Liebe & Napalm: Export USA - J.G. Ballard - E-Book

Liebe & Napalm: Export USA E-Book

J.G. Ballard

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Beschreibung

Ein Psychiater mit wechselnden Namen (Talbert, Traven, Travis...) wird verfolgt von Bildern und Ereignissen der späten 1960er-Jahre – dem Attentat auf John F. Kennedy, dem Tod Marilyn Monroes, dem Vietnamkrieg – und imaginiert sich dabei selbst als Attentäter, Pilot, Unfall- opfer… Innere und äußere Realitäten, Wissenschaft und Fiktion, Technik und Pornographie ­verbinden sich zu obsessiven Visionen einer in Gewaltkonstellationen und massenmedialer Zerstückelung pervertierten Welt.

1970 erschienen, gilt dieser auch in formaler Hinsicht wegweisende Text als JG Ballards wichtigstes Buch. Zweifellos aber ist das in den USA schon früh der Zensur anheimgefallene Werk bis heute sein einflussreichstes in Popkultur und Kunst.

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Liebe & Napalm:Export USA

J.G. BallardLiebe & Napalm:Export USA

Aus dem Englischen von

Carl Weissner

DIAPHANES

1Die Schreckensgalerie

Apokalypse. Einmal im Jahr wurden die Arbeiten der Patienten in der Turnhalle der Anstalt ausgestellt. Was dieser Ausstellung – zu der die Patienten keinen Zutritt hatten – eine beunruhigende Note verlieh, war die Tatsache, dass sich von Jahr zu Jahr mehr Arbeiten mit dem Thema des Weltuntergangs beschäftigten. Fast schien es, als hätten diese Patienten in ihrer jahrelangen Isolation so etwas wie eine seismische Veränderung in den Köpfen ihrer Ärzte und Pfleger entdeckt. Während Catherine Austen durch die Ausstellung ging, wurde sie von diesen bizarren Bildern mit ihrer Fusion von Eniwetok und Lunapark, Freud und Elizabeth Taylor, an die Dias von spinalen Querschnitten erinnert, die sie in Travis’ Büro gesehen hatte. Sie hingen an den glasierten Wänden wie Chiffren einer rätselhaften Gleichung, wie Codesignale eines Albtraums, in dem sie allmählich eine immer bereitwilligere und bewusstere Rolle spielte. Als sie Dr. Nathan auf sich zukommen sah, knöpfte sie leicht irritiert ihren weißen Arztkittel zu. »Ah, Dr. Austen…«, sagte er und hielt sich eine Zigarette mit goldenem Mundstück unter die Nase. »Was halten Sie davon? Wie ich sehe, ist in unserer Hölle der Krieg ausgebrochen.«

Anmerkungen zu einem Nervenzusammenbruch. In Travis’ Büro hörte man verschwommen die Geräusche aus dem darunter gelegenen Vortragssaal, wo gerade Filme über künstlich erzeugte Psychosen vorgeführt wurden. Travis stand mit dem Rücken zum Fenster an seinem Schreibtisch und ordnete die Dokumente, die er während der vergangenen Monate unter großen Mühen ­zusammengetragen hatte: (1) Spektroheliogramm der Sonne, (2) ­Frontalansicht und Er­­höhungswinkel der Balkoneinheiten des London Hilton, (3) Querschnitt durch einen präkambrischen Trilobit, (4) »Chrono­gramme«, von E. J. Marey, (5) ein Foto des Sandmeeres in der Qattara-Senke (Ägypten), aufgenommen um die Mittagszeit des 7. August 1945, (6) eine Reproduktion von Max Ernsts »Garden Airplane Traps«, (7) eine schematische Darstellung der Zündmechanismen von »Little Boy« und »Fat Boy«, den beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Als er fertig war, drehte sich Travis um und schaute aus dem Fenster. Wie gewöhnlich hatte der weiße Pontiac noch eine Lücke auf dem überfüllten Parkplatz vor dem Haus gefunden. Die beiden Insassen beobachteten ihn durch die bläulich und braun getönte Windschutzscheibe.

Landschaften des Inneren. Während er sich dazu zwang, seine Hand ruhig zu halten, sah sich Travis den schmalschultrigen Mann, der ihm gegenübersaß, etwas näher an. Durch die Milchglasscheibe über der Tür drang schwaches Licht aus dem leeren Korridor in das verdunkelte Büro. Das Gesicht des Mannes war halb verdeckt von dem Schirm seiner Fliegermütze, aber Travis erkannte die vernarbten Gesichtszüge des Bomberpiloten, dessen Fotos – aus mehreren Heften von Newsweek und Paris Match herausgerissen – überall auf dem Fußboden des schäbigen Hotelzimmers am Earls Court gelegen hatten. Der Mann starrte Travis an, wobei er sich offensichtlich anstrengen musste, seine Augen auf einen Punkt zu konzentrieren. Aus irgendeinem Grund stimmten die Segmente seines Gesichts nicht zueinander; sie schienen sich erst in einer anderen, vorerst noch unsichtbaren Dimension zu vereinigen; oder aber ihre Vereinigung erforderte über seine Persönlichkeit und seine Muskulatur hinaus noch andere Elemente. Was mochte ihn dazu bewogen haben, ins Hospital zu kommen und unter den dreißig Ärzten ausgerechnet Travis aufzusuchen? Travis hatte versucht, mit ihm zu sprechen, aber der Mann hatte immer nur geschwiegen und wie eine lädierte Schaufensterpuppe neben dem Instrumentenschrank gestanden. Sein noch unreifes, aber bereits frühzeitig gealtertes Gesicht schien so starr wie eine Gipsmaske. Seit Monaten hatte nun Travis diese einsame Gestalt mit den eingefallenen Schultern unter der ledernen Fliegerjacke gesehen, in zahllosen Wochenschauberichten, als Statist in Kriegsfilmen und schließlich als Patient in einem ausgesprochen elegant gemachten Lehrfilm über Nystagmus (Augenzittern) – und diese Serie von übergroßen geometrischen Schaubildern, die wie Ausschnitte abstrakter innerer Landschaften wirkten, hatte ihm die beunruhigende Gewissheit verschafft, dass es nun bald zu ihrer längst fälligen Konfrontation kommen würde.

Der Truppenübungsplatz. Am Ende der Straße stieg Travis aus dem Wagen. Vor sich sah er im grellen Sonnenlicht den Drahtverhau des äußeren Verteidigungsringes, dahinter eine verrostete Wellblechbaracke und die von zahllosen Einschlägen zerschrammten Betondecken der unterirdischen Bunker. Er durchquerte den Graben und ging auf den Verhau zu. Nach längerem Suchen entdeckte er einen Durchlass. Durch das Gras zog sich eine alte, rissige Landebahn. Gegen die Sonne konnte er in einiger Entfernung zwischen den Tarnmustern der Türme und Bunkeranlagen undeutlich einige vertraute Konturen erkennen: Designs eines Gesichts, einer Körperhaltung, eines Netzes von Nervensträngen. Ein einzigartiges Ereignis bereitete sich hier vor. Unwillkürlich formte Travis die Worte »Elizabeth Taylor«. Plötzlich heulte eine Granate über ihn hinweg.

Bewusstseinsspaltung: Was gab es in Nagasaki zu lachen? Travis rannte über die rissige Betonfläche auf den Drahtverhau zu. Durch die Bäume stieß mit dröhnendem Motor der Helikopter auf ihn herab; seine Rotoren wirbelten dichte Schwaden von Blättern und Papierabfällen auf. Zwanzig Schritte vom Drahtverhau entfernt verfing sich Travis in den Stacheldrahtrollen und stürzte. Der Helikopter wurde scharf abgefangen; man sah, wie der Pilot durch den plötzlichen Druck nach vorn geworfen wurde. Während Travis weiterrannte, zuckten rings um ihn herum die Schatten der immer wieder herabstoßenden Maschine wie geheimnisvolle Idiogramme auf. Dann drehte der Helikopter ab und flog über die Bunker davon. Als Travis den Wagen erreichte und sich bückte, um seine aufgeschürften Knie zu betasten, sah er die junge Frau im weißen Kleid die Straße entlanggehen. Sie wandte ihm ihr entstelltes Gesicht zu und sah ihn mit nachdenklichen Augen an. Travis wollte ihr gerade etwas zurufen, als er von einem plötzlichen Brechreiz gepackt wurde; er warf sich vornüber auf das Verdeck des Wagens und erbrach seinen ganzen Mageninhalt.

Todessequenzen. Während dieser kurzen Zeitspanne, als er auf dem Rücksitz des Pontiac saß, beschäftigte Travis der Gedanke an all die Dinge, die ihn nun von einem normalen Leben trennten, wie er es so lange geführt hatte. Seine Frau, die Patienten in der Anstalt (zukünftige Kader des Widerstands in dem »Weltkrieg«, den er zu entfesseln hoffte), sein ungeklärtes Verhältnis zu Catherine Austen – all das erschien ihm so fragmentiert wie die überlebensgroßen Porträts von Elizabeth Taylor und Sigmund Freud an den Plakatwänden entlang der Straße, so unwirklich wie der Krieg in Vietnam, den die Filmgesellschaften nun von neuem in Gang gebracht hatten. Je tiefer er in diese Psychose geriet, deren erste Anzeichen er während seiner einjährigen Tätigkeit am Hospital festgestellt hatte, desto mehr begrüßte er diese Reise in die Dämmerzonen eines vertrauten Landes. Sie fuhren die ganze Nacht hindurch und erreichten im Morgengrauen die Vorstädte der Hölle. Der fahle Lichtschein der Raffinerien spiegelte sich auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Niemand würde sie dort bei ihrer Ankunft erwarten. Seine beiden Begleiter – am Steuer der Bomberpilot in seiner verblichenen Fliegerkluft, und neben ihm die attraktive junge Frau mit den Strahlenverbrennungen – sprachen während der ganzen Fahrt kein Wort mit ihm. Hin und wieder wandte sich die junge Frau mit einem schwachen Lächeln um ihren deformierten Mund zu ihm um. Travis, der zögerte, sich ihr anzuvertrauen, vermied es bewusst, darauf zu reagieren. Wer waren sie, diese seltsamen Zwillinge, diese Abgesandten seines eigenen Unterbewusstseins? Stundenlang fuhren sie durch die endlosen Vororte der Stadt. Immer zahlreicher wurden die Plakatwände zu beiden Seiten der Straße, überdimensionale Abbildungen von Napalm-Bombardements in Vietnam und den Todessequenzen von Elizabeth Taylor und Marilyn Monroe, terrassenförmig eingestuft in die Landschaften von Dien Bien Phu und dem Mekong-Delta.

Der Verband der Kriegsgeschädigten. Auf Anraten der jungen Frau trat Travis dem VdK bei und übte zusammen mit einer Gruppe von dreißig Hausfrauen das Simulieren von Kriegsverletzungen. Später würden sie dann mit den Vorführteams des Roten Kreuzes auf Tournee gehen. Schwere Hirnverletzungen sowie Unterleibsblutungen als Folge von Verkehrsunfällen ließen sich unter Verwendung entsprechend gefärbter Harze täuschend echt darstellen und erforderten einen Zeitaufwand von höchstens 30 Minuten. Größere Umstände verursachte das fachmännische Auftragen von Strahlenverbrennungen; hier musste man für das Make-up drei bis vier Stunden ansetzen. Tod dagegen erforderte nichts weiter, als dass man regungslos am Boden lag. Sie hatten ein Appartement gemietet, von dem man einen Blick auf den Zoo hatte. Dort wusch sich Travis nach dem Training das Make-up der simulierten Verletzungen vom Gesicht und von den Armen. Diese eigenartige Pantomime, überlagert vom Gestank aus den Raubtierzwingern an diesem schwülen Sommerabend, schien keinen anderen Zweck zu haben als den, seine beiden Begleiter zufriedenzustellen. Im Spiegel des Badezimmers sah er hinter sich im Flur die hagere Gestalt des Piloten, sein schmales Gesicht mit den gedankenverlorenen Augen halb verdeckt von der Schirmmütze, und daneben die junge Frau im weißen Kleid. Beide beobachteten ihn schweigend. In den intelligenten Gesichtszügen der jungen Frau zeigte sich gelegentlich ein plötzlicher nervöser Reflex offener Feindseligkeit. Beunruhigt stellte Travis fest, dass er fast ständig an sie denken musste. Wann würde sie endlich etwas zu ihm sagen? Vielleicht erkannte sie aber auch wie er, dass alle Entscheidungen, die ihn betrafen, auf einer anderen Ebene getroffen wurden…

Piratensender. Es gab eine Anzahl geheimer Sendungen, die Travis regelmäßig abhörte: (1) Rückenmark: Bilder von Dünen und Kratern; ausgetrocknete Teiche, von Flugasche zugeweht, mit den terrassenförmig eingearbeiteten Gesichtern von Freud, Eatherly und Garbo; (2) Thorax: die rostigen U-Boot-Wracks auf dem Strand der Bucht von Tsingtao in der Nähe der zerstörten deutschen Befestigungsanlagen, auf deren Wänden die chinesischen Reiseführer die blutigen Abdrücke ihrer Hände hinterließen; (3) Sakralgegend: V. J.-Day; bei Nacht die Körper der gefallenen japanischen Soldaten in den Reisfeldern. Als er am nächsten Tag wieder nach Shanghai ging, pflanzten die Bauern zwischen den Leichen bereits wieder Reis. Erinnerungen und Botschaften, von anderen ausgestrahlt, die in ihrem Zusammenwirken den Brennpunkt seiner eigenen Vorstellungen und Gedanken verschoben. Im Eingang zu seinem Appartement waberte das tote Gesicht des Bomberpiloten wie das Emblem des Unbekannten Soldaten aus dem Dritten Weltkrieg. Es hatte auf Travis eine lähmende, auszehrende Wirkung.

Marey’s Chronogramme. Dr. Nathan reichte Margaret Travis die Abbildung über seinen Schreibtisch. »Marey’s Chronogramme sind mehrfach belichtete Aufnahmen, in denen das Element der Zeit sichtbar wird – der Gang einer menschlichen Gestalt zum Beispiel erscheint als eine Serie von dünenartigen Erhebungen.« Dr. Nathan ließ sich von Catherine Austen, die von dem Brutkasten im Hintergrund des Büros herbeigeeilt war, eine Zigarette geben. Ohne auf ihren fragenden Gesichtsausdruck zu achten, fuhr er fort: »Die brillante Leistung Ihres Gatten bestand darin, diesen Prozess umzukehren. Er benutzte Fotografien von ganz alltäglichen Gegenständen und Erscheinungen – dieses Büro beispielsweise, die New Yorker Skyline, ein nackter Frauenkörper oder das Gesicht eines katatonischen Patienten. Diese Aufnahmen behandelte er so, als seien sie bereits Chronogramme; und nun extrahierte er aus ihnen das Element der Zeit.« Dr. Nathan machte eine Pause und zündete sich umständlich seine Zigarette an. »Das Ergebnis war äußerst bemerkenswert. Eine völlig andere Welt kam zum Vorschein. Die vertrauten Erscheinungen unseres Lebens, selbst unsere geringfügigsten Gesten, erhielten eine vollkommen andere Bedeutung. Nehmen wir zum Beispiel die Pose eines Filmstars, oder dieses Hospital…«

»War mein Mann nun eigentlich Arzt oder Patient?«Dr. Nathan nickte nachsichtig und blickte über seine zusammengelegten Fingerspitzen zu Catherine Austen hinüber. Was Travis wohl in diesen Augen, in diesen erschreckenden Tiefen der Zeit gesehen hatte? »Mrs. Travis, ich bin mir nicht sicher, ob diese Frage jetzt noch sinnvoll ist. Bei diesen Dingen haben wir es mit einer ganz anderen Art von Relativität zu tun. Was uns jetzt beschäftigt, sind die Implikationen – vor allem der Komplex von Vorstellungen und Ereignissen, die den Dritten Weltkrieg betreffen. Und zwar nicht die Frage nach der politischen und militärischen Wahrscheinlichkeit eines solchen Krieges, sondern die Frage nach der wesensmäßigen Identität hinter einer solchen Vorstellung. Für uns hat die Vorstellung von einem Dritten Weltkrieg vielleicht eher etwas mit einem abgründigen Pop-Art-Display gemein, für Ihren Gatten dagegen drückt sich darin das Versagen seiner Psyche aus, ihr eigenes Bewusstsein zu akzeptieren, und darüber hinaus verkörpert sie für ihn seine Revolte gegen das bestehende Raum-Zeit Kontinuum. Dr. Austen wird mir hier vielleicht widersprechen, aber mir scheint, dass es seine Absicht ist, den Dritten Weltkrieg auszulösen – freilich nicht im üblichen Sinne des Wortes: die Blitzkriege werden auf den Schlachtfeldern unseres Hypothalamus ausgetragen werden, in den Körperstellungen, die wir einnehmen, und in unseren Traumata, die wir in den Erhöhungswinkeln einer Wand oder eines Balkons nachgeahmt sehen.«

Zoom-Linse. Dr. Nathan hielt inne. Widerstrebend bewegten sich seine Augen zu der Spiegelreflexkamera, die auf einem Stativ neben der ledernen Couch stand. Wie konnte er dieser feinfühligen und reservierten Frau begreiflich machen, dass ihr eigener Körper mit seiner restlos vertrauten Geometrie und den taktilen Landschaften seiner Empfindungen ihre einzige Verteidigung gegen die nur allzu deutlichen Absichten ihres Mannes war? Und vor allem: wie konnte er sie dazu bewegen, ihm für eine Serie von Aufnahmen Modell zu stehen, die sie zweifellos als obszön empfinden würde?

Das Haut-Areal. Nach ihrem Treffen auf der Ausstellung von Kriegsverletzungen im neuen Konferenzsaal der Royal Society of Medicine kehrten Travis und Catherine Austen in das Appartement am Zoo zurück. Im Lift machte sie den Versuch, ihn zu küssen, aber er wich ihr aus. Als sie oben waren, führte er sie ohne Umschweife ins Schlafzimmer. Mit einem leicht indignierten Zug um den Mund sah sie sich den Satz Enneper-Modelle an, die er ihr zeigte. »Was ist das?« Sie strich mit den Fingerspitzen über die ineinandergefügten Würfel und Kegel – mathematische Modelle des Pseudo-Raums. »Zündmechanismen, Catherine… für eine Höllenmaschine.« Ihr Geschlechtsakt, wenig später, war eine hastig zelebrierte Kulthandlung, diktiert von den Abmessungen und räumlichen Proportionen des Appartements. In den Stellungen, die sie einnahmen, in den Konturen von Hüfte und Brustkorb, erforschte Travis die Geometrie und volumetrische Zeit des Schlafzimmers, dann die des Kuppelbaues der Festival Hall und der hervorstehenden Balkoneinheiten an der Fassade des London Hilton, und schließlich die des verlassenen Truppenübungsplatzes. Hier wurden die kreisrunden Markierungen der Zielflächen in Travis’ Vorstellung identisch mit den Brüsten, die sich unter dem Kleid der jungen Frau mit den Strahlenverbrennungen abzeichneten. Auf der Suche nach ihr fuhr er mit Catherine Austen bei Anbruch der Dämmerung durch die düsteren Randgebiete der Stadt, und bald hatten sie in dem Labyrinth von Plakatwänden die Orientierung verloren. Die Gesichter von Sigmund Freud und Jeanne Moreau beherrschten ihre letzten gemeinsamen Stunden.

Neoplasma. Später, auf der Flucht vor Catherine Austen und der unheilvollen Gestalt des Bomberpiloten (der ihn neuerdings vom Dach des Löwenzwingers aus beobachtete), fand sich Travis in einem kleinen Vorstadthaus zwischen den Wassertanks von ­Staines und Shepperton wieder. Er saß in dem leeren Wohnzimmer, dessen weit geöffnete Flügeltüren den Blick auf einen verwilderten Garten freigaben. Seine Nachbarin, eine krebskranke Frau in mittleren Jahren, die den weißen Bungalow auf dem angrenzenden Grundstück bewohnte, beobachtete ihn während der langen Sommernachmittage. Hinter den durchbrochenen Gardinen wirkte ihr immer noch anziehendes Gesicht wie eine Totenmaske. Den ganzen Tag ging sie in ihrem kleinen Schlafraum auf und ab. Gegen Ende des zweiten Monats, als die Besuche des Hausarztes immer häufiger wurden, zog sie sich am offenen Fenster aus, und durch die dünnen Vorhänge sah man deutlich, wie ausgezehrt ihr Körper war. Jeden Tag, wenn er sie so aus seinem Zimmer beobachtete, entdeckte er einen neuen Aspekt ihres zerfurchten und verwüsteten Körpers; die schwarzen Brüste erinnerten ihn an die Augen des Bomberpiloten, die Operationsnarben an ihrem Unterleib glichen den Strahlenverbrennungen der jungen Frau. Nach ihrem Tod folgte er im weißen Pontiac dem Trauerzug, der sich zwischen den Wassertanks hindurch bewegte.

Die verlorene Symmetrie der Blastosphäre. »Die Tatsache, dass er sich dagegen sträubt, sein eigenes Bewusstsein zu akzeptieren«, schrieb Dr. Nathan, »reflektiert möglicherweise gewisse Positionsschwierigkeiten im unmittelbaren Bezug auf Raum und Zeit. Die rechtwinklig gebrochene Spirale eines Treppenhauses mag ihn an vergleichbare Strukturen in der Chemie des lebenden Organismus erinnern. Eine solche Vorstellung lässt sich außerordentlich erweitern – zum Beispiel identifiziert er das Muster der Balkonvorsprünge am London Hilton mit den im Laufe der Evolution verloren gegangenen Kiemenschlitzen der sterbenden Filmschauspielerin Elizabeth Taylor. Viele von Travis’ Überlegungen beschäftigen sich mit der – wie er es nennt – verlorenen ­Symmetrie der ­Blastosphäre, dem primitiven Vorläufer des Embryos als letzter Struktur, in der die vollkommene Symmetrie aller Ebenen noch bewahrt ist. Travis ist der Gedanke gekommen, unsere Körper könnten die verborgenen Rudimente einer Symmetrie enthalten, die nicht nur an der vertikalen, sondern auch an der horizontalen Achse ausgerichtet ist. Man wird erinnert an Goethes Vorstellung, dass der Schädel aus modifizierten Vertebrae geformt ist – und dass in ähnlicher Weise der Knochenbau des Beckens der Rest eines einstigen Sakralschädels ist. Die Ähnlichkeit zwischen den Histologien der Lunge und der Nieren ist schon früher festgestellt worden. Man wird auch an andere Korrespondenzen von respiratorischer und urogenitaler Funktion erinnert – verkörpert sowohl in landläufigen Mythologien (die angebliche Äquivalenz in der Größe der Nase und des Penis) als auch in psychoanalytischen Symbolismen (›Augen‹ als Code für ›Hoden‹). Abschließend lässt sich sagen: Es hat den Anschein, als ob Travis’ außerordentlich sensibles Reagieren auf die Geometrie und die räumlichen Proportionen seiner Umwelt – und deren unmittelbare Übersetzung in den psychologischen Bereich – einen verspäteten Versuch darstellt, zu einer symmetrischen Welt zurückzufinden; einer Welt, in der die vollkommene Symmetrie der Blastosphäre wiederhergestellt ist – mit anderen Worten: eine Übernahme der ›Mythologie der Amniotischen Rückkehr‹. In seiner Vorstellung repräsentiert der Dritte Weltkrieg die endgültige Selbstzerstörung einer asymmetrischen Welt, die letzten selbstmörderischen Zuckungen der rechtsdrehenden DNA-Helix. Der menschliche Organismus ist eine Schreckensgalerie, in der er sich in der Rolle des unfreiwilligen Betrachters wiederfindet…«

Eurydike auf einer Gebrauchtwagenschau. Margaret Travis blieb in dem menschenleeren Foyer des Kinos stehen und sah sich die Fotos in den Schaukästen an. Im schwachen Licht neben dem Eingang zum Saal sah sie die dunkelgekleidete Gestalt von Captain Webster. Die letzten Wochen waren ein Albtraum für sie gewesen – Webster mit seinen obszönen Fragen und seiner Kamera mit dem Teleobjektiv. Es schien ihm ein unverhohlenes Vergnügen zu bereiten, aus der Beobachtung und Analyse ihrer Person gleichsam im Alleingang einen zweiten Kinsey-Report zusammenzustellen… Körperstellungen und -ebenen, wo und wann Travis ihren Körper berührt hatte – warum fragte er nicht Catherine Austen? Und dann dieser Tick von ihm, riesenhafte Vergrößerungen dieser Fotos an Plakatwände zu kleben, angeblich um sie vor Travis zu retten… Sie betrachtete die ausgestellten Filmfotos, Standaufnahmen aus jenem kunstvollen und poetischen Film, in dem Cocteau all die Mythen seiner eigenen Rückkehr vereinigt hatte. Aus einem plötzlichen Impuls, Webster zu ärgern, trat sie durch die Seitentür hinaus und entfernte sich rasch. Auf ihrem Weg kam sie an einem eingezäunten Grundstück vorbei, auf dem Gebrauchtwagen mit Nummern an den Windschutzscheiben standen. Vielleicht würde sie hier ihren Abstieg in die Unterwelt machen. Eurydike auf einer Gebrauchtwagenschau?

Die KZ-Stadt. In der Kühle der Nacht passierten sie die rußgeschwärzten Betonklötze der Bunkeranlagen und Türme, zur Hälfte im Schutt versunkene Blockhäuser, gigantische Kanalisationsrohre voller Autoreifen, Fußgängerbrücken, die sich über aufgebrochene Straßen spannten. Travis folgte dem Bomberpiloten und der jungen Frau über den verwaschenen Schotter. Sie stolperten über die bloßgelegten Fundamente einer Wachbaracke auf dem Schießplatz. Im flackernden Lichtschein der Raffinerien ging Travis durch die Vororte der Hölle. An den Straßenecken standen die Ruinen ausgebombter Filmtheater; verblichene Plakatwände säumten die leeren Straßen. Auf einem Autofriedhof entdeckte er das ausgebrannte Wrack des weißen Pontiac. Er irrte weiter durch die menschenleeren Vorstädte. Die abgestürzten Bomber lagen unter den Bäumen; Gras wuchs durch ihre zerfetzten Flügel. Der Bomberpilot half der jungen Frau in ein Cockpit. Travis begann, auf dem Beton der Zielfläche einen Kreis zu markieren.

Wie die Garbo starb. »Der Film ist ein einzigartiges Dokument«, erklärte Webster, während er Catherine Austen in den Vorführraum im Erdgeschoss führte. »Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein merkwürdiger Wochenschaustreifen von den neuesten Tableau-Skulpturen; er zeigt einige Gipsmodelle von Filmstars und Politikern in bizarren Posen; wie die Modelle gemacht wurden, können wir nicht feststellen; es scheint aber, als seien sie von den lebenden Originalen abgenommen worden; L.B.J. und Mrs. Johnson, Burton und die Taylor; es gibt sogar eines von der sterbenden Garbo. Man hat uns sofort gerufen, als man den Filmstreifen entdeckte.« Er gab dem Mann im Vorführraum ein Zeichen. »Einer der Gipsabgüsse ist von Margaret Travis – ich will ihn nicht näher beschreiben, aber Sie werden sehen, weshalb wir besorgt sind. Übrigens, ich höre, dass man gestern eine Touring-Version des ›Dodge 38‹ von Kienholz in voller Fahrt auf einer Autostraße gesehen hat; ein weißes Wrack, auf dessen Rücksitz die Plastikpuppen eines Piloten aus dem Dritten Weltkrieg und eines Mädchens mit Verbrennungen im Gesicht, inmitten weggeworfener Bubblegum-Bilderserien aus dem Krieg und leerer Packungen von Antibabypillen, beim Geschlechtsakt zu sehen waren.«

Kampfzone D. Auf seinem Weg über den Parkplatz hielt Dr. Nathan inne und schirmte mit dem rechten Arm seine Augen gegen das grelle Sonnenlicht ab. Während der vergangenen Woche war eine ganze Serie riesiger Plakatwände an den Straßen rings um das Hospital aufgestellt worden, so dass das Gebäude fast darin verschwand. Eine Gruppe von Arbeitern auf einem fahrbaren Gerüst war gerade dabei, die letzten Plakatsegmente anzukleben – Teile eines 30 Meter langen Displays, das einen Ausschnitt aus einer Sanddüne darzustellen schien. Doch als er es genauer betrachtete, stellte Dr. Nathan fest, dass es in Wirklichkeit eine riesenhafte Vergrößerung der Hautfläche über der Wölbung des Darmbeins war. Auf den übrigen Plakatflächen erkannte Dr. Nathan weitere Fragmente des menschlichen Körpers: den Teil einer Unterlippe, eines rechten Nasenflügels und eines weiblichen Perineums. Jedes dieser Fragmente war so stark vergrößert, dass es nur noch aus geometrischen Mustern zu bestehen schien; nur ein Spezialist für anatomische Detailstudien war in der Lage, die einzelnen Muster zu identifizieren. Um diesen ganzen Frauenkörper aus solchen Details zusammenzusetzen, wie er sich hier terrassenförmig eingelagert in die Koordinaten eines Sandmeeres abzeichnete, würde man mindestens 500 solcher Plakatwände benötigen. Über den Köpfen der Arbeiter kreiste ein Helikopter, dessen Pilot die Arbeiten überwachte. Der Luftdruck seiner Rotoren riss einige der noch lose hängenden Plakatbahnen ab. Sie wirbelten über die Straße und blieben zerknittert an der Kühlerverkleidung eines der geparkten Wagen hängen.

Die Schreckensgalerie. Beim Betreten der Ausstellung sieht Travis die Kriegsgräuel von Vietnam und dem Kongo nachgebildet in ihrer Wechselbeziehung zum gewaltsamen Tod der Elizabeth Taylor; im Geiste sieht er sich, wie er sich des sterbenden Filmstars annimmt, wie er auf den zugigen Veranden des London Hilton ihre zerschossenen Lungenflügel erotisiert. Er träumt von Max Ernst, dem Herrn der Vögel; von »Europa nach dem Regen«; von der menschlichen Rasse; von Caliban, der auf einem von Auswurf und Erbrochenem verschmierten Spiegel schläft.

Die Gefahrenzone. Webster rannte im Dämmerlicht hinter Margaret Travis her. Er holte sie ein am Haupteingang des Filmbunkers, auf dessen von Rostflecken durchbrochene Betonwände in verblichenem Technicolor die Wangenpartie eines riesigen Gesichts aufgemalt war. »Also, Mann Gottes…!« Sie sah verärgert auf seinen Arm herunter, mit dem er sie am Oberkörper festhielt, und riss sich mit einem energischen Ruck von ihm los. »Mrs. Travis! Was glauben Sie wohl, weshalb wir alle diese Aufnahmen gemacht haben?« Webster fasste sich an das zerrissene Revers seiner Jacke; dann zeigte er auf eine Figur in der Uniform eines chinesischen Infanteristen, die in der Austrittsöffnung eines Kanalisationsrohres stand. »Die ganze Gegend ist voll von diesen Dingern – Sie werden ihn niemals finden.« Während er noch sprach, erleuchtete ein Scheinwerfer in der Mitte des Flugplatzes das Zielgebiet. Gegen den Lichtschein sah man umrisshaft die starren, lebensgroßen ­Puppengestalten.

Das riesige Gesicht.