Die Flut - J.G. Ballard - E-Book

Die Flut E-Book

J.G. Ballard

0,0
16,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Durch den Verlust der Ionosphäre, des Schutzmantels der Erde gegen die Sonnen­einstrahlung, sind die Temperaturen gestiegen, die Polkappen geschmolzen, der ­Meeresspiegel steigt unaufhörlich. Europa ist ein sumpfiger Dschungel, bevölkert von Leguanen, Alligatoren und Moskitos, in dem ein Klima herrscht wie in der Kreidezeit. Während die Reste der Erdbevölkerung sich in die Polarregionen zurückgezogen haben, lebt Dr. Kerans in einem Luxusapartment im 10. Stock des Hotel Ritz über einem weitgehend überfluteten London, um zusammen mit anderen Wissenschaftlern die verbliebenen Landmassen zu kartografieren. Die extremen Umweltbedingungen und die Sonnenstürme verändern nach und nach die Träume der Menschen. Nachdem die Expedition aufgrund steigender Hitze abgebrochen wird, beschließt Kerans zu bleiben. Bei den Zurückgebliebenen vollzieht sich eine gefährliche Regression, eine innere Reise zurück in eine archäopsychische Vergangenheit, ein imaginiertes Trias Eden.


Die Flut ist ein postapokalyptischer Roman, der die Auswirkungen einer ­Klimakatastrophe auf die menschliche Psyche in halluzinatorischen Bildern beschreibt und heute als ­Klassiker der dystopischen Literatur wie als Vorläufer der »Climate Fiction« gilt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ERSTES KAPITEL

Am Strand des Ritz

Bald schon würde es zu heiß sein. Kurz nach acht sah Kerans von der Hotelterrasse aus, wie hinter den dichten Hainen nacktsamiger Riesenpflanzen, die auf der Ostseite der Lagune in vierhundert Meter Entfernung auf den Dächern der verwaisten Kaufhäuser wucherten, die Sonne aufging. Ihre mitleidlose Kraft war selbst durch die wuchtigen, olivgrünen Wedel hindurch deutlich zu spüren. Die stumpf gebrochenen Lichtstrahlen prallten geradewegs auf seine nackte Brust und Schultern, sodass er ins Schwitzen geriet und eine tiefdunkle Sonnenbrille aufsetzte, um die Augen zu schützen. Die Sonnenscheibe war längst kein eindeutig definiertes Gestirn mehr, sondern eine sich weit ausdehnende Ellipse, wie ein kolossaler Feuerball, der sich über den östlichen Horizont ausbreitete und dessen Widerschein die tote, bleierne Oberfläche der Lagune in ein gleißend helles Kupferschild verwandelte. Gegen Mittag, in weniger als vier Stunden, würde das Wasser aussehen, als stünde es in Flammen.

Meist wachte Kerans um fünf Uhr auf und erreichte die biologische Forschungsstation frühzeitig genug, um wenigstens vier oder fünf Stunden arbeiten zu können, bevor die Hitze unerträglich wurde, doch an diesem Morgen verließ er nur ungern das kühle, klimatisierte Refugium seiner Hotelsuite. Er hatte sich schon beim Frühstück einige Stunden Zeit gelassen, dann einen sechsseitigen Eintrag in sein Tagebuch verfasst und bewusst seinen Aufbruch hin­ausgezögert, bis Colonel Riggs mit seinem Patrouillenboot am Hotel vorbeifuhr, denn dann wäre es definitiv zu spät, um die Forschungsstation aufzusuchen. Der Colonel, für ein Plauderstündchen stets zu haben, insbesondere in Begleitung einiger Aperitifs, würde das Hotel also keinesfalls vor halb zwölf verlassen, in Gedanken schon ganz beim Lunch im Stützpunkt.

Doch aus irgendeinem Grund hatte sich Riggs verspätet. Vermutlich hatte die Kontrollfahrt zu den benachbarten Lagunen länger als sonst gedauert, oder vielleicht hatte er auf Kerans’ Ankunft in der Forschungsstation gewartet. Einen Moment lang überlegte Kerans, ihn über Funk zu kontaktieren, doch das Gerät war unter einem Bücherstapel vergraben und die Batterie leer. Der für den Funkverkehr des Stützpunkts zuständige Corporal hatte bei Riggs bereits Beschwerde eingelegt, weil seine muntere Morgensendung, eine Mischung aus alten Popsongs und Lokalnachrichten – der Angriff zweier Leguane auf den Hubschrauber in der Nacht davor und die aktuellen Temperatur- und Luftfeuchtigkeitswerte – mitten im ersten Teil jäh unterbrochen worden war. Doch Riggs verstand ­Kerans’ unbewussten Versuch, seine Verbindung zum Stützpunkt zu kappen – das sorgfältige Arrangement der Bücherpyramide, unter der sich das Funkgerät verbarg, widersprach allzu offenkundig Kerans’ sonst so peniblem Ordnungssinn – und sah ihm großzügig nach, dass er sich absondern wollte.

 

An die Terrassenbrüstung gelehnt beobachtete Kerans, die mageren, knochigen Schultern und das hagere Profil zehn Stockwerke tiefer im Stauwasser gespiegelt, wie einer der zahllosen Hitzestürme durch ein Gestrüpp gigantischer Schachtelhalmgewächse fegte, die den aus der Lagune hinausführenden Wasserlauf säumten. Von umliegenden Gebäuden und Inversionsschichten eingeschlossen, die dreißig Meter über dem Wasser schwebten, erhitzten sich die darunter liegenden Lufteinschlüsse rapide, explodierten dann nach oben wie entweichende Ballons, sodass ein Vakuum entstand. Die Dampfwolken über dem Wasserlauf lösten sich sekundenschnell auf, und ein bösartiger Mini-Tornado peitschte über die zwanzig Meter hohen Pflanzen, die wie Streichhölzer umknickten. Dann, so schlagartig wie er gekommen war, verzog sich der Sturm wieder, und die großen, säulenartigen Baumstämme versanken wie träge Alligatoren einer nach dem andern im Wasser.

Sein Verstand sagte Kerans, dass es klug gewesen sei, im Hotel zu bleiben – die Stürme brachen bei steigender Temperatur immer häufiger aus –, er wusste aber auch, dass es jetzt ohnehin nicht mehr viel zu tun gab. Die biologische Kartierung war sinnlos geworden, die neue Pflanzenwelt folgte exakt den vor zwanzig Jahren prognostizierten Entwicklungslinien, und er war überzeugt, dass in Camp Byrd in Nordgrönland sich niemand die Mühe machte, seine Berichte weiterzuleiten, geschweige denn zu lesen.

Um das zu überprüfen, hatte der alte Dr. Bodkin, Kerans’ Stationsassistent, einen als Zeugenaussage getarnten Bericht von einem der Colonel Riggs’ unterstellten Sergeanten verfasst, in dem es hieß, dieser habe in einer der Lagunen eine große Eidechse mit Rückensegel und gigantischer Rückenflosse gesichtet, die aussah wie ein Pelycosaurus, ein Reptil aus der Frühzeit Pennsylvanias. Hätte man den Bericht zur Kenntnis genommen – die bevorstehende Wiederkehr des Zeitalters der Großreptilien verkündend –, wären sofort Heerscharen von Ökologen über sie hergefallen, unterstützt von einer taktischen Atomwaffeneinheit und dem Befehl, unverzüglich mit einer konstanten Geschwindigkeit von zwanzig Knoten nach Süden aufzubrechen. Doch abgesehen von dem routinemäßig eintreffenden Bestätigungssignal blieb der Bericht folgenlos. Vielleicht waren die Spezialisten im Camp Byrd einfach schon zu müde, um noch zu lachen.

 

Bis Ende des Monats würden Colonel Riggs und seine kleine Einheit die Vermessung der Stadt (war das einst Berlin, Paris oder London?, fragte sich Kerans) beendet haben und mit der Forschungsstation im Schlepptau nach Norden aufbrechen. Die Vorstellung, die Penthouse-Suite wieder verlassen zu müssen, in der er die letzten sechs Monate gelebt hatte, fiel Kerans ausgesprochen schwer. In seinen Augen genoss das Ritz zu Recht seinen Ruf – allein das Badezimmer beispielsweise mit seinen schwarzen Marmorbecken und vergoldeten Armaturen und Spiegeln wirkte wie die Seitenkapelle einer Kathedrale. In gewisser Weise gefiel ihm der Gedanke, dass er der letzte Gast war, der im Hotel übernachtete und nun, auch er in der letzten Phase seines Lebens angekommen – die Odyssee nach Norden durch die gefluteten Städte des Südens würde sie bald schon zurück nach Camp Byrd mit seinen rigiden Regeln führen –, diesen letzten Sonnenuntergang am Ende einer langen, glanzvollen Hotelgeschichte erleben durfte.

Er hatte das Ritz bereits am Tag nach ihrer Ankunft bezogen, darauf erpicht, seine enge Kabine zwischen den Labortischen der Forschungsstation gegen die riesigen, hohen Prunkräume des verlassenen Hotels einzutauschen. Er empfand die schweren Brokatmöbel und bronzenen Jugendstil-Statuen in den Nischen des Korridors als angemessenes Dekorum seiner Existenz und genoss die subtile Atmosphäre von Melancholie, die diese letzten, nun praktisch für immer verschwundenen Reste einer Zivilisation umgab. ­Zahlreiche andere Gebäude rund um die Lagune waren aufgrund ihrer weniger soliden Bauweise schon vor langer Zeit zusammengefallen und nun unter dem Schlick begraben; allein das Ritz ragte am Westufer in vornehmer Abgeschiedenheit empor, und selbst der reichlich aus den Teppichen der dunklen Korridore sprießende blaue Schimmel trug zu seiner aus dem 19. Jahrhundert stammenden Würde bei.

Die Suite, ursprünglich für einen Mailänder Finanzier entworfen, war verschwenderisch eingerichtet und mit allen technischen Finessen ausgestattet. Die Warmluftabschirmung war noch vollkommen intakt, obwohl die ersten sechs Stockwerke des Hotels bereits unterhalb des Wasserspiegels lagen, die Grundmauern zu bröckeln begannen und die 250-Ampère-Klimaanlage ununterbrochen lief. Obwohl seit zehn Jahren unbewohnt, hatte sich auf den Kamin­simsen und vergoldeten Beistelltischen kaum Staub angesammelt, und das Triptychon photographischer Porträts auf dem mit Krokodil­leder bespannten Schreibtisch – Finanzier, Finanzier mit eleganter, wohlgenährter Familie, Finanzier und das noch elegantere fünfzigstöckige Bürohaus – war nahezu unversehrt. Kerans profitierte nun davon, dass sein Vorgänger die Suite offenbar überstürzt verlassen hatte, denn die Schränke und Schubladen bargen zahlreiche Kostbarkeiten und Schätze, darunter Squashschläger mit Elfenbeingriff und handbedruckte Bademäntel, und auch die Cocktailbar war reich bestückt mit Jahrgangs-Whiskys und Brandys.

 

Eine riesige Anophelesmücke von der Größe einer Libelle schwirrte an seinem Gesicht vorbei und tauchte dann hinab zum Landesteg, wo Kerans’ Katamaran vertäut war. Noch verbarg sich die Sonne hinter der Vegetation auf der Ostseite der Lagune, doch die aufsteigende Hitze lockte die riesengroßen Raubinsekten aus ihren zahlreichen Verstecken in der moosbewachsenen Hotelfassade hervor. Kerans zögerte, ob er die Terrasse verlassen und sich hinter die Maschendrahtsperre begeben sollte. Im morgendlichen Licht lag eine seltsame, traurige Schönheit über der Lagune; die düsteren, grünlich-schwarzen Wedel der Gymnospermae, Eindringlinge aus der triassischen Vergangenheit, und die halb versunkenen, weiß getünchten Gebäude aus dem 20. Jahrhundert, die sich einträchtig im dunklen Widerschein des Wassers spiegelten, wirkten beide wie aus der Zeit gefallene, gleichwohl miteinander verzahnte Welten, eine Illusion, die vorübergehend schwand, als in hundert Meter Entfernung eine riesige Wasserspinne die ölige Oberfläche durchfurchte.

In der Ferne, irgendwo hinter dem gefluteten Haupttrakt eines großen Bauwerks weiter südlich, stotterte und dröhnte ein Dieselmotor. Kerans verließ die Terrasse, schloss die Maschendrahttür hinter sich und ging ins Bad, um sich zu rasieren. Aus den Hähnen floss schon lange kein Wasser mehr, doch Kerans nutzte den Dachbehälter als Reservoir, in dem das Wasser über eine selbstgebaute Filteranlage sorgfältig gereinigt und durch das Fenster eingeleitet wurde.

Er war zwar erst vierzig, doch obschon Kerans’ Bart durch das Fluorid im Wasser weiß geworden war, wirkte er durch sein ausgebleichtes, kurz geschnittenes, Haar und seine tiefe, bernsteinfarbene Bräune mindestens zehn Jahre jünger. Chronischer Appetitmangel und neue Malariavarianten hatten die trockene, ledrige Haut unter seinen Wangenknochen schrumpfen lassen und betonten seine asketischen Gesichtszüge. Beim Rasieren musterte er sein Gesicht mit kritischem Blick, betastete die geschrumpften Flächen, massierte die schwindende Muskulatur, die seine Konturen schleichend veränderte und eine Persönlichkeit zum Vorschein brachte, die ihm in seinem bisherigen Erwachsenenleben verborgen geblieben war. Trotz seiner in sich gekehrten Art wirkte er jetzt, als er sich mit ironischer Distanziertheit aus kühlen, blauen Augen im Spiegel betrachtete, entspannter und ausgeglichener als je zuvor. Der stets ein wenig abweisend wirkende Rückzug in seine eigene Welt mit ihren privaten Ritualen und Gewohnheiten war vorbei. Wenn er sich jetzt von Riggs und seinen Männern fernhielt, dann war das eher eine Frage der Bequemlichkeit als der Misanthropie.

Beim Hinausgehen wählte er ein mit einem Monogramm besticktes, cremefarbenes Seidenhemd aus dem Stapel, den der Finanzier im Schrank zurückgelassen hatte, und schlüpfte in die säuberlich gebügelte Hose eines Zürcher Herrenausstatters. Er schloss die Doppeltüren hinter sich – die Suite war praktisch ein von Backsteinmauern umgebener Glaskasten – und ging die Treppe hinab.

Er erreichte den Steg, als Colonel Riggs’ Kutter, ein umgebautes Landungsboot, gerade neben dem Katamaran anlegte. Riggs stand am Bug, eine gepflegte, elegante Erscheinung, die, mit einem Fuß bereits auf der Rampe, wie ein altgedienter Afrikaforscher auf die gewundenen Wasserläufe und herabhängenden Schlingpflanzen blickte.

»Guten Morgen, Robert«, begrüßte er Kerans und sprang auf die schwankende, aus Zweihunder-Liter-Fässern bestehende und an einem Holzrahmen befestigte Plattform. »Schön, dass du noch da bist, ich habe einen Auftrag, bei dem ich deine Hilfe brauche. Kannst du dir den Tag von der Station freinehmen?«

Kerans half ihm auf die betonierte Terrasse, die einst zu einer Suite im siebten Stock gehörte. »Selbstverständlich, Colonel. Das habe ich, ehrlich gesagt, bereits getan.«

Technisch gesehen, lag die Oberhoheit für die Forschungsstation bei Riggs, und Kerans hätte ihn eigentlich erst um Erlaubnis fragen müssen, aber die Beziehung zwischen den beiden Männern war eher informell. Seit über drei Jahren arbeiteten sie nun schon zusammen, seit die Forschungsstation und ihr militärisches Begleitpersonal nach und nach durch die europäischen Lagunen nach Norden zogen, und Riggs hatte nichts dagegen, dass Kerans und Bodkin die Arbeit auf ihre Weise erledigten, da er selbst genug damit zu tun hatte, die im steten Wandel befindlichen Sandinseln und Hafenanlagen zu kartieren und die verbliebenen Bewohner zu evakuieren. Bei dieser Aufgabe war er oft auf Kerans’ Hilfe angewiesen, denn die meisten Menschen, die noch in den versinkenden Städten lebten, waren entweder Psychopathen oder mangelernährt und strahlenverseucht.

Neben seiner Funktion als Leiter der Forschungsstation diente Kerans auch als Sanitätsoffizier der Einheit. Von den Menschen, denen sie begegneten, mussten viele zunächst medizinisch versorgt werden, bevor sie mit dem Hubschrauber zu einem der großen Tanklandungsschiffe ausgeflogen werden konnten, die die Flüchtlinge nach Camp Byrd brachten. Verwundete Militärs, die auf einem Bürogebäude in einem entlegenen Sumpfgebiet gestrandet waren, moribunde Einzelgänger, die ihre vertraute Umgebung nicht aufgeben wollten, entmutigte Freibeuter, einst freiwillig zurückgeblieben, um nach versunkenen Schätzen zu tauchen – sie alle brachte Riggs unverdrossen, aber entschlossen in Sicherheit, mit Kerans an seiner Seite, der bereitwillig Schmerzmittel oder Beruhigungspillen verabreichte. Trotz seines forschen, militärischen Auftretens fand Kerans den Colonel intelligent und sympathisch, verfügte er doch über ein stilles Reservoir skurrilen Humors. So manches Mal war er versucht, diesen auf die Probe zu stellen und dem Colonel von Bodkins Pelycosaurus zu erzählen, entschied sich jedoch im letzten Moment immer dagegen.

Der in dem vermeintlichen Augenzeugenbericht genannte Sergeant, ein verschlossener, pflichtbewusster Schotte namens Mac­ready, war auf den Drahtverhau geklettert, der das Deck des Kutters umschloss, und fegte gewissenhaft die schweren Wedel und Ranken weg, die sich dort angesammelt hatten. Keiner der drei anderen Männer kam ihm zu Hilfe; unter ihrer tiefen Bräune wirkten ihre Gesichter verhärmt und gezeichnet, träge saßen sie in einer Reihe vor dem Schott. Die fortwährende Hitze und die hohen Tages­dosen an Antibiotika raubten ihnen jegliche Energie.

Als die Sonne über der Lagune aufging und Dampfwolken über das große, goldene Leichentuch trieb, gewahrte Kerans auch den pestilenzartigen Gestank des Wassers, die süßlich-intensiven Gerüche abgestorbener Pflanzen und verwesender Tierkadaver. Riesengroße Fliegen schwirrten umher und prallten gegen den Drahtverhau des Kutters, gewaltige Fledermäuse jagten über das zunehmend wärmer werdende Wasser zu ihren Quartieren in den Ruinen. Die Lagune, das erkannte Kerans nun, war, so schön und heiter sie noch vor wenigen Minuten von seiner Terrasse aus gewirkt hatte, nichts weiter als eine stinkende Kloake.

»Lass uns zur Terrasse hochgehen«, schlug er Riggs mit leiser Stimme vor, sodass die anderen ihn nicht hören konnten. »Ich spendiere dir einen Drink.«

»Herrje, bin ich froh, dass du deine guten Manieren noch nicht verloren hast.« Riggs rief Macready zu: »Sergeant, ich gehe hoch, um zu sehen, ob ich die Filteranlage des Doktors wieder zum Laufen bringen kann.« Er zwinkerte Kerans zu, als Macready das harmlose Täuschungsmanöver mit skeptischem Nicken quittierte. Die meisten Besatzungsmitglieder hatten Flachmänner bei sich, und mit zähneknirschender Zustimmung des Sergeants zogen sie die nun hervor und machten es sich bis zur Rückkehr des Colonel in aller Ruhe gemütlich.

Kerans kletterte über die Fensterbank ins Schlafzimmer, von dort überblickte man den Landesteg. »Was ist dein Problem, Colonel?«

»Es ist nicht mein Problem. Wenn überhaupt, dann ist es deins.«

Sie stapften die Treppe hinauf. Riggs drosch mit seinem Stöckchen auf die Kletterpflanzen ein, die sich um das Geländer rankten. »Ist der Aufzug immer noch außer Betrieb? Ich fand ja schon immer, dass der Ort hier überschätzt wird.« Gleichwohl lächelte er anerkennend, als sie die klimatisierten Räume des Penthouse betraten und er in einem der vergoldeten Louis-XV-Sessel dankbar Platz nahm. »Nun, sehr liebenswürdig. Weißt du, Robert, ich glaube, du bist als Strandgutsammler ein Naturtalent. Vielleicht ziehe ich hier bei dir ein. Ist noch was frei?«

Kerans schüttelte den Kopf, drückte auf einen Knopf in der Wand und wartete darauf, dass die Cocktailbar hinter der Attrappe eines Bücherregals zum Vorschein kam. »Versuch’s mal im Hilton. Der Service dort ist besser.«

Die Antwort war als Scherz gemeint, und so sehr er Riggs auch mochte, zog er es doch vor, ihn möglichst selten zu sehen. Derzeit waren sie durch mehrere Lagunen voneinander getrennt, und der anhaltende Lärm, der aus Kombüse und Waffenkammer des Stützpunktes drang, wurde durch den Dschungel zuverlässig geschluckt. Wohl kannte er jeden aus der zwanzigköpfigen Einheit seit mehreren Jahren, doch mit Ausnahme von Riggs und Sergeant Macready oder ein paar knappen Grunzlauten und Fragen im Krankenrevier hatte er seit sechs Monaten mit niemandem gesprochen. Selbst seine Kontakte zu Bodkin beschränkten sich auf ein Minimum. In gegenseitigem Einvernehmen hatten sich die beiden Biologen darauf verständigt, auf den üblichen Austausch von Nettigkeiten und Smalltalk, den sie in den ersten beiden Jahren im Labor beim Katalogisieren und Bearbeiten der Präparate gepflegt hatten, zu verzichten.

Diese um sich greifende Isolation und Selbstbescheidung, die auch andere Mitglieder der Einheit erfasst hatten und gegen die nur der lebensfrohe Riggs immun zu sein schien, erinnerten ­Kerans an die Stoffwechselverlangsamung und biologische Regression aller Tierformen im Verlauf einer bedeutsamen Transformation. Manchmal fragte er sich, in welcher Transitzone er sich wohl gerade befinden mochte, denn für ihn stand fest, dass sein eigener Rückzug nicht das Symptom einer schlummernden Schizophrenie war, sondern eine gewissenhafte Vorbereitung auf eine radikal neue Umgebung mit eigener innerer Landschaft und Logik, in der alte Denkmuster nur hinderlich wären.

Er reichte Riggs einen großen Scotch, dann nahm er sein eigenes Glas mit hinüber zum Schreibtisch und räumte verlegen einige Bücher beiseite, unter denen sich die Radiokonsole verbarg.

»Hast du schon mal reingehört?«, fragte Riggs leichthin mit einem Hauch von Tadel in der Stimme.

»Nie«, sagte Kerans. »Wozu? Wir kennen alle Nachrichten der nächsten drei Millionen Jahre.«

»Da irrst du. Also wirklich, du solltest es hin und wieder einschalten. Da erfährt man allerlei interessante Dinge.« Er stellte seinen Drink ab und beugte sich nach vorne. »Heute Morgen zum Beispiel hättest du gehört, dass wir in genau drei Tagen unsere Sachen packen und für immer verschwinden.« Er nickte, als Kerans sich erstaunt umdrehte. »Kam gestern Abend als Ansage von Byrd. Offenbar steigt der Wasserspiegel weiter an; alles, was wir an Arbeit geleistet haben, war – wie von mir übrigens immer vorhergesagt – völlig überflüssig. Auch die amerikanischen und russischen Einheiten werden zurückbeordert. Die Temperaturen am Äquator betragen jetzt fünfundachtzig Grad und steigen weiter an, und die Regenzonen haben den 20. Breitengrad erreicht. Die Schlick­mengen werden größer…«

Er brach ab und musterte Kerans nachdenklich. »Was ist los? Bist du nicht froh, dass wir gehen?«

»Doch, natürlich«, erwiderte Kerans schnell. Er hielt sein leeres Glas in der Hand, durchquerte den Raum, um es auf den Tresen zu stellen, ertappte sich aber dabei, dass er stattdessen wie geistesabwesend die Uhr auf dem Kaminsims berührte. Es schien, als suche er den Raum nach etwas ab. »Drei Tage, sagtest du?«

»Was willst du – drei Millionen?« Riggs grinste breit. »Robert, ich glaube, du willst insgeheim hierbleiben.«

Kerans stand nun vor der Bar, füllte sein Glas und fasste sich wieder. Er hatte die Monotonie und Langeweile des letzten Jahres nur überlebt, weil er sich bewusst aus der normalen Welt von Zeit und Raum zurückgezogen hatte; die unverhoffte Rückkehr zur Erde hatte ihn für einen Moment verunsichert. Darüber hinaus, das wusste er, gab es noch andere Beweggründe und Pflichten.

»Sei nicht albern«, antwortete er leichthin. »Ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass wir uns so kurzfristig zurückziehen. Natürlich bin ich froh zu gehen. Obwohl ich zugeben muss, dass ich gern hier gewesen bin.« Er deutete mit dem Finger umher. »Vielleicht entspricht das ja meinem Fin-de-Siècle-Temperament. In Camp Byrd werde ich in einer halben Blechbüchse hausen. Und was ich dort bestenfalls zu hören kriege, ist ›Bouncing with ­Beethoven‹ in der lokalen Radioshow.«

Riggs lachte bei diesem Ausbruch galligen Humors laut auf, dann erhob er sich und knöpfte seine Uniformjacke zu. »Robert, du bist ein sonderbarer Kerl.«

Kerans leerte sein Glas in einem Zug. »Hör mal, Colonel, ich kann dir heute Morgen doch nicht helfen. Mir ist etwas ziemlich Dringendes dazwischengekommen.« Er sah, dass Riggs bedächtig nickte. »Oh, jetzt verstehe ich. Das war also dein Problem. Mein Problem.«

»Richtig. Ich sah sie gestern Abend und erneut heute früh, als die Nachricht eintraf. Du musst sie überzeugen, Robert. Im Moment weigert sie sich schlicht zu gehen. Sie begreift nicht, dass dieses Mal Schluss ist, dass es keine Eingreiftruppen mehr geben wird. Möglicherweise kann sie noch sechs Monate durchhalten, doch spätestens im nächsten März, wenn die Regenzonen bis hierher vorgedrungen sind, wird hier nicht einmal mehr ein Hubschrauber landen können. Sei’s drum! Das wird dann ohnehin niemanden mehr interessieren. Ich hab’s ihr gesagt, aber sie ging einfach weg.«

Kerans lächelte versonnen, den vertrauten Hüftschwung und hochmütigen Gang vor Augen. »Beatrice kann manchmal schwierig sein«, sagte er beschwichtigend, in der Hoffnung, dass sie Riggs nicht beleidigt hatte. Vermutlich würde es mehr als drei Tage brauchen, um sie umzustimmen, doch er wollte sicher sein, dass der Colonel so lange noch warten würde. »Sie ist ein kompliziertes Wesen, lebt auf vielen Ebenen. Bis die alle synchronisiert sind, verhält sie sich manchmal, als wäre sie verrückt.«

 

Sie verließen die Suite, dann verriegelte Kerans die Luftschleusen und stellte den Temperaturregler so ein, dass die Luft in zwei Stunden angenehme dreißig Grad haben würde. Sie stiegen hinab zum Landesteg, wobei Riggs gelegentlich innehielt, um in einem der auf die Lagune hinausblickenden Salons die kostbare, kühle Luft zu genießen und die Schlangen zu vertreiben, die geschmeidig zwischen den klammen, von Schimmel befallenen Sofas umherglitten. Sie stiegen in den Kutter, und Macready schlug eilig die Tür des Drahtkäfigs hinter ihnen zu.

Fünf Minuten später fuhr der Kutter, mit dem Katamaran im Schlepptau, vom Hotel hinüber zur Lagune. Goldene Wellen schimmerten in der brodelnden Luft, und das ringsum wuchernde Pflanzendickicht, das in der Hitzefalle zu tanzen schien, wirkte wie ein Voodoo-Dschungel.

Riggs spähte besorgt durch den Käfig. »Gott sei Dank kam dieses Signal von Byrd. Wir hätten schon vor Jahren verschwinden sollen. Diese ganze akribische Kartierung der Hafenanlagen für eine hypothetische Zukunft ist absurd. Selbst wenn die Sonneneruptionen abklängen, würde es zehn Jahre dauern, bis man ernsthaft versuchen könnte, diese Städte zurückzuerobern. Bis dahin werden die meisten der größeren Gebäude unter dem Schlick begraben sein. Allein um den Dschungel rings um diese Lagune zu lichten, bräuchte man schon einige Divisionen. Bodkin hat mir heute früh berichtet, dass manche der Bäume – von nicht verholzten Pflanzen wohlgemerkt – bereits über sechzig Meter hoch sind. Das ganze Gebiet hier ist nichts weiter als ein verdammter Zoo.«

Er nahm seine Schirmmütze ab und rieb sich die Stirn, dann rief er über das anschwellende Dröhnen der beiden dieselbetriebenen Außenborder hinweg: »Wenn Beatrice weiter hierbleibt, wird sie verrückt. Das erinnert mich im übrigen an einen weiteren Grund, warum wir hier wegmüssen.« Er blickte hinüber zu der großen, einsamen Gestalt am Ruder, zu Sergeant Macready, der unbewegt auf das brechende Wasser starrte, und sah die verkniffenen, gepeinigten Mienen der anderen Männer. »Sag mal, Doktor, wie schläfst du in letzter Zeit eigentlich so?«

Verblüfft drehte sich Kerans zum Colonel um und überlegte, ob sich die Frage vielleicht auf seine Beziehung zu Beatrice Dahl bezog. Riggs blickte ihn aus hellen, klugen Augen an, das Stöckchen zwischen seinen gepflegten Händen biegend. »Ganz tief«, antwortete Kerans vorsichtig. »So gut wie noch nie. Warum fragst du?«

Doch Riggs nickte nur und erteilte Macready mit lauter Stimme seine Befehle.

 

ZWEITES KAPITEL

Die Wiederkehr der Leguane

Wehklagend wie eine aufgescheuchte Todesfee schoss aus einem der beiden schmalen Seitenarme des Wasserlaufs eine große Hammerkopf-Fledermaus hervor und steuerte direkt auf den Kutter zu. Ihr Sonar war durch das Labyrinth der riesigen, von Kolonien von Wolfsspinnen über der Bucht gesponnenen Netze gestört, sodass sie den Drahtkäfig über Kerans’ Kopf nur um Haaresbreite verfehlte, dann segelte sie weiter, an der Dachlinie gefluteter Büro­gebäude entlang, hin und her gleitend zwischen den riesigen, aus den Dächern sprießenden segelartigen Wedeln der Baumfarne. Dann, als sie an einem vorkragenden Gesims vorüberflog, schoss jählings eine reglose, steinköpfige Kreatur wie aus dem Nichts hervor und erbeutete die Fledermaus in der Luft. Ein kurzer, gellender Schrei, und Kerans sah, wie die zerquetschten Flügel zwischen den Kiefern der Echse verschwanden. Dann zog sich das Reptil wieder zurück, unsichtbar unter dem Blattwerk verborgen.

Auf ihrer Fahrt flussabwärts wurden sie von Leguanen belauert, die in den Fenstern der Bürogebäude und Kaufhäuser hockten und ihre wie tiefgefroren wirkenden Köpfe ruckartig bewegten. Sie stürzten sich in das Kielwasser des Kutters, schnappten nach Insekten, die aus den Luftwurzeln und modernden Baumstämmen aufflogen, schwammen dann durch die Fenster zurück und erklommen wieder die Treppen zu ihren alten ­Beobachtungsposten, oft dreifach übereinandergestapelt. Gäbe es die Reptilien nicht, wären die Lagunen und die in der gewaltigen Hitze halb versunkenen Bürogebäude von nahezu traumhafter Schönheit, doch die Leguane und Basilisken holten die Phantasie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Ihr Einzug in die einstigen Sitzungssäle zeigte, dass die Reptilien die Stadt erobert hatten. Sie waren erneut zur vorherrschenden Lebensform geworden.

Kerans sah zu den urzeitlichen, ausdruckslosen Gesichtern auf und verstand die seltsame Angst, die sie auslösten, riefen sie doch archaische Erinnerungen an die furchterregenden Dschungel des Paläozäns wach, als das Aufkommen der Säugetiere den Untergang der Reptilien besiegelte. Er spürte den unversöhnlichen Hass, den eine zoologische Gattung für die andere empfindet, von der sie usurpiert wird.

Die Flussmündung führte sie in die nächste Lagune, eine kreisrunde, dunkelgrüne Wasserfläche von einem knappen Kilometer Durchmesser. Eine Kette aus roten Plastikbojen markierte die Spurrinne zur Durchfahrt auf die andere Seite. Der Tiefgang des Kutters betrug kaum mehr als dreißig Zentimeter, und während der Fahrt durch das flache Gewässer, als die Sonne hinter ihnen die Unterwasserwelt beschien, konnten sie deutlich die Umrisse von fünf- und sechsgeschossigen Gebäuden erkennen, die wie riesige Gespenster auftauchten und mit dem Wellenschlag hie und da ein moosbewachsenes Dach zum Vorschein brachten.

Zwanzig Meter unterhalb des Kutters verlief zwischen den Gebäuden eine schnurgerade, graue Promenade, die Überreste einer einstigen Durchgangsstraße, an deren Bordsteinkanten noch immer rostige, verbeulte Autowracks parkten. Zahlreiche Lagunen im Zentrum der Stadt waren von einem intakten Gebäudering umgeben, in den nur wenig Schlamm eingedrungen war. Bis auf einige umhertreibende Büschel Beerentang waren die Straßen und Geschäfte frei von Pflanzenwuchs und nahezu unversehrt, wie eine Spiegelung in einem See, die irgendwie ihre Vorlage verloren hat.

Der größte Teil der Stadt war längst verschwunden, nur die Stahlskelettbauten der zentralen Geschäfts- und Finanzviertel hatten den vordringenden Fluten widerstanden. Die Backsteinhäuser und einstöckigen Fabriken in den Vororten indes waren im Rhythmus der Gezeiten vollständig unter dem Schlick verschwunden. Wo sie an die Oberfläche traten, ragten riesige Wälder in den brennenden, stumpfgrünen Himmel empor und erstickten die einstigen Weizen­felder im gemäßigten Klima Europas und Nordamerikas. Die undurchdringlichen, manchmal bis zu hundert Meter hohen Gewächse des Mato-Grosso-Tausendblatts waren eine Albtraumwelt konkurrierender organischer Formen, die rasch ihrer paläozoischen Vergangenheit zustrebten, und die einzigen Transitwege für die Militäreinheiten der Vereinten Nationen führten durch einen Kranz von Lagunen, die sich über den einstigen Städten gebildet hatten. Doch auch die versandeten jetzt zusehends und verschwanden.

Kerans erinnerte sich gut an die nicht enden wollende grüne Dämmerung, die sie hinter sich gelassen hatten, als er und Riggs quer durch Europa langsam gen Norden fuhren, an einer Stadt nach der anderen vorbei, die engen Kanäle und Dächer überwuchert von giftigen Pflanzen.

Und jetzt sollten sie erneut eine Stadt aufgeben. Trotz der massi­ven Bauweise ihrer wichtigsten Geschäftshäuser umfasste das Ge­­biet kaum mehr als drei große Lagunen, umgeben von einem Kranz kleinerer Seen mit einem Durchmesser von fünfzig Meter und einem Netzwerk von Rinnsalen und Wasserläufen, die, dem ursprünglichen Straßenverlauf der Stadt ungefähr folgend, in den angrenzenden Dschungel führten. Hie und da verschwanden sie ganz oder bildeten dampfende, offene Wasserflächen – kümmerliche Reste einstiger Ozeane. Die wiederum wurden von Inselgruppen abgelöst, die sich im südlichen Massiv zu dichten ­Dschungelgebieten formierten.

Der von Riggs und seiner Truppe errichtete Militärstützpunkt, der auch die biologische Forschungsstation beherbergte, lag in der südlichsten der drei Lagunen im Schutz von Gebäuden, die, zentral im einstigen Finanzzentrum gelegen, mit ihren dreißig Stockwerken zu den höchsten Bauten der Stadt zählten.

Als sie die Lagune durchquerten, lag die gelb gestreifte Tonne des schwimmenden Stützpunkts in der prallen Sonne und war im Gegenlicht kaum zu sehen, zumal ihnen die kreisenden Rotorblätter des Hubschraubers auf dem Dach des Stützpunkts leuchtende Lanzen über das Wasser hinweg entgegenschleuderten. Zweihundert Meter weiter unten am Ufer lag die biologische Forschungsstation mit ihrem kleineren, weiß gestrichenen Rumpf, vertäut an einem ausladenden Gebäude mit Buckeldach, einem einstigen Konzertsaal.

Kerans blickte zu den rechteckigen Steinwänden hinauf, deren Fenster teilweise noch so gut erhalten waren, dass er sich an die Bilder von sonnenüberfluteten Promenaden in Nizza, Rio und Miami erinnert fühlte, die er als Kind in den Enzyklopädien in Camp Byrd gesehen hatte. Seltsamerweise hatte er sich aber trotz des starken Zaubers, den die Lagunenwelten und gefluteten Städte ausübten, nie für deren Innenleben interessiert und auch nie wissen wollen, in welcher Stadt er sich gerade befand.

Dr. Bodkin hingegen, fünfundzwanzig Jahre älter als er, hatte in mehreren dieser Städte gelebt, in Europa wie auch in Amerika, und verbrachte nun seine Freizeit vor allem damit, auf entlegenen Wasserwegen nach einstigen Bibliotheken und Museen zu suchen. Die aber enthielten nicht mehr als seine Erinnerungen.

 

Vielleicht lag es ja genau an diesen fehlenden persönlichen Erinnerungen, dass Kerans vom Schauspiel dieser untergehenden Zivilisationen so wenig berührt wurde. Geboren und aufgewachsen in einem Gebiet, das einst als Polarkreis bekannt und inzwischen eine subtropische Zone mit einer Jahresmitteltemperatur von rund dreißig Grad war, lernte er den Süden erst mit Anfang dreißig im Rahmen eines ökologischen Forschungsprojekts kennen. Die weiten Sumpf- und Dschungelgebiete waren für ihn ein wunderbares Laboratorium, die gefluteten Städte nicht mehr als ein herausforderndes Studienobjekt.

Bis auf einige wenige ältere Männer wie Bodkin erinnerte sich niemand daran, in diesen Orten gelebt zu haben – und selbst in Bodkins Kindheit waren die Städte bereits belagerte Zitadellen gewesen, eingeschlossen von gewaltigen Deichen, von Panik und Verzweiflung gezeichnet und durch die unfreiwillige Vermählung mit dem Meer zu Lagunenstädten wie Venedig mutiert. Ihr Zauber und ihre Schönheit bestanden gerade in ihrer Leere, in der seltsamen Überschneidung zweier Naturextreme, einer ausgemusterten, von wilden Orchideen überwucherten Krone nicht unähnlich.

 

Die Auswirkungen jener gigantischen, geophysikalischen Umwälzungen, die das Klima der Erde veränderten, zeigten sich erstmals vor sechzig oder siebzig Jahren. Eine Reihe heftiger und langanhaltender Sonnenstürme, die jeweils mehrere Jahre dauerten und durch eine plötzliche Instabilität der Sonne verursacht worden waren, hatte den Van-Allen-Gürtel vergrößert und die Anziehungskraft der Erde auf die äußeren Schichten der Ionosphäre vermindert. Werden diese Schichten nun im All absorbiert, schwindet das Schutzschild der Erde, das den Planeten von der kosmischen Strahlung weitgehend abschirmt; infolgedessen steigen die Temperaturen stetig an, die aufgeheizte Atmosphäre dehnt sich in der Ionosphäre aus, und so schließt sich der Kreis.

Überall auf der Welt stiegen die Durchschnittstemperaturen jährlich um mehrere Grad an. Die meisten tropischen Gebiete wurden in kürzester Zeit unbewohnbar, ganze Populationen wanderten bei Temperaturen um die sechzig Grad nach Norden oder Süden. Einst gemäßigte Zonen wurden tropisch, Europa und Nordamerika litten unter anhaltenden Hitzewellen. Unter Führung der Vereinten Nationen wurde die Besiedlung des antarktischen Plateaus und der nördlichen Grenzgebiete Kanadas und Russlands in Angriff genommen.

 

In dieser ersten, zwanzig Jahre währenden Periode kam es zu einer allmählichen Anpassung des Lebens an das veränderte Klima. Eine Verlangsamung des bisherigen Tempos war unvermeidlich, und es standen nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung, um die Ausbreitung von Dschungelwäldern im Äquatorialgebiet wirksam zu verhindern. Nicht nur beschleunigte sich das Wachstum aller Pflanzenformen, die höhere Radioaktivität führte auch vermehrt zu Mutationen. So entstanden erste botanische Abarten, die an die riesigen Baumfarne des Karbonzeitalters erinnerten, und alle niederen Pflanzen- und Tierarten erlebten einen ungeahnten Aufschwung.