Crash - J.G. Ballard - E-Book

Crash E-Book

J.G. Ballard

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Beschreibung

Die Hauptperson dieses zeitlos radikalen Romans mit Namen Ballard führt eine auf fade Gewohnheiten ­reduzierte Ehe. Nach einem bizarren Autounfall kommen er und seine Frau Catherine in ­Kontakt mit dem Kreis um den exzentrischen Arzt Dr. Robert Vaughan, dessen obsessive Forschungen und Praktiken den bei Autounfällen freigesetzten sexuellen Energien gelten.

Während Vaughans fanatischer Traum, einen tödlichen Frontalunfall mit dem Filmstar Elizabeth Taylor herbeizuführen, zu misslingen droht, ersinnt der ihm längst verfallene Ballard immer extremere Verkehrsunfälle, um die neu entdeckte Lust in der perversen Verschmelzung von Mensch und Maschine bis zum Äußersten zu treiben.

J.G. Ballards meisterhafte Parabel auf die Todessehnsucht des technologischen Fortschrittswahns amalgamiert den massenhaften Individual- mit perversem Geschlechtsverkehr. Weit entfernt davon, im Zeitalter von Internet und Elektromobilität an Aktualität eingebüßt zu haben, bildet Ballards exzessive Fiktion und kalte Analyse ein Schlüsseltext nicht nur für das 20. Jahrhundert. Ballards Roman anvancierte nicht zuletzt aufgrund der Verfilmung durch David Cronenberg zu einem exquisiten ­Kultbuch.

 

»Ich würde Crash als den ersten pornographischen Roman bezeichnen, der auf Technologie beruht. In gewissem Sinne ist Pornographie die politischste Form von Literatur. Crash ist vor allem eine Warnung vor den grell erleuchteten ­Gebieten, die sich an den Rändern der technologischen Landschaften abzeichnen.« J.G. Ballard

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Seitenzahl: 287

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Crash

J.G. BallardCrash

Aus dem Englischen von

Sabine Schulz

DIAPHANES

1

Vaughan starb gestern bei seinem letzten Autounfall. Im Laufe unserer Freundschaft hatte er bei vielen Zusammenstößen ­seinen Tod geprobt, aber dies war sein einziger echter Unfall. Sein Auto, auf Kollisionskurs mit der Limousine des Filmstars, schleuderte über die Brüstung der Überführung zum Londoner Flughafen und krachte durch das Dach eines Busses voller Flugpassagiere. Als ich mich eine Stunde später zwischen den Einsatzkräften der Polizei hindurchschob, lagen die zerquetschten Leichen der Pauschal­touristen noch immer quer über den Vinylsitzen wie ein Blutsturz der Sonne. Am Arm ihres Chauffeurs stand die Filmschauspielerin Elizabeth Taylor, mit der zusammen zu sterben Vaughan sich viele Monate lang erträumt hatte, verloren unter den kreisenden Blaulichtern. Als ich mich über Vaughans Leichnam beugte, führte sie eine behandschuhte Hand an ihre Kehle.

Ob sie in Vaughans Pose das Schema jenes Todes erkennen konnte, den er für sie ausersehen hatte? In den letzten Wochen seines Lebens dachte Vaughan an nichts anderes als an ihren Tod, eine Krönungsfeier der Wunden, die er mit höchstritterlicher Ergebenheit inszenierte. Die Wände seiner Wohnung nahe den Filmstudios in Shepperton waren tapeziert mit den Fotos, die er jeden Morgen, wenn sie ihr Londoner Hotel verließ, mit seinem Zoomobjektiv aufgenommen hatte, von den Fußgängerbrücken über die Autobahnen gen Westen oder vom Dach des Studio-Parkhauses. Auf dem Kopierer in meinem Büro hatte ich für Vaughan, wenn auch mit einigem Unbehagen, Details ihrer Knie und Hände, der Innenseite ihrer Oberschenkel oder des linken Scheitelpunkts ihres ­Mundes vergrößert und ihm die Ausdrucke stapelweise ­ausgehändigt wie Teillieferungen eines Todesurteils. In seiner Wohnung sah ich ihm dabei zu, wie er die Einzelteile ihres Körpers den Abbildungen grotesker Wunden aus einem Lehrbuch für plastische Chirurgie zuordnete.

In seiner Vision eines Autounfalls mit der Schauspielerin war Vaughan wie besessen von Wunden und Stoßwirkungen aller Art – vom sterbenden Chrom und den nachgebenden Motorblöcken ihrer frontal zusammenstoßenden Wagen, deren komplexe Kolli­sionen als Zeitlupenfilme in Endlosschleife abliefen; von den je gleichen Wunden, die ihren Körpern zugefügt wurden; vom Bildnis ihres von Scherben überzuckerten Gesichts, wenn sie die getönte Windschutzscheibe durchbrach wie eine totgeborene Aphrodite; von den offenen Frakturen der gegen die Handbremse gepressten Oberschenkel und vor allem von den Verletzungen ihrer beider Genitalien, ihre Gebärmutter, durchbohrt vom Sporn des Herstelleremblems, sein Samen, wie er sich über die leuchtenden Zifferblätter ergoss, die auf ewig die letzte Motortemperatur, den letzten Benzinstand verzeichneten.

Nur in jenen Momenten, in denen er mir diesen letzten Unfall schilderte, kam Vaughan zur Ruhe. Er sprach von den Wunden und Kollisionen mit der erotischen Zärtlichkeit eines lange Zeit getrennten Liebenden. Als er die Fotografien in seiner Wohnung durchsah und mir halb zugewandt dastand, brachte mich der Anblick seiner schweren Lenden mit dem fast völlig erigierten Penis zum Schweigen. Solange er mich mit seinem Geschlecht provozierte, das er so beiläufig zum Einsatz brachte, als könnte er sich seiner jederzeit und für immer entledigen, würde ich ihn nie verlassen, das wusste er.

Als er mir vor zehn Tagen das Auto aus der Garage meines Apartmenthauses stahl, war er die betonierte Zufahrtsrampe hinaufgeschossen wie eine scheußliche Maschine, die einer Falle entkommen war. Gestern lag seine Leiche unter den Scheinwerferkegeln der Polizei am Fuß der Überführung, halb verborgen unter einem filigran gearbeiteten Blutschleier. Die verkrümmten Stellungen seiner Beine und Arme, die blutige Geometrie seines Gesichts wirkten wie Parodien jener Unfallfotografien, von denen die Wände seiner Wohnung voll waren. Ein letztes Mal sah ich hinab auf seine gewaltigen, in Blut schwimmenden Lenden. Zwanzig Meter entfernt, im Schein der kreisenden Blaulichter, stand wankend die Schauspielerin am Arm ihres Chauffeurs. Vaughan hatte davon geträumt, im Augenblick ihres Orgasmus zu sterben.

Bis zu seinem Tod war Vaughan an zahlreichen Autounfällen beteiligt gewesen. Wenn ich an Vaughan denke, sehe ich ihn in den gestohlenen Autos, die er zu Schrott gefahren hat, sehe ihn auf immer umfangen von deformiertem Metall und Plastik. Vor zwei Monaten, als er zum ersten Mal seinen eigenen Tod geprobt hatte, hatte ich ihn auf der unteren Ebene der Hochbrücke zum Flughafen gefunden. Ein Taxifahrer half zwei schlotternden Stewardessen aus einem Kleinwagen, mit dem Vaughan kollidiert war, nachdem er abrupt aus der Mündung einer versteckten Zufahrt hervorgeschossen kam. Als ich zu ihm hinüberrannte, erblickte ich Vaughan durch die zerborstene Windschutzscheibe des weißen Cabrios, das er auf dem Parkplatz des Oceanic Terminal geknackt hatte. Sein ausgemergeltes Gesicht mit dem vernarbten Mund war von gebrochenen Regenbogen beschienen. Ich riss die eingedrückte Beifahrertür aus ihrer Verankerung. Vaughan saß auf dem mit Glasscherben übersäten Sitz und begutachtete selbstgefällig seine Haltung. Seitlich am Körper hielt er seine Hände, die Handflächen nach oben gekehrt und voller Blut aus seinen verletzten Kniescheiben. Er musterte das Erbrochene an den Ärmelaufschlägen seiner Lederjacke und langte nach vorn, um die Spermatröpfchen zu berühren, die am Armaturenbrett klebten. Ich versuchte, ihn aus dem Wagen zu heben, aber seine Hinterbacken waren so fest zusammengepresst, als seien sie beim Austreiben der letzten ­Tropfen aus seinen Samenleitern im Krampf erstarrt. Neben ihm auf dem Sitz lagen die zerrissenen Fotografien der Filmschauspielerin, die ich an diesem Morgen im Büro für ihn kopiert hatte. Vergrößerte Ausschnitte von Lippen und Augenbraue, Ellbogen und Brustansatz bildeten ein gebrochenes Mosaik.

Der Autounfall und seine eigene Sexualität waren eine endgültige Verbindung eingegangen. Ich sehe ihn vor mir, nachts, mit nervösen jungen Frauen auf den zerfetzten Rückbänken von Autowracks auf Schrottplätzen, sehe vor mir die Fotos der Stellungen forcierter Geschlechtsakte. Ihre angestrengten Gesichter und gespannten Schenkel lagen im Blitzlicht seiner Polaroidkamera wie die erschreckten Überlebenden einer U-Boot-Katastrophe. Die strebsamen Nutten, die Vaughan in den 24-Stunden-Cafés und Supermärkten des Londoner Flughafens auflas, waren die engsten Verwandten jener Patientinnen, die seine Chirurgie-Lehrbücher illustrierten. Als er sein Beuteschema vorsätzlich auf versehrte Frauen ausrichtete, war Vaughan wie besessen von Gasödemen, Gesichtswunden und Genitalverletzungen.

Durch Vaughan entdeckte ich die wahre Bedeutung des Autounfalls, von Schleudertraumen und sich überschlagenden Wagen, erfuhr die Ekstasen des Frontalzusammenstoßes. Gemeinsam besuchten wir das Road Research Laboratory dreißig Kilometer westlich von London und schauten zu, wie die präparierten Fahrzeuge in Zielblöcke aus Beton krachten. Später dann, in seiner Wohnung, führte Vaughan Filme von Testkollisionen in Zeitlupe vor, die er mit seiner Schmalfilmkamera aufgenommen hatte. Wir saßen im Dunkeln auf Fußbodenkissen und sahen den lautlosen Kollisionen zu, die über unseren Köpfen an der Wand entlangflimmerten. Erst lullten mich die Sequenzen zusammenstoßender Autos in Endlosschleife ein, dann erregten sie mich. Später allein im grellgelben Schein der Natriumlampen über die Autobahn fahrend, sah ich mich selbst am Steuer dieser aufprallenden Fahrzeuge.

In den Monaten darauf verbrachten Vaughan und ich viele Stunden auf den Schnellstraßen nördlich des Flughafens. An warmen Sommerabenden reihte sich auf diesen Rennstrecken ein entsetzlicher Zusammenstoß an den nächsten. Wir hörten Polizei­funk über Vaughans Radio und zogen von Unfall zu Unfall. Oft hielten wir im Flutlicht größerer Unfallstellen und sahen zu, wie die Einsatzkräfte von Feuerwehr und Polizei versuchten, mit Schweißbrennern und Hebevorrichtungen bewusstlose Ehefrauen zu befreien, die neben ihren toten Männern eingeklemmt waren, oder wurden Zeugen, wie ein zufällig des Wegs gekommener Arzt an einem Sterbenden herumtastete, der unter einem umgestürzten LKW feststeckte. Zuweilen wurde Vaughan von den anderen Schaulustigen weggezogen oder musste sich mit den Rettungskräften um seine Kameras prügeln. Worauf es Vaughan vor allem abgesehen hatte, waren Frontalcrashes gegen die Betonpfeiler von Autobahnbrücken, die melancholische Verbindung eines zerschmetterten Fahrzeugwracks am begrünten Randstreifen mit der heiter-gleichmütigen Bewegungsskulptur des Betons.

Einmal kamen wir als erste zu einem verunglückten Wagen und seiner verletzten Fahrerin, einer Frau mittleren Alters, die als Kassiererin in der Schnapsabteilung des Duty-Free-Shops am Flug­hafen arbeitete. Wankend saß sie in der eingedrückten Fahrer­kabine, ihre Stirn gespickt mit den wie Edelsteine funkelnden Splittern der getönten Windschutzscheibe. Als ein Polizeiauto mit zuckendem Blaulicht über die Autobahnbrücke herankam, wandte Vaughan sich ab, um rasch seine Kamera samt Blitzgerät zu holen. Ich nahm die Krawatte ab und tastete hilflos nach den Verletzungen der Frau. Sie starrte mich wortlos an und sank über den Sitz zur Seite. Ich sah das Blut ihre weiße Bluse tränken. Als Vaughan das letzte Bild geschossen hatte, beugte er sich in das Auto hinein, nahm ihr Gesicht vorsichtig zwischen seine Hände und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Wir beide halfen, sie auf die Tragbahre zu heben.

Während wir zu Vaughans Wohnung fuhren, erkannte er auf dem Vorplatz einer Autobahnraststätte eine Flughafennutte wieder, eine Kinoplatzanweiserin auf Teilzeitbasis, die sich permanent um das defekte Hörgerät ihres kleinen Sohnes sorgte. Als sie hinter mir saßen, beklagte sie sich bei Vaughan über meinen nervösen Fahrstil, doch sein Blick lag geistesabwesend auf ihren Bewegungen, er animierte sie geradezu, mit Händen und Knien zu gestikulieren. Auf einem menschenleeren Parkhausdach in Northolt stand ich am Geländer und wartete. Vaughan arrangierte ihre Gliedmaßen in der Haltung der sterbenden Kassiererin. Sein starker Körper, geduckt im Widerschein vorüberstreichender Scheinwerfer, nahm eine Reihe stilisierter Positionen ein.

Vaughan entfaltete seine ganze Obsession für mich, besessen von der mysteriösen Erotik der Wunden: die perverse Logik von im Blut schwimmenden Armaturenbrettern, ­exkrementverschmierten Sicherheitsgurten, mit Hirnmasse gezierten Sonnenblenden. Bei Vaughan löste jeder Unfallwagen ein Zucken der Erregung aus, die komplexe Geometrie eines eingedrückten Kotflügels, die unerwarteten Varianten eines zerquetschten Kühlergrills, die groteske Position eines verbogenen Armaturenbretts, das über die Genitalien eines Fahrers ragte wie in einem wohlbemessenen Akt maschineller Fellatio. Die Intimität von Zeit und Raum eines ­einzelnen Menschenwesens war in diesem Gewebe aus verchromten Messern und mattiertem Glas für die Ewigkeit erstarrt.

Es war eine Woche nach der Beerdigung der Kassiererin, wir fuhren die Westumfahrung des Flughafens entlang durch die Nacht, da zog Vaughan plötzlich zur Seite und erwischte einen riesigen Straßenköter. Beim Aufprall des Körpers, der wie ein dumpfer ­Hammerschlag tönte, und dem Scherbenregen, als das Tier über das Dach geschleudert wurde, war ich mir sicher, dass wir einen Unfalltod sterben würden. Vaughan hielt nicht einmal an. Ich sah zu, wie er beschleunigte und weiterfuhr, sein vernarbtes Gesicht klebte beinahe an der durchschlagenen Windschutzscheibe, wütend fegte er sich die Kügelchen Mattglas von den Wangen. Seine Gewaltakte waren so unberechenbar geworden, dass ich nur noch ein ausgelieferter Zuschauer war. Doch am nächsten Morgen, als wir den Wagen auf dem Flughafenparkdeck zurückließen, machte mich Vaughan in aller Ruhe auf die tiefen Dellen in der Motorhaube und am Dach aufmerksam. Er sah einem Linienflugzeug voller Touristen nach, das in den westlichen Himmel startete, sein bleiches Gesicht zur Miene eines sehnsüchtigen Kindes verzogen. Die langen dreieckigen Einkerbungen am Wagen waren beim Tod eines unbekannten Geschöpfes entstanden, dessen entschwundene Identität in die Geometrie dieses Fahrzeugs eingegangen war. Um wie viel rätselhafter würden unsere eigenen Tode sein, und erst die der Prominenten und Mächtigen?

Überhaupt wirkte dieser erste Tod blass sowohl im Vergleich mit jenen, an denen Vaughan sonst noch beteiligt war, als auch mit den imaginären Toden, die seine Gedanken erfüllten. Um sich gänzlich zu verausgaben, ersann Vaughan einen scheußlichen Almanach imaginärer Automobilkatastrophen und irrwitziger ­Wunden – die Lungen älterer Männer, von Türgriffen durchbohrt, die von ­Lenksäulen gepfählten Brustkörbe junger Frauen, die Wangen gutaussehender Jugendlicher, durchstochen von verchromten Fensterleisten. Diese Wunden waren für ihn der Schlüssel zu einer neuen, einer perversen Technologie entsprungenen Sexualität. Die Bilder dieser Wunden hingen in der Galerie seines Geistes wie Ausstellungsstücke in einem Museumsschlachthaus.

Wenn ich nun an Vaughan denke, wie er unter dem Flutlicht der Polizei an seinem eigenen Blut erstickte, fallen mir die zahllosen imaginären Katastrophen ein, die er mir beschrieb, während wir über die Schnellstraßen rund um den Flughafen fuhren. Er träumte von Botschafterlimousinen, die in querstehende Tanklastzüge voll Butangas rasen, von Taxis mit feiernden Kindern, die unter den grell erleuchteten Schaufenstern menschenleerer Supermärkte frontal ineinander krachen. Er träumte von Zufallsbegegnungen entfremdeter Geschwister, die auf Zufahrtsstraßen zu Chemiefabriken miteinander kollidieren; ihr unbewusster Inzest wird greifbar im aufeinanderprallenden Metall, im Hervorschießen ihrer blutigen Hirnmasse, erblühend zwischen aluminiumbeschichteten Kompressionskammern und Reaktionskolben. Vaughan ersann schwere Auffahrunfälle zwischen erbitterten Feinden, Hasstode, freudig begangen im flackernden Motoröl, das in Straßengräben brannte, brodelnder Autolack im stumpfen Nachmittagslicht der Provinzstädte. Er malte sich die speziellen Unfalltode entflohener Verbrecher aus und jene von Hotelrezeptionistinnen nach Feierabend, eingeklemmt zwischen ihrem Lenkrad und den Schenkeln ihrer Liebhaber, denen sie gerade einen bliesen. Er stellte sich Unfälle frischgebackener Ehepaare vor, die beim Aufprall unter die Hinterachsen außer Kontrolle geratener Schwerlastzüge voll Zucker gedrückt und ineinandergepresst wurden. Er stellte sich Unfälle von Autodesignern vor, den abstraktesten aller möglichen Tode, verwundet und mit promisken Laborantinnen in ihren Autos eingeklemmt.

Vaughan ersann endlose Varianten dieser Kollisionen. Zunächst konzipierte er eine Wiederholungsreihe frontaler Zusammenstöße: ein Kinderschänder und eine überarbeitete Ärztin, die ihren Tod erst beim Frontalzusammenstoß, dann im sich überschlagenden Auto nachstellen; die ehemalige Prostituierte, die gegen eine Betonbrüstung an der Autobahn kracht, ihr übergewichtiger Körper wird durch die zerschellende Windschutzscheibe katapultiert, der klimakterische Schoß von der verchromten Kühlerfigur aufgeschlitzt. Der Anblick ihres Blutes, das über den grellweißen Beton des abendlichen Fahrdamms rinnt, würde einen Polizeitechniker, der die Einzelteile ihrer Leiche in einen gelben Plastiksack kehrte, auf immer verfolgen. In einem alternativen Szenario sah Vaughan, wie sie, als sie sich gerade bückte, um ihren rechten Schuh zu lockern, von einem rückwärts steuernden Schwertransporter auf einer Autobahntankstelle erfasst und gegen die Fahrertür gequetscht wurde; und wie die Konturen ihres Körpers eins wurden mit der blutverschmierten Gussform der Türverkleidung. Er sah, wie sie über das Brückengeländer flog und starb, wie Vaughan selbst einst sterben würde, durch das Dach eines Flughafenbusses krachend, dessen Fracht selbstzufriedener Reiseziele um den Tod dieser kurzsichtigen Frau mittleren Alters vermehrt wurde. Er sah, wie sie, gerade aus ihrem Auto steigend, um sich im Straßengraben zu erleichtern, von einem beschleunigenden Taxi erfasst wurde, sah ihren dreißig Meter weit geschleuderten Körper in einem Sprühnebel aus Urin und Blut.

Ich denke jetzt an die anderen Unfälle, die wir uns vorstellten, die absurden Tode der Verletzten, Verstümmelten, Verzweifelten. Ich denke an die Unfälle der Psychopathen, Unfälle von unwahrscheinlichem Hergang, herbeigeführt aus Niedertracht und Selbstekel, grausame, mit gestohlenen Autos arrangierte Massenkarambolagen unter übermüdeten Büroangestellten auf abendlichen Schnellstraßen. Ich denke an die absurden Unfälle neurasthenischer Hausfrauen auf der Heimfahrt von ihren Venerologen, die auf vorstädtischen Durchgangsstraßen in geparkte Autos rauschen. Ich denke an die Kollisionen von Schizophrenen im Erregungszustand, die frontal gegen in Einbahnstraßen haltende ­Wäschereitransporter stoßen; an Manisch-Depressive, die bei sinnlosen ­Wendemanövern auf Autobahnauffahrten zerquetscht werden; von glücklosen Paranoikern, die mit Vollgas in Ziegelmauern am Ende bekannter Sackgassen rasen; von sadistischen Stationsschwestern, geköpft bei Überschlagunfällen auf komplizierten Autobahnkreuzen; an lesbische Supermarktleiterinnen, die in den eingedrückten Karosserien ihrer Kleinstwagen unter den Augen gleichmütiger Feuerwehrleute mittleren Alters bei lebendigem Leibe verbrennen; von bei Auffahrunfällen zerquetschten autistischen Kindern mit im Tod nicht mehr so wunden Augen; von Bussen voller Schwachsinniger, die in Industriekanälen neben der Straße stoisch alle zusammen den Ertrinkungstod sterben.

Lange vor Vaughans Tod hatte ich begonnen, über meinen eigenen Tod nachzudenken. Mit wem würde ich sterben, was wäre meine Rolle – die des Psychopathen, des Neurasthenikers, des Verbrechers auf der Flucht? Vaughan träumte unaufhörlich von den Toden der Berühmten, malte sich fantastische Autounfälle für sie aus. Rund um die Tode von James Dean und Albert Camus, Jayne Mansfield und John Kennedy hatte er ausgeklügelte Hirngespinste entwickelt. Die Bildergalerie seiner Gedankenwelt enthielt als Zielobjekte Filmschauspielerinnen, Politiker, Wirtschaftsbosse und Fernsehgrößen. Vaughan folgte ihnen mit seiner Kamera überallhin, sein Zoom wachte von der Aussichtsplattform des Oceanic Terminal über den Flughafen, die Zwischengeschosse der Hotels und Studioparkhäuser. Für jeden von ihnen ersann Vaughan den optimalen Verkehrstod. Onassis und seine Frau würden in einer Neuauflage des Kennedy-Attentats den Tod finden. Reagan sah er bei einem komplizierten Auffahrunfall einen stilisierten Tod sterben, welcher Vaughans Fixierung auf Reagans Geschlechtsorgane Ausdruck verlieh, genau wie seine obsessiven Vorstellung von den exquisiten Fahrten des Schambeins der Filmschauspielerin über die Vinylbezüge von Mietlimousinen.

Nach seinem letzten Versuch, meine Frau Catherine zu töten, wusste ich, dass Vaughan sich endgültig in seinen eigenen Schädel zurückgezogen hatte. In seinem grell ausgeleuchteten, von Gewalt und Technik beherrschten Reich fuhr er nun auf ewig mit 160 Stundenkilometern über eine leere Autobahn, vorbei an verlassenen Tankstellen und ausgedehnten Feldern, in Erwartung des einen entgegenkommenden Wagens. In seiner Vorstellung sah Vaughan die ganze Welt bei einem einzigen Autounfall sterben, Millionen ineinander verkeilter Fahrzeuge, in einem terminalen Koitus ejakulierender Lenden und spritzenden Kühlwassers.

Ich erinnere mich an meinen ersten kleineren Zusammenstoß auf einem menschenleeren Hotelparkplatz. Von einer Polizeistreife gestört, hatten wir einen hektischen Geschlechtsakt durchgezogen. Beim Zurücksetzen fuhr ich gegen einen unmarkierten Baum. Catherin kotzte über meinen Sitz. Diese Lache Erbrochenes mit ihren Blutklümpchen gleich flüssigem Rubin, so viskos und delikat wie alles, was von Catherine kam, birgt für mich bis heute den Kern des erotischen Deliriums des Autounfalls, erregender als ihr rektaler und vaginaler Schleim, veredelt wie die Ausscheidungen einer Feenkönigin oder die winzigen Kügelchen, die neben den Blasen ihrer Kontaktlinsen entstehen. In dieser magischen Lache, die ihrem Mund entquoll wie eine seltene Entladung von Flüssigkeit aus einem abseitigen und mysteriösen Schrein, erblickte ich mein eigenes Spiegelbild, einen Reflex aus Blut, Samen und Kotze, herausdestilliert aus einem Mund, dessen Konturen nur wenige Minuten zuvor ausdauernd meinen Penis bearbeitet hatten.

Jetzt, da Vaughan tot ist, gehen wir mit den anderen fort, die sich einst um ihn sammelten wie eine Menge im Bann eines Krüppels, dessen verunstaltete Körperhaltungen die geheimen Muster ihrer Gedanken und Leben enthüllten. Wir alle, die wir Vaughan kannten, anerkennen die perverse Erotik des Autounfalls, so schmerzvoll wie die Zeichnung eines Organs, das im Schnitt einer Operationswunde bloßliegt. Ich habe zugesehen, wie kopulierende Paare nachts über verdunkelte Schnellstraßen fuhren, Männer und Frauen kurz vorm Orgasmus, während ihre Autos in einer Serie lockender Trajektorien auf die lichthupenden Scheinwerfer des Gegenverkehrs zurasten. Junge Männer, allein hinter dem Steuer ihrer ersten eigenen Autos, alter Kisten vom Schrottplatz, wie sie masturbieren und auf abgewetzten Reifen ohne Sinn und Ziel immer weiterfahren. Nach einem Beinahezusammenstoß an einer großen Kreuzung spritzt stoßweise Samen durch die zersprungene Tachoscheibe. Später wischt über die angetrockneten Reste eben dieses Samens das lackschwarze Haar der ersten jungen Frau, die quer über seinem Schoß liegt, den Mund um seinen Penis, seine Hand am Steuer, während der Wagen durch die Dunkelheit auf ein Autobahnkreuz zuschleudert, die schlingernden Bremsen pumpen den Samen hervor, er streift das Heck eines mit Farbfernsehern beladenen Lastzugs, seine rechte Hand rührt ihre Klitoris zum Orgasmus, warnend blenden die LKW-Scheinwerfer im Rückspiegel. Noch später sieht er einem Freund zu, wie er ein Teenie auf dem Rücksitz nimmt. Ölverschmierte Mechanikerhände halten ihre Pobacken den vorbeifliegenden Werbetafeln entgegen. Die regennassen Straßen rauschen im grellen Scheinwerferlicht und dem Kreischen der Bremsbeläge vorüber. Der Schaft seines Penis glänzt über dem Mädchen, als er auf das brüchige Plastik des Dachhimmels zielt, das gelbliche Gewebe mit seinem Smegma markiert.

Der letzte Rettungswagen war fort. Eine Stunde zuvor war die Filmschauspielerin zu ihrer Limousine geführt worden. Im Abendlicht sah der weiße Beton des Kollisionskorridors unter der Überführung aus wie eine verborgene Startbahn, von der aus mysteriöse Maschinen ins Metall des Himmels abheben. Irgendwo über den Köpfen der gelangweilten Schaulustigen, die zu ihren Autos zurückgingen, über den müden Polizisten, die die zermalmten Koffer und Handgepäckstücke der Flugtouristen zusammentrugen, kreiste Vaughans Glasflugzeug. Ich dachte an seine bereits erkaltende Leiche, deren Rektaltemperatur den gleichen Gradienten folgte wie die der anderen Unfallopfer. In der Nachtluft sanken diese Gradienten wie Luftschlangen von den Bürotürmen und Wohnblocks der City, und von der warmen Schleimhaut des Filmschauspielerin in ihrer Hotelsuite.

Ich fuhr zurück in Richtung Flughafen. Die Lichter entlang der Western Avenue erhellten die vorbeirauschenden Autos, unterwegs zu ihrer Wundenfeier.

2

Die wahren Reize des Autounfalls begann ich erst zu ermessen, als ich Vaughan zum ersten Mal begegnet war. Schroff und einschüchternd von Gestalt, vorwärts bewegt auf zwei narbenübersäten und ungleich langen, bei diversen Zusammenstößen verletzten Beinen, trat dieser verkrachte Wissenschaftler zu einer Zeit in mein Leben, als seine Obsessionen augenscheinlich bereits die eines Wahn­sinnigen waren.

Als ich an einem verregneten Juniabend von den Filmstudios in Shepperton nach Hause fuhr, geriet mein Wagen im Kreuzungsbereich unter der Auffahrt zur Western-Avenue-Hochstraße ins Schleudern. Binnen Sekunden trug es mich bei 100 Stundenkilometern auf die Gegenfahrbahn. Als der Wagen auf den erhöhten ­Mittelstreifen traf, platzte ein Hinterreifen und flog von der Felge. Der Wagen ließ sich nicht mehr steuern, bretterte über den Mittelstreifen und landete entgegen der Fahrtrichtung auf der Schnellspur der Abfahrtsrampe. Heran kamen drei Fahrzeuge, Limousinen aus Serienproduktion, deren Modelljahr, Lackierung und Außenteile ich immer noch mit der peinvollen Genauigkeit eines unerbittlichen Albtraums vor Augen habe. Den beiden ersten entging ich, indem ich wiederholt in die Bremsen stieg und meinen Wagen gerade noch zwischen ihnen hindurchsteuerte. Mit dem dritten, an Bord eine junge Ärztin und ihr Mann, stieß ich frontal zusammen. Der Mann, ein Chemieingenieur bei einer amerikanischen Lebensmittelfirma, war auf der Stelle tot, durch seine Windschutzscheibe geschleudert wie im Zirkus eine Matratze aus einem Kanonenrohr. Er starb auf der Kühlerhaube meines Wagens, durch die geborstene Frontscheibe spritzte sein Blut mir über Gesicht und Brust. Die Feuerwehrleute, die mich später aus der eingedrückten Kabine meines Wagens schnitten, dachten zuerst, ich wäre am Verbluten und hätte eine große offene Herzwunde.

Ich war praktisch unverletzt. Ich war auf der Heimfahrt von meiner Sekretärin Renata, die sich gerade aus einer aufreibenden Affäre mit mir befreite, und hatte noch den Sicherheitsgurt um, den ich extra angelegt hatte, um ihr die Peinlichkeit zu ersparen, mich umarmen zu müssen. Meine Brust war hart gegen das Steuer geprallt, meine Knie ins Armaturenbrett gestoßen worden, als mein Körper nach vorn schleuderte, seinem eigenen Zusammenprall mit dem Wageninneren entgegen, doch meine einzige ernsthafte Verletzung war ein durchtrennter Nerv in der Kopfhaut.

Dieselben rätselhaften Kräfte, die mich davor bewahrten, von der Lenksäule aufgespießt zu werden, retteten auch die junge Ingenieursgattin. Abgesehen von einem lädierten Oberkiefer und einigen wackelnden Zähne war sie unversehrt. In meinen ersten Stunden im Ashford Hospital hatte ich nichts anderes vor Augen als das Bild von uns zweien, wie wir Angesicht zu Angesicht in den beiden Autos eingesperrt saßen, zwischen uns auf der Kühlerhaube meines Wagens der Körper ihres sterbenden Ehemannes. Durch die zerborstenen Windschutzscheiben sahen wir uns an, keiner vermochte sich zu rühren. Die Hand ihres Mannes lag, Innenseite nach oben, nicht mehr als ein paar Zentimeter von mir entfernt neben dem rechten Scheibenwischer. Seine Hand war gegen einen starren Gegenstand geschlagen, als es ihn aus dem Sitz gehoben hatte, und das Muster eines Abzeichens begann sich zu formen, während ich dort saß, von seinem sterbenden Blutkreislauf zu einer enormen Blutblase aufgepumpt – der unverkennbare Dreizack meines ­Kühleremblems.

Von ihrem diagonalen Sicherheitsgurt festgehalten saß seine Frau hinter ihrem Lenkrad, mich seltsam förmlich anblickend, als sei sie nicht sicher, was uns zusammengeführt hatte. Ihr schönes Gesicht, gekrönt von einer breiten, klugen Stirn, hatte den leeren und teilnahmslosen Ausdruck einer Ikonenmadonna der Früh­renaissance, die das Wunder oder den Albtraum, der ihrem Schoß entsprungen ist, nicht zu akzeptieren gewillt ist. Nur einmal durchzitterte es eine Art von Regung, als sie mich zum ersten Mal klar zu sehen schien, und ein eigentümliches Grinsen zerrte an ihrer rechten Gesichtshälfte, als zöge ein Faden am Nerv. Ging ihr gerade auf, dass das Blut, das mir Gesicht und Brust bedeckte, von ihrem Mann kam?

Unsere beiden Autos umgab ein Kreis Schaulustiger, ihre stummen Gesichter blickten auf uns mit ungeheurem Ernst. Nach dieser kurzen Pause schlug alles in fieberhafte Aktivität um. Mit singenden Reifen zog ein halbes Dutzend Autos rüber aufs Bankett und holperte über den Grünstreifen. Ein gewaltiger Verkehrsstau bildete sich die Western Avenue entlang, Sirenen heulten, als Polizeischeinwerfer gegen die Stoßstangen stehender Fahrzeuge flammten, die sich auf der Überführung stauten. Ein älterer Herr in durchsichtigem Plastikregenmantel zog bang an der Beifahrertür hinter meinem Kopf herum, als befürchte er, der Wagen könnte einen starken Stromschlag durch seine magere Hand jagen. Eine junge Frau, die eine schottengemusterte Decke trug, beugte den Kopf zum Fenster herab. Nur ein paar Zentimeter entfernt starrte sie mich mit geschürzten Lippen an wie ein Trauergast, der verstohlen auf eine im offenen Sarg ausgestellte Leiche hinabsieht.

Ohne zu diesem Zeitpunkt bewusst Schmerzen zu verspüren, saß ich da und hielt mit der Rechten eine Speiche des Lenkrads. Noch immer angegurtet, kam die Frau des Toten allmählich zur Besinnung. Eine kleine Gruppe Menschen – ein LKW-Fahrer, ein Soldat außer Dienst in Uniform und eine Eisverkäuferin griffen durchs Fenster nach ihr, schienen da und dort ihren Körper zu berühren. Sie wehrte sie fuchtelnd ab und löste den Gurt über ihrer Brust, ihre geschickte Hand nestelte an dem verchromten Öffnungsmechanismus. Einen Moment lang kam es mir vor, als sei dies der Höhepunkt eines düsteren Dramas und wir seien die Hauptdarsteller in einem nicht geprobten Technologietheater, in den Nebenrollen die zerschmetterten Kraftfahrzeuge, der Tote, der bei ihrer Kollision ums Leben gekommen war, und hunderte von Autofahrern, die mit grellleuchtenden Scheinwerfern wartend neben der Bühne standen.

Die junge Frau wurde aus dem Wagen geholt. Ihre hölzern wirkenden Beine und eckigen Kopfbewegungen schienen den deformierten Stromlinienformen der beiden Autos nachzueifern. Die rechteckige Kühlerhaube meines Wagens war unterhalb der Windschutzscheibe aus der Verankerung gerissen und mein ausgelaugter Geist sah in allem, was mich umgab, den spitzen Winkel zwischen Kühlerhaube und Kotflügeln wiederholt – Mienen und Haltungen der Zuschauer, die Auffahrtsrampe zur Hochstraße, die Flugbahnen der Maschinen, die von den fernen Startbahnen des Flughafens abhoben. Die junge Frau wurde vorsichtig von ihrem Auto weggeführt, gestützt von einem olivhäutigen Mann in der mitternachtsblauen Uniform des Piloten einer arabischen Fluggesellschaft. Urin rieselte als unkontrolliertes Bächlein zwischen ihren Beinen herab und auf die Fahrbahn. Tröstend hatte der Pilot ihr den Arm um die Schultern gelegt. Neben ihren Autos stehend betrachteten die Zuschauer, wie die Lache sich auf dem ölverschmierten Asphalt ausbreitete. Im schwindenden Abendlicht bildeten sich Regenbogenkreise um ihre schwachen Knöchel. Sie drehte sich um und blickte auf mich herab, eine eigentümliche Grimasse im zerschundenen Gesicht, ein offenkundiges Gemenge aus Besorgnis und Feindseligkeit. Doch war alles, was ich sehen konnte, die ungewöhnliche Gabelung ihrer Oberschenkel, die in dieser entstellten Haltung auf mich hin geöffnet waren. Nicht das Sexuelle daran prägte sich mir ein, sondern die Stilisierung der schrecklichen Ereignisse, die uns beide erfasst hatte, wie bei der übertriebenen Pirouette eines geistesgestörten Mädchens, das ich einmal bei dem Weihnachtsspiel einer Anstalt hatte auftreten sehen.

Ich klammerte mich mit beiden Händen ans Lenkrad, versuchte stillzuhalten. Ein anhaltendes Zucken schüttelte meine Brust und nahm mir fast die Luft. Die starken Hände eines Polizisten hielten meine Schulter. Ein zweiter Polizist legte seine Schirmmütze auf die Kühlerhaube des Wagens neben den Toten und begann an der Tür zu zerren. Der frontale Aufprall hatte den vorderen Bereich der Fahrgastzelle zusammengestaucht und die Türen in den Schlössern verkeilt.

Ein Rettungssanitäter beugte sich über mich und schnitt mir den Ärmel vom rechten Arm. Ein junger Mann in dunklem Anzug zog meine Hand durchs Fenster. Als die Kanüle in meinen Arm eindrang, fragte ich mich, ob dieser Arzt, der nicht mehr als ein übergroßes Kind zu sein schien, wohl alt genug war, um beruflich dafür qualifiziert zu sein.

Eine Welle beklommener Euphorie trug mich zum Krankenhaus. Ich kotzte über das Lenkrad, benebelt von einer Abfolge scheußlicher Fantasien. Zwei Feuerwehrmänner schnitten die Tür aus der Rahmung. Sie ließen sie auf die Straße fallen und betrachteten mich prüfend wie die Helfer eines durchbohrten Stierkämpfers. Noch ihre kleinsten Bewegungen wirkten formalisiert, Hände, die sich mir hinstreckten, eine Abfolge kodierter Gesten. Hätte einer von ihnen seine groben Kammgarn-Hosen aufgeknöpft, seine Genitalien entblößt und seinen Penis in die blutige Beuge meiner Achsel gekeilt, wäre selbst dieser bizarre Akt hinsichtlich der Stilisierung von Gewalt und Rettung tragbar gewesen. Ich wartete, dass jemand mich beruhigen kam, und hockte da, getränkt mit dem Blut eines anderen, während der Urin seiner jungen Witwe um die Füße meines Retters Regenbogen formte. Mit der gleichen Albtraumlogik könnten auch die Feuerwehrleute, die zu den brennenden Wracks abgestürzter Flugzeuge rasen, mit ihren Schaumlöschern obszöne oder humorige Sprüche auf den brodelnden Beton sprühen, Scharfrichter ihre Opfer in groteske Gewänder kleiden. Die Opfer hingegen würden ihr Eingehen in den Tod mit ironischen Gesten stilisieren, feierlich die Gewehrläufe ihrer Henker küssen, imaginäre Flaggen schänden. Chirurgen würden sich vor der ersten Schnittführung achtlos in den Finger schneiden, Ehefrauen im Moment des Orgasmus ihres Mannes angelegentlich den Namen des Geliebten murmeln, die Hure mit dem Penis des Kunden im Mund ganz akkurat ein kreisrundes Stückchen Haut aus der obersten Wölbung seiner Eichel knabbern. Jener schmerzhafte Biss, den mir einmal eine müde Prostituierte, genervt über meine unentschlossene Erektion, verabreicht hatte, erinnert mich an die stilisierten Gesten von Rettungsteams und Tankstellenpersonal und deren je eigenes Repertoire an Bewegungen.

Später erfuhr ich, dass Vaughan in seinen Fotoalben die Grimassen von Notfallkrankenschwestern sammelte. Ihr dunkles Äußeres vermittelte die ganze verschlagene Sexualität, die Vaughan in ihnen erregte. Ihre Patienten starben in der Spanne zwischen zwei gummibeschlagenen Treppenstufen, in den sich verlagernden Konturen ihrer Schenkel, wenn sie einander in der Pforte der Unfallchirurgie streiften.

Die Polizisten hoben mich aus dem Wagen, mit festem Griff beförderten sie mich auf die Tragbahre. Schon fühlte ich mich von der Realität dieses Unfalls abgetrennt. Ich versuchte mich aufzusetzen und trat die Decke weg. Der junge Arzt drückte mich zurück, stieß mit der flachen Hand gegen meine Brust. Perplex über seinen gereizten Blick legte ich mich ergeben wieder hin.

Der verhüllte Körper des Toten wurde von der Kühlerhaube meines Wagens gehoben. In der offenen Tür eines zweiten Rettungswagens saß gleich einer dementen Madonna seine Ehefrau und starrte mit leerem Blick in den Abendverkehr. Die Wunde an ihrer rechten Wange verzerrte allmählich ihr Gesicht, während die eingerissenen Gewebepartien ihr eigenes Blut verschlangen. Mir war bereits bewusst, dass die ineinander verkeilten Kühlergrills unserer Wagen das Muster eines unentrinnbaren und perversen Bundes zwischen uns bildeten. Ich starrte auf die Umrisse ihrer Schenkel. Über ihnen formte die graue Wolldecke eine anmutige Düne. Irgendwo unter dieser Erhebung lag das Kleinod ihrer Scham. Ihre präzise Kragung und Neigung, die unversehrte Sexualität dieser klugen Frau walteten über das tragische Geschehen des Abends.

3

In den nächsten drei Wochen, die ich in einem ansonsten leeren Krankensaal des Unfallklinikums nahe des Londoner Flughafens verbrachte, rotierte in meinem Kopf das grelle Blaulicht der Polizeiautos. Meine Genesung von dem Unfall begann in einer unbelebten, von Gebrauchtwagenmärkten, Speicherseen und Strafvollzugsanstalten dominierten Gegend mitten im Geflecht der Autobahnzubringer zum Londoner Flughafen. Zwei Krankensäle mit vierundzwanzig Betten – die maximale Zahl angenommener Überlebender – wurden permanent für mögliche Opfer eines Flugzeugunglücks freigehalten. Einer davon war zeitweise mit Opfern von Verkehrsunfällen belegt.

Nicht alles Blut, das mich bedeckte, hatte dem Mann gehört, den ich getötet hatte. Die asiatischstämmigen Ärzte in der Notaufnahme stellten fest, dass beim Kontakt mit dem Armaturenbrett beide Kniescheiben Frakturen erlitten hatten. Lange Schmerzausläufer reichten die Innenseite meiner Oberschenkel entlang bis in die Leistengegend, als würden mir feine Stahlkatheter durch die Beinvenen gezogen.

Drei Tage nach der ersten Knieoperation holte ich mir irgendeine unbedeutende Krankenhausinfektion. Ich lag in dem leeren Saal, beanspruchte ein Bett, das rechtmäßig dem Opfer eines Flugzeugabsturzes zustand, und grübelte verworren über dessen Wunden und Schmerzen nach. Die leeren Betten um mich herum bargen hundert Geschichten von Kollision und unwiederbringlichem Verlust, die in Form von Wunden übersetzte Gewalt von Flugkatastrophen und Autounfällen. Zwei Krankenschwestern näherten sich durch den Saal, strichen Betten glatt, ordneten Funkkopf­hörer. Diese liebenswürdigen jungen Frauen taten Dienst in einer Kathedrale unsichtbarer Wunden, ihre knospende Geschlechtlichkeit herrschte über die scheußlichsten Gesichts- und Genitalverletzungen.

Während sie die Gurtvorrichtung um meine Beine einstellten, lauschte ich den Maschinen, die vom Londoner Flughafen starteten. Die Geometrie dieses komplizierten Folterwerkzeugs schien in gewisser Weise den Flanken und Konturen der Leiber der jungen Frauen verwandt zu sein. Wer würde als nächstes dieses Bett beziehen – eine Bankangestellte mittleren Alters unterwegs zu den Balearen, beduselt vom Gin und mit für den gelangweilten Witwer im Nebensitz triefender Scham? Nach einem Unglück auf der Startbahn des Londoner Flughafens wäre ihr Körper auf Jahre hinaus von den Quetschungen gezeichnet, die ihr Unterleib durch die Querstrebe des Gurts erlitten hatte. Jedes Mal, wenn sie in ihrem Provinzrestaurant zur Toilette huschte, weil Blasenschwäche die angegriffene Harnröhre stach, bei jedem Geschlechtsakt mit ihrem prostatavergrößerten Ehemann musste sie an die wenigen Sekunden vor dem Crash denken. Ihre Verletzungen waren die ewige Festschreibung dieser eingebildeten Untreue.

Ob meine Ehefrau, wenn sie allabendlich das Krankenzimmer besuchte, sich jemals fragte, welche sexuelle Angelegenheit mich wohl zur Überführung der Western Avenue gebracht hatte? Wenn sie neben mir saß und mit scharfem Blick aufschlüsselte, welche grundlegenden Körperteile der Anatomie ihres Ehemannes ihr noch verblieben waren, war ich mir sicher, dass sie die Antwort auf ihre unausgesprochenen Fragen in den Narben an meinen Beinen und auf meiner Brust las.

Die Krankenschwestern umflatterten mich, vollzogen ihr peinvolles Werk. Als sie die Drainageschläuche in meinen Knien wechselten, hatte ich Mühe, das Beruhigungsmittel nicht wieder auszukotzen, das stark genug war, mich ruhigzustellen, doch zu schwach, um den Schmerz zu lindern. Nur ihr Sarkasmus brachte mich dazu, mich zusammenzureißen.

Ein junger blonder Arzt mit kalter Miene untersuchte die Wunden an meiner Brust. Rund um den unteren Brustbeinansatz, gegen den der kollabierende Motorraum den Hupenknopf getrieben hatte, war das Hautgewebe geschädigt. Auf meiner Brust zeichnete sich eine halbkreisförmige Quetschung ab, ein marmorierter Regenbogen, der sich von einer Brustwarze zur anderen zog. Im Laufe der Woche durchwanderte dieser Regenbogen eine Sequenz wechselnder Tönungen gleich dem Farbspektrum möglicher Autolackierungen. Als ich an mir hinabsah, stellte ich fest, dass anhand des Musters meiner Wunden ein Autoingenieur Fabrikat und Baujahr meines Wagens präzise hätte herleiten können. Der Aufbau des Armaturenbretts war, ebenso wie die Kontur des Lenkrads im Hämatom auf meiner Brust, meinen Knien und Schienbeinen aufgeprägt. Der Aufprall der zweiten Kollision zwischen meinem Körper und der Fahrgastzelle war durch diese Wunden definiert, so wie die Konturen eines Frauenkörpers sich im antwortenden Druck der eigenen Haut noch einige Stunden nach einem Geschlechtsakt erinnern lassen.

Am vierten Tag wurden ohne ersichtlichen Grund die Anästhetika abgesetzt. Den ganzen Morgen kotzte ich in die Emailleschale, die eine Schwester mir unters Gesicht hielt. Sie sah mich mit heiterem, doch ungerührtem Blick an. Der kalte Rand der Nierenschale drückte gegen meine Wange. Ihre porzellanene Oberfläche zeichnete ein feiner Faden Blut irgendeines namenlosen früheren Benutzers.