwärts, warf Sally zu Boden und klemmte ihre Beine unter dem wuchtigen Wagengestell ein.

Ich begegnete Sally im Seitenflügel der Orthopädie im St. Mary’s, auf den ersten Blick eine schneidige junge Frau mit dem festen Willen zur Genesung, die aber unerklärlicherweise nicht auf die Behandlung ansprach. Monatelange Physiotherapie hatten eine mürrische Gereiztheit erzeugt, und sogar einige derbe Wutausbrüche. Zufällig hörte ich eine dieser Tiraden mit, ein wüster Sturm in einem Privatzimmer. Ich stempelte sie als verwöhnte Tochter eines Unternehmers aus Birmingham ab, der sie mit dem Firmenhelikopter besuchte und jeder ihrer Launen nachkam.

Einmal die Woche kam ich ins St. Mary’s, um ein neues Diagnosesystem zu betreuen, das in Zusammenarbeit mit dem Adler Institute entwickelt wurde. Anstatt sich einem müden Facharzt gegenüberzusehen, der einen großen Gin und ein heißes Bad herbeisehnte, saß der Patient vor einem Bildschirm und drückte Knöpfe in Beantwortung vorher aufgezeichneter Fragen eines munteren, lächelnden Mediziners, verkörpert von einem sympathischen Schauspieler. Zur Verwunderung der Fachärzte, wie auch zu ihrer Erleichterung, zogen die Patienten das computergesteuerte Abbild einem echten Mediziner vor. In dem unbedingten Bestreben, Sally wieder auf die Beine zu bekommen, und in dem Wissen um die im diskreten Fachjargon ›elektive‹ Natur ihrer Behinderungen schlug ihr Chirurg vor, Sally vor den Prototypen des Apparats zu setzen.

Ich misstraute dem Projekt, das Patienten wie Kinder in einer Spielhalle behandelte, aber es brachte Sally und mich zusammen. Ich überarbeitete den Dialogtext eines Magengeschwürprogramms, passte die Fragen Sallys Fall an, zog vor der Kamera einen weißen Kittel über und spielte den einfühlsamen Doktor.

Vergnügt drückte Sally die Antworttasten und offenbarte damit ihren ganzen Groll über die Ungerechtigkeit ihres Unfalls. Aber ein paar Tage später schlingerte sie im Korridor an mir vorbei, nur knapp einen Zusammenstoß vermeidend. Als sie anhielt, um sich zu entschuldigen, stellte sie erstaunt fest, dass ich tatsächlich existierte. In den folgenden Tagen kehrte ihre gute Stimmung zurück, und sie hatte ihren Spaß daran, meine hölzerne Schauspielkunst zu imitieren. Als ich an ihrem Bett saß, zog sie mich damit auf, dass ich nicht ganz echt sei. Wir sprachen miteinander in unseren aufgezeichneten Stimmen, ein idiotisches Umwerben, bei welchem ich achtgab, es nicht allzu ernst zu nehmen.

Aber es war ein tieferer, unausgesprochener Dialog, der uns verband. Ich schaute jeden Tag vorbei, und das Pflegepersonal erzählte mir, dass Sally aus dem Bett gestiegen sei und mich gesucht habe, als ich spät dran war, und zwar ohne ihren Rollstuhl. Wie ich bald herausfand, war sie die feinsinnigere Psychologin. Mit ihrem Frida-Kahlo-Bildband in den Händen fragte sie mich, ob ich das Fabrikat der Straßenbahn ermitteln könne, die Kahlo in Mexiko-Stadt versehrt hatte. War der Hersteller etwa ein englischer Betrieb?

Ich konnte die Wut begreifen, welche die beiden Frauen verband, aber Kahlo war von einer Stahlstange schwer verwundet worden, die ihre Gebärmutter durchbohrte und ihr ein Leben lang Schmerzen bereitete. Sally hatte eine fremde Straße überquert, ohne nach links oder rechts zu schauen, und sie hatte nichts von ihrer Schönheit verloren. Es war ihre sonderbar obsessive Beschäftigung mit der Beliebigkeit des Unfalls, die sie davon abhielt zu gehen. Außerstande zur Lösung dieses Rätsels, beharrte sie darauf, dass sie ein Krüppel in einem Rollstuhl sei und ihre Misere mit anderen Opfern sinnloser Unfälle teile.

»Sie streiken also«, sagte ich zu ihr. »Sie veranstalten Ihr eigenes Sit-in gegen das Universum.«

»Ich warte auf eine Antwort, Mr.Markham.« Sie spielte mit ihren Haaren, während sie sich gegen drei riesige Kissen zurücklehnte. »Das ist die wichtigste Frage überhaupt.«

»Reden Sie weiter.«

»›Warum ich?‹ Beantworten Sie das. Sie können es nicht.«

»Sally … ist das denn wichtig? Es ist reiner Zufall, dass wir überhaupt am Leben sind. Die Chancen, dass sich unsere Eltern begegnen würden, standen bei eins zu ein paar Millionen. Wir sind Lose einer Lotterie.«

»Aber eine Lotterie ist nicht sinnlos. Jemand muss gewinnen.« Sie hielt inne, um mich aufmerken zu lassen. »Wie die Tatsache, dass wir uns hier getroffen haben. Das war nicht sinnlos …«

Heathrow näherte sich, eine gestrandete Himmelsstadt, halb Raumstation und halb Barackensiedlung. Wir verließen die Autobahn und fuhren die Great West Road entlang, hinein in eine Zone zweistöckiger Fabriken, Autovermietungen und riesiger Speicher. Wir waren Teil einer unsichtbaren Unterwasserwelt, der es gelang, Mysterium und Langeweile zu vereinen. In gewisser Weise schien es passend, dass meine frühere Ehefrau hier in einem Krankenhaus lag, Leben und Tod in Rufnähe, in einer Gegend, die zwischen Wachen und Träumen schwebte.

Sally fuhr noch energischer als sonst, überholte in Innenkurven, preschte bei Rot über Ampeln, und hupte sogar ein Polizeiauto aus dem Weg. Die Heathrow-Bombe hatte sie wieder aufgetankt. Dieser grausame, irre Anschlag bestätigte ihre Vermutungen hinsichtlich des Despotismus des Schicksals. Trotz all ihrer Bedenken als Ehefrau verlangte sie danach, das Ashford Hospital aufzusuchen, nicht nur um mich von den Erinnerungen an eine unglückliche Ehe zu befreien, sondern um sich selbst zu überzeugen, dass dem terroristischen Sprengsatz kein Sinn und Zweck anhaftete. Ich hoffte bereits, dass Laura eine plötzliche Genesung erfahren hatte und zusammen mit Henry Kendall auf dem Heimweg nach London war.

Ich stellte das Radio ein und schaltete zur Berichterstattung über die Rettungsarbeiten im Terminal 2. Der Flughafen war auf unbestimmte Zeit geschlossen, da die Polizei in den anderen drei Terminals nach Sprengstoff suchte. Von den Zeitungen kaum beachtet, waren im Laufe des Sommers in London mehrere kleine Bomben detoniert, überwiegend Rauch- und Brandvorrichtungen, die keine Terrorgruppe für sich reklamierte, Teil des merkwürdigen Stadtklimas. In einem Einkaufszentrum in Shepherd’s Bush und in einem Kinokomplex in Chelsea waren Bomben gelegt worden. Es hatte keine Warnungen gegeben und, glücklicherweise, keine Opfer. Ein stilles Fieber brannte im Kopf irgendeines grüblerischen Einzelgängers, eine Kerze der Unzufriedenheit, die immer längere Schatten warf. Von dem Brandsatz, der einen McDonald’s in der Finchley Road zerstörte, eine Meile von unserer Wohnung entfernt, erfuhr ich jedoch erst, als ich das Gratisblatt überflog, das Sallys Maniküre dagelassen hatte. London wurde von einem scheuen, unsichtbaren Gegner belagert.

»Wir sind da«, sagte Sally zu mir. »Jetzt nur die Ruhe.«

Wir waren am Ashford Hospital angekommen. Vor dem Eingang zur Notaufnahme rotierten unaufhörlich die Warnleuchten der Krankenwagen, hungrige Radare, begierig darauf, jede Nachricht von Leid und Verletzung aus dem Äther abzugreifen. Sanitäter nippten an ihren Teebechern, jederzeit in Bereitschaft, nach Heathrow zurückbeordert zu werden.

»Sally, du musst müde sein.« Ich strich ihr übers Haar, während wir darauf warteten, auf den Parkplatz zu gelangen. »Magst du draußen bleiben?«

»Ich werde mit reinkommen.«

»Es könnte übel sein.«

»Hier draußen ist es übel. Das geht mich an, David, mich auch.«

Sie löste den Bremshebel, lenkte scharf auf den Fußgängerweg und überholte einen Jaguar mit einer betagten Nonne am Steuer. Ein Sicherheitsbeamter beugte sich zu Sallys Fenster herunter, bemerkte die umgebauten Armaturen und winkte uns auf den Parkplatz eines nahe gelegenen Supermarktes, wo die Polizei einen Kommandoposten eingerichtet hatte.

Der Jaguar parkte neben uns, die Nonne stieg aus und öffnete die Tür für einen grauhaarigen Priester, irgendein Monsignore, bereit, die Sterbesakramente zu reichen. Ich half gerade Sally aus dem Auto, als ich vor dem Eingang zur Notaufnahme eine bärtige Gestalt in einem weißen Regenmantel bemerkte. Er blickte starr über die Köpfe der Polizisten und Sanitäter hinweg, die Augen auf den stummen Himmel fixiert, als erwartete er, dass ein langersehntes Flugzeug über das Krankenhaus fliegen und den Bann brechen würde. Er hielt eine Frauenhandtasche gegen seinen Oberkörper gepresst, wie eine Notfallvorrichtung, die vielleicht das dringend benötigte Wunder herbeiführen könnte.

Zerstreut übergab er die Tasche einem besorgten Assistenten, der mit ihm sprach. Seine Augen waren wegen der Warnleuchten des Krankenwagens nicht zu sehen, aber ich erkannte, wie sich sein Mund öffnete und schloss, eine lautlose, an niemanden in seiner Umgebung gerichtete Rede. Nach all unserem Jahren am Adler Institute, den lästigen Klienten und deren unmöglichen Sekretärinnen, war dies das erste Mal, dass ich sah, wie Henry Kendall absolut ratlos war.

»David?« Sally wartete darauf, dass ich ihr vom Fahrersitz hoch half. Als ich zögerte, schob sie ihre Beine aus dem Wagen, griff mit beiden Händen nach der Fahrzeugsäule und stand auf. Sie war umgeben von endlosen Reihen geparkter Autos, eine stumme Versammlung, die dem Tod huldigte. »Ist etwas passiert?«

»Sieht so aus. Henry steht da drüben.«

»Finster …« Sally folgte meiner erhobenen Hand. »Er wartet auf dich.«

»Der Arme, er wartet auf gar nichts.«

»Laura? Sie kann doch nicht …«

»Bleib hier. Ich rede mit ihm. Falls er überhaupt hört, was ich sage …«

Fünf Minuten später, nach meinem Versuch, Henry zu trösten, ging ich zurück zu Sally. Sie stand beim Wagen, eine Krücke in jeder Hand, die blonden Haare fielen ihr über die Schultern. Mit Lauras Handtasche ging ich um den Jaguar des Monsignore herum, und es tat mir leid, dass wir durch unser aggressives Fahren seine Ankunft, wenn auch nur um Sekunden, verzögert hatten.

Ich umarmte Sally fest und war mir bewusst, dass ich zitterte. Ich hielt die Handtasche unter meinen Arm geklemmt und begriff, dass Lauras Tod eine kleine Distanz zwischen uns geschaffen hatte.

4 Der letzte Rivale

Als ich die Kapelle verließ und mich zu der Trauergemeinde im Sonnenlicht gesellte, war gerade ein Passagierflugzeug im Anflug auf Heathrow. Ich beobachtete seinen Sinkflug entlang der Schneise über den Deer Park in Richmond und dem stillgelegten Observatorium, wo der königliche Hofastronom einst den Himmel über dem Empire abgesucht hatte. Vielleicht brachte die Linienmaschine ja die letzten Delegierten von der Konferenz in Celebration nach London zurück, die Haut gebräunt von der Luft Floridas, der Geist betäubt vom Geschwätz des Podiumsjargons.

Im Büro meiner Sekretärin hatte ich an jenem Morgen die E-Mail-Zusammenfassungen der Vortragstexte durchgesehen. Die selbstsicheren Behauptungen der neuen Unternehmenspsychologie schienen über der Welt zu schweben wie eine Regatta von Heißluftballons, fernab der Wirklichkeit des modernen Sterbens, welche die Trauernden im Krematorium von West-London zu achten gewusst hatten. Die Psychologen am Adler Institute versuchten die Konflikte am Arbeitsplatz zu entschärfen, doch die Bedrohungen jenseits der Fassaden waren wirklicher und dringlicher denn je. Keiner war sicher vor dem Psychopathen, der ohne jedes Motiv die Parkhäuser und Gepäckkarussells unseres Alltags heimsuchte. Eine bösartige Langeweile beherrschte die Welt, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, unterbrochen von sinnlosen Gewaltakten.

Die Linienmaschine flog über Twickenham hinweg, mit ausgefahrenem Fahrwerk, voll Zuversicht, dass in Heathrow der sichere Boden auf sie wartete. Noch immer durcheinander wegen Lauras Tod, stellte ich mir vor, wie eine Bombe im Frachtraum explodierte und die versengten Vorträge über die Psychologie des neuen Jahrhunderts über die Dächer von West-London verstreute. Die Fragmente würden auf unbescholtene Videotheken und chinesische Take-aways niederregnen, um von gedankenverlorenen Hausfrauen gelesen zu werden, die welke Blüte des Desinformationszeitalters.

Meine Kollegen vom Adler, denen unbehaglich zumute war in ihren dunklen Anzügen, standen in kleinen Gruppen beisammen, als das Orgelnachspiel aus den Lautsprechern der Kapelle erklang. Henry Kendall sprach mit dem Bestatter, einem aalglatten Typ im Cutaway mit der Ausstrahlung eines Empfangschefs, der stets Karten für die begehrtesten Veranstaltungen beschaffen konnte, im Dies- wie im Jenseits.

Henry hatte sich, wie ich erfreut feststellte, von seinem Moment der Verzweiflung vor dem Ashford Hospital erholt. Er hatte seinen Bart abgenommen, sich der Vergangenheit entledigt, jetzt, da er einer Zukunft ohne Laura entgegensah. Er hatte sich den Bart wachsen lassen, kurz nachdem ihre Affäre begonnen hatte, und ich hatte das immer für ein böses Omen gehalten. In seiner Zeit mit Laura war er rasch gealtert, und bereits jetzt sah er jünger aus, mit den scharfen Augen und den markanten Zügen, mit denen er einst ans Adler gekommen war.

Ich nickte Professor Arnold zu, dem Institutsdirektor, einem umgänglichen, aber gerissenen Mann mit dem Geist eines auf Bagatellfälle spezialisierten Anwalts, der genau wusste, dass er von Rivalen umgeben war, die auf seinen Posten aus waren. Lauras Tod hatte sie alle erschüttert, denn er erinnerte sie daran, wie sehr sie sie einst verachtet hatte. Sie wäre erstaunt gewesen über die Anwesenheit ihrer ehemaligen Kollegen – »graue Männer mit Komplexen, an denen sie sich festhalten wie an Kuscheldecken«, hatte sie einst gesagt – und von ihrem Gelächter wäre wohl der Sargdeckel abgebrochen, hätte sie die mit unbewegtem Gesicht vorgetragenen Huldigungen an sie gehört. Jahrelang hatte sie mir in den Ohren gelegen, ich solle am Adler aufhören und selbst praktizieren, sie behauptete, hinter meiner Loyalität gegenüber dem Institut würde sich nur meine Weigerung verbergen, erwachsen zu werden. Während unserer letzten gemeinsamen Jahre benötigte ich die Sicherheit, die das Adler bot, und als sie kündigte, um ein eigenes Beratungsunternehmen aufzubauen, wusste ich, dass unsere Ehe am Ende war.

Aber Sicherheit wiederum war nichts, was Laura je zu bieten vorgab. Ich erinnerte mich an ihren beißenden Humor und die Depressionen, die eine wärmere und interessantere Seite offenbarten, und die plötzlichen Anfälle von Begeisterung, die alles möglich erschienen ließen. Leider war ich für sie allzu gefestigt und zurückhaltend. Einmal provozierte sie mich absichtlich, bis ich ihr eine Tür ins Gesicht knallte. Ein Blutschwall stürzte aus ihrer kräftigen Nase, die für sie stets ein wunder Punkt gewesen war. Seltsamerweise war es das Blut im Gesicht der verletzten Frau am Gepäckband, das mich gleich an Laura hatte denken lassen.

Ich ließ die Trauergäste hinter mir und schlenderte an den drapierten Blumen entlang, jede einzelne eine Farbexplosion, die mich an eine andere Detonation denken ließ. Die Bombe im Terminal 2 war gezündet worden, als das Gepäck eines British-Airways-Fluges aus Zürich das Gepäckband erreichte. Es hatte weder eine Drohung gegeben noch übernahm eine Organisation die Verantwortung für all die Toten und Verletzten. Nichts erklärte, warum gerade diese Passagiere ins Visier genommen wurden, eine Gruppe von Bankkurieren, Urlaubern und Schweizer Ehefrauen, die ihre in London arbeitenden Männer besuchten. Laura hatte einen Vortrag in einem von Nestlé gesponserten Stadtplanungsseminar gehalten. Sie starb auf der Intensivstation des Ashford Hospital, eine halbe Stunde vor unserer Ankunft, ihr Herz zerrissen von einem Splitter der Zeitsteuerung, die die Bombe gezündet hatte.

Ich schlenderte zurück zur Kapelle, hinter mir die ein letztes Mal in der Nachmittagssonne erstrahlenden Blumen. Die Trauergäste kehrten zu ihren Autos zurück, reif für den tröstenden Montrachet, den Professor Arnold statt einer Totenwache anbieten würde. Henry Kendall stand auf den Stufen zur Kapelle, im Gespräch mit einem untersetzten Mann mit blassem rotblondem Haar und einem Lammfellmantel über seinem Anzug. Ich hatte ihn beim Betreten der Kapelle in der hintersten Reihe gesehen, die Trauergäste musternd, als würde er sich mit den Männern in Lauras Leben vertraut machen. Er ging fort, als ich näher kam, und eilte zu seinem Wagen.

»David …« Henry hielt meinen Arm fest. Er wirkte umgänglich und zuversichtlich, erleichtert, dass mehr als nur die Beerdigung vorüber war. »Ich bin froh, dass du gekommen bist.«

»Es ist gut gelaufen.« Ich machte eine Geste in Richtung der sich auflösenden Trauergemeinde. »Kurz, aber …«

»Laura hätte es gehasst. All diese geheuchelten Abschiedsreden. Mich wundert, dass sie alle gekommen sind.«

»Sie konnten nicht wegbleiben. Sie hatte ihnen eine Heidenangst eingejagt. Du wirkst …«

»Ja, ja …« Henry wandte sich ab, eine Hand befühlte seine Wange. Er tastete nach seinem Bart, wohl wissend, dass sein hübsches Gesicht und all seine Unsicherheit freigelegt waren. Nicht zum ersten Mal hatte ich den Verdacht, dass es lediglich sein Aussehen und eine bestimmte Passivität gewesen waren, die Laura attraktiv gefunden hatte. In seinen Augen waren wir immer Rivalen gewesen, und er war jedes Mal verwundert, wenn ich eine Gelegenheit, seine Position zu schwächen, nicht wahrnahm. Seine Affäre mit Laura war teilweise ein Versuch, mich loszuwerden. Ich mochte ihn, aber ich konnte es mir erlauben, so zu empfinden, wusste ich doch, dass er niemals Leiter des Adler werden würde.